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Mordseegrollen

Kriminalroman

von Marcus Ehrhardt (Autor:in)
150 Seiten
Reihe: Maria Fortmann ermittelt, Band 6

Zusammenfassung

Wenn eine Tote auf Reisen geht ... Spaziergänger finden am Strand vor Bensersiel die angeschwemmte Leiche einer jungen Frau. Die fortgeschrittene Verwesung erschwert die Identifizierung und die Bestimmung der Todesursache. Als Maria Fortmann und Peter Goselüschen schließlich erfahren, dass es sich bei der Leiche um Swea Hendrickson aus Greetsiel handelt, steigt die Verwirrung. Denn Hendrickson wurde bereits vor einigen Wochen beerdigt. Die Ermittler stehen vor einem Rätsel.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mordseegrollen

 

 

Maria Fortmann ermittelt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

 

Aufgeregt rannte Johannes seinen Eltern entgegen.

»Kommt schnell, ich habe eine tote Robbe gefunden!« Die Eltern des Fünfjährigen sahen sich ratlos an und folgten dann ihrem Sprössling, der bereits wieder hinter der Düne aus ihrem Sichtfeld verschwunden war.

»Warte, Johannes«, rief sein Vater ihm nach und seine Mutter schrie:

»Fass die bloß nicht an!« Sie beschleunigten ihren Schritt und nach wenigen Metern hatten sie den Scheitelpunkt der Kurve erreicht. Sie erblickten ihren Sohn in sicherer Entfernung zu dem sich im Rhythmus der Wellen bewegenden, toten Körper, in der Hocke sitzend und mit seinen Händen im Sand des Badestrandes grabend.

»Da«, rief er, als sie ihn endlich erreicht hatten. Johannes schien äußerst stolz auf seine Entdeckung, zeigte er doch grinsend mit dem ausgestreckten Arm auf seinen spektakulären Fund.

»Ach du Scheiße«, entfuhr es seinem Vater, während seine Mutter die Hände vor den Mund hielt. »Das ist keine Robbe.« Sie ergriff die Hand ihres Sohnes, nahm ihn auf den Arm und flüsterte ihrem Mann zu:

»Mir wird schlecht. Ich muss hier weg.«

»Ja, geht«, erwiderte er leise. »Ich kümmere mich darum.«

Während seine Frau mit Johannes umkehrte, hob er einen herumliegenden Ast auf und näherte sich dem aufgedunsenen, nackten Körper, der mit dem Rücken zu ihnen auf der Seite lag. Aus der Entfernung konnte man dieses leblose Etwas tatsächlich nicht als einen Menschen identifizieren, und Gott sei Dank auch nicht, dass der Kopf fehlte. Er holte tief Luft und kämpfte dagegen an, seinem Würgereiz nachgeben zu müssen. Vorsichtig stupste er die Wasserleiche an, die sich wie in Zeitlupe zu ihm drehte.

Der Anblick der zerfressenen Vorderseite war so grausam, er konnte nicht anders: Gerade noch rechtzeitig wich er ein paar Schritte zurück und erbrach sein Frühstück auf den feinen Sand des Strandes.

Kapitel 2

 

 

Maria öffnete das Fenster ihres Büros einen Spalt weit, damit der Geruch sich nicht im Raum festsetzte, der vom Matjesbrötchen ausging, das ihr Kollege Goselüschen gerade genüsslich als Mittags-Snack verzehrte.

»Ich weiß gar nicht, was du hast«, sagte er schmatzend zwischen zwei Bissen. »Ist doch nur Fisch.« Maria schüttelte tadelnd den Kopf.

»Fisch mit einer Tonne Zwiebeln meinst du wohl.«

»Das, meine liebe«, erwiderte er, »gibt der Kreation erst den richtigen Pfiff. Außerdem hättest du dir ja auch eines holen können. Du bist doch Pescoflaganerin.«

»Ach, Gose, es heißt immer noch Pescetarierin. Und ja, hätte ich können. Aber du weißt nicht erst seit heute, dass ich tagsüber außer meinem Müsli und Obst nichts esse. Schließlich sind wir jetzt seit –«, sie blickte fragend zu ihm hinüber, »wie vielen Jahren Partner? Drei? Vier?«

»Auf jeden Fall schon lange – aber wenn es nach mir geht, Blondie, noch lange nicht lang genug.« Maria war wegen des unerwarteten Komplimentes sprachlos, aber auch argwöhnisch, ob nicht ein winziger Satz von ihm hinterhergeschoben werden würde, der es gleich wieder ad absurdum führte.

Bevor jedoch etwas in dieser Richtung geschah, ging die Tür auf und ihr Kollege Waldner steckte seinen Kopf herein.

»Moin, ihr beiden. Puh, welch ein strenger Geruch!« Er rümpfte die Nase. »Es gibt was zu tun für euch. In Bensersiel wurde eine Wasserleiche angeschwemmt. Der Doc erwartet euch bereits.« Er schaute zum unbeeindruckt kauenden Goselüschen und schob hinterher: »Du solltest vorher vielleicht besser aufessen – sie soll übel aussehen.« Ein abwertender Grunzer war dessen einzige Reaktion. Sollte es sich etwa noch nicht bis Aurich herumgesprochen haben, dass er sich eines Viehmagens rühmte? Für dieses Image hatte er doch mit unzähligen Wettessen auf diversen geselligen Dienstabenden gesorgt. Innerlich feierte er sich kurz selbst dafür, bevor er einen geschäftsmäßigen Blick aufsetzte und mit dem Kopf zu Maria deutete. Sie nahm seine Geste augenrollend zur Kenntnis.

»Danke, Karl-Heinz«, sagte sie und überlegte kurz, das Fenster zu schließen – entschied sich dann dafür, es noch weiter zu öffnen. Es würde schon niemand unerlaubt einsteigen, zumal sich das Büro im ersten Stock befand. Und so hegte sie die Hoffnung, dass sich der Fischzwiebelmief bis zu ihrer Rückkehr verzogen haben würde. »Wir machen uns gleich auf den Weg.«

 

***

 

Eine dreiviertel Stunde später parkten sie den Dienstwagen in der Nähe des Instituts für Rechtsmedizin in Oldenburg. Sie warfen dem ihnen bekannten jungen Mann an der Anmeldung einen Gruß zu und nahmen die Treppe in die erste Etage. Dort durchschritten sie den anthrazitfarben, gefliesten Korridor, der mit den weiß gestrichenen Strukturtapeten eher an ein Bürogebäude als an ein medizinisches Institut erinnerte.

