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Spring! Verdrängte Gefühle

Gefühlvolle Familiensaga-Romance über Selbstfindung

von Adelina Zwaan (Autor:in) Anna Conradi (Autor:in)
290 Seiten

Zusammenfassung

Band 1 der neuen, mystischen und fesselnden Familiensaga

Ella verbringt einen herrlichen Sommertag an einem malerischen Fluss, als plötzlich ein Partyboot auftaucht. Spontan springt sie an Bord und findet sich in einer Dreiecksbeziehung zwischen dem geheimnisvollen Yanick und dem medial begabten Kai wieder.
Aber hinter Ellas strahlendem Lächeln verbirgt sich ein gut gehütetes Geheimnis. Mit dem Sprung gerät ihre Gefühlswelt und ihr Leben in Aufruhr, beeinflusst sogar das Schicksal einer ganzen Familie.

"Verdrängte Gefühle" ist der erfrischende Start zu einer mitreißenden Serie von Adelina Zwaan, die Liebe, Glück und Familiengeheimnisse kunstvoll verwebt. Nur jetzt als eBook bei AZ Books.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

Vita

Widmung

Der Sprung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Der Dorn

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Bibliografie AZ Books

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Vita

 

Adelina Zwaan (Pseudonym), 1971 in der Hansestadt Wismar geboren, lebt in Leipzig und arbeitet bei einem örtlichen Energieversorger. In ihren bildgewaltigen und tiefgründigen Liebesromanen taucht sie tief in die inneren Konflikte ihrer meist bindungsunfähigen Protagonisten ein. Schreibt sie nicht, ist sie als Fengshui-Beraterin unterwegs, malt Aquarelle, gestaltet Grußkarten, näht oder fängt flüchtige Momente mit ihren Fotoapparaten ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Adelina Zwaan

 

 

SPRING

VERDRÄNGTE GEFÜHLE

 

 

 

 

Erster Band

Ein Bild, das Grafiken, Schrift, Logo, Clipart enthält.  Automatisch generierte Beschreibung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Widmung

Mit ihm scheint das Unmögliche möglich, alles Unvorstellbare vorstellbar und Grenzen sind nur dazu da, damit ich über sie hinauswachse. Entgegen meinen Erwartungen passt alles. Dennoch …

 

Adelina Zwaan

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Sprung

Prolog

 

Unaufhaltsam branden die Wellen an der westlichen Küste der kleinen Ostseeinsel Poel heran. Wild und tosend rauschen sie heran, gierig den Sandstrand verschlingend. Nach jedem Bissen zieht sich das Wasser zurück. Der warme Sommerwind reitet durch die Lüfte, erfüllt von einem salzigen Hauch der Ostsee und dem unwiderstehlichen Duft von sonnenverwöhnter Haut.

Endlos erstreckt sich der Badestrand und verliert sich irgendwann im Flimmern der Sonnenstrahlen. Er ist mit Badegästen bevölkert, die fröhlich plaudernd vom nahgelegenen Campingplatz strömen oder als Tagesgäste nach Erholung suchen.

Mein verträumter Blick fällt auf ein Kind, das mit seinen Eltern einen Platz neben uns ergattert hat. Das kleine Mädchen sitzt im Sand und greift fasziniert in den feinen Sand. Der Wind spielt mit der Krempe ihres weißen Hutes, während die blonden Locken des Kindes ein seltsames Eigenleben zu führen scheinen. Die Kleine bleibt davon unbeeindruckt, denn sie ist sichtlich in ihrer eigenen Welt versunken.

Ein zufriedenes Seufzen entweicht mir. So muss sich Urlaub anfühlen. Ich richte meinen Blick auf das tiefblaue Wasser, das sich kurz vor dem Strand in einer wogenden Gischt erhebt. Die majestätischen Wellen brechen in faszinierenden Mustern auf dem weichen Strandsand, nur um dann allmählich darin zu versickern.

Dieser Ort strahlt trotz der dunklen Wolken, die sich in der Ferne am Horizont abzeichnen, eine unwiderstehliche Ruhe aus. Ihre bedrohliche Präsenz zwingt mich, einen Augenblick innezuhalten. Ich möchte den Hauch von Spannung und Dramatik nachspüren, der in der Luft hängt.

»красавица моя, was hältst du da in deinen Händen?«, flüstert meine Großmutter mit einem Hauch von Neugier in der Stimme.

Verstohlen wandert ihr fragender Blick zu dem funkelnden Bernstein, den ich behutsam gegen das gleißende Sonnenlicht halte, während ich in süßen Erinnerungen schwelge. Er ist wunderschön.

»Das ist ein Auge, бабуля. Sieh nur«, erwidere ich mit einem geheimnisvollen Lächeln und reiche meiner Oma den kostbaren Fund. Sie nennt mich stets »meine Schöne«. Ich höre es nicht gerne, ertrage es aber aus Respekt vor ihr.

Hingerissen betrachtet sie den wunderschönen Bernstein und hält ihn vorsichtig gegen das gleißende Sonnenlicht. Leise haucht sie: »Elja, er strahlt wie ein Stern, der die Dunkelheit erhellt.«

»Да, бабуля. Ich habe ihn im Meer gefunden.«

»Um diese Jahreszeit? Du hast erstaunliches Glück, mein Kind. Doch was wirst du mit diesem Schatz anfangen?«, fragt sie mit einem Hauch von Besorgnis in ihrer Stimme.

»Och, nichts Besonderes. Es genügt mir, ihn anzusehen. Schau nur, wie er funkelt und in der Sonne glänzt. Er erinnert mich an jemanden«, entgegne ich.

»An wen erinnert dich ein Bernstein?«, flüstert sie mit gesenkter Stimme, während sie angestrengt nachdenkt, auf wen ich anspiele.

Sie wird mein Geheimnis niemals enträtseln. Es ist wie bei einem sagenumwobenen Piratenschatz. Pausenlos sprechen alle von ihm, aber niemand wird ihn je finden. Er ist mein Licht in den dunkelsten Nächten und der Rettungsanker, der mich aufbaut, wenn jede Hoffnung bereits erloschen ist.

»Ich hab ihn getroffen, als wir мамочка zu Grabe gebracht haben«, antworte ich mit einem düsteren Unterton und ignoriere das verwunderte Gesicht meiner Großmutter.

Meine Antwort bleibt absichtlich vage, der Tonfall gleichgültig. Ich war gerade einmal sieben Jahre alt, als wir Abschied von meiner Mutter, meiner geliebten Mamotschka, nehmen mussten. Die Erinnerungen an diesen schicksalhaften Tag liegen nun bereits acht Jahre zurück, trotzen aber unbeirrbar dem schleichenden Vergessen, als würden sie in tausend strahlenden Farben erstrahlen.

Versunken in diesen kostbaren Erinnerungen, finde ich mich erneut an einem kalten Märztag vor acht Jahren wieder.

