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Erzglitzern

Bergstadtkrimi II

von Marcus Wächtler (Autor:in)
200 Seiten
Reihe: Bergstadtkrimi, Band 2

Zusammenfassung

Nach den Ereignissen um den ersten Bergstadtkrimi »Erzfieber« wollte Ariane eigentlich von vorn beginnen. Das Verschwinden eines Professors der Bergakademie und die Nachricht von einer neuerlichen Millionenspende für Freiberg werfen ihre Pläne aber über den Haufen. Erneut findet sie sich in ein mörderisches Komplott verstrickt wieder.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Erzglitzern

 

Bergstadtkrimi II

 

 

von

Marcus Wächtler

 


Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die über die Grenzen des Urheberrechtsgesetzes hinausgeht, ist unzulässig und strafbar.

 

1. Auflage 2020

ISBN Print. 978-3-96698-392-1

© 2020 Verlag Edition Elbflorenz, Rothenburger Str. 30, 01099 Dresden

Korrektorat: Jenny Menzel, Dresden: www.null-fehler.biz

Titelgestaltung: Maria Zippan, Dresden

Titelbild: Maria Zippan, Dresden


www.editionelbflorenz.com




Bis jetzt erschienen sind:


»Erzfieber: Ein Bergstadtkrimi - Band 1«

»Erzzauber: Ein Weihnachts-Bergstadtkrimi - Band 3«


Glück auf,

 

dies hier ist das zweite Buch der Bergstadtkrimi-Reihe. Natürlich können Sie sofort mit dem Lesen loslegen, ohne die vorherigen Begebenheiten zu kennen. Blättern Sie dann bitte direkt zum ersten Kapitel weiter. Vorwissen ist nicht wirklich nötig, um die nachfolgende Geschichte zu genießen. Es schadet aber auch nicht, »Erzfieber« gelesen zu haben. Falls Sie nicht gewillt sind, jetzt noch schnell den ersten Teil durchzuschmökern, folgt nun eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse aus »Erzfieber«.

 

Die junge Tierarzthelferin Ariane Itzen wollte eigentlich nur etwas Gutes tun und Charlie, einen in ihrer Praxis vergessenen Hund, zu seinem Herrchen zurückbringen. Unvermittelt stößt sie jedoch auf die Leiche des Besitzers: Heinz-Harald Bublitz hat offenbar Selbstmord begangen. Ariane hegt ab der ersten Minute Bedenken bezüglich der Todesart. Zu viele Ungereimtheiten fallen ihr auf. Gewissheit erhält sie schon kurze Zeit später, als sie einen Einbrecher in der Wohnung des Toten überrascht.

Da die Polizei weiterhin von einem Suizid ausgeht, ermittelt Ariane auf eigene Faust. Auf einer der Bergwerkshalden von Freiberg findet sie Indizien, die ihre These untermauern; genauso wie die geheimen Unterlagen in der Wohnung von Heinz-Harald Bublitz, die ein tödliches Geheimnis bergen. Schließlich deckt Ariane ein Betrugskomplott zwischen einer Geo-Erkundungsfirma und der Stadtverwaltung von Freiberg auf: Ein gefälschtes Gutachten über ein vermeintliches Erzvorkommen unter der Erzgebirgsstadt sollte eine internationale Bergwerksfirma dazu bringen, hohe Bestechungsgelder für die Konzession zu zahlen. Die Gier nach Geld und Ressourcen weckt die niedrigsten Instinkte in den Menschen.

All das scheint mit einer anonymen Spende von fünf Millionen Euro an die Stadt in Verbindung zu stehen. Sie hat die Verschwörer im Freiberger Rathaus derart in Unruhe versetzt, dass sie Fehler begingen. Der brutal ermordete Stadtkämmerer Heinrich Schirach war, wie sich herausstellt, ebenfalls Teil der Konspiration. Leider kann die Polizei dieses Verbrechen bis zum heutigen Tag nicht aufklären.

Ariane ist überzeugt, dass alles miteinander zusammenhängt. Sie wird aber von der Polizei ignoriert. Kein Wunder: Ihre Theorie, der Selbstmord von Heinz-Harald Bublitz sei vorgetäuscht worden, stellt sich als falsch heraus. Ben Benserler, ein Polizist, den sie bei ihren Ermittlungen kennenlernt, bricht daraufhin den Kontakt zu Ariane ab.

Nach den traumatischen Ereignissen hat Ariane ihren Job in der Tierarztpraxis gekündigt und ein neues Leben begonnen. Seither sind zwölf Monate vergangen.

 

 

 

Viel Spaß beim Lesen

Marcus Wächtler


Tag 1

 

Ein undefinierbares Geräusch riss Ariane aus ihrer Konzentration. Irritiert blickte sie auf den fast nackten Körper unter sich. Hatte der Typ gerade gegrunzt? Dabei hatte sie noch nicht einmal richtig angefangen. Wobei – am liebsten hätte sie die Sache gleich hier abgebrochen. Alles sträubte sich in ihr, weiterzumachen. Sie fand es schon widerlich, ihn überhaupt anfassen zu müssen.

Der Mann lag, nur mit einem Handtuch bekleidet, auf der Liege. Zu ihrem Leidwesen unternahm er nicht einmal den Versuch, sich halbwegs zu bedecken. Zaghaft probierte Ariane, den Stoff zurechtzuzupfen. Das Handtuch hatte sich jedoch irgendwo unter der Masse des Mannes verfangen. Sie musste ihr Unterfangen kläglich abbrechen.

Ein leichter Schweißfilm stand ihr auf der Stirn. Überhaupt war ihr ziemlich warm, was die Situation nicht angenehmer machte. Ihre halblangen, dunklen Haare klebten unangenehm an den Schläfen. Ariane pustete, um ein paar besonders penetrante Strähnen zu vertreiben, die ihr die Sicht nahmen. Als das nichts brachte, half sie mit der Schulter nach.

Erneut drang ein Grunzen an ihre Ohren. Sie hatte sich tatsächlich nicht verhört. Vor Abneigung verzog sie das Gesicht, als ein genüssliches Schmatzen folgte. Konnte es wirklich noch unangenehmer werden? In dem Moment verrutschte das Handtuch ein Stück weiter. Die Frage war damit beantwortet. Ein stattlicher, erheblich behaarter Bierbauch wölbte sich unter ihr auf.

Alles Lamentieren brachte jedoch nichts: Der Mann hatte bezahlt. Ihr blieb nichts übrig, als die Sache durchzustehen. Ohnehin war sie bereits vollkommen dreckig. Eine ziemlich abstoßende Mischung aus Öl und Schlamm bedeckte Arianes Hände, Arme und ihren halben Oberkörper, bis in den Ausschnitt hinein. Wer auch immer auf diese bescheuerte Idee gekommen war, hatte einen Arschtritt verdient. Der Mann auf der Liege war allerdings Stammgast und kam extra wegen dieser besonderen Leistung. Während Ariane nach einem weiteren Tuch griff, um es über einen Teil des fülligen Körpers zu breiten, machte sich ein zufriedenes Grinsen im Antlitz des Mannes breit.

Wie gern wäre Ariane in diesem Moment weggerannt! Stattdessen ließ sie ihre Hände über den Oberkörper gleiten. Sinn der ganzen Aktion war es letztlich, es dem Gast so angenehm wie möglich zu machen. Schließlich war er hier, um sich Linderung zu verschaffen. Das selige Lächeln des Mannes bewies, dass es ihm gut ging. Was man von Ariane jedoch nicht behaupten konnte.

Nachdem sie sicher war, dass alles an seinem Platz steckte, breitete Ariane weitere Tücher über dem Mann aus. Anschließend entschuldigte sie sich kurz, um den gröbsten Schmutz abzuwaschen. Der Schlamm haftete derart widerspenstig an ihr, dass sie zur Bürste greifen musste. Während sie schrubbte, wandte sie sich an ihren Patienten: »So, Herr Meier, ich lege jetzt noch ein paar warme Decken auf Sie, damit Sie es schön mollig haben. Fall es zu eng oder unangenehm werden sollte, melden Sie sich bitte.«

Statt einer Antwort grunzte Herr Meier erneut. Offenbar war er kurz davor, direkt hier einzuschlafen. Verübeln konnte man es ihm kaum. Sie selbst hatte die Behandlung bereits ebenso genießen dürfen. Die heißen Schlammpackungen fühlten sich himmlisch an. Dafür war es eine richtiggehende Schweinerei, den Fango-Schlamm aufzutragen.

»Ich lasse Sie jetzt allein. Eine Kollegin hilft Ihnen dann, wenn die Behandlung abgeschlossen ist.«

Herr Meier reagierte nicht. Offenbar schlief er schon. Ariane nahm dies als Bestätigung, dass sie ihre Arbeit gut gemacht hatte. Es war das erste Mal, dass sie eine Fango-Packung allein bei einem Patienten angewendet hatte. Sie war für eine kranke Kollegin eingesprungen. Eigentlich war sie nur für die Büroarbeit zuständig.

Nach drei Monaten Auszeit hatte Ariane relativ schnell einen neuen Arbeitsplatz gefunden. Offensichtlich gab es nicht sonderlich viele Leute in Freiberg, die diese Art von Job gern erledigten. So hatte Ariane sich schließlich für die Physiotherapie-Praxis von Frau Suhrbier entschieden. Ausschlaggebend war vor allem ein Kriterium gewesen: Nach ihrer Einschätzung war dies hier der unwahrscheinlichste Ort, um mit Blut in Berührung zu kommen. Tierärzte, Zahnärzte und das Krankenhaus hatten von vornherein auf der Ausschlussliste gestanden.

Ihre neue Chefin und das Mitarbeiter-Team waren nett und sympathisch. Ariane hatte sich mittlerweile eingearbeitet, ihren alten Job vermisste sie nicht mehr. Sie hatte die Tierarztpraxis von Doktor Gronkowskie aber noch immer in bester Erinnerung. Immerhin hatte sie dort in ihrer Kollegin Stefanie eine gute Freundin gefunden. Es war trotzdem richtig gewesen, nach den traumatischen Ereignissen zu kündigen. Andererseits war sie nun gezwungen, sich mit Fango-Behandlungen herumzuärgern. Was war wohl das größere Übel?

Umgezogen und saubergeschrubbt, nahm Ariane ihren Platz im Eingangsbereich der Physiotherapie wieder ein. Im Wartezimmer nebenan saßen ein paar Patienten. Auf dem Computer war das Praxisprogramm geöffnet, in dem sie Berichte eintippte, Termine eingab oder Anfragen beantwortete. Im Prinzip dasselbe, was sie auch in der Tierarztpraxis gemacht hatte. Nur bestand hier definitiv nicht die Gefahr, dass sie bei einer Operation assistieren und in den geöffneten Leib eines Patienten schauen musste. Und keiner der Patienten bellte.

Ariane schaute kurz auf den Kalender. Heute war es genau ein Jahr her, dass sie den herrenlosen Hund Charlie bei sich aufgenommen und Detektivin gespielt hatte. Sie rief sich die Zeit ins Gedächtnis zurück. Inzwischen kamen ihr die Ereignisse vollkommen irreal vor. Es war, als würde sie an ein vor langer Zeit gelesenes Buch denken. Im Rückblick erschienen Ariane ihre Handlungen nahezu absurd. Sie hatte sich selbst in so große Gefahr begeben, dass ihr bei der Erinnerung noch heute schauderte. Es war reiner Wahnsinn gewesen, sich da einzumischen. Um sie in ihren Ermittlungen aufzuhalten, war man in ihre Wohnung eingebrochen und hatte sie brutal überfallen. Nur durch pures Glück hatte sie sich befreien können.

In den letzten Monaten hatte Ariane die dunklen Erinnerungen, so gut es ging, verdrängt. Unter anderen Umständen hätten die übelsten Dinge mit ihr passieren können. Soweit sie wusste, war die Staatsanwaltschaft noch immer damit beschäftigt, den Fall für eine großangelegte Verhandlung vorzubereiten.

»Hallo, Frau Itzen. Es ist schön, Sie wiederzusehen.«

Unvermittelt wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Irritiert hob Ariane den Blick. Sie brauchte ein paar Augenblicke, um zu erkennen, wer sie angesprochen hatte.

»Ah, ähm, Ihnen auch einen guten Tag.«

»Erkennen Sie mich denn nicht mehr?«

»Aber natürlich, Frau Müller!« Ariane schaffte es, ihre Überraschung zu verbergen. »Ich habe hier nur nicht mit Ihnen gerechnet.«

»Sie können mich Martina nennen. Wir arbeiten doch schon lange nicht mehr zusammen.«

»Okay, ja klar. Das mache ich.«

Ariane war verwirrt. Frau Müller war als ihre Vorgesetzte in der Tierarztpraxis von Doktor Gronkowskie immer sehr akkurat und zurückhaltend gewesen. Diese plötzliche Vertrautheit kam ihr irgendwie falsch vor.

»Ich habe … Es ist, dass …« Martina Müller schaffte es nicht, einen weiteren Satz zu formulieren. Ein Schweigen setzte ein, bei dem sich Ariane schon ab der ersten Sekunde unwohl fühlte. Es war genau so eine Art von Gespräch, vor denen ihr immer graute.

»Wollen Sie ein Rezept einlösen oder eine private Behandlung buchen?« Ariane stellte auf Physiotherapie-Modus um. Vielleicht konnte sie die Situation so entkrampfen.

»Nein, ich habe ein anderes Anliegen an Sie. Es klingt vielleicht ein bisschen seltsam …«

Nach wie vor lösten sich die Fragen in Arianes Kopf nicht auf. Die Situation wurde immer merkwürdiger. Frau Müller blickte nervös über ihre Schulter. Zwar saßen einige Patienten im Wartebereich, aber die hatten den Kopf über Zeitschriften oder ihre Handys gebeugt. Trotzdem war es offensichtlich, dass Frau Müller – Martina – keine Mithörer wünschte.

Sie beugte sich über den Empfangstresen und fragte leise: »Können wir irgendwo ungestört reden?«

Wollte sie Ariane überreden, zu Doktor Gronkowskie zurückzukommen? Gab es in Freiberg so wenige Sprechstundenhilfen, dass man zu so einer Abwerbeaktion greifen musste? Vielleicht war ja aber auch etwas vorgefallen. Etwa mit ihrer Freundin Stefanie?