»Wann hatten wir die letzte Wasserleiche?«, wollte Goselüschen wissen.

»Hm, außer der des alten Mannes, die wir vor drei Jahren aus dem Goldenstedter See gezogen haben, kann ich mich nicht erinnern, überhaupt mal etwas damit zu tun gehabt zu haben.«

»Stimmt, der lag aber nur ein paar Stunden in dem See, bevor er gefunden wurde.« Goselüschen nahm sie zur Seite und erklärte ernst:

»Ich bin zu meinen alten Zeiten in Aurich und Emden öfter damit konfrontiert worden. Glaub mir, es ist meist kein schöner Anblick, wenn die ´ne Zeit im Meerwasser gebadet haben.« Er erinnerte sich, dass sich des Öfteren selbst ihm fast der Magen umgedreht hätte. Besonders der tote Körper eines jungen Mannes vor etwa zehn Jahren war ihm besonders im Gedächtnis geblieben. Der Leichnam damals war zum Teil bis auf die Knochen abgefressen gewesen und es nisteten gar Kleintiere in ihm. Maria lächelte sanft.

»Danke, dass du mich vorbereiten willst, aber ich glaube, ich habe mittlerweile genug Widerliches gesehen. So schlimm wird es schon nicht sein.«

»Okay«, erwiderte Goselüschen, »aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Der Eindruck eines Bürokomplexes änderte sich schlagartig, als sie durch die schwere Schwingtür in den hellblau gekachelten Eingangsbereich des Autopsieraumes traten, wo Dr. Hallig sie bereits erwartete. Der Geruch nach Desinfektionsmittel löste den neutralen des Flures ab.

»Moin, Frau Fortmann, moin, Herr Goselüschen«, dröhnte ihnen die dunkle, kräftige Stimme Professor Doktor Halligs entgegen. Durch die deckenhohe Verfliesung verstärkt, erinnerte Maria die Begrüßung an eine Bahnhofsdurchsage. »Kommen Sie, die Zeit läuft.«

»Moin, Doc«, erwiderten sie und folgten dem hochaufgeschossenen, schlanken Mann. Auch ihnen war bewusst, dass Leichen, die in sehr kühlem Gewässer, bestenfalls am Grund, lagen, deutlich langsamer verwesten als an der Luft. Ab dem Moment jedoch, in dem sie aus dem Wasser geholt wurden, schritt der Fäulnisprozess in stark erhöhtem Tempo voran. Davon zeugte auch der Gestank, der von dem auf dem Rücken liegenden, gräulichen Leichnam ausging. Gose hatte recht, schoss es Maria durch den Kopf, das war tatsächlich das Schlimmste, das ihr je auf einem Autopsietisch untergekommen war. Klar, sie hatte während ihrer langjährigen Dienstzeit zerstückelte Menschen, diverse Schuss- und Stichverletzungen und andere Wunden durch direkte oder indirekte Gewalteinwirkung gesehen und einige davon begegneten ihr noch manchmal im Traum. Tatsächlich war es nicht unbedingt die Optik, die ihr zu schaffen machte, sondern der schier unerträgliche Gestank, der trotz der auf Maximalkraft laufenden Abluftvorrichtung in ihrer Nase brannte. Sie musste sich anstrengen, ihren Würgereflex zu unterdrücken. Trotzdem zwang sie sich, die Tote genau zu inspizieren, deren aufgedunsene Haut in Fetzen am Körper hing oder von Fäulnisgasblasen nach oben gedrückt wurde. Die Arme und Beine lagen teilweise bis zu den Knochen frei.

»Fangen wir damit an, was wir genau wissen«, begann Hallig, der jetzt den beiden Kommissaren gegenüber auf der anderen Seite des Tisches stand. »Die Tote ist weiblich und war zum Zeitpunkt ihres Todes zwischen 16 und 20 Jahre alt. Das kann ich anhand der Knochen bestimmen. Bei der Todesursache bin ich unschlüssig, dafür brauche ich noch etwas Zeit. Wobei das –«, er deutete auf den linken Knöchel der Toten, um den sich ein zerfaserter Nylonstrick schlang, der etwa dreißig Zentimeter lang am Bein herunterhing und ein ebenfalls fasriges Ende aufwies, »nicht auf einen Unfall hinweist.«

»Sieht eher nach Suizid aus«, sagte Goselüschen. »Oder jemand anderes meinte, sie solle auf dem Meeresgrund verschwinden.«

»Beides möglich«, sagte Hallig.

»Was ist mit dem Kopf? Können Sie etwas zu der Wunde am Hals sagen?«

»Nun, Frau Fortmann, wenn wir uns die Wundränder anschauen, so sie denn noch da sind, hat ihn entweder jemand mit einer gezackten Säge abgetrennt oder es haben sich ein paar Raubfische daran zu schaffen gemacht. Mir erscheinen die Ränder ähnlich wie die am Rumpf und an den Extremitäten.« Dabei wies er auf die am stärksten beschädigten Stellen. »Ich gebe zu, dass ich mir bei einigen Begebenheiten unsicher bin. Daher habe ich bereits zwei kundige Kollegen aus Hamburg und Bremen konsultiert, die über einen wesentlich höheren Erfahrungsfundus bezüglich dieses Zustands von Toten verfügen als mein Team hier vor Ort und ich.«

»Was ist mit dieser Narbe?« Goselüschen deutete auf eine etwa fünf Zentimeter lange Hautwulst an der rechten Schulter der Frau.

»Eine zugegeben recht unsaubere Arbeit eines Chirurgen«, klärte Hallig auf. »Wahrscheinlich hatte sie eine Operation am Schultergelenk oder der Rotatorenmanschette. Die Narbe ist aber schon einige Jahre alt.«

»Wie lange wird es dauern, bis wir Näheres von Ihren Kollegen erfahren?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau beantworten, Herr Goselüschen. Mit zwei bis drei Wochen sollten Sie rechnen.«

»Gut, bis dahin haben wir auch das Ergebnis der DNA-Analyse aus Hannover«, sagte Maria leise.

»Hoffen wir, dass wir sie im System haben. Ohne Kopf ist es schlecht mit der Identifikation über den Zahnstatus und Fingerabdrücke können wir hier wohl auch vergessen.« Goselüschen warf seufzend einen Blick auf die Hände, deren Oberhaut fast komplett fehlte.