 

Meine Familie hatte sich auf dem russisch-orthodoxen Friedhof in Berlin Tegel versammelt. Großmutter schickte mich aus der Kapelle, damit ich frische Luft schnappen und einmal durchatmen konnte.

Die letzten Tage haben mir alles abverlangt und stehen mir förmlich ins Gesicht geschrieben. Dankend nehme ich ihr Angebot an. Das Deckengewölbe der Friedhofskapelle drückt schwer auf meine Schultern und erinnert mich an das finstere Grab, in das meine Mutter gleich hinabgelassen wird.

Ich hole tief Luft und trete aus der Kapelle. Stumpfsinnig vor mich her starrend hocke ich mich hin und lehne mich gegen die geöffnete Doppeltür aus Holz, die mit prächtigen Schnitzereien verziert sind. Immerfort wimmere ich, bis Schuhe in meinem Blickfeld auftauchen.

»Warum weinst du?«

Ich hebe den Blick.

Vor mir steht ein Mann. Das seitliche Sonnenlicht lässt sein Auge aufleuchten und die braune Iris strahlen. Augenblicklich öffnet sich mein Kinderherz, weit und schlagartig. Es blickt über den Tellerrand hinaus und erkennt urplötzlich, wie winzig und unwichtig ich bin.

Das leise Murmeln des Absolutionsgebets dringt aus der Kapelle. Heiliger Gott, Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser … Seine Augen huschen über mich hinweg, dorthin, woher die monotonen Klänge ertönen.

»Meine Mamotschka ist gestorben.«

Langsam wendet er sein wunderschönes Gesicht in meine Richtung. Tiefdunkle Augen betrachten mich. Für einen magischen Moment steht die Zeit still.

»Mein aufrichtiges Beileid«, flüstert er, wobei seine Stimme bricht. Mit glasigen Augen betrachtet er mich.

»Danke.«

Es sind nicht seine Worte, die mich in den Himmel empor heben. Vielmehr ist es die einfühlsame Art, der wiche Blick, mit der er mich ansieht. Eine seltsame, aber faszinierende Stille erfüllt mich. Sie tröstet mehr als alle wohlmeinenden Worte zusammen, die ich in den vergangenen Wochen gehört habe.

»Lass ruhen, o Herr, die Seele deiner entschlafenen Dienerin.« Ich höre deutlich die Stimme meiner Großmutter aus dem Kanon-Hymnus heraus.

Absurd, aber ohne Vorwarnung frage ich auf Russisch, ob er mich heiraten möchte: »Могу я жениться на Tебе?«

Nein, ich meine nicht jetzt, sondern später, wenn ich groß bin. Hoffnungsvoll blicke ich ihn an.

Im Augenwinkel bemerke ich, wie mein Großvater sich zu uns gesellt. Er kommt, um mich zur Verabschiedung zu holen. Der bildschöne Mann, der vor mir steht, lächelt herzallerliebst, aber unverbindlich. In meinem kleinen Herzen keimt dennoch die Hoffnung auf, dass er meine Frage mit einem überschwänglichen »Ja« beantwortet und mich zu seiner Frau nimmt.

Hinter ihm erschien eine Frau mit brünetten Haaren. Sie hat meine Worte gehört und verspottet mich mit höhnischer Stimme: »младенец. Er ist schon vergeben. An mich. Und ich gebe ihn garantiert nicht her.«

Ihr spöttisches Grinsen trifft mich bis ins Mark. Feindselig blickt sie mich mit ihren pechschwarzen Augen an. Provokativ schlingt sie ihren Arm um seine Hüfte und zieht ihn mit einem gehässigen Lächeln fort. »Unglaublich, was dich dieses Baby fragt.«

»Sei nicht so hart, Gina. Ihre Mamotschka wird gleich beerdigt«, weist er sie zurecht, wendet sich dennoch von mir ab.

»Na und? Früher oder später sterben wir alle «, flüstert sie in sein Ohr.

Sie zielt darauf ab, dass ich ihre Worte höre. Ich antworte mit herausgestreckter Zunge. Sie kichert, zieht ihn weiter fort, küsst seinen Hals und schaut triumphierend zu mir herüber. Anschließend berühren ihre Lippen die seinen so auffällig, dass es mein Innerstes zum Kochen bringt.

Mein verletztes Herz bäumt sich auf. Wild pochend rebelliert es in meiner Brust, denn ich möchte ihn für mich. Sie soll mich ruhig noch einmal Baby nennen, ganz egal in welcher Sprache, dann trete ich ihr gewaltig gegen das Schienbein.

Ich bin zwar erst sieben Jahre alt, doch mein Herz bricht entzwei, weil er ihren Kuss erwidert und sie lachend den Hauptweg entlang schlendert. Enttäuscht, mit gesenktem Kopf und Tränen in den Augen ziehe ich meine Mundwinkel nach unten.

Mein Großvater hebt mich in die Höhe. »Was haben sie zu dir gesagt?«

»Sie hat gesagt, dass wir alle irgendwann sterben werden«, erwidere ich leise.

»Leider wahr. Und er? Was hat er gesagt?«

»Er hat nicht auf meine Frage geantwortet«, schluchze ich.

»Was hast du ihn gefragt?«

Ob er mich heiratet«, gestehe ich wahrheitsgemäß.

»Ernsthaft? Das hast du ihn gefragt?«

Wahrheitsgetreu bejahe ich mit einem schlichten Kopfnicken, obwohl mein Großvater verhalten kichert. Strafend schaut meine Großmutter herüber und winkt uns ungeduldig heran.

»Wenn er die dort aber küsst, kann er mir gestohlen bleiben.«

Gallebitter quellen die Worte gepresst über meine Lippen. Mein Hals fühlt sich wie zugeschnürt an. Im Herzen sticht es unerträglich. Stürmisch flattern die Worte in meiner Brust umher, rauben mir buchstäblich den Atem.

»Elja, was soll er denn machen? Er ist doch noch ein Junge und kann gar nicht heiraten.«

Für mich ist er kein Junge. Für mich ist er ein Mann. Mit seinen wunderschönen Augen und seiner einfühlsamen Art ist er sogar der Schönste, den ich je in meinem Leben gesehen habe. Vermutlich werde ich niemals wieder so jemanden Schönen sehen.

»Wenn er es wirklich gewollt hätte, schon«, beharre ich starrsinnig und schaue finster drein. Als könnte er unser Gespräch hören, denn er dreht sich kurz um und schmunzelt belustigt.

»Elja, Elja, dein Maßstab ist falsch justiert. Bring es bitte schnellstens in die Werkstatt und lass es überprüfen«, tadelt mich Großvater sanft und stupst spielerisch meine Nase an.

Er trägt mich durch die große, schwere Doppeltür. Ich blicke über seine Schulter und sehe zu dem schönen Mann, der unten vor der Treppe steht und uns beobachtet.