»Ich bin mal kurz draußen«, rief Ariane nach hinten zu den Behandlungszimmern und sperrte gleichzeitig mit einem Tastendruck den Computer. Keiner der Physiotherapeuten antwortete. Sie wusste aber, dass es in Ordnung war, wenn sie eine kurze Pause machte.

Im Hinterhof des Hauses an der Bahnhofstraße, in dem die Physiotherapie-Praxis von Frau Suhrbier lag, gab es einen kleinen Pausenbereich für die Angestellten. Mit einigen Gesten dirigierte Ariane ihre ehemalige Vorgesetzte höflich dorthin. Langsam wurde sie neugierig. Zu seltsam kam ihr der Besuch vor. Was steckte dahinter?

Rein äußerlich hatte sich die Mittfünfzigerin nicht verändert. Noch immer wirkte Frau Müller wie die resolute Praxisleiterin, die Ariane kennengelernt hatte. Von etwas kleinerer Statur konnte man die Frau durchaus als korpulent bezeichnen. Die blondierten Haare und das dezente Make-up zeigten, dass sie nach wie vor Wert auf ihr Äußeres legte. Gleichwohl hatte sich ein Schatten auf das Gesicht von Frau Müller gelegt. Irgendetwas bedrückte sie.

»Also, Frau Müller, heraus damit. Was kann ich für Sie tun?«

»Mir fällt es nicht leicht, Sie das zu fragen. Wir hatten ja nicht unbedingt das beste Verhältnis zueinander. Ich möchte mich deswegen jetzt bei Ihnen dafür entschuldigen. Mir war nicht bewusst, in was für einer Situation Sie damals steckten. Ich hätte mehr Fingerspitzengefühl haben müssen.«

Damals, damit meinte Martina Müller die Geschehnisse von vor einem Jahr. In jenen Tagen hatte Ariane ziemlich abenteuerliche Entscheidungen getroffen. Um im »Erzfieber«-Fall zu ermitteln, hatte sie von einem Tag auf den anderen ihre Pflichten in der Praxis vernachlässigt. Am meisten hatte sich darüber Frau Müller geärgert.

»Das ist doch schon so lange her. Wieso kommen Sie heute während der Arbeit zu mir, um sich für etwas zu entschuldigen, für das Sie sich nicht entschuldigen müssen? Was ist los, Frau Müller?«

»Ich brauche Ihre Hilfe. Und sagen Sie doch bitte Martina zu mir.«

»Sie brauchen meine Hilfe? Wie kann ich denn das verstehen?«

Ariane fiel nichts ein, womit sie der älteren Arzthelferin behilflich sein könnte. Zudem bereitete es ihr Unbehagen, die Distanz zwischen ihnen durch ein Du zu verringern. Die ältere Frau würde immer Frau Müller für sie bleiben.

»Es ist etwas komplizierter. Ich weiß nicht recht, wie ich damit anfangen soll.«

»Frau Müller … Also gut, Martina. Hat es etwas mit meiner alten Arbeit zu tun? Haben Doktor Gronkowskie oder Stefanie Probleme? Klappt etwas nicht in der Praxis?«

»Nein, nein. Da ist alles in bester Ordnung. Ich soll Sie sogar von Stefanie grüßen. Im Grunde genommen war es ihre Idee, zu Ihnen zu gehen. Mein Problem ist eine private Angelegenheit. Genau genommen betrifft es nicht einmal mich. Meine Schwester Elke braucht Ihre Hilfe.«

»Meine Hilfe wobei? Lassen Sie sich doch nicht alles einzeln aus der Nase ziehen. Ich kann nicht ewig hier draußen herumstehen und die Patienten allein lassen.«

Ariane ging dieses Herumlavieren auf die Nerven. Eine kurze Pause war schön und gut. Sie standen aber nun schon eine ganze Weile hier auf dem Hof in der Sonne herum, und für Smalltalk während der Arbeit hatte sie wahrlich keine Zeit.

Frau Müller gab sich einen sichtbaren Ruck. »Bitte verzeihen Sie, dass ich so um den heißen Brei herumrede. Ich frage jetzt einfach direkt: Wäre es möglich, dass Sie für meine Schwester etwas herausfinden?«

»Was meinen Sie mit herausfinden?« Ariane war baff.

»Na, so wie vor einem Jahr. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie die Verschwörung im Rathaus ganz allein aufgedeckt. Sogar die Zeitung hat damals über Sie geschrieben.«

»Aber das war komplett anders. Denken Sie etwa, ich bin so eine Art Miss Marple?« Ungläubig lachte Ariane kurz laut auf.

»Ich weiß nicht … Wenigstens hatte ich gehofft, dass Sie mir beziehungsweise meiner Schwester helfen könnten. Elke hat ein großes Problem.« Sie schaute sichtlich peinlich berührt zu Boden.

»Warum gehen Sie dann nicht zur Polizei, wie es jeder andere auch tun würde?«

»Bei der Polizei waren wir schon – also, meine Schwester. Deswegen komme ich ja zu Ihnen. Es ist nur schwer zu erklären, und so kompliziert.«

Ariane hatte genug gehört. Was auch immer ihre ehemalige Vorgesetzte sich eingebildet hatte, es kam nicht in Frage. Sie sollte eine Auftrags-Hobby-Ermittlerin sein? Lächerlich.

»Liebe Frau Müller. Martina. So sehr ich Sie schätze, ich muss das hier abbrechen. Es bringt nichts, weiter zu reden. Ich habe in meiner Pause nicht unendlich Zeit, mich mit solchen albernen Sachen zu beschäftigen. Die Antwort ist nein.«

Ariane war drauf und dran, Frau Müller im Hof stehenzulassen, um an ihren Empfangstresen zurückzukehren. Sie wandte sich gerade zum Gehen, als Frau Müller hervorstieß: »Hans Huber ist verschwunden.«

»Wer ist das?« Ariane hielt wider Willen inne.

»Der Vorgesetzte meiner Schwester.«

»Und?«

»Seit ein paar Tagen ist er spurlos verschollen. Niemand weiß, wo er ist. Kein Mensch hat ihn gesehen. Es ist beinahe so, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden.«

Ariane dachte ein paar Sekunden nach. Seltsam war das schon, jedoch nichts Außergewöhnliches. Sie seufzte: »Martina, so etwas kommt gelegentlich vor. Leute verreisen, ohne jemandem Bescheid zu geben. Andere haben keine Lust mehr auf ihr bisheriges Leben und verschwinden, ohne ein Zeichen zu hinterlassen. Ich will nicht sagen, dass das normal ist – komplett unüblich ist es aber auch nicht.«

»In diesem Fall ist es anders.« Martina Müller gab nicht nach. Es wirkte, als hätte sie dieses Gespräch bereits mehrfach geführt.

»Okay, dann sagen Sie mir jetzt bitte endlich, was das soll. Wieso haben Sie so ein Interesse daran, den verschwundenen Chef Ihrer Schwester wiederzufinden?«

»Hans Huber ist nicht nur Elkes Vorgesetzter. Sie arbeitet für ihn in der Mineralogischen Sammlung, aber er ist auch mehr als das. Verstehen Sie?«

»Dieser Herr Huber ist also der Liebhaber Ihrer Schwester?« Ariane begriff nicht, warum man die Sache so kompliziert erklären musste.

»Nicht ganz. Er lebt in Scheidung. Elke ist aber auf gar keinen Fall eine Liebelei von Hans! So eine Unterstellung verbitte ich mir. Die beiden führen seit Jahren eine harmonische Beziehung.«

Ob die Ehefrau der gleichen Meinung war? Ariane hatte ihre Zweifel. Der feine Herr Huber hatte also neben seiner ersten noch eine zweite Gattin im Büro. Klar, dass die sich nicht als einfache Affäre sah. Dann war die Sache ja aber ganz einfach zu erklären!

»Dann wird Herr Huber wohl wieder bei seiner ersten Frau sein. Vielleicht hat er auch noch eine dritte in Reserve.«

Frau Müller fand das gar nicht lustig: »Frau Itzen, ich bin nicht wegen irgendwelcher Spielchen zu Ihnen gekommen. Ich hatte gehofft, dass Sie uns helfen können. Um die Sache noch einmal ganz deutlich darzustellen: Meine Schwester und Hans Huber sind sehr glücklich und leben schon lange zusammen. Genau genommen haben sie in naher Zukunft sogar ihre Hochzeit geplant. Entsprechend besorgt ist Elke, weil Hans auf einmal spurlos verschwunden ist. Und nein, er ist nicht bei seiner Noch-Ehefrau. Die wohnt in einem Pflegeheim für Demenzkranke im Schwarzwald. Daher ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass ihn seine Gattin hätte beseitigen wollen.«

»Was wollen Sie aber dann bei mir? Gehen Sie zur Polizei. Die ist für das Finden verschwundener Personen zuständig.«

»Glauben Sie nicht, dass wir das schon längst getan haben?« Frau Müller hörte sich zunehmend resigniert an. »Meine Schwester und ich waren mehr als einmal bei der Polizei. Wir haben sogar in Chemnitz bei der Kriminalpolizei vorgesprochen. Elke ruft dort alle paar Stunden an.«

»Und? Was könnte ich da noch tun?«

»Sie könnten überhaupt mal etwas unternehmen!«, rief Frau Müller verzweifelt. Jetzt platzte es aus ihr heraus: »Die Polizei tut im Prinzip gar nichts. Man kann zwar einen Menschen als vermisst melden, aber deshalb suchen die Behörden nicht nach ihm.«

»Tun sie nicht?«, fragte Ariane erstaunt.

»Solange nicht Gefahr für Leib und Leben oder Verdacht auf eine Straftat besteht, wird die Polizei nicht aktiv. Das ist so frustrierend! Obwohl wir wissen, dass etwas passiert sein muss, will niemand etwas unternehmen. Stattdessen werden wir mit den immer gleichen hohlen Phrasen vertröstet.«

Ariane war überrascht. Es stimmte aber natürlich: Jeder hatte das Recht, von der Bildfläche zu verschwinden. Für manche Männer war es auch eine bequeme Art, mit ihrer Partnerin Schluss zu machen. Wenn da jedes Mal die Polizei gerufen würde, hätte sie keine Zeit mehr, richtige Verbrechen aufzuklären.

»Und nun möchten Sie, dass ich mich auf die Suche nach Hans Huber begebe? Habe ich Sie richtig verstanden?«

»Bitte, Frau Itzen, wir wissen nicht, an wen wir uns sonst wenden sollen. Es gibt außer Ihnen niemanden. Sie sind unsere einzige Hoffnung.«

»Was ist denn mit einem Privatdetektiv?« Ariane entgegnete das erste, was ihr einfiel.

»In Freiberg gibt es leider keinen. In Dresden und Chemnitz nur ein paar wenige. Die sind auf Monate ausgebucht. Wir benötigen aber jetzt Hilfe und nicht irgendwann. Wahrscheinlich braucht Hans genau in diesem Moment Unterstützung. Niemand ist aber da, um ihm diese zu geben. Meine Schwester Elke ist deswegen vollkommen am Boden zerstört.«

»Versteh ich richtig: Sie glauben, ich wäre diese Hilfe für Ihre Schwester? Denken Sie wirklich, ich könnte einen verschollenen Menschen wiederfinden? Wie kommen Sie nur auf diese Idee?«

Ariane lachte erneut laut auf, hielt sich dann aber die Hand vor den Mund. Sie merkte, wie sehr diese Sache Martina Müller an die Nieren ging. Sie hielt sich gerade so unter Kontrolle und konnte jeden Augenblick zusammenbrechen. Auf der anderen Seite – was glaubten die beiden Frauen, was Ariane war? Eine Art Superheldin?

»Es war wohl ein Fehler, zu Ihnen zu kommen.«

Martina Müller machte auf dem Absatz kehrt. In derselben Sekunde tat Ariane ihre harsche Reaktion leid. Die Frau war verzweifelt, das sah man ihr an. Sie rief ihr hinterher: »Frau Müller, bitte entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht auslachen. Verstehen Sie aber nicht meine Situation? Ich bin doch nur eine einfache Sprechstundenhilfe in einer Physiotherapie-Praxis. Und Sie erwarten von mir, dass ich eine verschwundene Person wiederfinde. Das ist so vollkommen irreal, dass mir die Worte dafür fehlen.«

Ihre ehemalige Vorgesetzte hörte gar nicht mehr zu, sie lief immer schneller davon. Ariane bemühte sich, sie einzuholen. Selbst wenn sie Frau Müllers Ansinnen für kompletten Blödsinn hielt, wollte sie sie nicht so gehen lassen. Grundsätzlich war sie stets darauf bedacht, ein gutes Verhältnis zu anderen Menschen zu bewahren. Gerade Martina Müller hatte ihr nichts getan. Zunehmend fühlte sie sich deswegen schlecht. Kurz vor der Ausgangstür holte Ariane die Frau ein und hielt sie am Arm zurück.

»Noch einmal: Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht verletzen. Vielleicht habe ich mich nicht richtig ausgedrückt. Ich glaube Ihnen ja, dass dieser Herr Huber spurlos verschwunden ist. Und mir ist klar, dass das für Sie und Ihre Schwester sehr belastend ist. Ich weiß ja aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn einem niemand glaubt. Gerade deswegen denke ich, dass Sie da professionelle Hilfe benötigen.«

Ariane sah, wie Hoffnung in den Augen von Frau Müller aufschien. Das hatte sie mit ihrer Ansprache allerdings nicht bezwecken wollen. Sie konnte den beiden Schwestern in keiner Weise helfen. Wie auch?

»Es ist sehr schmeichelhaft, dass Sie so große Stücke auf mich halten. Ich bin aber die falsche Ansprechpartnerin für Sie. Was vor einem Jahr passiert ist, war nur eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände. Ich bin keine Detektivin, Superheldin oder so etwas. Ich verbringe meinen Tag hinter dem Empfangstresen einer Praxis. Genau wie Sie. Egal, was Sie in mir sehen – ich bin es nicht.«

Martina Müller nickte enttäuscht. Dennoch hasste sich Ariane dafür. Wahrscheinlich war sie der letzte Hoffnungsschimmer für die beiden Schwestern gewesen. Ariane wollte gar nicht wissen, an wie viele Menschen sie sich vorher schon gewendet hatten.

»Sie haben vermutlich recht. Das kann ich nachvollziehen.«

»Ich würde Ihnen ja wirklich gerne helfen. Ich habe nur keine Ahnung, was ich da tun könnte. Es tut mir leid.«

»Trotzdem danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Einen schönen Tag noch«, verabschiedete sich Martina Müller fast flüsternd.