»Was Ihnen dabei möglicherweise helfen könnte, ist dies.« Hallig fasste den Leichnam an Becken und Schulter. Es gab ein schmatzendes Geräusch, als er ihn vorsichtig auf die Seite drehte – womöglich hatte sich unter der Lordose der Lendenwirbelsäule ein Vakuum gebildet. Dabei löste sich ein größeres Hautareal vom Körper und blieb an der stählernen Oberfläche des Autopsietisches hängen. Goselüschen presste seine Zähne zusammen, Hallig hingegen schien es gar nicht wahrzunehmen, denn er zeigte ohne eine Miene zu verziehen auf einen Fleck.

»Das sieht nach einem Muttermal aus«, sagte Maria, als sie den dunklen Punkt auf dem unteren Rücken sah, der ein gutes Stück unterhalb der großflächigen Hautwunde lag, die durch das Wendemanöver entstanden war.

»Das könnte man meinen, Frau Fortmann, aber das ist ein Tattoo – zumindest das, was noch davon übrig ist.«

»Bedauerlicherweise kann man nicht erkennen, was es mal dargestellt hat«, stellte Goselüschen fest. »Oder haben Sie dazu eine Idee?«

»Nein, dazu kann ich Ihnen leider auch nicht mehr sagen.« Er ließ die sterblichen Überreste langsam wieder in die Ausgangsposition gleiten und hob darauf entschuldigend die Arme. »Es könnte alles Mögliche sein, ein Trival, ein Schriftzug oder irgendeine Figur.«

»Danke, Doc«, sagte Maria. »Sie melden sich, sobald Sie mehr wissen?«

»Selbstverständlich, Frau Fortmann, darauf können Sie sich verlassen.« Er sah den davongehenden Kommissaren kurz hinterher und wandte sich wieder der Arbeit am Leichnam zu.

 

***

 

Nur die Fußspuren im Sand, die die Beamten der Spurensicherung hinterlassen hatten, deuteten noch auf den Fundort der Leiche hin. Da es sich bei diesem Strandabschnitt nicht um einen Tatort handelte und die wenigen Hinweise, die eventuell mit der gestrandeten Toten in Zusammenhang standen, schnell gesichert worden waren, wurde der Bereich auf Bitten der zuständigen Kurgesellschaft nach dem Abtransport der sterblichen Überreste wieder freigegeben.

»Warum macht man so etwas?« Maria ließ den Blick über das ablaufende Wasser der Ebbe schweifen, während der Wind ihre langen blonden Haare wild um ihren Kopf wirbelte. Sie griff mit einer Hand in ihre Jackentasche und zog ein Gummi hervor, mit dem sie sie zu einem Pferdeschwanz bändigte.

»Du meinst generell, sich umzubringen, oder auf diese spezielle Art? Vorausgesetzt natürlich, es handelt sich tatsächlich um einen Suizid.« Er hatte sich neben sie gestellt und gemeinsam beobachteten sie in der Ferne die nach Langeoog auslaufende Fähre, die der Insel an diesem windigen Tag jede Menge neue Touristen bescheren würde.

»Ertrinken«, sagte sie ruhig. »Das zählt zu den qualvollsten Todesarten. Es gibt mit Tabletten oder langsamem Ausbluten doch wesentlich weniger schmerzhafte Möglichkeiten.«

»Nun«, erwiderte Goselüschen. »Vielleicht meinte sie, es verdient zu haben, grausam dahinzuschwinden. Aber nochmal, ich glaube nicht an Selbstmord.« Maria schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Nein, Gose, das glaube ich auch nicht. Meine Frage zielte auch nicht auf diese Tote ab, sondern ich meinte sie eher allgemein.«

»Darüber solltest du mit einer Psychologin quatschen. Mangels Empathie bin ich dafür definitiv der falsche Ansprechpartner.« Er stieß ihr leicht mit seinem Ellbogen in die Seite. »Und nun komm, wir haben zu tun.«

Bevor sie sich den Fundort ansahen, hatten sie kurz mit der Familie gesprochen, die hier ihren Urlaub verbrachte und immer noch etwas verstört wegen ihrer Entdeckung am Morgen war.

»Zum Glück wusste unser Johannes nicht, was er da gefunden hat«, sagte seine Mutter in einem Ton zu ihnen, als ob sie für das Anschwemmen einer Leiche genau zum Zeitpunkt des Familienspaziergangs verantwortlich waren. »Wer weiß schon, was so etwas für Langzeitschäden bei dem Kleinen verursachen könnte.«

»Nun, Sie sagten ja, dass er es für einen toten Seehund gehalten hat«, erwiderte er und lächelte mild, während er dachte, dass dem Kleinen eher Spätschäden bei einer solchen Mutter bevorstünden, wenn sie alles so derart dramatisieren würde. Danach beschränkte er das Gespräch auf Sachfragen, doch wenig überraschend für die Kommissare lieferte die Unterhaltung keine verwertbaren Hinweise.

Kapitel 3

 

 

Die Situation war unbefriedigend. Solange sie keine Ergebnisse aus dem Labor hatten und der abschließende Befund der Rechtsmedizin ihnen nicht vorlag, traten sie mit ihren Ermittlungen auf der Stelle. Die Tür schwang auf und der Dienststellen-Nerd – jedenfalls schien er optisch mit seinem Polohemd und der Nickelbrille mit aller Macht an diesem Image zu feilen – betrat mit großen Schritten das Büro.

»Ihr benötigt meine Dienste?«, fragte die fröhliche Männerstimme ihres jungen Kollegen Sebastian. Er zog sich einen Stuhl heran und ließ sich mit einem übertriebenen Stöhnen darauf fallen.

»Moin, Basti. Schwerer Tag?«, begrüßte ihn Goselüschen, ohne von den Unterlagen auf seinem Schreibtisch aufzusehen.

»Basti, danke, dass du so schnell gekommen bist.«

»Für euch doch immer«, erwiderte der IT-Spezialist der Dienststelle, der für alles zuständig war, was auch nur im Entferntesten mit dem Internet oder Computern allgemein zu tun hatte. Nachdem Goselüschen und Maria ihn in ihrem letzten Fall komplett in ihre Ermittlungen gegen einen Serienmörder eingebunden hatten, fühlte er sich bei den beiden besonders wohl.