Voller Verachtung dafür, dass er es gewagt hat, vor meinen Augen eine andere zu küssen, strecke ich die Zunge heraus. Ich möchte ihm unmissverständlich zeigen, was ich von ihm halte. Zur Antwort sendet er mir einen versöhnlichen Luftkuss und ein bezauberndes Lächeln.

Es ist mir egal. Der Not gehorchend wende ich mich von ihm ab.

Mein Großvater trägt mich zum offenen Sarg, in dem meine Mutter liegt. Ihr makelloses Gesicht wirkt, als wäre sie soeben eingeschlafen.

Tränenreich klage ich über mein doppeltes Unglück, nachdem Großvater mich absetzt und zurücktritt. Die Anwesenden lassen mich gewähren. Sie geben mir die Zeit, die ich benötige.

In diesem leisen Klagen gestehe ich Mamotschka meinen Kummer. Meine Welt dreht sich um den Mann, den ich eben getroffen habe. Der Sarg wird bald geschlossen, daher bitte ich sie, ein Teil von mir bei sich zu behalten.

Gleichzeitig schwöre ich, flehentlich und mit gefalteten Händen, dass sie es sicher verwahrt. Ich kneife meine Lider fest zusammen, um meinem Gebet die nötige Inbrunst zu legen.

Ich weiß, dass es bei ihr in besten Händen ist. Verborgen, gut geschützt und tief in der Erde. Bei einem Menschen, dem ich vertraue.

Niemand wird es dort finden. Nur ich und sie wissen davon.

Niemand wird es je finden. Nur, wenn ich es zulasse. Falls ich es zulasse.

Aber das sieht mein Plan nicht vor.

 

»Zeig mal her, Elja«, bittet mein Großvater mit drängender Stimme über das Kreischen der Möwen hinweg. Er streckt seine Hand zum Bernstein aus.

Der Himmel erstrahlt in sommerlichem Blau, die dunklen Wolken am Horizont lösen sich träge auf. Wildes Geschrei der Möwen erfüllt die sommerwarme Luft und spiegelt mit seinen flirrenden Lichtern die Aufregung wider, die in meinem Herzen tobt.

Obwohl es mir schwer fällt, den Bernstein aus der Hand zu geben, reiche ich ihn meinem Großvater. Lange betrachtet er ihn. Wie meine Großmutter hält er ihn gegen die Sonne, dreht ihn mehrmals und öffnet den Mund.

Eindringlich sieht er mich danach an. Er bemerkt meine Unruhe, denn sogleich strecke ich meine Hand aus.

»Du hast ihn im Meer gefunden?«

Zustimmend senke ich den Kopf und streiche versonnen den feinen Sand von meinen Füßen. Ich gebe mir die allergrößte Mühe, gleichgültig zu wirken.

»Ist es ein Auge?«, erkundigt er sich weiter.

»Ja«, antworte ich knapp.

»Aha, verstehe. Also hast du ihm damals die Zunge herausgestreckt und gesagt, er kann dir gestohlen bleiben, hast ihn aber bis heute nicht vergessen?«, stellt er fest, während er mich prüfend anblickt.

»Nur, wenn Gott es will.«

»Eljotschka, moja. Können wir uns darauf einigen, Gott aus dem Spiel zu lassen und keine Lügen zu verbreiten?«, fragt er mit ernster Stimme, während er meinen Blick sucht.

 

 

 

Kapitel 1

 

Knapp unterhalb der Oberfläche des hellgrünen Wassers schwebe ich in einem ruhigen Seitenarm der Müggelspree. Bedächtig bewegen sich meine Hände im Wasser, während ich das kribbelnde Gefühl zwischen meinen Fingern genieße.

Ich spüre ein geheimnisvolles Knistern. In mir wächst eine unerklärliche Unruhe. Es fühlt sich an, als wäre etwas Großes im Anmarsch. Die Spannung durchdringt die Luft, wie ein Brotmesser die knackige Kruste eines frischen Roggenbrotes.

Vermutlich liegt das an den Erinnerungen, denen ich nachhänge. Der Sommerurlaub auf Poel ist lange her. Der Tod meiner geliebten Mutter sogar noch länger. Heute bin ich erwachsen, Anfang zwanzig.

Die Blätter in den Wipfeln der umliegenden Bäume wirbeln durcheinander, als würden sie mir eine Botschaft übermitteln wollen. Sie rufen mir die pulsierende Masse der unzähligen Menschen dieser gigantischen Hauptstadt ins Gedächtnis.

Jedes Blatt symbolisiert einen Menschen, der in diesem Moment in hektischer Betriebsamkeit gefangen ist. Allein die Vorstellung jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Ich spanne meinen Körper an, damit ich nicht untergehe. Zu Kinderzeiten haben wir dieses Spiel ›Leiche‹ genannt. Die Regeln waren denkbar einfach. Wer sich am längsten regungslos auf der Wasseroberfläche halten konnte, hatte gewonnen. Aber tatsächlich hat nie jemand gewonnen. Immer hat es jemanden gegeben, der Wasser ins Gesicht gespritzt und den Sieg ruiniert hat.

Im Gegensatz zu damals gibt es heute niemanden, der mein Spiel unterbricht. Meine Freundin Uta trocknet sich bereits am maroden Holzsteg ab, während sie vor Kälte zittert und soeben aus dem erfrischenden Wasser geklettert ist. Ihre Lippen sind bereits blau angelaufen, denn sie ist eine echte Frostbeule.

Es ist Mitte Juli. Allerschönstes Badewetter. Die Sonne steht hoch am Mittagshimmel, lediglich von wenigen Wölkchen bedeckt, die gemächlich nach Osten ziehen. Ihr bedächtiger Tanz hält die Welt in Bewegung und steht dennoch mit ihr im Einklang.

Selten durchqueren Boote diesen idyllischen Seitenarm der Müggelspree. Friedliche Stille herrscht und niemand hat es eilig. Selbst die wenigen Menschen, die in ihren Booten zu ihren malerisch versteckten Grundstücken zwischen Hecken und Bäumen fahren, kämpfen nicht gegen den Sekundentakt an.

Dieser Ort ist eine Oase, ein wahrer Zufluchtsort vor der Hektik des Alltags. Nur einen Steinwurf entfernt, auf der Müggelspree, sieht es ganz anders aus.

Dort wimmelt es von Booten, fast wie im abendlichen Berufsverkehr auf den Autobahnen. Im Drei-Minuten-Takt tuckern Ausflugsdampfer vorbei. Aber die eigentlichen Störenfriede sind die Freizeitskipper, die sich aufführen, als wären sie James Bond in einem actiongeladenen Abenteuer, bereit, waghalsige Manöver auszuführen, um die Ehre der englischen Krone zu verteidigen.

Mir ist das alles zu turbulent. Hier, an diesem versteckten Ort, finde ich meinen Frieden und meine Ruhe. Zum Glück haben Uta und ich ihn vor Jahren entdeckt.