Während Ariane an der Tür der Praxis stand und der Frau hinterherblickte, tat sie ihr unglaublich leid. Konnte sie den Schwestern nicht vielleicht doch irgendwie zur Seite stehen? Allerdings fiel ihr auf die Schnelle nichts ein. Sie dachte kurz daran, Ben Benserler anzurufen, verwarf den Gedanken aber sofort. Zwar hatte ihr der Polizist vor einem Jahr sehr geholfen, aber sie waren nicht wirklich im Guten auseinandergegangen.

Ben hatte sich in den Monaten danach immer mal wieder bei ihr gemeldet. Ariane hatte aber kein Interesse mehr an einer Freundschaft gehabt – oder gar an einer Beziehung, so wie es Ben offenbar gehofft hatte. Zu oft hatte er sich von seiner schlechten Seite gezeigt. Ihn nun wegen des verschwundenen Hans Huber anzurufen, würde nichts bringen. Was sollte Ben ihr anderes sagen als die Polizei?

An ihrem Arbeitsplatz konnte sich Ariane nur schwer konzentrieren. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem Gespräch zurück. Immer wieder überlegte sie, was sie hätte sagen sollen. Was würde sie selbst in so einer Situation tun? Würde sie nicht auch nach jedem Strohhalm greifen? Trotzdem: Sie hatte das Richtige getan. Es wäre unfair gewesen, Frau Müller mit einem Versprechen Hoffnungen zu machen. Zum Glück war der Feierabend nicht mehr allzu weit entfernt. Ariane brauchte dringend ein wenig Ruhe, um ihre Gedanken sortiert zu bekommen.

Auf dem Heimweg checkte sie ihr Handy. Das Display zeigte mehrere verpasste Anrufe von Stefanie. Natürlich: Frau Müller hatte erwähnt, dass sie mit ihr über das Problem geredet hätte. Wahrscheinlich war es sogar Stefanies Idee gewesen, dass sich Martina an Ariane wenden sollte.

Nun wollte ihre Freundin offenbar wissen, was bei dem Gespräch herausgekommen war. Allerdings wollte sich Ariane nicht schon wieder erklären müssen. Sie würde sich morgen früh bei ihrer Freundin melden, wenn sie ausgeruht war. Heute wollte sie nur noch nach Hause, die Füße hochlegen und einen klaren Kopf bekommen. Das war jedoch eher eine Wunschvorstellung.

 

In ihrer Wohnung erwartete Ariane ein Energiebündel mit wedelndem Schwanz. Charlie schien überglücklich, dass sein Frauchen endlich nach Hause kam. Wie immer hatte Ariane ein schlechtes Gewissen, weil sie die Fellnase so lange allein gelassen hatte. Da sie ihn nicht mit zur Arbeit nehmen konnte, hatte Ariane aber keine andere Wahl.

Die Promenadenmischung vereinigte ein ganzes Sammelsurium verschiedenster Hundearten. Ariane hatte es schon längst aufgegeben, alle herauszubekommen. Eine alte deutsche Dackelart war auf jeden Fall darunter, daneben vermutete Ariane einen Jack-Russell-Terrier und einen Collie unter den Vorfahren. Und das waren bei Weitem nicht alle.

Wegen Charlie hatte sich Arianes Leben vor zwölf Monaten grundlegend verändert. Sein Herrchen, Heinz-Harald Bublitz, hatte sich wegen der Ereignisse um die »Erzfieber«-Affäre das Leben genommen. Ariane hatte Charlie, der nun eine Waise war, aufgenommen und ins Herz geschlossen. Dann aber war einem Cousin von Herrn Bublitz der Großteil von dessen Erbe zugesprochen worden. Zu den Besitztümern des Verstorbenen hatte auch der Hund gehört. Ariane musste Charlie schweren Herzens abgeben. Der neue Besitzer hatte zwei süße kleine Kinder und Charlie war von der netten Familie sehr freundlich aufgenommen worden. Ariane hatte aber schwer mit dem Verlust zu kämpfen. Bei einer zufälligen Begegnung im Stadtpark zeigte sich, dass Charlie Ariane ebenso vermisste. So hatten sie ein Arrangement gefunden, in dem Ariane ihn regelmäßig besuchen und ausführen durfte.

An etlichen Wochenenden bekam sie ihren vierbeinigen Freund sogar als Übernachtungsgast. Daneben hatte es sich eingebürgert, dass der Rüde in den Schulferien, wenn die Familie verreiste, zu Ariane in Pflege kam. Gerade hatte sie ihn seit zehn Tagen als Gast bei sich. In diesen wenigen Tagen hatte sie mit dem Hund mehr Spaziergänge unternommen als in dem halben Jahr davor. Leider würde sie ihn morgen wieder zurückbringen müssen – die Ferien waren vorbei.

Ariane wollte den Abend daher unbedingt noch für einen letzten größeren Spaziergang mit Charlie nutzen. Vielleicht würde ihr die frische Luft helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Sich selbst gönnte sie nur einen schnellen Salat, Charlie stürzte sich derweil auf eine große Portion frisches Fleisch. Derart gestärkt, waren sie keine zwanzig Minuten später auf den Straßen Freibergs unterwegs.

Ohne es geplant zu haben, lenkte Ariane ihre Schritte zu den Bergwerkshalden am Stadtrand. Vor zwölf Monaten hatte sie den gleichen Weg eingeschlagen. Auch damals war sie mit Charlie unterwegs gewesen. Was als Gassi-Runde begonnen hatte, war die verrückteste Nacht ihres Lebens geworden. Mit geheimen Unterlagen, einem Einbrecher in ihrer Wohnung und einer wilden Verfolgungsjagd war sie vor einem Jahr in ein mörderisches Verbrechen gestolpert.

Noch immer war die juristische Aufarbeitung der »Erzfieber«-Affäre nicht abgeschlossen. Mehrfach war Ariane bereits bei der Polizei gewesen, um Aussagen zu machen. Wann die Verfahren endlich zur Eröffnung kamen und ob das überhaupt noch passieren würde, stand allerdings in den Sternen. Zu komplex war wohl das Geflecht aus Bestechungen, Drohungen und Politik, als dass man es in so kurzer Zeit hätte durchschauen können. Freiberg war offenbar nicht der einzige Ort, an dem so etwas geschehen war. Das Bergbauunternehmen schien im ganzen Erzgebirge aktiv gewesen zu sein.

An diesem lauen Sommerabend lagen die historischen Schachtanlagen und Bergwerkshalden einsam und verlassen da. Einzig auf der »Reichen Zeche« brannten noch ein paar Lichter. Ariane hatte gelesen, dass die Bauarbeiten in den nächsten Tagen beginnen sollten. Offiziell hielt sich die Stadt allerdings noch mit den genauen Informationen zurück. Ein ungenannter Wohltäter hatte der Bergstadt Freiberg im vergangenen Jahr fünf Millionen Euro geschenkt – mit der Auflage, dass alles für den Aufbau eines Tourismuszentrums auf der Bergwerkshalde »Reiche Zeche« auszugeben sei. Durch das plötzlich gewachsene öffentliche Interesse am historischen Bergwerk waren Beamte unvorsichtig geworden, städtische Vertreter in Panik geraten und selbst im Freiberger Rathaus war man aufgeschreckt.

Ariane war nach wie vor der festen Überzeugung, dass es eine Verbindung zwischen der anonymen Millionenspende und der »Erzfieber«-Affäre gab. Mit ihrer Überzeugung stand sie allerdings allein da. Niemand glaubte ihr. Selbst der Staatsanwalt hatte sie nur müde belächelt. Die Verbrecher waren ja festgenommen worden. Warum sollten die Behörden nach dem anonymen Gönner fahnden? Und wieso sollte das eine mit dem anderen in Zusammenhang stehen?

Für Ariane schien es sonnenklar. Der Kämmerer von Freiberg war ermordet am Grund eines Bergwerksschachts unterhalb der »Reichen Zeche« gefunden worden. Heinrich Schirach war maßgeblich an der »Erzfieber«-Verschwörung beteiligt gewesen. Warum er ermordet worden war und von wem, hatte niemand herausfinden können. Umso mehr irritierte es Ariane, dass die Polizei die zwei Verbrechen nicht miteinander in Zusammenhang brachte. Offiziell war die zeitliche Überschneidung reiner Zufall. Ariane war sicher: Die räumliche und zeitliche Nähe der beiden Entwicklungen hatte etwas zu bedeuten. Waren denn alle anderen blind, oder verschlossen sie sogar mutwillig ihre Augen?

In diesen Tagen begannen nun also die Bauarbeiten für die Errichtung des Besucherzentrums, das sich der anonyme Spender gewünscht hatte. Gerade in der Woche, in der sich die Ereignisse zum ersten Mal jährten. Einmal mehr zeigte sich damit eine auffällige Zufälligkeit. Außer Ariane wunderte sich darüber allerdings kein Mensch. Alle freuten sich über das Fünf-Millionen-Euro-Geschenk, niemand wollte nachfragen, warum jemand so etwas Selbstloses tat.

Hier draußen am Stadtrand würde Ariane das Rätsel nicht lösen. Sie hatte es schon mehrfach versucht. Nachdem sie eine Menge Bälle für Charlie geworfen und ihn gründlich ausgepowert hatte, schlug sie innerlich seufzend den Rückweg ein. Ihre Schritte führten sie, wie schon vor zwölf Monaten, in die historische Altstadt. Sie wollte noch einmal bei Sirko vorbeischauen. Den Freund, der auf der Freiberger Kneipenmeile ein Pub besaß, hatte sie schon seit Wochen nicht mehr besucht.

Plötzlich vibrierte das Handy in ihrer Tasche. Auf dem Display erschien der Name ihrer Freundin. Ariane war hin- und hergerissen. Schließlich nahm sie den Anruf doch an.

»Hallo Stefanie, wie geht es dir? Ich bin grad auf Gassi-Runde und wollte dich zurückrufen, sobald ich wieder zu Hause bin.«

»Bist du gerade mit Charlie unterwegs? Ich habe mir schon so etwas gedacht. Wenn es dir im Moment nicht passt, rufe ich dich gern später noch einmal an.«

»Nein, schon okay. Ich kann mir denken, weswegen du dich meldest. Es geht bestimmt um Frau Müller.«

»Jein.« Stefanies Stimme klang leicht zögerlich. »Eigentlich wollte ich wissen, wie es dir geht. Du weißt schon – wegen …«

»Weil die Sache sich gerade jährt? Mach dir keine Gedanken. Ich hab das alles hinter mir gelassen. Im Grunde interessiert es mich kaum noch.« Ariane war selbst überrascht, wie überzeugend sie log. Allein, dass sie hier am Fuß der alten Bergwerkshalden stand, bezeugte ja das Gegenteil. »Du hast aber bestimmt nicht nur deshalb angerufen?«

»Ertappt. Frau Müller war eben noch mal in der Praxis. Sie sah gar nicht gut aus …«

Ariane berichtete ihrer Freundin von dem Gespräch mit der ehemaligen Vorgesetzten. Stefanie würde sicher verstehen, warum sie den Schwestern nicht helfen konnte.

Diese war aber offenbar anderer Meinung: »Frau Müller und vor allem ihre Schwester sind verzweifelt. Ich dachte, du hättest vielleicht einen Tipp für sie oder eine Idee, was sie unternehmen können. Wenn ich mir überlege, was du damals alles gemacht hast. Denk doch bitte noch einmal darüber nach. Die Schwester ist eine ganz liebe Person. Sie dreht gerade komplett durch. Am Morgen haben sich die beiden noch gesehen. Als Frau Eßer dann zur Arbeit kam, war Herr Huber spurlos verschwunden. Wobei spurlos der falsche Begriff ist. Sein Schreibtisch und die Schränke im Büro waren angeblich durchwühlt. Das ist alles voll mysteriös.«

»Davon hat Frau Müller gar nichts erwähnt!« Ariane war überrascht. »Wo arbeiten die beiden denn? Ich habe nicht wirklich aufmerksam zugehört.«

»Er ist der Leiter der Mineralogischen Sammlung der Bergakademie, sie ist seine Sekretärin. Im Prinzip hocken sie den ganzen Tag zusammen und machen was mit Steinen. So wie ich es verstanden habe, würde Herr Huber nirgendwo hingehen, ohne es Frau Eßer zu erzählen. Als Sekretärin, die den Terminplan führt, weiß sie ohnehin über alles Bescheid. Gewissermaßen waren sie sowohl auf Arbeit als auch zu Hause permanent beisammen.«

»Es tut mir für Frau Eßer wahnsinnig leid. In ihrer Haut würde ich nicht stecken wollen. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass sie Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um ihren Partner zu finden. Ihr müsst aber verstehen, dass ich dafür die Falsche bin. Ich kann ihr wirklich nicht helfen.«

»Kein Problem. Hauptsache, dir geht es gut. Ich wünsch dir noch einen entspannten Abend.«

Stefanies Verabschiedung klang ein wenig abrupt. Hatte Ariane etwas Falsches gesagt? Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. In letzter Zeit war sie etwas dünnhäutig. Ariane schob das auf den Jahrestag. Dieser Mist ging ihr zu sehr an die Nieren.

Auf dem weiteren Weg in die Altstadt grübelte sie über das Gehörte nach. Jetzt erschien es auch ihr seltsam, dass Hans Huber einfach so verschwunden war – ganz zu schweigen von dem durchwühlten Büro. Dass die Polizei nichts unternahm, fand sie ebenso merkwürdig. Musste denn immer erst etwas passieren?

 

Inzwischen hatte sie die Meißner Gasse erreicht. Hier in der Nähe des Untermarktes lag das »Meiners«, das ihrem Freund gehörte. Sirko war deutlich älter als sie, Ariane schätzte ihn auf Ende Dreißig. Mit seiner sportlichen Figur und seiner zuvorkommenden Art wirkte er sehr sympathisch. Er war schlichtweg ein Mensch, zu dem man ging, wenn einem etwas auf dem Herzen lag. Fast immer schaffte es der Barkeeper, eine Lösung für die Problemchen des Alltags zu finden. Und bei Ariane gab er sich damit besonders große Mühe.

»Na meine Kleine, wie geht es dir?«, begrüßte er Ariane mit einem strahlenden Lächeln. So früh am Abend waren noch keine Gäste im Pub. Sirko saß entspannt mit einem Glas Limo am ersten Tisch des kleinen Biergartens vor der Eingangstür. Als er Charlie sah, beugte er sich hinunter, um auch dem Hund Hallo zu sagen.