»Okay, pass auf«, begann Goselüschen. »Du hast vom Fund der Wasserleiche gehört?« Sebastian nickte. »Gut, dann bring ich dich mal auf den unbefriedigenden momentanen Stand: Fingerabdrücke Fehlanzeige, ein Zahnstatus ist mangels des nichtvorhandenen Kopfes ebenso unmöglich und auf die DNA-Analyse müssen wir noch warten. Wir wissen lediglich, dass sie weiblich, zwischen 16 und 20 ist, und dass sie eine ältere Narbe an der vorderen rechten Schulter und ein Tattoo am Rücken hat – welches allerdings nicht mehr zu erkennen ist. Körpergröße etwa 1,70 m und normalgewichtig.« Goselüschen schaute kurz hoch. »Machst du keine Notizen?« Sebastian lächelte ihn an und tippte mit dem Zeigefinger an seinen Kopf.

»Das brauche ich nicht. Masterbrain, du verstehst?« Goselüschen schüttelte den Kopf.

»Na dann. Okay, weiter: Sie hatte einen Nylonstrick um einen Knöchel gebunden. Wir müssen wissen, ob so eine Leiche schon einmal irgendwo aufgetaucht ist. Und du müsstest alle Vermisstenanzeigen der letzten Monate auf Übereinstimmung checken. Zur Sicherheit frag bei den Kollegen in den Niederlanden und Dänemark nach, ob bei denen die Beschreibung auf jemanden passt.«

»Kennen wir die Todesursache?«

»Nein«, sagte Maria. »Der Doc ist unsicher und wartet auf die Expertise einiger seiner Kollegen.« Sebastian sprang auf und ging zur Tür, wo er kurz verharrte und einen Blick über die Schulter warf.

»Gebt mir zwei Stunden.«

»Nein«, erwiderte Goselüschen scharf, »du hast genau 120 Minuten!« Sebastian lachte auf und verschwand im Flur.

»Gose, du weißt, dass du nicht ganz dicht bist?«

»Ach, Blondie, nur, weil du diese Behauptung immer wieder aufstellst, wird sie nicht automatisch wahrer.«

 

***

 

Sebastian brauchte nur etwas über eine Stunde, bis er ins Büro der beiden zurückkehrte. In seiner Hand flatterten einige lose Ausdrucke.

»Schon fertig?« Goselüschen zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Du schaffst es immer wieder, mich zu überraschen.«

»Gose, er verfügt noch über den jugendlichen Elan, der dir vor wahrscheinlich – das heißt: Hattest du ihn jemals?«

»Clown gefrühstückt oder was?«, erwiderte er sachlich, bevor er sich Sebastian zuwandte. »Was hast du für uns?« Sebastian fühlte sich offensichtlich gut unterhalten, schaute er doch grinsend zwischen den beiden hin und her.

»Ich fürchte, nichts wirklich Brauchbares. Entlang der Nordseeküste werden momentan zwei Mädchen in diesem Alter vermisst – eine aus Cuxhaven, die andere kommt aus Husum. Beide haben nach Angaben der Kollegen keine Tattoos. Die Niederländer und Dänen haben zur Zeit keine Vermisstenmeldung, die auf unsere Leiche passen würde. Auch sind in den letzten Monaten weder dort noch bei uns verstümmelte Wasserleichen mit Seilen oder Ähnlichem um die Gliedmaßen aufgetaucht.«

»Was nicht heißt, dass es keine weiteren Leichen gibt, nur, dass bisher keine angeschwemmt wurden.«

»Stimmt, Gose«, bestätigte Maria. »Aber wir brauchen uns nicht mit was wäre wenn aufhalten.«

»Okay, dann braucht ihr mich im Augenblick nicht mehr, richtig?«

»Ja, danke Basti, wir melden uns, sollte uns noch etwas einfallen.«

»Alles klar, Maria. Ich lass euch die hier«, sagte er und wedelte mit den Ausdrucken, bevor er sie in ein Ablagefach auf Marias Schreibtisch fallen ließ. Goselüschen sah dem jungen Mann hinterher, der heute mit einem pinkfarbenen Shirt optisch wieder für einen Farbtupfer in der Dienststelle sorgte, auch wenn es sich etwas mit dem lilafarbenen Rahmen seiner Brille biss. In ihrer früheren Station in Aurich hätte er mit Maria konkurrieren müssen. Aus für Goselüschen unerklärlichen Gründen hatte sie ihre farbenfrohe Garderobe seit der Abkommandierung zu Ungunsten einer dezenten Kleidungsauswahl drangegeben. Vielleicht wollte sie bei ihrem Neuanfang aber auch nur nicht auffallen, mutmaßte er und vermerkte in seinem Kopf, sie irgendwann mal darauf anzusprechen.

»Der hat was auf dem Kasten.«

»Definitiv. Apropos Kasten: Wolltest du ihm nicht mal deinen alten Rechner zum Aufpimpen mitbringen?«

»Hör mir damit auf«, sagte Goselüschen und winkte ab. »Sylvia ist der Meinung, dass der PC gut ist, wie er ist – wäre er schneller, würde ich nur noch mehr Zeit daran verbringen.« Maria konnte ein schadenfrohes Kichern nicht unterdrücken.

»Tja, wir Frauen sind schon wirklich grausam, nicht wahr? Kleiner Tipp am Rande: Hör auf sie, wenn du weiter Sex haben willst.«

»Du mich auch. Aber nun mal was ganz anderes: Dieses Klettern nächstes Wochenende, meinst du, es fällt auf, wenn ich nicht dabei bin?« Seit er diese Zwangsveranstaltung vor einigen Tagen auf dem schwarzen Brett gesichtet hatte, überlegte er angestrengt, sich dieser Quälerei zu entziehen. Wäre er zum Klettern bestimmt, hätte er ein Fell und Daumen an den Füßen.

»Gose, das ist eine teambildende Maßnahme. Du wirst dich auf gar keinen Fall davor drücken. Ich freue mich jetzt schon auf den Anblick, wie du wimmernd in den Seilen hängst und nach Hilfe rufst.«

»Pah, du wirst dich wundern. Ich habe trainiert.«

»Du hast trainiert? Was denn? Couchsurfing oder Grillmarathon?« Sie fixierte ihr Gegenüber und musste sich eingestehen, dass ihr langjähriger Partner in letzter Zeit tatsächlich einen enormen Wandel vollzogen hatte. War er vor etwas über einem Jahr noch ein übergewichtiger, kurzatmiger Typ, mit dessen vom hohen Blutdruck strahlendroten Kopf allein man eine Turnhalle in der tiefsten Nacht hätte ausleuchten können, hatte er mittlerweile eine gesunde Gesichtsfarbe und abgesehen von einem kleinen Bauchansatz hätte fast in Form auf ihn gepasst. »Ich bin gespannt. Und falls du tatsächlich mit dem Gedanken spielen solltest, zu kneifen, werde ich ein Gespräch mit deiner Frau führen – verlass dich drauf.«

Kapitel 4

 

 

Vier Tage verstrichen. Sie hatten den Fall über den Leichenfund erstmal zur Seite gelegt und bearbeiteten eine Meldung von häuslicher Gewalt.