Es ist ein glücklicher Zufall gewesen, weil wir das verwilderte Grundstück erforscht haben und auf den maroden Steg mit den verblassten silbergrauen Holzplanken gestoßen sind.

Seitdem kommen wir hierher, um zu baden und die kostbare Stille zu genießen. Natürlich haben wir immer einen prall gefüllten Picknickkorb dabei, um diesen Moment noch vollkommener zu gestalten.

Das verwilderte Grundstück ist von alten, majestätischen Eichen umgeben, die uns an extrem heißen Tagen mit ihrem kühlenden Schatten verwöhnen. Trotz der Gefahr, die von dem brüchigen Steg ausgeht, liebe ich diese abgelegene Badestelle. Seine Schönheit liegt im seltsam morbiden Charme des verfallenen Hauses, in der Pracht des verwilderten Gartens und in der himmlischen Ruhe, die den Ort durchdringt.

Schon allein beim Betreten des Stegs überkommt mich tiefer Frieden. Innerhalb weniger Minuten tauche ich vollständig in diese Welt ein.

Dieses idyllische Versteck ist genau das, was ich nach einer anstrengenden Woche brauche. Hier fällt der Stress und Druck des Arbeitsalltags wie durch ein Wunder von mir ab und wird fortgespült. Als Kindergärtnerin liebe ich meinen Beruf zutiefst, doch am Wochenende muss ich meine Energiereserven auftanken.

Genau das tue ich jetzt, während ich minutenlang in die vielen Grüntöne über mir. in die vielen, unterschiedlichen Grüntöne über mir betrachte. Jedes Detail ist von dieser belebenden Farbe durchdrungen.

Die Bäume, zu denen ich aufblicke, werden von Vögeln bevölkert, die ihre Nester bauen und ihren Nachwuchs versorgen. Das Gras, wächst über den Rand des Ufers und hat sich seinen Lebensraum bis ins Wasser erobert. Und nicht zuletzt das Wasser selbst, das in der Sonne ein helles Grün annimmt und im Schatten eine dunklere Nuance zeigt, während es sich in sanften Wellen kräuselt.

»Ella, du bekommst noch Schwimmhäute zwischen den Fingern und Zehen. Komm endlich heraus! Ich möchte gerne mit dir essen. Mein Magen knurrt schon vor Hunger. Beeil dich, sonst fange ich allein an«, ruft Uta mit vorfreudiger Ungeduld.

Uta erinnert mich an meinen verstorbenen Großvater, der ebenfalls das außergewöhnliche Talent hatte, mich im schönsten Moment aus dem Wasser zu rufen. Ich widerstrebe dem Gedanken, das Wasser zu verlassen, denn ich fühle mich gerade vollkommen im Einklang mit der Umgebung.

Die drei Enten, die ganz in meiner Nähe schwimmen, hätten mich beinahe als Teil ihrer kleinen Familie akzeptiert. Auf der Suche nach Nahrung sind sie immer näher gekommen. Mit Schwimmhäuten könnte ich mühelos als Ente durchgehen. Der einzige Haken wäre, dass ich lernen müsste, wie man im Gras nach essbaren Dingen sucht. Doch das wäre ein Klacks, denn ich bin lernfähig.

Ein leises Kichern entweicht mir. Das Wasser schwappt um mein Kinn, aufgewühlt durch die plötzliche Bewegung meiner Bauchmuskeln.

Meine beste Freundin kann sehr mürrisch werden, wenn sie Hunger hat. Ich lasse meine Beine ins Wasser sinken und schwimme gemächlich zurück zum Steg.

Sie wartet und schiebt ungeduldig ihre Beine im Wasser hin und her. Ihr Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, während sie meinen Blick vermeidet.

Ich lächele ihr zu. Sie tut nun so, als würde sie absichtlich nicht zu mir schauen, damit sie die Fassade aufrecht erhalten kann. Meistens genügt ein vielsagender Blick von mir und ihr Kartenhaus aus schlechter Laune stürzt zusammen.

Sobald ich den Steg erreiche, schwinge ich mich elegant hinauf und nehme Platz, sodass meine Beine im grünen Wasser baumeln können. »Fast hätte ich mich von den Dreien dort adoptiert lassen. Dann wären Schwimmhäute wirklich angebracht«, scherze ich und deute auf die drei Enten, die immer noch am Ufer nach Leckerbissen suchen.

Uta spitzt ihre Lippen. »Schade nur, dass deine Flügel gestutzt sind. Ohne die wird es schwierig bis unmöglich, in deiner neuen Entenfamilie mithalten zu können.«

»Ich würde eben mit gestutzten Flügeln fliegen lernen müssen. Wo ein Wille ist ...«, entgegne ich entschlossen.

»Ist auch ein Gebüsch. Ich weiß«, ergänzt sie meinen Satz mit einem schelmischen Lächeln.

Sie zieht den von mir vorbereiteten Picknickkorb näher heran. Ihr Gesicht strahlt vor Vorfreude auf die köstlich duftenden Leckereien darin. Ein strahlendes Leuchten blitzt in ihren Augen auf, weil sie in einer Dose die Zucchiniröllchen entdeckt. Die habe ich extra für sie zubereitet und genieße nun den Glanz, der in ihren Augen aufleuchtet.

Meine Überraschung ist geglückt.

Schnell ist die Dose geöffnet. Genüsslich knabbert sie an einem Zucchiniröllchen. Für die nächsten drei Minuten brauche ich sie nicht anzusprechen, denn sie schwebt im siebten Himmel.

Vor dem Baden habe ich meine langen Haare zu einem Zopf geflochten. Damit sie schneller trocknen löse ich die Flechte auf und wickele das Haargummi auf meinen rechten Mittelfinger, damit es nicht verloren geht. Meine Finger gleiten durch das nasse, blonde Haar.

Wenn ich es offen trage, reichen sie bis zu meinen Oberschenkeln. Oft ernte ich neidvolle Blicke. Auf der Arbeit haben sie mir den Spitznamen ›Die schöne Warwara‹ gegeben.

Während Uta kaut, beobachtet sie mich. Ich weiß genau, was sie denkt. Sie sagt immer, dass ich sie an einen Engel erinnere. Ich kann das nicht nachvollziehen, denn als engelsgleich würde ich mich selbst keinesfalls betrachten.

Klar, für die meisten Menschen symbolisieren überlange Haare Vitalität und Weiblichkeit. Zweifellos erinnern sie an einen Engel. Aber die Haarlänge hat einen praktischen Grund. Ich lasse sie wachsen, weil ich mich in Friseursalons unwohl fühle. Solch lange Haarspitzen kann ich problemlos selbst schneiden.