In der harten Zeit nach den »Erzfieber«-Ereignissen war Sirko regelmäßig bei Ariane gewesen und hatte ihr zur Seite gestanden. Dabei hatte er den Hund ebenso ins Herz geschlossen wie jeder, der auch nur ein paar Minuten mit der Promenadenmischung zu tun hatte. Ariane war nicht ganz sicher, ob Sirko nur ein Freund für sie sein wollte oder doch etwas mehr. Obwohl sie schon bei einigen Gelegenheiten deutlich gemacht hatte, dass sie kein Interesse an einer Beziehung hegte, schien es ihr, dass er immer noch auf mehr hoffte.

»Eigentlich ist alles bestens. Wieso fragen mich alle, wie es mir geht? Heute ist ein ganz normaler Tag. Er unterscheidet sich in nichts von gestern oder morgen. Oder wirke ich, als würde es mir schlecht gehen?«

»He, schlag mir nicht gleich den Kopf ab, nur weil ich mich nach deinem Wohlbefinden erkundige!« Sirko hob die Arme in gespielter Abwehr. »Ich dachte nur, dass dich die Nachricht irgendwie mitnimmt.«

»Sorry, ich wollte dich nicht anfahren. Wärst du so nett, mir ein Gläschen Rotwein zu bringen?«

Während sich Ariane draußen hinsetzte, verschwand Sirko geschäftig nach drinnen hinter den Tresen. Das »Meiners« war eine Institution in Freiberg. Ariane hatte während ihrer Ausbildungszeit so manche wilde Nacht in der Kneipe verbracht. Das Ambiente der grünen Insel, gepaart mit der erzgebirgischen Gastfreundschaft von Sirko, sorgte für eine sehr angenehme Stimmung. Inzwischen kam sie nur noch selten hierher. Gerade auch weil Sirko sich so rührend um sie gekümmert hatte, bereute sie das. So gute Freundschaften sollte man auf keinen Fall einschlafen lassen.

In dem Moment fiel ihr auf, was genau Sirko gerade zu ihr gesagt hatte. Irritiert runzelte Ariane die Stirn. Irgendwas stimmte hier nicht. Sobald er wieder nach draußen kam, stellte sie ihn zur Rede: »Woher weißt du, dass heute Frau Müller bei mir war?« Misstrauisch beäugte sie ihren Freund. Noch jemanden, der sie drängte, Elke Eßer zu helfen, konnte sie an diesem Tag nicht gebrauchen.

»Wer ist Frau Müller? Wovon sprichst du?« Sirko stellte das Tablett auf dem Tisch ab. Er hatte nicht nur einen Rotwein für Ariane mitgebracht, sondern auch noch eine Schüssel mit Salzgebäck und eine Schale Wasser für Charlie dabei.

»Heute Nachmittag war meine ehemalige Chefin bei mir und hat mich gebeten, ihrer Schwester zu helfen. Ich soll ihren verschwundenen Lebenspartner wiederfinden. Als ob ich Miss Marple wäre! Aber wovon sprichst du?«

»Von den Nachrichten natürlich.«

»Welche Nachrichten?« Ariane begriff nicht. Es war, als würden sie zwei unterschiedliche Gespräche führen.

Mit einem Stoßseufzer bediente sie sich selbst und nahm das Glas Rotwein und die Schale mit den Knabbersachen vom Tablett. Dann stellte sie die Wasserschale vor Charlie auf den Boden, der sich durstig darauf stürzte. Die Sekunden reichten ihr, um sich zu sammeln.

In der Zwischenzeit hatte Sirko sein Smartphone herausgeholt. Ohne ein Wort der Erklärung schob er das Handy über die Tischplatte. Ein wenig beklommen griff Ariane nach dem Mobiltelefon. Irgendwie fühlte es sich immer falsch an, das Telefon von jemand anderem zu bedienen. Zudem ahnte sie schon, dass ihr das, was auf dem Display zu sehen war, nicht gefallen würde. Sie überflog die angezeigte Website mit zunehmender Aufregung.

»Ist das echt?«

»Es berichten bereits etliche Lokalportale darüber. Ich wüsste nicht, warum es nicht stimmen sollte. Zeitlich würde es auch passen.«

»Das musste ja so kommen! Mir hätte von Anfang an klar sein sollen, dass es nach genau einem Jahr wieder geschieht. Hast du das mit deiner Frage gemeint?«

»Na klar. Ich dachte mir schon, dass es dich aufregen würde.«

Das Nachrichtenportal meldete, pünktlich ein Jahr nach der ersten Millionenspende für Freiberg, eine weitere Zuwendung. Der anonyme Spender hatte sich erneut die Bergstadt herausgesucht, um etwas »Gutes« zu tun. Abermals war die Presse voll des Lobes für den unbekannten Mäzen. Offenbar sollten erneut fünf Millionen Euro an die Stadt Freiberg überwiesen werden. Und wie vor einem Jahr war das Geld wieder an Bedingungen geknüpft.

»Das ist der gleiche Mist wie damals!« Ariane regte sich immer mehr auf. »Der Spender will nicht, dass irgendwer erfährt, wer er ist. Selbst das Anwaltsbüro, das die Transaktion durchführt, soll nicht genannt werden. Ist das überhaupt erlaubt? Da gibt es bestimmt ein Gesetz, das das verbietet. Warum unternimmt niemand etwas dagegen?«

Sirko lächelte amüsiert. »Was sollte an einem Geschenk illegal sein? Du bist die einzige, die sich darüber beschwert. Niemand sonst vermutet dahinter finstere Absichten. Weswegen sollte die Stadt diesen unverhofften Geldsegen nicht annehmen?«

»Ich hatte gehofft, dass wenigstens du mir glaubst.« Ariane war enttäuscht. »Nach allem, was ich letztes Jahr erlebt habe.«

»Das würde ich ja gern. Es gibt aber keinen Grund, etwas Kriminelles dahinter zu vermuten. Das ist wie bei den Altstadt-Millionen von Görlitz. Einundzwanzig Jahre lang hat dort jemand genauso anonym erst eine Million D-Mark und dann eine halbe Million Euro an die Stadt überwiesen, jedes Jahr. Die haben damit ihre Altstadt wiederaufgebaut. Warst du in letzter Zeit mal in Görlitz? Es sieht richtig schön dort aus. Niemand hat dahinter etwas anderes vermutet als das, was es war: eine großzügige Spende. Warum sollte das in Freiberg anders sein?«

Ariane rollte mit den Augen. »Ihr seid alle zu blauäugig. Kein Mensch verschenkt eine so große Summe ohne Hintergedanken. Ich hab dir schon zehnmal erklärt, wieso ›Erzfieber‹ und die Schenkung zusammengehören müssen. Das ist doch mehr als offensichtlich. Ich …« Ariane brach ab. Sie merkte, dass es nichts brachte, darüber mit Sirko zu diskutieren.

Letztlich hatte sie nur eine Theorie, die sie nicht beweisen konnte. Wie sollte sie herausfinden, wer die anonyme Person war? Keiner gab nur ein Fitzelchen einer Information darüber heraus. Wahrscheinlich wusste auch einfach niemand etwas. Alle waren nur erfreut über das viele Geld. Wer fragte da schon nach der Herkunft oder der Absicht, die wirklich dahintersteckte? Nicht einmal die regionale Presse hatte ein Interesse daran, die Sache aufzuklären. Sie verbreitete nur lang und breit das Thema des spendablen Samariters.

Die ersten Gäste betraten jetzt den Pub und wurden von Sirko freundlich begrüßt. Um sie zu bedienen, verschwand er nach drinnen und ließ Ariane an ihrem Tischchen vor dem Pub zurück. So konnte sie ein wenig nachdenken. Wenn ihre Theorie stimmte, würde bald erneut ein Verbrechen in Freiberg geschehen. Sie war überzeugt, dass der anonyme Spender einen kriminellen Plan verfolgte. Als eine Art Superschurke saß er irgendwo im Ausland, um seine Fäden zu spinnen – stellte sie sich zumindest vor. Was er vorhatte, konnte Ariane nicht im Ansatz erahnen. Jemand musste ihn aber aufhalten, bevor noch mehr Menschen ihr Leben verloren.

Charlie spürte wohl, wie aufgewühlt sein Frauchen war. Behutsam drückte er seine kalte Schnauze gegen ihre Waden, um ihr zu sagen, dass sie nicht allein war. Selbst wenn sie sich das nur einbildete, tat es gut. Die Promenadenmischung wusste immer genau, wie sich Ariane fühlte. Umso trauriger fand sie es, dass sie den Hund morgen wieder abgeben musste. Andererseits war es aber auch richtig so. Wegen ihrer Arbeitszeiten unter der Woche konnte sie sich nicht so gut um Charlie kümmern, wie er es verdient hatte.

Während sie einen großen Schluck Rotwein nahm, zückte sie ihr eigenes Smartphone. Sie wollte wissen, ob es noch mehr Einzelheiten zu der neuen Schenkung gab. Nacheinander durchstöberte Ariane etliche Nachrichtenseiten. Auf der fünften Website stieß sie auf ein Detail, das alles über den Haufen warf. Ihr kam es so vor, als würde sämtliches Blut aus ihren Armen und Beinen weichen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein?! Für einen Moment begann sich die Welt um sie herum zu drehen. Sie sprang auf. »Sirko, sieh dir das an!«

Die schnelle Bewegung erzeugte tatsächlich einen leichten Schwindel. Bevor sie in den Pub stürmen konnte, musste sie sich an der Tischkante festhalten. Dann trugen sie ihre Füße wie ferngesteuert zu ihrem Freund an den Tresen, der gerade ein Guinness zapfte.

»Was sagst du jetzt?« Triumphierend hielt Ariane ihm das Display vor die Augen.

Nun war Sirko genötigt, ein fremdes Smartphone entgegenzunehmen, um die winzigen Buchstaben zu entziffern. Leider zeigte er sich weit weniger beeindruckt als gedacht: »Das ist doch beinahe derselbe Text, den ich dir vorhin gezeigt habe. Worauf genau willst du hin?«

»Lies es dir richtig durch«, forderte Ariane mit Vehemenz. »Die Einzelheiten sind wichtig.«

Zwanzig Sekunden später sah Sirko sie jedoch genauso fragend an wie zuvor. Offensichtlich begriff er nicht. Sie musste es ihm wie einem kleinen Kind erklären.

»Wofür ist die Millionenspende gedacht? Es ist haargenau wie beim letzten Mal. An die Schenkung ist immer der Verwendungszweck geknüpft. Die Stadt muss das Geld genauso benutzen, wie es der anonyme Spender will.«

»Das ist mir klar. Und weiter?« Sirko legte das Handy vorsichtig auf dem Tresen ab.

Ariane fielen jede Menge Bezeichnungen für die Begriffsstutzigkeit von Männern ein. So sehr sie normalerweise Verallgemeinerungen ablehnte, es gab immer wieder Momente, in denen Klischees wie die Faust aufs Auge passten. Männer!

Sie wedelte mit dem Handy vor Sirko herum. »Die Mineraliensammlung! Das Geld ist für die Mineraliensammlung der Bergakademie bestimmt. Die Spende soll für eine Erweiterung oder Verbesserung der Sammlung ausgegeben werden.«

»Ja und?« Sirko stellte seelenruhig das volle Bierglas ab und griff nach einem zweiten.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, steigerte Ariane sich in Rage. »Ich rede seit einem Jahr davon, dass etwas Schlimmes passieren wird. Jetzt wird verkündet, dass es eine neuerliche Millionenschenkung gibt, und schon verschwindet ein Mensch. Hans Huber, von dem ich erst vorhin geredet habe, ist der Leiter der Mineraliensammlung. Hier führt wieder das eine zum anderen!«

»Das kann auch nur ein Zufa…«

Ariane unterbrach Sirko lautstark. »Komm mir jetzt nicht mit Zufall! Ich kann es nicht mehr hören. Einmal ein Zufall kann vorkommen. Beim zweiten Mal ist es Absicht oder etwas noch Schlimmeres. Verdammt, das ist der Beweis, nach dem ich gesucht habe! Jetzt muss mir die Polizei einfach glauben.«

Sirko zeigte sich aber ganz und gar nicht überzeugt. Er schüttelte zweifelnd den Kopf, während er die beiden gefüllten Biergläser auf ein Tablett stellte. Sie merkte förmlich, wie er mit sich rang. Wahrscheinlich suchte er gerade nach Worten, die sie nicht allzu sehr verletzten. Er wusste genau, wie es in ihr aussah. Umso trauriger fand sie es, dass er ihr nach wie vor nicht glauben wollte. Wenn nicht er, wer dann?

»Du weißt, dass ich immer auf deiner Seite bin.« Sirko holte weit aus, um die richtigen Worte zu finden. »Trotzdem kommt mir das zu unwahrscheinlich vor. Was soll das bitte für ein kriminelles Genie sein, das sich einen solchen Plan ausdenkt? Vor allem frage ich dich, weshalb jemand so etwas machen sollte? Hier geht es schließlich um Millionen von Euro. Das ergibt keinen Sinn. Warum sollte jemand so viel Geld ausgeben, um Menschen verschwinden zu lassen oder Morde zu begehen? Das würde wesentlich billiger und ohne solches Aufsehen gehen.«

»Das ist genau der Punkt, den ich auch nicht verstehe«, gab Ariane zerknirscht zu.

»Wäre ich ein Bösewicht, würde ich für mein Geld einen professionellen Auftragskiller engagieren. Der könnte dann die Morde wie einen Unfall aussehen lassen. Weswegen also der Aufwand mit der offiziellen Spende? Dadurch wird die Öffentlichkeit eher noch aufmerksamer. Jeder fragt sich, wer der anonyme Geldgeber ist. Alle wollen wissen, was er für einen Beweggrund hat, eine solch fürstliche Summe zu spenden. Glaub mir, Ariane, du verrennst dich da in deine Theorie.«

Mit dem Tablett in der Hand schob sich Sirko an Ariane vorbei zu den Gästen. Sie hatte ohnehin keine Lust mehr, die Angelegenheit länger zu diskutieren. Was würde es auch bringen? Sie konnte ihren Freund offenbar nicht überzeugen. Mit einem unverbindlichen Lächeln brach sie die Unterhaltung ab.