Gerade kehrten sie von einer Befragung der Frau, deren Ehemann sie wegen Körperverletzung angezeigt hatte, ins Büro zurück. Sie hatte ihm nach einem Streit eine Bratpfanne über den Kopf gezogen und dadurch für eine klaffende Platzwunde gesorgt, die mit einigen Stichen genäht werden musste. Im Verlauf des Gesprächs erfuhren die Ermittler, dass es sich um einen Unfall gehandelt hatte. Sie hätte den Schlag nur andeuten wollen, der fettige Griff der Pfanne sei ihr jedoch aus der Hand gerutscht. Der anwesende Geschädigte war ihr tränenreich in die Arme gefallen und sie hatten sich noch vor den Augen der Kommissare versöhnt.

»Was für ein Pärchen«, sagte Maria und warf ihre Handtasche auf den Schreibtisch.

»Pack schlägt sich – Pack verträgt sich«, stimmte ihr Partner zu. »Wenn das so weiter geht, können wir auch gleich Streife fahren. Wir übernehmen so schon deren Job.« Er ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen, der unter der Last bedrohlich knarrte.

»Sieh es positiv: Je mehr wir mit solchen Dingen zu tun haben, umso weniger kriminell ist die Gegend. Und ich gebe zu, dass ich diese eher harmlosen Fälle zwischen den Serienmördern und mafiösen Verstrickungen mal ganz entspannend finde. Erst recht, wenn es sich so auflöst wie heute.«

»Wenn du meinst – dann kannst du auch den Bericht dafür fertig machen.« Noch während er den Satz zu Ende sprach, erklang das Geräusch angeschlagener Tasten von Marias Rechner.

»Bin schon dabei.« Bevor Goselüschen etwas erwidern konnte, klingelte das Telefon. Er schaute auf das Display und erkannte die Nummer.

»Moin, Dr. Hallig, Goselüschen hier. Was haben Sie für uns?« Er stellte auf Lautsprecher, reduzierte die Lautstärke wegen der dröhnenden Stimme des Arztes jedoch etwas.

»Moin, Herr Goselüschen, moin, Frau Fortmann. Ich habe gerade die zweite Rückmeldung bekommen, diesmal von meiner Kollegin aus Hamburg. Möchten Sie die kurze oder die lange Version?« Sie wechselten einen kurzen Blick.

»Fassen Sie es doch bitte für uns zusammen und schicken uns die komplette Auswertung per Email«, schlug Maria vor, die mit ihrem Bericht innehielt, um sich auf den Rechtsmediziner konzentrieren zu können.

»Die Mail, Frau Fortmann, ist bereits in Ihrem Postfach. Gut, um es auf den Punkt zu bringen: Wir können den Tod durch Ertrinken ausschließen, das heißt, die Frau war bereits tot, als man sie versenkt hat. Über die genaue Todesursache können wir nur spekulieren, das würde Ihnen nicht helfen. Was allerdings helfen könnte, dürfte der Todeszeitpunkt sein. Da bin ich mit meinen Kollegen konform: Der müsste zwei bis drei Monate zurückliegen.«

»Das ist ein Anhaltspunkt.«

»Tut mir leid, Frau Fortmann, dass ich Ihnen nichts Konkreteres liefern kann. Das heißt, Moment, die Frau hatte vor Jahren eine Schultereckgelenksprengung, bei der die Acromionspitze, also ein Stück des Schulterdaches, frakturiert war. Sie wurde mit einem Draht refixiert. Daher rührt die Narbe.«

»Danke, Doc. Damit kommen wir einen großen Schritt weiter.«

»Gern, die Details entnehmen Sie dann bitte der Mail. Falls noch Rückfragen sind, zögern Sie nicht, mich anzurufen.« Goselüschen legte den Hörer auf und erhob sich.

»Ich werde eben zu Basti gehen und ihm die neuen Infos geben. Vielleicht bekommen wir ja dadurch einen Treffer.«

 

***

 

Leider brachten weder die neuen Erkenntnisse die Ermittlungen ins Rollen noch konnte das System durch die zwei Tage später eingehende DNA-Analyse eine Übereinstimmung feststellen.

»Was sagen die Datenbanken unserer Nachbarn?«

»Negativ«, sagte Sebastian. »Ich habe die Anfrage sogar auf die Briten und Schweden ausgeweitet, und auch in den großen Häfen nachgefragt, ob dort Meldungen von Fracht- oder Linienschiffen vorliegen, aber nirgendwo gibt es eine Vermisstenmeldung, die mit unseren Parametern übereinstimmt.«

»Du hast wohl zuviel Passagier 23 deines Namensvetters gelesen?«, neckte ihn Goselüschen in Anspielung auf den Bestseller Fitzeks, der das Verschwinden von Touristen auf Kreuzfahrtschiffen thematisierte.

»Na toll«, sagte Maria und seufzte. »Dann können wir die Sache wohl erstmal zu den Akten legen.«

»Könnten wir wegen der Narbe nicht einfach in den Krankenhäusern nachfragen ?«, warf Sebastian ein.

»Hast du eine Ahnung, über wie viele Krankenhäuser wir da reden?«, antwortete Goselüschen. »Tausende. Und wer weiß, wann sie operiert wurde. Davon abgesehen, dass die OP überall auf der Welt gemacht worden sein kann, wo es Mediziner gibt.« Sebastian zuckte mit den Schultern.

»War ja nur eine Idee.«

»Mir wäre auch nichts lieber, als wenn wir irgendetwas hätten, wonach wir suchen könnten. Allein schon, weil wir uns dann diesen bescheuerten Ausflug gleich ersparen könnten.«

»Nur darum geht es dir, das wusste ich«, warf Maria von ihrem Schreibtisch aus ein und lachte auf. »Nix da, du wirst dich nicht drücken.« Sie war selbst gerade damit beschäftigt, sich ihr Outdooroutfit anzuziehen.