Außerdem ist Schönheit relativ, denn sie verrät nichts über den wahren Charakter eines Menschen. Und meinen kenne ich nur zu gut. Ehrlich gesagt, habe ich rein gar nichts Engelsgleiches an mir. Uta versteht das nicht, aber sie muss nicht jeden Morgen mein Spiegelbild betrachten. Schon als Kind habe ich kleine Makel entdeckt. Erst recht an meinem Charakter.

Ich bin etwas schlanker als meine Freundin, aber das liegt an meinem Tanzsport. Das Tanzen liegt meiner Familie im Blut. Seit Kindertagen habe auf Leistungsniveau getanzt. Tanzen ist meine Leidenschaft, aber heute tanze ich aus Liebe und Freude, ohne die starren Regeln, die mir einst den Spaß am Sport genommen haben.

Mein Tanzpartner Holger betrachtet die Dinge weniger locker, eher mit verbissenem Ehrgeiz. Dennoch bereitet es mir unglaubliche Freude, mit ihm zu tanzen. Er ist unkonventionell und überaus talentiert. Durch ihn sind unsere Choreografien spielerisch und kreativ geworden.

Einfach grandios.

Manchmal denke ich, dass das verletzungsbedingte ›Aus‹ in meiner Jugend ein glücklicher Umstand gewesen ist. Mein offener Beinbruch hat eine lange Familientradition beendet. Anfangs war meine Großmutter betrübt.

Meine Mutter hat vor meiner Geburt ihre Sportkarriere beendet. Es hat ein Trara gegeben. Meine Großmutter hatte andere Pläne, sich aber zwangsläufig mit dieser Entscheidung abgefunden. In mir hat sie die Fortsetzung dieser Tradition gesehen, mich immer angetrieben und alles, wirklich jeden Pfennig, für meinen Sport geopfert.

Aber um ganz ehrlich zu sein, war ich nie annähernd so talentiert wie sie und mein Großvater. Sie haben weltweit bedeutende Pokale gewonnen, während ich nie über europäische Wettbewerbe hinausgekommen bin.

Meine Vitrine mag mit einigen Trophäen gefüllt sein, die glänzen und funkeln, aber sie bedeuten mir nicht viel. Ich liebe den Tanzsport, bin aber nicht annähernd so ehrgeizig, weltweit erfolgreich zu tanzen, wie es sich meine geliebte Babulja gewünscht hätte.

Nachdem das leistungsorientierte Tanzen keine Option war, habe ich meine Haare wachsen lassen. So wurde ich zu Warwara. Irgendwie habe ich mich an den Spitznamen gewöhnt. Es gibt schlimmere.

Vom Baden tiefenentspannt lausche ich den Vogelstimmen in den Bäumen und seufze. Wie wunderschön sie singen. Uta knabbert genüsslich an ihrer zweiten Zucchinirolle.

»Ach übrigens wollte ich dir noch erzählen, dass sich Anne nicht mehr so sicher ist, ob David ihr treu war. Er behauptet es zwar, aber ich weiß nicht ... echt mal, direkt vor ihren Augen! Wie dumm kann man sein?«, berichtet Uta von den neuesten Geschehnissen in ihrem Bekanntenkreis.

Verständnislos schüttelt sie ihren Kopf und sucht an der Zucchinirolle nach einer besonders knusprigen Ecke, die sie stets als Erstes abbeißt. Erst danach schiebt sie das Röllchen komplett in ihren Mund. Ich finde es immer entzückend und muss lächeln, wenn ich ihr beim Essen zuschaue.

Heute ist der Tag, an dem wir uns endlich über den neuesten Klatsch und Tratsch austauschen können. Inmitten des hektischen Arbeitsalltags im Kindergarten bleibt uns kaum Zeit für ausgiebige, freundschaftliche Gespräche. Doch hier am Steg, fernab der Kolleginnen mit ihren neugierigen Ohren, können wir ungestört und ungeniert plaudern.

»Deutlicher geht es wohl kaum«, bemerke ich nachdenklich und beobachte die drei Enten. Sie sind für mich viel interessanter als die chaotische Beziehung von Anna und David.

»Absolut. Jetzt ist sie auf der Suche nach einer eigenen Wohnung«, erwidert Uta.

Gebannt beobachte ich, wie sich das Wasser sanft um meine Füße kräuselt. Die Wellen brechen sich kaum spürbar an ihnen. Mit leerem Blick wandern meine Augen über die glitzernde Wasseroberfläche.

Auf Beziehungsprobleme wie die, mit denen Utas Nachbarin zu kämpfen hat, verzichte ich gerne. Da bin ich heilfroh, Single zu sein. Wenn es um Partnerschaften geht, gehe ich keine Kompromisse ein.

Schon mein Großvater hat mir geraten, mein Herz genau stets zu prüfen, bevor ich weitreichende Entscheidungen treffe. Diesen Rat beherzige ich gewissenhaft. Was soll ich sagen? Bisher ist mir ›Mr. Perfekt‹ noch nicht über den Weg gelaufen.

Wie das Leben so spielt, halten sich die meisten dafür. Das kann wirklich nervig sein. Fairerweise muss ich an dieser Stelle auch zugeben, dass ich selbst weit davon entfernt bin, ›Miss Perfekt‹ zu sein. Außerdem möchte ich mir Zeit lassen, denn ich bin gerade einmal einundzwanzig.

»Ach, es ist einfach himmlisch hier. Hör mal«, flüstere ich und lehne meinen Kopf weit in den Nacken.

Zwischen dem hektischen Flattern der Blätter in den Baumkronen erhasche ich ab und zu einen Blick auf den strahlend blauen Himmel. Uta blickt nun ebenfalls in die Höhe und schließt ihre Augen.

»Hmm, wenn ich doch nur hierbleiben könnte«, murmle ich leise vor mich hin. »Eines Tages werde ich das Haus renovieren. Wir gehen den ganzen Sommer schwimmen, wann immer uns danach ist. Dein Auto steht in der Auffahrt und parkt nicht um die Ecke.«

»Träume ruhig weiter«, entgegnet Uta mit einem leicht spöttischen Ton.

Jedes Mal, wenn wir hier sind, sage ich das. Jedes Mal lacht Uta mich aus. Mit einem wissenden Lächeln schiebe ich mir eine Weintraube in den Mund und rücke meinen halb trockenen Bikini im Nacken zurecht. Ihren Spott übergehe ich. »Du wirst schon sehen.«

Augenblicklich bricht Uta ein lautes Gelächter aus. Sie hat Mühe, sich wieder zu beruhigen. Erst ein kräftiger Stoß an ihrem Arm holt sie aus dem Lachkrampf.

Mein betagter Bikini zwickt und kneift erbarmungslos. Er lenkt meine Aufmerksamkeit von Utas spöttischen Kommentaren ab. Ich schiebe es ewig vor mir her, endlich einen neuen Bikini zu kaufen. Nie verspüre ich die wirkliche Lust dazu, denn das Shoppen entspannt mich überhaupt nicht. Das Durchstöbern endloser Läden und Kleiderstangen ist für mich mehr Stress als alles andere.