Anschließend versuchte sie, ihre Rechnung zu bezahlen, um sich mit Charlie auf den Heimweg zu machen. Sirko lud sie jedoch wie jedes Mal ein und umarmte sie zum Abschied eine Sekunde länger, als es für eine freundschaftliche Umarmung nötig gewesen wäre. Sie wusste gar nicht, was sie mehr ärgerte: dass er ihr nicht glaubte, oder dass er seine Avancen nicht aufgeben wollte. Wenigstens etwas hatte der Spaziergang ihr gebracht: Sie wusste nun, dass das Böse erneut in den Straßen Freibergs unterwegs war. Diesmal war sie jedoch bereit zu handeln.

 

Ihren Heimweg legte Ariane extra so, dass er über den Untermarkt führen würde. Dadurch wurde er zwar doppelt so lang, sie wollte aber gern noch einen Blick auf Schloss Freudenstein werfen.

Morgen würde sich Ariane unbedingt noch einmal bei Martina Müller melden müssen. Die neueste Nachricht hatte alles verändert. Nun war sie felsenfest überzeugt, dass das Verschwinden von Hans Huber mit der Millionenspende zusammenhing – und dass ein Verbrechen geschehen war.

An den schlimmsten Fall wollte Ariane lieber nicht denken. Ihr Bauchgefühl sagte ihr aber, dass Hans Huber wahrscheinlich längst tot war. Vor einem Jahr war es ähnlich gewesen. Noch bevor die Spende offiziell bekanntgegeben worden war, hatte der Mörder zugeschlagen. Trotzdem würde Ariane Elke Eßer bei der Suche nach ihrem Lebenspartner unterstützen. Es brachte nichts, der Frau von Anfang an die Hoffnung zu nehmen. Selbst wenn sich herausstellen würde, dass dem Professor nicht mehr zu helfen war, konnte Ariane dabei dem anonymen Millionenspender auf die Spur kommen.

Ariane lief mit dem fröhlich hechelnden Charlie am Freiberger Dom vorbei und wandte sich zum Schlossplatz. In der Abenddämmerung schienen die schmalen Gassen der Altstadt nahezu menschenleer. Wie vor einem Jahr streifte sie durch die verlassene Innenstadt ihrer Heimat. Damals war ihr jemand auf den Fersen gewesen, der sie dann in ihrer Wohnung überfallen hatte. Die Erinnerung daran ließ Alarmglocken in ihrem Kopf erklingen. Mehr als einmal drehte sich Ariane um. Mitunter blieb sie gar einige Sekunden lang stehen, um nach verdächtigen Schritten zu lauschen. Zu hören war jedoch absolut nichts.

Nur Charlie blickte sie irritiert an. Offenbar spürte er ihre Nervosität. Nach ereignislosen Minuten, die ihr allerdings wesentlich länger vorkamen, bog Ariane schließlich auf den großen Platz ein, an dem das altehrwürdige Freiberger Schloss stand. Das restaurierte Gebäude, das im Mittelalter Herrschaftssitz der sächsischen Wettiner-Fürsten gewesen war, beherbergte heute eine weltberühmte Mineraliensammlung, die »terra mineralia«.

Jetzt war das Museum geschlossen, wahrscheinlich war nur noch eine Nachtwache da. Heute würde Ariane nicht mehr hineinkommen. Trotzdem wollte sie einen Blick auf das Bauwerk werfen. Es war sozusagen der Ausgangspunkt ihrer Ermittlungen. Sie wollte sich für die kommenden Tage motivieren. Heute Morgen noch hatte sie das Anliegen Martina Müllers weit von sich gewiesen – nun jedoch …

Abrupt blieb sie stehen. Mit diesem Anblick hatte sie nicht gerechnet: Mehrere Polizeiwagen parkten in der Zufahrt zum Schlossinnenhof. Das Blaulicht illuminierte die Häuser im weiten Umkreis. Uniformierte Männer standen herum, von Hektik war allerdings nichts zu sehen. Was geschehen war, konnte Ariane von hier draußen nicht erkennen. Kam sie zu spät? Hatte das Verhängnis schon seinen Lauf genommen?

Neugierig machte Ariane sich daran, es herauszubekommen. Wie sie schon Sirko erklärt hatte, glaubte sie nicht an derart viele Zufälle. Erst das Verschwinden von Hans Huber, dann die Meldung über die neue Millionenspende und nun plötzlich ein Polizeieinsatz in der Mineraliensammlung, dem Ort, mit dem alles zusammenhing? Hier war etwas faul. Sie wandte sich an den ihr am nächsten stehenden Polizisten.

»Einen schönen guten Abend, die Herren. Entschuldigung, dass ich störe. Was haben denn vier Polizeiwagen um diese späte Stunde hier am Schloss zu suchen?« Der Polizist schien durchaus freundlich, blieb aber routiniert ablehnend. In seinem etwas feisten Gesicht unter den kurzen kupferfarbenen Haaren zeigten sich die Spuren eines langen und anstrengenden Tages. Wahrscheinlich gab es an diesem schönen Sommerabend jede Menge Orte, an denen er gerade lieber sein wollte als hier.

»Es ist nichts weiter. Ein einfacher Routineeinsatz. Alles in bester Ordnung. Sie müssen sich absolut keine Sorgen machen.«

Ariane stutzte. Wenn ein Polizist sagte, man müsste sich keine Sorgen machen, dann war klar: Man sollte sich auf jeden Fall Sorgen machen. Hier war etwas oberfaul. Vier Fahrzeuge waren doch recht viel für einen einfachen Routineeinsatz. Wie viele Beamte waren da gerade im Einsatz – acht, zehn oder gar sechzehn? Ariane überlegte, ob es in Freiberg überhaupt so viele Polizisten gab.

Ihr Gesprächspartner schien sie jetzt loswerden zu wollen: »Ich sagte doch, hier ist nichts zu sehen. Bitte gehen Sie weiter.«

Eine weitere Floskel, die Ariane aufhorchen ließ. Der Polizist versuchte viel zu angestrengt, die Situation herunterzuspielen. Da hätte er auch gleich mit einem großen roten Ausrufezeichen auf dem Kopf herumlaufen können.

»Was ist denn hier los? Irgendwelche Probleme?«

Bevor Ariane eine weitere Frage stellen konnte, kam ein weiterer Polizist herüber. Seine Schulterklappen verrieten ihr, dass sie es mit einem Beamten im gehobenen Dienst zu tun hatte. Früher war für sie ein Polizist wie jeder andere gewesen. Seit den Ereignissen vom letzten Jahr kannte Ariane die Dienstgrade bei der Polizei und die Unterschiede zwischen den einzelnen Polizeiinspektionen. So war eine Dienststelle in Freiberg etwas vollkommen anderes als die Kriminalpolizei in Dresden oder der Kriminaldauerdienst in Chemnitz. Und sie wusste, wie man mit Beamten der höheren Dienstgrade umgehen musste.

»Einen schönen guten Abend, Herr Polizeihauptkommissar. Ich war gerade auf Gassi-Runde und bin einfach neugierig, was dieses Tohuwabohu hier soll.« Dabei zeigte sie auf Charlie, als ob der alles erklären würde.

Der Polizist hielt kurz inne. Offenbar überraschte es ihn, dass ihn eine Bürgerin mit dem richtigen Dienstgrad ansprach. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er Ariane genauer. War sie eine Journalistin oder jemand anderes Offizielles? Sein Tonfall wurde etwas freundlicher.

»Wir sind nur wegen eines Fehlalarms hier. Die interne Alarmanlage des Museums ist angesprungen. In der Mineralienausstellung gibt es einige wertvolle Stücke. Da legen wir höchste Wachsamkeit an den Tag. Es ist aber nichts passiert. Wie gesagt: Fehlalarm.«

»Und da kommen Sie gleich mit vier Einsatzwagen? Ich dachte, es gäbe eine Sicherheitsfirma, die das Schloss überwacht.« Ariane riet einfach ins Blaue hinein.

»Das ist schon richtig. Bei einem Alarm im Tresorraum werden wir aber automatisch hinzugezogen. Wie jedoch schon mehrfach erwähnt: Es war ein Fehlalarm. Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte. Wir haben noch zu tun.« Damit ließ der Hauptkommissar sie stehen.

 

Ariane führte Charlie vom Schlossplatz in den angrenzenden Stadtpark. Diese Strecke war für den Hund angenehmer, als wenn sie durch die Einkaufsmagistrale gelaufen wäre. Was war das eben gewesen? Nur ein Fehlalarm? Was hatte der Kommissar dann noch im Schloss zu tun? Widersprach er sich damit nicht selbst? Überzeugt hatte er Ariane auf jeden Fall nicht. Vielleicht sollte sie herausfinden, was da geschehen war.

Während die Promenadenmischung über die Wiesen tollte, rief Ariane Stefanie zurück. Die war überrascht, abermals von ihrer Freundin zu hören. Noch überraschter war sie von Arianes Erklärung, sie wäre nun doch bereit, Elke Eßer zu helfen. Sie bereute ihre vorschnelle Entscheidung und die ablehnende Haltung von heute Nachmittag. Stefanie sollte ihr helfen, den Kontakt zu Martina und Elke herzustellen.

Die Freundin versprach, Ariane gleich morgen Frau Müllers Telefonnummer und die ihrer Schwester zu geben. Sie war erfreut, dass Ariane sich nun doch des Falls annehmen wollte – eigentlich war sie von Anfang an sicher gewesen, dass Ariane das tun würde. Die musste schmunzeln, weil Stefanie sie offensichtlich besser kannte als sie sich selbst.

Zu Hause fand Ariane keine Ruhe. Die Ereignisse des Tages nagten an ihr. Sie durchlebte ein ganzes Sammelsurium verschiedenster Gefühle. Auf der einen Seite war es belastend: All die Erinnerungen und Emotionen von vor einem Jahr drängten nochmals mit voller Wucht auf sie ein. Andererseits sehnte sie die kommenden Ereignisse auch herbei. Sie wollte endlich herausbekommen, wer der mysteriöse Millionenspender war.

Ariane erschrak über sich selbst, als sie das bemerkte. Kein normaler Mensch wünschte sich Verschwörungen, tödliche Geheimnisse und dunkle Bedrohungen herbei. Trotzdem konnte sie vor sich selbst nicht leugnen, dass sie sich auf die kommenden Tage sogar ein wenig freute.

Morgen würde sie sich auf die Suche nach Hans Huber machen und etwas über die Millionenspende herausfinden. Am ehesten würde sie Antworten dort finden, wo die Schenkung eingesetzt werden sollte. Da sie die Spätschicht in der Physiotherapie hatte, konnte sie den Vormittag für ihre Recherchen nutzen.

Zuvor musste sie sich jedoch um Charlie kümmern. Wie immer bereitete Ariane die Hundemahlzeit selbst zu. Gekochte Geflügelherzen mit einem Ei waren das ideale Futter nach so einem langen Spaziergang. Während Charlie sich genüsslich auf sein Essen stürzte, packte Ariane für sich eine Tafel Schokolade aus und klappte den Laptop auf.

Zuerst recherchierte sie auf etlichen Webseiten über die Mineralienausstellung. Sie musste sich selbst eingestehen, dass sie sich noch nie damit auseinandergesetzt hatte. Mineralien gehörten zu Freiberg genau wie die 850 Jahre alte Bergbaugeschichte. Trotzdem hatte sie die »terra mineralia« bisher nie sonderlich interessiert. Schmuck und Edelsteine waren Ariane nicht wichtig. Und von Mineralien hatte sie gar keine Ahnung. Genauso überrascht war sie, wie wenig sie über Schloss Freudenstein, das wichtigste Bauwerk in der Freiberger Innenstadt, wusste. Vielleicht sollte sie mal einen Stadtrundgang mitmachen?

Mit müden Augen fiel sie schließlich ins Bett. Der morgige Tag würde lang und anstrengend werden. Noch wusste sie nicht, was er ihr bringen würde. Dass das Universum etwas für sie aber vorgesehen hatte, davon war Ariane überzeugt. Die Ereignisse kamen ihr wie ein Wink des Schicksals vor. Es konnte kein Zufall sein, dass ihr genau an dem Tag, als die neue Millionenspende bekanntgegeben wurde, das Verschwinden des Leiters der Mineralogischen Sammlung vor die Füße fiel. Wer auch immer wollte, dass sie sich der Geschichte annahm – sie hatte vor, der Sache auf den Grund zu gehen.

Tag 2

 

Der Wecker riss Ariane aus einem lebhaften Traum. Allerdings konnte sie schon beim Aufstehen nicht mehr sagen, wovon er gehandelt hatte. Da nützte auch das Tagebuch nichts, das seit einiger Zeit neben ihrem Bett lag. Eigentlich wollte sie sich die nächtlichen Gespinste ihrer Fantasie notieren, bis heute jedoch mit eher mäßigem Erfolg.

In den Wochen nach den »Erzfieber«-Ereignissen hatten sie beinahe jede Nacht Albträume geplagt. Jetzt, ein Jahr nach den Geschehnissen, hatten sich die Angstträume in Erfahrungsträume gewandelt. Zumindest beschrieb Ariane ihre Erinnerungen daran in dieser Art. Sie träumte inzwischen weniger von einschüchternden Erlebnissen als von diffusen, schweißtreibenden Verfolgungsjagden. Und dabei war sie immer häufiger die Jagende als die Gejagte.

Das Traumtagebuch hatte Ariane geholfen, diese Entwicklung in Worte zu fassen. Zu Anfang hatte sie offenbar unter einer leichten Posttraumatischen Belastungsstörung gelitten. Einen Seelenklempner wollte sie deshalb nicht aufsuchen. Die Gespräche mit Sirko und Stefanie reichten, um ihre Ängste in Worte zu fassen und sie so Schritt für Schritt zu verarbeiten. Zu einem Fremden hätte Ariane nur schwer Vertrauen aufbauen können.

Sie war stolz darauf, was sie geschafft hatte. Auch wenn sie nach wie vor nicht problemlos schlief, war es besser geworden. Vielleicht würde es in einem Jahr wieder wie früher sein. Allerdings würde es ihrem Schlaf nicht minder helfen, wenn sie das Geheimnis um die Millionenspende und die Hintergründe der »Erzfieber«-Affäre aufdecken könnte. Gewissheit war noch immer die beste Heilung.