»Komm schon, das wird sicher lustig«, sagte Sebastian und erntete ein Grummeln von Goselüschen dafür. Zähneknirschend holte er seine Sportschuhe aus dem Schrank und hielt sie vor sein Gesicht, wo er sie wie Fremdkörper hin und her drehte.

»Wow, die sind ja nagelneu. Hast du die extra für heute gekauft?«, wollte Maria wissen.

»Äh ..., nee, die sind schon zwei Jahre alt. Aber ich mache halt nur Sport in geschlossenen Räumen.«

»Ha ha, du bist ein Spinner. Ich werde dich demnächst mal zum Joggen mitnehmen, damit sich deine Anschaffung auch gelohnt hat.« Ihr daraufhin den Vogel zu zeigen war seine einzige Reaktion, dann zog auch er sich um.

 

***

 

Es war noch viel schlimmer, als er es befürchtet hatte. Die Bäume im Kletterwald ragten Goselüschen definitiv zu hoch in den Himmel, als dass er es für erstrebenswert hielt, sie zu erklimmen.

»Wer sorgt eigentlich jetzt für die Sicherheit, wenn das komplette Fachkommissariat sich sprichwörtlich zum Affen macht?«, murmelte er vor sich hin, während seine Kolleginnen und Kollegen um ihn herum den Sicherheitserklärungen der jungen Einweiserin lauschten.

»Sei mal ruhig, man versteht sonst nichts«, zischte eine Kollegin links von ihm, woraufhin er sich auf die Zunge biss, um eine provokante Reaktion zu vermeiden.

Überraschenderweise machte ihm die Kletterei mehr Spaß als erwartet. Vor allem die beiden Seilbahnen, die einen in hoher Geschwindigkeit über den angrenzenden See katapultierten, hatten es ihm so angetan, dass er sich mehrfach an deren Aufstieg anstellte.

Schwitzend, mit einigen Schwielen an den Händen, die körperliche Arbeit eher nicht gewohnt waren, und mit nassen Hosenbeinen – er konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, seine Füße beim Überqueren des Sees in das Wasser zu tauchen – suchte er Maria, um sich neben sie zu zwängen. Sie saß gegenüber des Kiosks mit Waldner und einigen anderen Kollegen am Tisch, die bereits dampfenden Kaffee vor sich stehen hatten.

»Na, Gose, war wohl doch nicht so schlimm, was?«

»Jo, ging so, ne?«

»Obwohl ich vorhin kurz Angst hatte, du würdest wie unsere Wasserleiche enden, nachdem du so verdreht über den See gerauscht bist«, sagte Maria lachend und schlug ihm auf die Schulter.

»Apropos«, warf Waldner ein, »seid ihr damit weitergekommen?« Er hatte durch den Flurfunk lediglich am Rande etwas vom Leichenfund in Bensersiel mitbekommen und nicht viel darüber nachgedacht, da er sich um einen Mordfall in Emden zu kümmern hatte.

»Nein, Karl-Heinz, weder die DNA noch das Tattoo oder die Narbe, die auf dem Torso gefunden wurden, konnten uns weiterhelfen«, erklärte Maria ernüchtert.

»Na, da machst´e nichts, wenn´s nicht im System ist«, erwiderte er achselzuckend.

»Das Tattoo ist leider nicht erkennbar, weil es durch die angrenzenden Hautschäden völlig zerstört wurde, und eine Narbe wegen einer Schulter-OP –«, Goselüschen schnaubte, »da kannst´e auch gleich die Nadel im Heuhaufen suchen.«

»Wo hatte sie das Tattoo?«

»Es beginnt am rechten Beckenkamm. Wie weit es sich nach oben zog, kann man nicht genau sagen, nur, dass es nicht bis zum Schulterblatt ging und auch nicht über die Wirbelsäule hinaus. Warum?«

»Hm, nur so. Wo war die Narbe?« Goselüschen ließ sich nicht bitten und drückte Waldner seinen Zeigefinger in dessen vordere Schulter. Dieser zuckte leicht zurück.

»Es hätte gereicht, es mir zu sagen. Du musst mir nicht extra gleich eine verpassen«, sagte er mit ruhiger Stimme. Maria blickte von Waldner zu Goselüschen.

»Warum fragst du?« Waldner sah auf seinen Kaffeebecher und atmete tief durch.

»Ich dachte kurz – aber das ist Blödsinn. Vergesst es.«

»Äh, nee«, sagte Goselüschen. »Rück schon raus damit. Wir nehmen jeden Hinweis, wie abstrus er auch sein mag.«

»Vor einigen Monaten, das war, bevor ihr hier herversetzt wurdet, hatten wir ein vermisstes Mädchen, Swea Hendrickson aus Greetsiel. Auf sie würde eure Beschreibung passen: Vom Alter her, von der Narbe her und sie hatte ein Tattoo dort, wo ihr sagt. Es war eine Blume, die sich vom Becken bis unter das Schulterblatt rankte.« Maria streckte ihren Rücken durch und lehnte sich dicht zu ihm.

»Bis hierhin eine komplette Übereinstimmung, was ist denn daran abstrus?« Waldner atmete hörbar aus.

»Abstrus daran ist, dass Swea Hendrickson vor ungefähr zwei Monaten beerdigt wurde.«

Kapitel 5

 

 

Auch wenn es der obligatorische Griff nach dem Strohhalm war, ließen sich Maria und Goselüschen die geschlossene Akte Hendricksons geben.

Waldner hatte ihnen noch im Kletterpark erklärt, dass das 17-jährige Mädchen drei Tage lang vermisst worden war, bis es in einem Wohnwagen auf einem Campingplatz im östlichen Teil Norderneys mit einem hypoglykämischen Schock aufgefunden wurde. Sie verstarb, kurz nachdem sie ins Krankenhaus gebracht worden war, an dessen Folgen. Hendrickson hatte erst wenige Wochen zuvor die Diagnose ihrer Diabeteserkrankung erfahren und war nach einem Streit mit ihren Eltern abgehauen. Offensichtlich hatte sie sich mit ihrer Medikation nicht ausreichend befasst. Ob sie sich unwissentlich zu viel Insulin gespritzt oder sich lediglich mangelernährt hatte, konnte nicht abschließend geklärt werden.