Ich bin eine seltene Spezies und hege eine Vorliebe für Kleidung, die langlebig und zeitlos ist. Stücke, die ihre Eleganz über viele Jahreszeiten hinweg bewahren, sind mir lieber als Modetrends, die nur kurzzeitig großartig aussehen und dann verblassen. Die schier endlose Auswahl und die Konsumhektik in den Geschäften stressen mich mehr, als sie mich erfreuen.

Sicher liegt das an meiner Erziehung. Nach dem Tod meiner Mutter bin ich bei meinen Großeltern aufgewachsen. Als russische Auswanderer, haben sie ein einfaches und bodenständiges Leben gelebt, fernab von übermäßigem Luxus und Prunk.

Mein Vater hat meine Mutter für eine andere Frau verlassen. An ihn habe ich nur verschwommene Erinnerungen. Aber ich glaube, er war Mediziner. Ein großer, weißer Raum und zahlreiche medizinische Geräte sind die einzigen, bruchstückhaften Fragmente meiner Erinnerung an ihn.

Plötzlich zerreißt dröhnender Bass die friedliche Atmosphäre. Ein wummernder Klang nähert sich. Die Vibrationen sind bereits im Magen spürbar. Uta und ich blicken uns erstaunt an, denn die dröhnenden Bässe sind überwältigend.

 

 

 

Kapitel 2

 

Gleichzeitig erklingt fröhliches Jubeln und Geschrei. Das ohrenbetäubende Spektakel geht von einem majestätischen Schiff aus, das sich langsam auf uns zu bewegt. Das seltsame daran ist, dass es hier in diesem abgeschiedenen Seitenarm kein Publikum gibt, wie entlang der belebten Müggelspree.

Dieser Aufruhr wirkt beinahe surreal. Denn Partyboote, die mit lateinamerikanischer Musik und lebensfroher Energie gefüllt sind, passen so gar nicht in diese malerische Umgebung. Hier stehen keine Zuschauer am Ufer, die begeistert winken oder laute Musik erwarten.

Niemand außer Uta und mir.

Der Rhythmus der lateinamerikanischen Klänge, die meine Ohren erfüllen, verzaubert mich auf eine Art und Weise, die schwer in Worte zu fassen ist. Die Musik dringt tief in mein Inneres ein, lässt mein Blut schneller durch die Adern pulsieren und meine Sinne erwachen. Sie ist wie ein leidenschaftlicher Ruf in der Stille der Natur, der mich hineinzieht in eine Welt voller Leidenschaft und Abenteuer.

Vielleicht ist es einfach die pure Magie dieser Klänge, die in mir eine Sehnsucht weckt, die ich bisher nicht kannte. Uta, die neben mir steht, spürt diese Magie genauso. Ihr Blick trifft meinen, und in diesem Augenblick verstehen wir uns ohne Worte.

Gemächlich gleitet das Boot durch das grünliche Wasser. Obwohl ich kein Experte für Schiffstypen bin, kann ich sofort erkennen, dass es sich um ein kostspieliges Gefährt handelt. Um genauer zu sein: Es ist unbestreitbar luxuriös.

Doch all das beeindruckt mich nur wenig. Meine Aufmerksamkeit wird vielmehr von den verlockenden karibischen Klängen und der ausgelassenen Stimmung an Bord des Schiffes in seinen Bann gezogen. Etwa zwanzig junge Menschen tanzen und springen ausgelassen auf dem Deck zur Musik. Ihre Freude ist ansteckend, und in kürzester Zeit stecken sie mich mit ihrer ausgelassenen Fröhlichkeit an.

Langsam gleitet das Boot durch das Wasser. Aus purer Gewohnheit beginne ich zu tanzen. Einige der Partygäste bemerken mich und reagieren begeistert. Sie rufen, klatschen und winken uns zu. Was als spontane Reaktion beginnt, entwickelt sich rasch zu einem mitreißenden Wettbewerb zwischen uns, bei dem wir uns in einem leidenschaftlichen Tanzduell messen.

Für mich ist dieser Moment magisch. Es ist, als ob ich in eine andere Welt eintauche, während ich auf dem rauen, abgenutzten Holzsteg tanze. Ich gebe mich voll und ganz dem wilden, pulsierenden Rhythmus hin und tanze mir die Seele aus dem Leib. Die Energie, die in der Luft liegt, ist elektrisierend, und die Funken fliegen hin und her, während wir uns ein aufregendes Tanzbattle liefern.

Begeistertes erwidert das Publikum meinen Tanz mit lautem Applaus. In diesem Moment liebe ich nicht nur den strahlenden Tag, sondern auch den Augenblick und die grenzenlosen Möglichkeiten, die vor mir liegen. Alles um mich herum verschwindet, und ich fühle mich eins mit den Partygästen. Es ist ein seltsames, aber überwältigendes Gefühl, das in mir aufsteigt, und ich kann sogar ein leichtes Flattern in meinem Magen spüren, während mein Atem flacher wird.

Ein breites Lächeln zieht sich über mein Gesicht. Ich lasse mich von der Vorstellung mitreißen, wie es wohl wäre, auf diesem faszinierenden Boot zu tanzen. So etwas habe ich noch nie zuvor empfunden, nicht einmal bei den vorbeifahrenden Booten, deren Insassen fröhlich gefeiert haben, egal wie ausgelassen sie waren.

Dies ist anders, etwas absolut Einzigartiges.

Für die Menschen auf dem Boot mögen Leute, die Ihnen begeistert vom Ufer aus zuwinken, nichts Außergewöhnliches sein. Doch ich kann spüren, dass meine spontane Tanzeinlage eine besondere Resonanz hervorruft. Der tosende Applaus, den ich ernte, sagt mehr als tausend Worte.

Mit einer grazilen Verbeugung bedanke ich mich. Mein Herz schlägt vor Aufregung schneller. Es ist, als hätte ich eine Brücke zwischen unserer Welt am Ufer und der Welt auf dem Boot geschlagen.

So einen Moment gibt es wahrscheinlich nur einmal im Leben. Wenn überhaupt, daher ärgere ich mich maßlos darüber, dass das Boot seinen Weg fortsetzt.

Ohne mich.

Eine leise Verzweiflung erfüllt mich. Andererseits könnte ich ins Wasser springen und hinterherschwimmen. Aber wer würde schon einem Boot hinterher springen, um dort mit Fremden zu feiern? Es wäre zu verrückt und sonderbar.

Und dennoch ...

Doch trotz meiner Zweifel und Vernunft wünsche ich mir in diesem Augenblick nichts lieber, als auf diesem Boot zu sein, um bis tief in die Nacht zu tanzen und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Stattdessen bleibt eine seltsame, drückende Traurigkeit in mir zurück, wo eben noch das Leben und die Möglichkeiten pulsierten. Die Stille um mich herum erdrückt mich beinahe, die Farben verblassen und die Fülle verwandelt sich in Leere.