Im Moment standen allerdings ganz andere Hürden vor ihr. An diesem Morgen würde sie erst einmal Charlie zu seiner zweiten Familie zurückbringen. Wahrscheinlich warteten sie bereits darauf, den Vierbeiner in ihre Arme zu schließen. Ariane sollte die Promenadenmischung zwar am übernächsten Wochenende zurückbekommen, aber sie vermisste ihn jetzt schon. Es war das erste Mal, dass sie so lange auf Charlie hatte aufpassen dürfen. Beinahe wie damals, als sie den Hund nach dem Selbstmord seines Herrchens bei sich aufgenommen hatte. Dem Vierbeiner war es am Ende wahrscheinlich einerlei, wer ihm das Essen servierte und wer ihn streichelte. Für Ariane war der kleine Racker jedoch etwas Besonders.

Gleichwohl war ihr klar, dass Charlie mehr verdient hatte, als den ganzen Tag darauf zu warten, dass sie endlich von der Arbeit kam. Dies war einer der großen Nachteile des Singlelebens. Was konnte sie aber daran ändern? Grundsätzlich hatte Ariane nichts gegen eine Beziehung einzuwenden. Bis jetzt hatte sie auf diesem Gebiet allerdings nur mäßige Erfolge vorzuweisen. Entweder erwischte sie komplette Versager, wie einen gewissen DJ Finn aus Dresden. Manchmal auch faule Tomaten wie den Polizisten Ben Benserler, den sie vor einem Jahr kennengelernt hatte. Andere wie Sirko schafften es nicht, mehr als nur gute Freunde zu werden. Ob Ariane auf ewig zum Singleleben verdammt war?

 

Für einen Arbeitstag mit Spätschicht verließ Ariane ihre Wohnung in der Bahnhofsvorstadt ziemlich früh. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie nach den Ereignissen im letzten Jahr nicht umgezogen, obwohl ihr jeder dazu geraten hatte. Zwar war sie in den eigenen vier Wänden überfallen worden, aber Ariane hatte sich ihr Sicherheitsgefühl zurückgeholt; unter anderem mit einem schweren Stahlriegel vor der Tür.

Von ihrer Wohnung war es nicht weit bis zur Arbeit. Heute lief Ariane aber in die andere Richtung. Im Stadtteil Friedeburg residierte in einer historischen Villa Charlies andere Familie. Der Garten hinter dem Haus bot ihm jede Menge Platz zum Auslauf, und durch die Kinder war er viel weniger allein. Auf Dauer hatte er es hier wohl tatsächlich besser. Ein knappes Gespräch über den Urlaub und ein freundschaftlicher Händedruck beendeten die Übergabe. Schon kurz darauf verspürte Ariane einen leichten Stich im Herzen. Noch schlimmer würde es werden, wenn sie in ihre Wohnung zurückkam und kein schwanzwedelnder Hund vor ihr stünde.

Die Fellnase wäre in der Mineralienausstellung aber mit Sicherheit unerwünscht. Im Zweifel hätte sie Charlie wieder nach Hause bringen müssen, um anschließend mit den Nachforschungen beginnen zu können. So wie jetzt war es schon richtig.

 

Nach zehn Minuten war Ariane in der Altstadt. Direkt am Rand des Stadtparks verlief die ehemalige Wehranlage der Bergstadt. Sie folgte der Wallstraße zu ihrem Ziel, Schloss Freudenstein. Es war schon kurz nach der Stadtgründung eine Art befestigter Wohnsitz der Fürsten gewesen, seit 1566 thronte das Schloss über dem Ensemble der Stadtbefestigung.

Ariane staunte über sich selbst: Den Wikipedia-Artikel hatte sie gestern nur kurz überflogen. Trotzdem hatte sie noch jede Menge Fakten im Kopf. Daran, dass der Komplex in den Neunzigerjahren kurz vor dem Verfall gestanden hatte, hatte sie sich gar nicht mehr erinnern können. Erst die Einrichtung des Museums und die damit verbundenen Investitionen hatten das Schloss wieder in seinem alten Glanz erstrahlen lassen.

Auf dem Schlossplatz angekommen, lag das lange, weiß getünchte mittelalterliche Gebäude in seiner ganzen Pracht vor ihr. Diesmal behinderten keine Polizeiautos Arianes Sicht. Mit festen Schritten strebte sie auf den Haupteingang zu. Der Zugang zur Ausstellung lag im Innenhof. Deswegen ging sie zuerst über die breite Brücke des ehemaligen Wassergrabens. Früher hatte es hier einen stadtbekannten Jugendclub gegeben. Ariane selbst konnte sich dunkel an ein Mittelalterfest erinnern, dass sie als sehr kleines Mädchen besucht hatte; auf jeden Fall vor der Renovierung des Schlosses. Heute achtete die Tourismusbehörde jedoch darauf, dass in der Altstadt alles schön sauber und ordentlich vonstattenging.

Der mit groben Steinplatten ausgelegte Innenhof wirkte recht steril. Im Kontrast zu den beigefarbenen Wänden erhob sich der neue Anbau zur Rechten wie ein Fremdkörper. Dunkelgraue Betonwände rahmten eine lange Glasfront ein. Dahinter musste der Eingang zur »terra mineralia« sein, der weltberühmten Mineralienausstellung, die Ariane noch nie besucht hatte.

Die breite Glastür fuhr automatisch auf. Im Eingangsbereich dahinter erstrahlten die Wände in einem gewagten Magenta. Wer hatte sich diese Farbwahl wohl nur einfallen lassen? Ariane war sonst nicht an Gestaltung interessiert, aber dieses stechende Lila fand sie für ein Museum unpassend. Einen Moment überlegte sie im Scherz, ob gestern wegen dieses farblichen Verbrechens die Geschmackspolizei vor Ort gewesen war. Dann rief sie sich innerlich selbst zur Ordnung. Hier ging es um viel ernstere Dinge. Ein Mensch war verschwunden und wahrscheinlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Da sollte ihr die Farbe der Wände egal sein.

Am Ende des langgestreckten Eingangsbereichs führte eine Tür ins eigentliche Schloss. Ariane spürte förmlich die Geschichte, die in den mittelalterlichen Mauern steckte. Die hohen Holzdecken aus schweren Bohlen verstärkten die gediegene Museumsatmosphäre.

»Schönen guten Tag, ich würde gern …«

»Möchten Sie ins Krügerhaus oder in die Mineraliensammlung?«, wurde Ariane direkt unterbrochen. Irgendwie fand sie es unhöflich, dass die Frau an der Kasse ihr das Wort abgeschnitten hatte. Gleich darauf fragte sie sich, was die Dame damit meinen konnte.

»Krügerhaus?«

Die Museumsangestellte schaffte es, höflich und zugleich genervt zu wirken. Ariane wartete nahezu darauf, dass sie die Augen verdrehen würde. Die Frau hatte sich aber unter Kontrolle und erklärte routiniert: »Wir haben hier zwei Sammlungen. Im Krügerhaus befindet sich eine kleinere mit ausgewählten Mineralen, vorwiegend aus Deutschland. Das haben wir Dr. Peter Krüger, dem Begründer der Dr.-Erich-Krüger-Stiftung für die TU Bergakademie Freiberg zu verdanken. Hier im Haus befindet sich unsere Hauptsammlung.«

Ariane war überrascht, dass es gleich zwei Mineralien-Museen gab. Als Freibergerin hätte sie das eigentlich wissen müssen. Arbeitete Hans Huber überhaupt in diesem Museum? Sie war nur auf Verdacht hierhergekommen. Die Kassiererin unterbrach ihre Überlegungen und tippte routiniert in den Computer.

»Also in die Hauptsammlung? Das macht dann zehn Euro.«

»Ich wollte aber …«

»Möchten Sie jetzt in die Sammlung oder nicht?«

Ariane fühlte sich überrumpelt. Hinter ihr warteten schon weitere Besucher. Sie entschloss sich, einfach den Eintritt zu bezahlen. Es würde wahrscheinlich nichts schaden, sich einen kleinen Überblick zu verschaffen. Außerdem war sie neugierig geworden. Hier gab es wesentlich mehr zu sehen, als sie gedacht hatte.

»Wenn Sie etwas ablegen möchten – gleich hier rechts sind die Spinde. Ansonsten fahren Sie bitte in den fünften Stock, da beginnt der Rundgang.«

Fünfter Stock? Ariane war überrascht. Wie groß war denn diese Ausstellung? Am Ende eines Ganges lag ein moderner Fahrstuhl, daneben gingen mehrere Türen ab. Hinter einer davon lagen bestimmt die Büros der Mitarbeiter. Ariane würde sich später zu Elke Eßer durchfragen. Zuvor ging es für sie ganz nach oben.

Sie fand sich in einem typischen Museum wieder. Die niedrige Holzdecke des ehemaligen Speichers wurde von mächtigen Holzbalken gehalten, darunter standen Schaukästen mit Ausführungen zur Entstehung der Mineralien und Gesteine. Das war sicher interessant, Ariane konnte damit nur wenig anfangen. Nach ein paar Metern ging es schon wieder ein Stockwerk nach unten.

Hier staunte Ariane: Herrlich anzusehende Minerale lagen in großen Glasvitrinen, wunderschön und mit Farbtupfern übersät. Sie verstand nun, warum man sich für Mineralien begeistern konnte. Über die exotischen Namen konnte sie sich nur wundern. Was war ein Amazonit? Von einem Wulfenit hatte sie auch noch nie etwas gehört. Vielleicht wäre die Ausstellung mit einer Führung wesentlich lehrreicher für sie gewesen.

Andächtig schlenderte sie von einer Vitrine zur nächsten. Kein Stein ähnelte dem anderen. Es gab unglaublich viele Variationen, Farben und Formen. Ein weiterer Raum tat sich auf. In hohen Glaskästen lagen abermals Minerale, die sogar noch größer, farbenprächtiger und faszinierender wirkten. Erneut schritt Ariane die Kästen ab. Die einzelnen Steine waren wiederum mit Namen gekennzeichnet, von denen sie noch nie etwas vernommen hatte.

Beim zwanzigsten Schaukasten hörte sie schließlich auf, die Beschreibungen zu lesen und bewunderte nur noch die außergewöhnlichen Formen. In einem separaten, eigens abgedunkelten Bereich lagen fluoreszierende Minerale. Der Anblick raubte ihr den Atem.

Schließlich trat Ariane in ein Treppenhaus hinaus. Auf der Tür gegenüber stand in mittelalterlicher Schrift: »Saale No8«. Sie war also gerade im siebten Raum gewesen. Wie viele Steine hatte sie bereits gesehen? Wie viele gab es in den anderen Etagen? Was war das für eine gigantische Sammlung?

Der achte Saal bildete offenbar den asiatischen Teil der Sammlung. In der Abteilung »Gullivers Reisen« ging es speziell um den Aufbau von Gesteinen. Vergrößerungen bis in den atomaren Bereich zeigte die Kristallstruktur der Objekte. Zugleich wurde verdeutlicht, wieso es so viele Arten, Formen und Farben gab. Ariane lief jetzt nur noch an den Vitrinen vorbei. Letztlich waren es nur Variationen des bisher schon gesehenen. Natürlich war jedes einzelne Mineral auf seine eigene Art außergewöhnlich und schön. Allerdings war das Gehirn gar nicht in der Lage, so viele unterschiedliche Details aufzunehmen. Es waren schlichtweg zu viele.

Schon nach kurzer Zeit hatte sie den Raum durchquert, ohne dabei sonderlich auf die ausgestellten Objekte geachtet zu haben. Wieder ging es in das Treppenhaus hinaus. Ein Stockwerk tiefer waren die Säle fünf und sechs verschlossen. Es sah aus, als würden sie nicht zur »terra mineralia« gehören. Ariane war erleichtert. Wie vermutet, folgten nun mit Afrika und Europa zwei weitere Ausstellungssäle, abermals mit hunderten, wenn nicht sogar tausenden atemberaubend schönen Mineralen. Ariane sah nur noch eine Menge bunter Steine. Sie hatte kein Auge mehr für die einzelnen Besonderheiten. Die einen strahlten in hellstem Blau, die anderen in einem wunderschönen Giftgrün. Manche waren eher breitgedrückt und blumenkohlartig, andere wiederum filigran oder spitz zulaufend.

Allmählich kristallisierte sich in Ariane die Erkenntnis, dass in dieser wahnsinnig umfangreichen Sammlung das Außergewöhnliche zum Gewöhnlichen verkam. Es war wie mit allen hübschen Dingen: Wenn es nichts Hässliches gab, wurde das Schöne normal und schließlich trivial. In einem Haufen von Schottersteinen würde jedes dieser Minerale auffallen und wäre bewundernswert schön. Hier lagen sie in Massen herum, so dass man ihre Schönheit schlichtweg nicht mehr schätzen konnte.

Ariane eilte nun schnellen Schrittes durch die restlichen Bereiche der Sammlung ins Erdgeschoss und war drauf und dran, direkt zum Ausgang zu gehen. Sie wollte die Angestellte hinter der Kasse nach Elke Eßer fragen. Vielleicht fand sie die Schwester von Martina Müller sogar hier unten. Ihre Schritte stoppten jedoch wie von selbst neben der Tür zu »Saale No2«. Was auf dem Hinweisschild stand, ließ sie aufmerken.

»Tresor« und »Edelsteine« stellten die Begriffe dar, bei denen sie augenblicklich wieder konzentriert war. Die vergitterten Fenster, überall Kameras und schwere Eisentüren erweckten den Eindruck eines gut bewachten Bereichs. Beim Eintreten verstand Ariane, warum solche Sicherheitsvorkehrungen nötig waren.

Große Aquamarine, glänzende Lapislazuli und traumhafte Amethyste lagen hinter dickem Panzerglas. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Auch Diamanten waren eine Unterart der Minerale. Hier lagen wahrscheinlich alle Arten von Edelsteinen. Einige Objekte waren regelrecht gigantisch groß. Ariane schätzte eines der Ausstellungsstücke auf etliche hundert Kilo. Es mutete wie ein Ding aus einer anderen Welt an. Außen aus grauem Stein, war das Innere mit schillernden Kristallen überzogen. Fast anderthalb Meter hoch, wirkte die Geode wie der Inbegriff eines Märchenschatzes.

Ergriffen lief Ariane durch den Bereich. Dieser Ort hatte wahrlich den Namen »Tresorraum« verdient. Selten zuvor hatte sie etwas derart Schönes zu Gesicht bekommen. Es war absolut atemberaubend. Das war aber noch nicht alles: Der nächste Ausstellungsbereich beinhaltete offensichtlich außerirdisches Material. Nach den Gesteinen der Erde waren hier Meteoriten zu sehen. Einige waren älter als das Sonnensystem: fünf Milliarden Jahre. Was waren solche Steine wert? Konnte man dafür überhaupt einen Preis angeben?