»Tragisch, so ein junges Mädchen. Aber verdammt, das könnte echt hinkommen mit dem Tattoo.« Maria wies auf ein Foto, das die attraktive Hendrickson im Bikini von der Seite zeigte. Goselüschen warf einen prüfenden Blick darauf und hielt ein Foto der Wasserleiche daneben. Genauso verhielt es sich mit der Narbe an der Schulter.

»Zum Teufel, das könnte tatsächlich passen. Aber das ist doch verrückt.« Maria stimmte ihrem Kollegen schweigend zu.

Kurz darauf suchten sie Sebastian in seiner Schaltzentrale auf.

»Puh, das hört sich befremdlich an«, sagte er nur, nachdem auch er die Fotos miteinander verglichen hatte.

»Warum wusstest du eigentlich nichts von dem Fall? Beziehungsweise, warum hat der Computer dazu nichts ausgespuckt, als du die Daten der Wasserleiche eingegeben hast?« Sebastian runzelte die Stirn und schaute nochmal in die Akte Swea Hendrickson. Er tippte mit dem Finger auf eine Spalte.

»Hier«, sagte er, »zu der Zeit, als die Meldung reinkam, war ich auf einer Fortbildung in Hannover.« Er erklärte weiter: »Ich habe in der Anfrage den Computer angewiesen, auf offene Fälle und auf solche zuzugreifen, denen eine Straftat zu Grunde lag.«

»Das erklärt auch, warum Dr. Hallig nichts davon wusste. Er hätte es sicher gemerkt, wenn er dieselbe Leiche schonmal auf dem Seziertisch gehabt hätte«, folgerte Maria.

»Genau. Da aber im Krankenhaus ein natürlicher Tod festgestellt wurde, gab es keine Autopsie in der Rechtsmedizin und in der Folge wurde dementsprechend die Vermisstenakte geschlossen.«

»Na ja, es ist wie es ist«, sagte sie. »Kannst du herausbekommen, wo und wann Swea Hendrickson operiert wurde?« Sebastian grinste verschlagen.

»Maria, ich bitte dich.« Er drehte sich auf seinem Stuhl zu einem seiner Computer und ließ seine Finger über die Tastatur fliegen. »Gebt mir eine halbe Stunde. Ihr könnt solange einen Kaffee trinken gehen und euch überlegen, was ihr den Eltern sagen wollt, wenn sie es tatsächlich sein sollte.« Er atmete laut aus und fügte mehr für sich selbst hinzu: »Ich bin heilfroh, dass ich sowas nicht tun muss.«

 

***

 

Wie erwartet, kam er schon nach fünfundzwanzig Minuten zu den beiden und wie so oft wedelte er auch diesmal mit einigen losen Zetteln.

»Bingo«, sagte er. »Sie wurde im August 2016 im Klinikum Emden nach einer Sportverletzung chirurgisch an der Schulter versorgt. Ich habe mir erlaubt, Dr. Hallig darüber zu informieren. Er sagte, er würde sich mit den Kollegen im Krankenhaus kurzschließen und sobald er Bescheid weiß, will er sich bei euch melden.«

»Sehr gut, Basti«, lobte Maria. »Einerseits wäre es ja schön, wenn wir Gewissheit hätten, andererseits weiß ich nicht, wie wir das den Eltern schonend beibringen sollten.« Zwar war sie aus Überzeugung kinderlos geblieben, doch sie konnte sich annähernd vorstellen, wie schrecklich es für Eltern sein musste, wenn sie mit so einer Situation konfrontiert werden, während sie gerade versuchen, den Tod ihres Kindes zu verarbeiten.

»Falls sie es ist«, begann Goselüschen, »werden wir nicht ohne eine Psychologin zu den Eltern fahren, das ist wohl klar.« Maria nickte nachdenklich.

 

***

 

Wenige Stunden später riss das Läuten des Telefons Maria aus ihren Gedanken.

»Moin, Doc. Konnten Sie etwas in Erfahrung bringen?«

»Moin nach Aurich«, erwiderte er deutlich über den Lautsprecher hörbar. »Wir haben Glück. Zwar liegen dem Emder Klinikum keine DNA-Ergebnisse vor, die benötigen wir jedoch auch nicht. Freundlicherweise ließen mir die Kollegen einige prä- und postoperative CT- und Röntgenaufnahmen von Swea Hendrickson zukommen. Anhand der Knochenstruktur und der Lage ihrer Fraktur kann ich zweifelsfrei sagen, dass es sich um dieselbe Person handelt, die aus dem Wasser geborgen wurde.«

»Das kommt zwar nicht überraschend«, sagte Goselüschen, »aber es wirft momentan mehr Fragen auf, als es beantwortet.«

»Das zu klären ist Ihr Metier, Herr Goselüschen. Ich sende Ihnen später alles nochmal offiziell per E-Mail.«

»Danke bis hierhin«, sagte Maria und beendete nach einer Erwiderung Dr. Halligs das Gespräch. Goselüschen zog die Augenbrauen hoch und kaute auf seiner Unterlippe.

»Puh, was sollen wir jetzt damit anfangen?«

»Gute Frage, Gose, gute Frage. Mich interessiert erstmal brennend, wer anstelle der Hendrickson im Sarg liegt.«

»Falls überhaupt jemand drinliegt. Wer weiß, vielleicht wurde sie nach der Beisetzung ausgebuddelt.«

»Warum sollte man so etwas tun?«

»Warum klaut man überhaupt Leichen? Wer weiß, Maria, vielleicht gibt es hier in der Gegend jemanden, der auf Dr. Frankensteins Spuren wandelt und an Leichen herumbastelt. Das würde auch erklären, warum der Kopf unserer fehlte.«

»Oder extremer jugendlicher Übermut, sich den Kick holen, indem man eine Leiche klaut.«

»Sexuelle Hintergründe können wir ebenfalls nicht ausschließen – wobei ich diese nekrophilen Freaks nie verstehen werde.« Goselüschen verzog angewidert das Gesicht. »Allerdings kann ich die anderen Gründe ebenfalls nicht nachvollziehen.«

»Was wir noch in Betracht ziehen können, ist, dass jemand jegliche Beweise vernichten wollte, die bei einer Exhumierung der Leiche ans Licht hätten kommen können.«

»Na, wenn sie schon six feet under ist, sollte man sich darüber doch keinen Kopf mehr machen. Ich meine, wenn ich als Mörder oder Vergewaltiger Angst habe, Spuren zu hinterlassen, beseitige ich die Leiche doch, bevor sie in die Hände der Rechtsmedizin geraten kann.« Maria blickte aus dem Fenster auf den Parkplatz, auf dem sauber aufgereiht fünf Streifenwagen nebeneinanderstanden.