Wie das möglich sein kann, bleibt unbegreiflich. Es fühlt sich an, als hätte jemand einen Teil meines Herzens herausgerissen. Dieser Teil treibt nun auf dem beinahe spiegelglatten Wasser davon. Benommen stehe ich auf dem alten, knarrenden Holzsteg und muss mich neu sortieren.

Uta betrachtet mich mit einem verwunderten Blick. Sie spürt, dass etwas in mir vorgeht, und sie hat recht. Das gerade Erlebte war mehr als ungewöhnlich. Es ist eine verpasste Chance, die mich in eine Welt der Magie und des Ungewissen entführt hätte.

Von meinen seltsamen Eindrücken ganz zu schweigen.

»Was war das denn? Die Leute auf dem Boot sind förmlich ausgeflippt, als du getanzt hast. Du bist immer noch total aufgedreht. Das ist unglaublich. Kein Wunder, dass sie völlig aus dem Häuschen waren. Ich habe kurzzeitig befürchtet, sie würden herkommen und dich entführen, nur um dich als ihre Tanzkönigin an Bord zu haben.«

Sie lacht laut auf, und bei diesem absurden Gedanken muss ich einstimmen. Ja, das wäre wirklich verrückt.

»Ach, Uta. Wer mich entführt, bringt mich nach einer Stunde freiwillig wieder zurück«, antworte ich immer noch berauscht, während ich den Blick in Richtung des sich entfernenden Bootes richte.

Es setzt seine Fahrt unbeirrt fort.

Ohne mich.

Inzwischen ist von dem dumpfen Bass nichts mehr zu spüren. Die Natur erholt sich allmählich. Die Fische kehren wieder zum Steg zurück, und die Vögel in den Baumwipfeln setzen ihr Lied fort. Eigentlich ist alles wieder im Lot.

Und dennoch...

»Ich wollte einfach nur ausgelassen tanzen und hatte richtig Lust, ins Wasser zu springen, herüberzuschwimmen und bis in die späte Nacht an Bord zu feiern. Es ist schade, dass sie ohne mich weitergefahren sind«, gestehe ich offen meinen Wunsch.

»Ja, den hatte ich. Warum nicht einmal auf diese Weise aus der Haut fahren? Es musste einfach raus«, lache ich und erinnere mich an meine fröhlichen Sprünge auf dem Steg, die bestimmt ziemlich verrückt ausgesehen haben müssen. Mit einer nachdenklichen Geste bewege ich meine Hand, um Uta zu erklären, was mir dabei durch den Kopf gegangen ist.

Leben, feiern. Mich selbst spüren, wenn auch in einem sehr ungewöhnlichen Tanzduell. Lebendig und frei.

»Oh Mann, ich kann nicht mehr«, schmunzelt Uta. »Ach, ärgerlich. Ich habe das nicht mit meinem Handy gefilmt. Das hätte ich deinen Kindern zeigen können: 'Schaut mal, das ist eure Mutter mit einundzwanzig Jahren. Sie hat wie eine Verrückte getanzt, als ein Partyboot vorbeifuhr.' Ja, total verrückt, aber so kennst du deine Mutter, nicht wahr? Du bist wirklich eine verrückte Nudel, Ella.«

Auf Knopfdruck kichern wir vergnügt wie alberne Teenager, bis uns irgendwann vor Lachen die Bauchmuskeln schmerzen.

»Dann bin ich ja froh, dass wir unsere Handys im Auto gelassen haben und du die Nachwelt damit verschonst. Es sollte doch erlaubt sein, seine pure Lebensfreude ungehemmt zu zeigen. Und eines steht fest: Meine Kinder werden genauso verrückt sein wie ich. Mit so was könntest du sie sicher nicht schockieren.«

Übermütig kichernd und mit einem verschmitzten Lächeln schiebe ich mir eine frische Weintraube in den Mund und genieße das Gefühl, wie sie unter meinem Biss zerplatzt. Frech blinzele ich Uta aus den Augenwinkeln an. Sie kann ein Lachen nicht unterdrücken, während sie sich die Hand vor das Gesicht hält, als wolle sie sich vor meiner Fröhlichkeit schützen.

Meine Argumente überzeugen sie jedoch nicht. Blitzschnell richtet sie sich auf, als würde sie mich anspringen wollen. »Du vergisst, dass du für Kinder einen Mann brauchst, Schätzchen. Wie ich dich kenne, liegt genau da das Problem.«

Ja, sie hat recht. Genau hier liegt das Problem, aber ich entscheide mich bewusst, ihre Meinung zu diesem Thema zu ignorieren. Uta behauptet oft, ich wäre zu wählerisch.

Im Kindergarten wirft sie mir immer diese bedeutungsvolle Blicke zu, wenn der mittelblonde Vater von Klara kommt. Wenn ich sie dann strafend anschaue, flüstert sie mir zu, dass er ein Auge auf mich geworfen hat.

Aber heute möchte ich nicht schon wieder über dieses Thema diskutieren. Der alleinerziehende Vater ist nett und umgänglich, bringt in mir aber nichts zum Klingen. Seine Einladungen zu einem gepflegten Glas Weißwein lehne ich höflich, aber mit haarsträubenden Ausreden ab. Trotzdem fragt er beharrlich, ob ich am Wochenende Lust habe, Ausflüge mit Klara und ihm zu unternehmen.

Die Wellen, die das Boot hinterlassen hat, sind mittlerweile verschwunden, und das Wasser liegt wieder ruhig da. Unser Kichern verstummt langsam. Wir hängen unseren Tagträumen nach und lassen unseren Blick über das grün schimmernde Wasser schweifen.

Auf dem Steg liegend bewege ich gedankenverloren meinen Fuß im Wasser. »Danke, dass du mitgekommen bist. Es war eine großartige Idee. Die beste seit Wochen. Ich finde es hier immer so wunderschön.«

Dankbar schaue ich zu meiner Freundin, die mir verschwörerisch zulächelt. In ihren Augen kann ich deutlich erkennen, dass sie ebenso empfindet wie ich. Es war eine großartige Idee, obwohl ich anfangs nicht wirklich Lust dazu gehabt habe.

Soweit möglich, atme ich den vertrauten Geruch von Fisch und Brackwasser tief ein, der mich unmittelbar an meinen verstorbenen Großvater erinnert. Er fehlt mir. Auf dem Steg vermischen sich die Erinnerungen an meinen Großvater mit dem sanften Plätschern des Wassers, und ich fühle, wie die Bande der Zeit und der Liebe mich mit all ihren Facetten umhüllen.

Er war ein leidenschaftlicher Angler, der den Fang gerne in der heimischen Badewanne gewässert. Das ist jedoch auf den energischen Widerstand meiner Babulja gestoßen, die es zutiefst verabscheut hat.