Die dicken Mauern des Schlosses mussten Unsummen beherbergen. Ariane fiel es wie Schuppen von den Augen: Dies hier war wahrscheinlich der Ort, an dem die wertvollsten Dinge in Freiberg lagen. Warum dann aber die Spende? Benötigte die »terra mineralia« überhaupt so eine große Zuwendung? Sollten damit etwa noch mehr Steine gekauft werden? Zunehmend fragte sie sich, ob das hier überhaupt der richtige Ort war, um mit ihren Nachforschungen zu beginnen. Ihr Blick glitt erneut über die ausgestellten Kostbarkeiten.

»Das ist ja der helle Wahnsinn«, platzte es leise aus Ariane heraus.

In dem Moment trat ein Mann aus einer Ecke. Wo war er hergekommen? Ihr war niemand gefolgt, und sie war bestimmt schon ein paar Minuten in diesem Raum, ohne das geringste Geräusch gehört zu haben.

»Oh, ich wusste nicht, dass hier außer mir noch jemand ist. Ich habe Sie gar nicht kommen sehen.« Ariane lächelte entschuldigend.

»Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Mir geht es auch immer so, wenn ich hier bin. Man kann durchaus ›Wahnsinn‹ zu all dieser Pracht sagen. Ich war schon vor Ihnen hier. Der Anblick dieses Meteoriten hat mich so gefesselt, dass ich komplett die Zeit vergessen habe.« In der Ecke, aus der er getreten war, sah Ariane tatsächlich eine Vitrine mit einem außerirdischen Gesteinsbrocken.

»Die Edelsteine im anderen Raum sind aber prächtiger. Ich meine, natürlich ist das faszinierend, ein Objekt von außerhalb unseres Sonnensystems. Im Vergleich zu einem Topas wirken die Eisenmeteoriten jedoch ein wenig … farblos.«

Der Mann lächelte verständnisvoll: »Unter diesem Aspekt kann man sich die Ausstellung natürlich auch ansehen. Ich achte allerdings auf andere Gesichtspunkte. Sehen Sie mal diese Maserung hier.« Hierbei wies der Mann auf eine Vitrine. Ariane las, dass darin ein aufgeschnittener Himmelskörper lag. Nickend gab sie zu verstehen, dass sie die Schraffur bemerkt hatte.

»Man nennt so etwas Widmanstättensche Figuren. Sie entstehen, wenn sich das Material sehr langsam abkühlt.«

Ariane blickte den Mann fragend an. Warum erzählte er ihr das?

»Ich rede von einem Grad Kelvin in einer Million Jahren. Das ist ein Prozess, der unglaublich lange benötigt und auf der Erde nicht reproduzierbar ist. Es ist ein Wunder der Natur, was Sie hier vor sich sehen.«

»Oh«, machte Ariane.

»Es kann sehr, sehr lange dauern, bis ein Meteorit so eine Struktur erhält. Nicht nur, dass er von extrem weit herkommt. Dieses Stück Eisen hier hat auch eine besondere und lange Geschichte hinter sich. Außerordentlich faszinierend.«

So spannend die Sache auch war, Ariane hatte etwas anderes zu tun. Mit einem höflichen Lächeln verabschiedete sie sich und ging weiter zum Saal mit der Nummer eins. Ein ganz normaler Museumsshop, wo man allerlei Souvenirs und einfache Minerale kaufen konnte. Hinter der Kasse saß noch immer die Frau, der sie beim Eintreten begegnet war.

»Guten Tag. Ich suche jemanden, der hier arbeitet. Vielleicht können Sie mir helfen.«

Unverbindlich lächelte die Museumsangestellte sie an. Ariane nahm dies als Aufforderung, ihre Frage zu stellen.

»Würden Sie mir verraten, wo ich Frau Eßer finden kann?«

»Eßer? Hm, der Name sagt mir nichts. Warten Sie bitte, ich rufe oben an.«

Ariane war verwirrt. Elke Eßer gehörte doch gewissermaßen zur Geschäftsleitung. Hatte Frau Müller nicht gesagt, sie sei die Sekretärin des Institutsleiters? Während Ariane wartete, ließ sie ihren Blick durch den Eingangsbereich schweifen. Kein Mensch war zu sehen. Zu so früher Stunde waren noch nicht viele Besucher hier. Nur der ältere Meteoriten-Fan kam gerade aus dem Tresorraum. Die Kassiererin legte den Telefonhörer auf und wandte sich an Ariane: »Tut mir leid, hier arbeitet niemand mit dem Namen. Es könnte eine der neuen Reinigungskräfte sein. Allerdings sind die im Moment alle nicht im Haus.«

»Sind Sie sicher?« Ariane war ratlos. »Meiner Information nach müsste sie hier im Sekretariat der Geschäftsleitung sitzen.«

»Na, hören Sie mal. Das wüsste ich aber. Ich sagte doch, hier gibt es keine Person dieses Namens. Das müssen Sie verwechselt haben.«

»Frau Eßer ist auf jeden Fall im Büro von Herrn Huber tätig«, beharrte Ariane. Sie kam sich von der Frau verschaukelt vor. Die hob jetzt die Augenbrauen: »Herr Huber? Ach, jetzt verstehe ich. Oh, da sind Sie hier wirklich an der falschen Adresse.«

»Wieso denn? Frau Eßer arbeitet doch für Herrn Huber in der Mineraliensammlung, oder nicht?«

»Das kann schon sein. Eine Person mit diesem Namen kenne ich leider nicht. Ich weiß aber, dass Professor Huber Leiter der Mineralogischen Sammlung ist.«

»Na bitte. Wo ist dann das Problem?« Ariane wurde langsam ungehalten. Wollte die Frau sie für blöd verkaufen?

»Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.« Die Angestellte sprach nun extra langsam, als wäre Ariane schwer von Begriff: »Sie befinden sich hier in der ›terra mineralia‹ im Stadtschloss. Die Mineralogische Sammlung der Bergakademie ist auf der Brennhausgasse. Da werden Sie sicher auch diese Frau Eßer finden. Hier in unserem Haus arbeitet sie auf jeden Fall nicht.«

Ariane konnte es nicht fassen: »In unserer Stadt gibt es zwei Mineraliensammlungen?«

»Genau genommen sind es mit der Sammlung im Krügerhaus sogar drei. Als Freibergerin müssten Sie das eigentlich wissen. Lernt man so etwas heute nicht mehr in der Schule?«, fragte die Kassiererin mit hochgezogenen Augenbrauen.

Perplex verließ Ariane den Kassenbereich. Sie war also im falschen Museum gewesen. Obwohl sie seit ihrer Geburt in Freiberg lebte, hatte sie nicht gewusst, dass es hier so viele Ausstellungen über Steine gab. War das nicht vollkommen verrückt? In ihrer Heimatstadt lebten kaum mehr als 40.000 Menschen. Was wollte man da mit drei Museen über Minerale? Schon allein die tausenden Steine, die sie eben gesehen hatte, waren zu viele. Was sollte es in den anderen beiden Ausstellungen noch zu sehen geben? Gab es denn überhaupt so viele unterschiedliche Gesteinsarten auf der Welt?

Immerhin war die Brennhausgasse nur ein paar Gehminuten vom Schlossplatz entfernt. Obwohl sie bereits ihren halben arbeitsfreien Vormittag mit dem Bewundern glitzernder Steine verschwendet hatte, blieb ihr noch etwas Zeit, um wenigstens einen kurzen Abstecher dorthin zu wagen. Ein Blick auf die Uhr zeigte Ariane, dass sie schnell aufbrechen sollte. In zwanzig Minuten musste sie an ihrem Arbeitsplatz in der Physiotherapie-Praxis sitzen.

Ärgerlich über die verplemperte Zeit, verließ Ariane das Schloss und wandte sich nach links. Direkt gegenüber, kaum mehr als einhundert Meter entfernt, begann die Brennhausgasse. Ariane lief neugierig die schmale Straße entlang. Wo sollte hier ein Museum liegen? Schnellen Schrittes ging sie am Oberbergamt und etlichen sehr alten Gebäuden vorbei. Hier zeigte sich die Altstadt in ihrem ganzen mittelalterlichen Charme. Trotzdem: Links und rechts sah Ariane nur Wohnhäuser. Hatte die Kassiererin ihr einen Bären aufgebunden?

Jetzt lief sie in Richtung Untermarkt und passierte links den Anbau ihrer ehemaligen Schule. Es war eine gute Zeit gewesen – ohne Verbrechen und andere Erschwernisse des Lebens. Ariane hätte es aber bestimmt bemerkt, wenn in ihrer alten Schule ein mineralogisches Museum beheimatet wäre. Das Geschwister-Scholl-Gymnasium war weit über die Stadtgrenzen hinaus berühmt – allerdings für seine alte Bibliothek, nicht für Minerale.

Auf der anderen Seite lag ein graues Gebäude, vor dem Studenten herumstanden, die offenbar auf den Beginn einer Veranstaltung warteten. Für Ariane hatte ein Studium nie zur Diskussion gestanden. Ihre Schulnoten hätten zwar ausgereicht, aber sie hatte sich ihre Zukunft nicht in einem trockenen Wissenschaftsjob vorstellen können. Lieber arbeitete sie mit Menschen, denen sie helfen konnte.

Da fiel Ariane ein, dass es Studenten der Bergakademie waren, die gerade in dem Augenblick in das Gebäude eilten. Natürlich – Freiberg hatte eine eigene Technische Universität, sogar die bekannteste montanwissenschaftliche Hochschule Europas. Und an der Bergakademie beschäftigte man sich höchstwahrscheinlich auch mit Mineralen und anderen Gesteinen. Darauf hätte sie auch früher kommen können!

Sich selbst eine Närrin nennend, trat Ariane an das Eingangsportal heran. Groß prangte der Name des Gebäudes darüber: Werner-Bau. Daneben hing tatsächlich eine kleine Tafel an der Wand: »Mineraliensammlung der TU Bergakademie Freiberg«. Ariane kam sich wie eine ausgemachte Idiotin vor. Nicht nur, dass sie ins falsche Museum gegangen war. Sie hatte auch nicht bedacht, dass die Bergakademie eine eigene Sammlung haben musste.

Ein paar Treppen führten zum ersten Stock hinauf. Schon hier lagen in hölzernen Schaukästen allerlei Gesteine aus. Sie wirkten zwar nicht so prunkvoll wie in der »terra mineralia«, aber hier stand ja auch die Forschung im Vordergrund. Ariane war sich nun sicher, hier richtig zu sein. Schränke, Stühle und Vitrinen standen herum, Schaubilder erklärten Dinge, die sie nicht verstand. Allerdings wirkte es nirgends wie in einem Museum. Weder war ein Kassenbereich zu sehen, noch gab es Museumsmitarbeiter oder einen Museumsshop.

Dafür lag ein moderner, verglaster Fahrstuhl direkt vor ihr. Die Ausstellung musste also in den oberen Etagen liegen. Tatsächlich trat Ariane im dritten Stock aus dem Fahrstuhl in einen großen Raum, der ziemlich nach Museum aussah. Eine sehr lange, dunkle Holzvitrine stand in der Mitte. Drei Türen gingen links, rechts und gegenüber ab. In verglasten Holzschränken waren verschiedenste Steine ausgestellt. Menschen konnte Ariane aber nirgends entdecken. War das Museum vielleicht gar nicht geöffnet?

Rechts fand sie sich vor einer verschlossenen Tür. Ein Hinweisschild schickte sie auf die gegenüberliegende Seite. Da sie dabei an der mittleren Tür vorbeikam, betätigte Ariane zur Probe ebenfalls die Klinke – ebenso abgeschlossen. Auch die linke Tür war abgesperrt. Stattdessen forderte sie eine weitere Informationstafel auf, sich ein Stockwerk tiefer im Raum 217 zu melden. Nicht, dass sie für das Betreten dieses Museums noch den Passierschein A38 benötigte, dachte sie augenrollend.

Was war das für ein Museum? Mussten sich Besucher erst anmelden? Wurden die Türen nur aufgeschlossen, wenn jemand kam, der die Ausstellung sehen wollte? Ariane hatte noch nie von dieser Sammlung gehört. Wenn das auch allen anderen Freibergern so ging, war klar, dass hier keiner herkam. Touristen besuchten sicher nur die »terra mineralia«, für die in der ganzen Welt geworben wurde.

Für welches der beiden Museen war die Millionenspende bestimmt? Hatte Ariane die falschen Schlüsse gezogen? Wie Schuppen fiel es Ariane in der Sekunde von den Augen: Die Millionenspende war gar nicht für die „terra mineralia“ gedacht, sondern für dieses traurige, verstaubte Museum! Und der verschwundene Hans Huber war genau hier tätig.

Die Erkenntnis brachte ihr in dem Moment jedoch nicht viel. Zeit hatte Ariane keine mehr zur Verfügung. Wenigstens könnte sie sich noch schnell bei Frau Eßer melden. Ein kurzes Hallo würde reichen. Ihre Schwester hatte ihr mit Sicherheit schon von Ariane erzählt. Frau Eßer saß bestimmt in besagtem Raum 217. Sie könnten fix Telefonnummern tauschen, um heute Abend alles Weitere zu bereden.

Im Treppenhaus begegnete Ariane einem jungen Mann, den sie fast nach dem Weg gefragt hätte. Allerdings wirkte er mit seinem Bartflaum so jung, dass sie bezweifelte, dass es sich bei ihm um einen Studenten handelte. Wahrscheinlich war er auch nur ein Besucher in dem Haus. Mit einem knappen Nicken ging sie an dem Jungen vorbei. Eine Etage tiefer fand sie das richtige Büro und klopfte verhalten an die mächtige Holztür. Die hohen Decken und das gediegene Erscheinungsbild erweckten eher den Anschein einer Behörde. Als auch nach mehrfachem Klopfen niemand antwortete, öffnete sie frech die Tür. Erstaunlich leicht schwang der große Flügel auf.

Dahinter lag ein relativ schmales Büro, das ausgesprochen normal wirkte. Der obligatorische Computer stand auf einem Schreibtisch, der auffallend aufgeräumt aussah. Hohe Wandregale voller Akten vermittelten den Eindruck reger Geschäftstätigkeit.

Ein Durchgang führte in ein weiteres, wesentlich größeres Büro. Hatte Ariane auf Anhieb die Arbeitsplätze von Elke Eßer und Hans Huber gefunden? Neugierig trat sie direkt in den anderen Raum durch. Zu ihrer Verblüffung saß dort jemand. Hatte der ihr Klopfen nicht gehört? Allerdings entsprach er nicht ihrer Erwartung. Mit vielleicht Mitte dreißig konnte es nicht der verschwundene Professor sein.