»Vielleicht wurde er dabei unterbrochen und kam nicht mehr dazu, die Leiche zu beseitigen.«

»Nein, nein, Maria. Was wir nicht bedenken, ist, dass Swea Hendrickson nachweislich an den Folgen einer Unterzuckerung gestorben ist und noch lebte, als sie ins Krankenhaus gebracht wurde.« Maria sprang auf und ging zur Tür. Sie bedeutete ihrem Kollegen, ihr zu folgen. »Was ist los?«

»Ich denke, wir sollten uns nochmal mit Karl-Heinz darüber unterhalten.«

»Der ist vorhin gerade weg zu einer Befragung, hab ich mitbekommen.« Maria drehte sich in der Tür halb um.

»Dann flitz ich mal zu der Dünemann und besorge uns einen Beschluss für die Exhumierung.« Kaum ausgesprochen eilte sie den Korridor hinunter und klopfte bei ihrer Dienststellenleiterin an.

Es brauchte wenig, um ihre Chefin von den Ungereimtheiten und der Notwendigkeit dieser Maßnahme zu überzeugen. Sie würde sich darum kümmern und ihr Bescheid geben, sobald sie grünes Licht hätten. Bei Verlassen des Büros stieß sie fast mit Waldner zusammen, der gestresst aussah und nicht auf sie geachtet hatte.

»Immer langsam, Karl-Heinz«, sagte sie und lachte.

»Sorry, ich war etwas abwesend.«

»Warte«, sagte sie und hielt ihn am Ellbogen fest, bevor er weitergehen konnte. »Hast du kurz Zeit? Wir haben ein paar Fragen wegen unseres Falles.« Waldner stöhnte auf, warf einen Blick auf seine Uhr und antwortete:

»Ein paar Minuten habe ich. In einer halben Stunde muss ich aber los – Zeugenaussage beim Amtsgericht.«

»Das sollte reichen.«

Kapitel 6

 

 

»Das ist ja unglaublich«, sagte Waldner fassungslos, nachdem er von der jüngsten Entwicklung in Kenntnis gesetzt worden war. »Ich brauche einen Kaffee – eigentlich bräuchte ich einen Schnaps – aber ein Kaffee muss es auch tun.« Er wandte sich zu der Ecke seines Büros, in der Tassen und eine Espressomaschine standen. »Wollt ihr auch einen?«

»Nein, danke«, sagte Maria, während Goselüschen antwortete, dass er niemals zu einem Kaffee nein sagen würde. Waldner schob seinem Kollegen einen hinüber, darauf setzte er sich mit seiner Tasse in der Hand zu den beiden in die kleine Sitzecke neben dem Drucker.

»Auch wenn das alles echt krank ist, sehe ich momentan nicht, wo ihr einen Fall habt. Ich meine, Störung der Leichenruhe, Vandalismus, vielleicht noch Umweltverschmutzung wegen der Entsorgung der Leiche in der Nordsee – das sind doch eher Sachen für das Ordnungsamt oder die Kollegen von der Schutzpolizei – aber doch nicht für unser Fachkommissariat.«

»Das kommt zum einen darauf an, was wir bei der Exhumierung vorfinden«, begann Maria, »und zum anderen darauf, wie wir die alte Akte bewerten.« Waldner schaute argwöhnisch.

»Was meinst du damit? Wie würdest du die Akte denn bewerten?«, fragte er mit einem leicht aggressiven Unterton. Goselüschen schlug den Ordner auf und überflog ein paar Seiten.

»Laut der Aufzeichnung ging der erste Notruf anonym bei der Leitzentrale ein. Eine Viertelstunde später gab es einen zweiten von den Ersthelfern, die am Wohnwagen vorbeispaziert waren und die krampfende Hendrickson durch einen Blick ins Fenster entdeckt hatten.«

»Und weiter?«, fragte Waldner. »Vielleicht war es ein Jugendlicher, der Angst vor einer Strafe hatte, weil er nicht vor Ort geblieben war oder weil er in den Wohnwagen einsteigen wollte.«

»Das ist die logischste Erklärung«, pflichtete Maria ihm bei. »Aber was ist, wenn er sie kannte oder sogar mit ihr zusammen abgehauen war?«

»Kann ja alles sein«, sagte Waldner und wurde zunehmend abweisender. »Aber was bitte ändert das am natürlichen Tod des Mädchens? Es gab keinen, ich betone, absolut keinen Hinweis auf Gewaltanwendung. Im Wohnwagen haben wir lediglich ihren Schlafsack, ihr Insulin-Spritzenset, einige Hygieneartikel und neben halbvollen Cola- und Wodkaflaschen ein paar Müsliriegel und die Reste von Dosenravioli gefunden.« Maria durchschoss es wie ein Stromstoß.

»Müsliriegel?«

»Ja, Müsliriegel«, antwortete er in einem Ton, als ob Maria begriffsstutzig wäre. Doch plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. »Verdammt, wie konnten wir das übersehen?«, sagte er mit vor Ironie tropfender Stimme.

»Ich denke, wir haben einen Fall«, sagte Goselüschen, Waldners Ton ignorierend. »Niemand leidet an einer Unterzuckerung, wenn Cola und Süßkram in greifbarer Nähe herumliegen.«

»Es sei denn –«, begann Maria.

»Jemand hindert sie, dranzukommen«, ergänzte Goselüschen.

»Vergesst aber nicht, dass sie sich auch mit dem Wodka weggeballert haben kann. Dazu braucht es niemand anderen.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739467436
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Mord Inselkommissarin Nordseekrimi Entführung Totschlag Krimi Ostfrieslandkrimi Cosy Crime Whodunnit Thriller Spannung

Autor

  • Marcus Ehrhardt (Autor:in)

Der Autor, 1970 geboren, lebt im niedersächsischen Vechta. Er ist Vater zweier erwachsener Kinder. Die Idee, Geschichten zu erzählen und Bücher daraus entstehen zu lassen, kam quasi über Nacht. Seinen großen Sympathien den USA gegenüber in all ihren Vielfalten und endlosen Weiten ist es geschuldet, dass einige seiner Titel eben dort verankert sind. Demgegenüber erscheinen immer wieder Titel, die vorrangig in seiner norddeutschen Heimat angesiedelt sind.
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Titel: Mordseegrollen