Seine kurzen, braunen, lockigen Haare und der ziemlich lange, hagere Körper ließen ihn wie einen typischen Studenten im zwanzigsten Semester aussehen. Vielleicht war er auch ein Dozent. Ab einem gewissen Alter sahen sie für Ariane alle gleich aus. Auf jeden Fall war er Akademiker, da war sie sicher.

Irritierend war allerdings, dass der Mann fieberhaft den Schreibtisch durchsuchte. Wahllos zog er Schubladen auf und durchwühlte sie. Etliche Papiere wurden dabei zerknittert und zerrissen, während Ariane zusah. Der Mann war derart konzentriert, dass er gar nicht mitbekommen hatte, wie sie in den Raum getreten war. Unbeirrt wühlte er sich weiter durch die verschiedensten Unterlagen. Allzu große Unordnung erzeugte er dabei nicht – der Inhalt der meisten Schränke war schon auf dem Boden des Büros verstreut. Ein Großteil der Türen stand offen, Aufbewahrungskisten waren herausgezogen und wahllos abgestellt worden. Ariane erinnerte sich, dass Martina Müller ihr von einem durchwühlten Büro erzählt hatte. War sie wirklich direkt darauf gestoßen? Und wieso war dieser Typ erneut dabei, alles auf den Kopf zu stellen?

Mit einem Räuspern machte Ariane auf sich aufmerksam. Innerlich musste sie schmunzeln, als der Mann zusammenzuckte und bewegungslos verharrte. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, hier ertappt zu werden. So reagierte nur jemand, der sich seiner Schuld bewusst war. Er brauchte jedoch nur ein paar Augenblicke, um sich zu sammeln. Übergangslos ging er zum Angriff über: »Was machen Sie denn hier? Wer hat Ihnen erlaubt, hier hereinzukommen?« Mit lauter Stimme versuchte der junge Mann, verlorenen Boden wettzumachen.

»Erlaubt? Niemand. Die Tür war offen und ich bin einfach eingetreten. Ist das verboten?«

»Natürlich nicht. Aber es gehört doch zur guten Kinderstube, dass man anklopft. Ich komme ja auch nicht zu Ihnen nach Hause und betrete unaufgefordert Ihre Wohnung. Was wollen Sie denn hier?«

Ariane wollte dem Mann, den sie nicht kannte und dem sie wegen seines Verhaltens auch nicht traute, so wenig wie möglich erzählen. Also fabulierte sie drauflos: »Ich hatte vor, mir oben die Mineralienausstellung anzusehen. Allerdings ist da alles abgeschlossen. Auf einem Schild stand, dass man sich hier melden solle. Deswegen bin ich hier hereingekommen.«

Der Mann entspannte sich merklich. Offensichtlich hatte er gedacht, sie wäre jemand anderes. Wen hatte er wohl erwartet? »Das Museum ist heute geschlossen. Kommen Sie einfach ein anderes Mal wieder.«

»Alles klar. Ich würde aber gern …«

»Haben Sie mich nicht verstanden? Wir haben heute zu. Ich kann nichts für Sie tun. Haben Sie das jetzt begriffen oder soll ich Ihnen das noch buchstabieren?«

Nun wurde es Ariane zu bunt. Der Typ bekam offenbar langsam Oberwasser. Sie war schon lange aus dem Alter heraus, dass sie sich so ein Verhalten ungestraft bieten ließ. So konnte er vielleicht mit seinen Studenten reden, aber nicht mit ihr. Sie schaltete ebenfalls auf Angriff: »Wieso durchwühlen Sie dieses Zimmer hier? Es sieht nicht aus, als wäre das Ihr Büro. Dürfen Sie überhaupt hier sein?«

Wie erhofft, wich das Blut aus dem Gesicht des Mannes. Der Typ hatte irgendetwas Illegales vor und Ariane hatte ihn dabei erwischt. Unvermittelt stürmte er hinter dem Schreibtisch hervor und auf sie zu. Damit hatte sie nicht gerechnet.

»Das geht Sie überhaupt nichts an. Verlassen Sie sofort dieses Büro! Das ist kein öffentlicher Ort, wo jede dahergelaufene Gans einfach so reinkommen kann.«

Hatte diese Fatzke sie tatsächlich eine Gans genannt? In einem Winkel ihres Verstandes wunderte sich Ariane über das antiquierte Schimpfwort. Dessen ungeachtet trieb es ihren Puls in die Höhe. Allerdings baute sich der Mann jetzt bedrohlich vor ihr auf. So schmal und unsportlich er zuvor gewirkt hatte, strahlte er nun jede Menge Aggression aus. Man brauchte keine Muskelberge, um eine beängstigende Situation zu erzeugen. Manchmal reichte auch der fanatische Ausdruck in den Augen eines zu allem bereiten Menschen. Ariane wollte sich nicht in ein Handgemenge verwickeln lassen.

»Los, raus! Verschwinden Sie!« Mit seinem Körper schob er sie erst ins Vorzimmer und dann auf den Flur hinaus.

Kaum war Ariane rückwärts durch die Tür getreten, schlug er sie zu. Ein leises Klicken verriet ihr, dass er von innen abgesperrt hatte. Wobei auch immer sie ihn gestört hatte, der Typ würde nun mit seiner Suche fortfahren.

In diesem Haus war etwas im Argen. Ariane musste sich dringend mit Frau Eßer unterhalten. Leider war jetzt wirklich keine Zeit mehr. Selbst wenn die Frau im Gebäude war, Ariane hätte sich schon vor zehn Minuten auf den Weg zur Arbeit machen müssen. Nur einen Blick auf das kleine Schild neben der Tür gönnte sie sich noch: »Professor Huber – Institut für Mineralische Geologie«. Also hatte sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen. Innerlich triumphierend, sprintete Ariane die Treppe hinunter. Sie hatte nur noch ein paar Minuten, um hinüber ins Bahnhofsviertel zu gelangen.

Beinahe wäre sie im Eingangsbereich mit jemandem zusammengestoßen. Nur mit Mühe schaffte es Ariane, dem älteren Mann auszuweichen. Mit einer Entschuldigung auf den Lippen wollte sie bereits weitereilen, als sie ihn erkannte. Es war der nette Herr, den sie vor Kurzem im Schloss getroffen hatte.

»Bitte verzeihen Sie meine Eile. Ich wollte Sie nicht umrennen.«

»Oh, kein Problem. Es ist ja nichts passiert. Warum denn so eilig, ist etwas geschehen?«

Ariane hatte eigentlich keine Zeit für Smalltalk. Auf der anderen Seite wäre es unhöflich, ohne eine Antwort zu verschwinden. Durch das kurze Gespräch in der »terra mineralia« waren sie irgendwie Bekannte.

»Das nicht. Ich habe nur die Zeit vergessen und muss mich nun sputen. Allerdings brauchen Sie nicht weiterzugehen.«

»Wieso das?«, zeigte sich der Mann verwundert.

»Sie wollen sich doch bestimmt hier die Mineralienausstellung ansehen?«

»Deswegen bin ich hier. Das stimmt.«

»Die ist leider geschlossen. Ich war gerade oben. Den Weg können Sie sich sparen. Da ist irgendetwas vorgefallen.«

Auf das Nicken, mit dem ihr der ältere Mann dankte, achtete Ariane nicht mehr. Sie musste sich beeilen. Zum Glück war sie im Training. In ein paar Wochen würde der alljährliche Stadtmauerlauf stattfinden, auf den sie sich schon seit einiger Zeit intensiv vorbereitete. Die Passanten sahen ihr etwas befremdet nach, weil sie in straffem Tempo durch die Straßen der Altstadt lief. In dem Moment war ihr dies jedoch vollkommen egal. Nur nicht zu spät kommen zu ihrer Schicht.

Beim Laufen arbeiteten ihre Gedanken auf Hochtouren. Was war eigentlich gerade passiert? Irgendwer durchwühlte ein Büro, das zuvor schon einmal durchsucht worden war. Ergab das einen Sinn? Vielleicht war es eine ganz normale Situation gewesen, die sie falsch interpretiert hatte? Eventuell suchte der Mann nur dringend ein wichtiges Dokument. Professor Huber war zwar verschwunden, der Universitätsbetrieb musste aber weitergehen.

Passte das aber mit dem rabiaten Auftreten des Typen zusammen? Er hatte Ariane sehr unsanft rausgeschmissen. Nein, es war und blieb sehr befremdlich. So etwas ließ sich mit nichts erklären. Sie fragte sich, was Elke Eßer dazu sagen würde. Sie musste heute unbedingt mit ihr telefonieren. Bis jetzt hatte Ariane noch niemandem gesagt, dass sie nach Hans Huber suchen wollte.

In Rekordzeit schaffte sie es in die Bahnhofsvorstadt und traf nur drei Minuten zu spät in der Physiotherapie ein. Leise betrat sie den Eingangsbereich. Die Mittagspause war zum Glück noch nicht vorbei. Ihre Kollegen waren wohl alle noch hinten im Pausenraum. Schnell setzte sie sich an ihren Computer, um sich den bereits angelaufenen Akten und Behandlungsberichten zu widmen. Das Kontrolllämpchen des Anrufbeantworters blinkte. Zu tun gab es jede Menge.

Der Wartebereich war noch leer, aber jeden Augenblick mussten die ersten bestellten Patienten eintreffen. In spätestens zehn Minuten gingen die Behandlungen los. Die ersten Physiotherapeuten kamen aus dem Pausenraum und begrüßten Ariane. Niemand hatte mitbekommen, dass sie zu spät auf Arbeit erschienen war. Ariane sank beruhigt in ihren Schreibtischstuhl. Gleichwohl konnte sie sich nur schwer auf ihre Arbeit konzentrieren. Was war mit Hans Huber geschehen?

Solange sie noch allein im Eingangsbereich saß, konnte sie schnell bei Elke Eßer anrufen. Zuerst wählte Ariane dafür die Nummer der Tierarztpraxis von Doktor Gronkowskie und erreichte wie erhofft ihre Freundin Stefanie. Mit knappen Worten berichtete Ariane von ihrem morgendlichen Ausflug in die Welt der Mineralien – auch Stefanie hatte noch nie von der zweiten Ausstellung gehört, was Ariane sehr beruhigte – und fragte nach Frau Müller. Ihre frühere Chefin zeigte sich hocherfreut, dass Ariane nun doch bei der Suche nach Hans Huber helfen wollte und nannte Ariane die Durchwahl ihrer Schwester.

Das alles hatte ziemlich lange gedauert. Würde es Ariane noch schaffen, bei Frau Eßer anzurufen? Soeben traf die erste Patientin ein. Es war noch ein wenig Zeit. Also warum nicht?

»Guten Tag, Frau Eßer. Ich weiß nicht, ob mich Ihre Schwester schon angemeldet hat? Mein Name ist Ariane Itzen, ich möchte Ihnen bei der Suche nach Herrn Huber helfen.«

»Oh, Martina hat so etwas erwähnt. Sie sagte doch aber, Sie hätten keine Zeit?«

»Ich habe mich gestern vielleicht missverständlich ausgedrückt«, versuchte sich Ariane in einer Ausrede. »Ihre Schwester sagte mir, dass die Polizei Ihnen nicht helfen will?«

»Das stimmt.« Die Stimme am anderen Ende klang kraftlos.

»Ich kann Ihnen nichts versprechen. Im Prinzip bin ich nur eine Praxisassistentin. Ihre Schwester scheint jedoch der Meinung zu sein, dass meine Hilfe besser ist als überhaupt keine Unterstützung. Zumindest kann ich mich mal umhören.«

Im Telefonhörer vernahm Ariane statt einer Antwort nur ein Schluchzen.

»Ist alles in Ordnung? Frau Eßer?«

»Nichts ist in Ordnung. Mein Hans ist verschwunden. Ich weiß, dass ihm etwas passiert ist, aber niemand glaubt mir. Eine Frau spürt so etwas. Alle halten mich für eine übergeschnappte alte Schachtel. Wie soll es mir da schon gehen? Ich bin verzweifelt und habe keine Ahnung, was ich machen soll. Bitte! Bitte … helfen Sie mir.«

Der Gefühlsausbruch von Frau Eßer ging Ariane nahe. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie eigentlich ganz eigene Pläne verfolgte. Letztlich ging es ihr vor allem um die Hintergründe der Millionenspende. Hans Huber war ihr nicht wirklich wichtig. Sie kannte den Mann ja nicht einmal.

»Ich werde mein Möglichstes versuchen, um Ihnen zu helfen«, probierte sie trotzdem, Elke Eßer aufzumuntern. »Zumindest werde ich mich umhören und ein paar Nachforschungen anstellen.«

»Tatsächlich?« Am anderen Ende wurde die Stimme etwas voller.

Wahrscheinlich war Ariane die erste Person, die Elke Eßer Hilfe anbot. Ariane konnte sich gut in ihre Gesprächspartnerin hineinversetzen. Vor einem Jahr war es ihr ganz ähnlich ergangen. Da hatte sie sich auch wie der einsamste Mensch der Welt gefühlt.

»Ich war heute sogar schon bei Ihnen im Werner-Bau, aber ich konnte Sie nirgends entdecken.« Dass sie vorher mehr als eine Stunde lang umsonst im Schloss herumgeirrt war, unterschlug Ariane geflissentlich.

»Tut mir leid. Ich konnte heute einfach nicht zur Arbeit gehen. Versucht habe ich es zwar. Aber …« Erneut brach Frau Eßers Stimme ab.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752101959
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Mord terra mineralia Sachsen Verschwörung Erzgebirge Minerale Sachsenkrimi Erzgebirgskrimi Bergakademie Freiberg Krimi Thriller Spannung Cosy Crime Whodunnit

Autor

  • Marcus Wächtler (Autor:in)

Aufgewachsen im wunderschönen Freiberg hat Marcus Wächtler seinen Wohnsitz nach dem Politik- und Geschichtsstudium ins beschauliche Dresden verlegt. Neben der Arbeit in seiner kleinen Eventagentur findet er genug Muße, um sich mit geschichtlichen, gesellschaftlichen und politikwissenschaftlichen Themen zu befassen. Als Kind dieses Studiums entstehen seine Geschichten voller Magie, Witz und Unterhaltung.
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Titel: Erzglitzern