Der Geruch hat monatelang hartnäckig in unserem Badezimmer festgehangen und sich von keinem Reinigungsmittel vertreiben lassen. Babulja hat geschimpft und gemeint, dass wir eines Tages selbst wie Fische riechen würden, wenn er ständig seine Fänge in der Badewanne wässert.

Manchmal bin ich mit meinem Großvater angeln gegangen. Es hat immer eine ganz besondere Stille geherrscht und genau wie dieser Ort hier gerochen. Die innige Verbundenheit zu meinem Großvater ist von diesen wunderbaren Tagen am meisten in Erinnerung geblieben. Die liebevolle Geduld, die er mir entgegengebracht, hat, und die wertvolle gemeinsame Zeit, die wir miteinander verbracht haben.

Oft hat er mir leise einige Anglerweisheiten erklärt. Warum es besser ist, beim Angeln zu flüstern und nicht laut herumzulaufen. Welche Köder welchen Fisch anlocken und warum.

Im Laufe der Zeit habe ich viele dieser Anglerweisheiten vergessen, aber niemals die Liebe, seine subtile Beharrlichkeit und unendliche. Er war geduldig mit mir. Und auch mit der Krankheit, die ihn von innen aufgezehrt und schließlich sein Leben beendet hat.

Bis zu seinen letzten Atemzügen hat er gegen den Krebs angekämpft und sich tief in seinem Herzen seine Liebe bewahrt. Niemals vergesse ich seinen letzten Satz. Er hat mir versichert, dass er der reichste Mann der Welt wäre und das letzte Hemd keine Taschen hat. Mit so viel Liebe würde er niemals Not leiden und auch keinerlei Furcht vor dem Tod empfinden.

Maßgeblich hat er mein Idealbild eines Partners geprägt. Bis heute vergleiche ich alle Kandidaten mit ihm. Die Messlatte liegt dementsprechend hoch und mein Sieb ist äußerst grobmaschig.

Dafür gibt es einen guten Grund. Ich möchte keine halbherzigen Beziehungen führen. Keine, die nur den äußeren Schein lieben. Männer, die oberflächlich sind und einzig auf Äußerlichkeiten achten, widern mich an. Von dieser Sorte könnte ich zwanzig an jeder Ecke finden. Aber einen solchen möchte ich nicht.

Bislang mache ich mir noch keine Sorgen, dass ich allein sterben werde. Ehrlich gesagt, würde ich es sogar begrüßen, wenn ich meinen ›Mister Perfekt‹ nicht finden sollte.

Es hat mal jemanden gegeben, als ich fünfzehn war. Doch das ist ewig her und die Erinnerung daran zu schmerzlich. Das Erlebte ist ein weiterer Grund für meine zu hoch gesteckte Latte. Er ...

Ein unsanftes Stupsen reißt mich jäh aus meinen Gedanken. Empört blicke ich auf und bemerke, wie Uta aufgeregt in eine bestimmte Richtung zeigt. »Da kommt die nächste Gelegenheit für deine Tanzeinlage. Sie kommen zurück.«

»Tatsächlich«, flüstere ich, meine Aufmerksamkeit sofort auf das Geschehen gerichtet.

Überrascht wende ich meinen Blick in die angegebene Richtung. Ein dröhnender Bass hämmert in meinem Magen. Zunächst leise, aber immer intensiver und drängender.

»Sie kommen tatsächlich zurück«, bestätigt Uta aufgeregt.

Sofort springe ich auf. Die ersten Klänge meines Lieblingslieds dringen an meine Ohren. Es ist wie ein Knall, der mich in diesem Moment vollkommen erfasst. Ein Augenblick, in dem alles andere bedeutungslos wird. Mit einem strahlenden Gesicht ziehe ich Uta an ihrem Arm. Sie steht nun ebenfalls auf, ihre Augen voller Spannung geweitet.

Die Rückkehr des Bootes lässt mein Herz freudig hüpfen. Das Schicksal bietet uns eine zweite Chance. Bekomme ich die Gelegenheit, werde ich sie ergreifen.

Auch Uta beginnt zu tanzen. Mit freudigem Winken und Hüpfen lässt sie sich von der Musik mitreißen. »Schau, Ella, sie kommen näher auf uns zu. Das ist unglaublich«, ruft sie begeistert.

Ich tanze im Rhythmus des Liedes und klatsche dabei begeistert in die Hände. Vor Freude bin ich außer mir, als das Boot den Steg erreicht und seine Geschwindigkeit reduziert. Soweit es der Steg erlaubt, tanze und drehe ich mich. Den Refrain singe ich lautstark und leidenschaftlich mit. Vom Boot werde ich enthusiastisch angefeuert.

Das Boot fährt nun noch näher heran, hält in einer Entfernung von weniger als fünf Metern. Ich kann sogar einige der feiernden Gäste erkennen. Sie sind zum Greifen nah. Beinahe droht das Boot aus dem Gleichgewicht zu geraten, denn alle stehen auf der Steuerbordseite, lehnen sich weit über die Reling und hüpfen im Takt der Musik.

Ich finde all das noch sagenhafter als zuvor. Es spornt mich zusätzlich an. Ich beziehe das Publikum aktiv in meinen Tanz ein. Ich beziehe das Publikum aktiv in meinen Tanz ein, hebe meine Hände und rufe die markanten ›Oh‹-Töne, während ich auf die Zuschauer deute.

Die aufgepeitschte Menge antwortet lautstark mit den La-Lauten. Dann deute ich erneut auf mich selbst und ergänze die Aje-Laute. Dieses verspielte Schäkern kommt gut an, und die Leute machen begeistert mit. Sie sind in einer großartigen Stimmung.

Ich fühle mich wie ein weltberühmter DJ, der seine tanzenden Gäste mit erhobenem Zeigefinger anfeuert. Völlig begeistert und von der unvergleichlichen Atmosphäre mitgerissen, tanze ich hemmungslos und hoffe, dass die Zeit für immer stillstehen möge.

Gleichzeitig zum Typhon im Lied ertönt es nun auch von Bord. Diese pfiffige Einlage lässt die Menge komplett ausflippen. Ich finde es einfach genial und jubiliere überglücklich, während ich in die Hände klatsche.

Meine Tanzeinlagen werden immer raffinierter. Mit beiden Händen winke ich und fordere wieder zum gemeinsamen Singen auf, was diesmal sogar noch besser klappt. Hüpfend applaudiere ich dem Publikum.

Das Typhon ertönt erneut.

Das Publikum johlt, tanzt und bringt das Boot zum Beben.

»Kommt rüber!«, ruft eine Frauenstimme stürmisch und winkt heftig.

Sie ist kaum zu übersehen, denn sie ist groß gewachsen und lehnt sich weit über die Reling. Ihre braunen Haare wehen im Wind. Ekstase spiegelt sich in ihrem Gesicht wider.

»Ja, los, kommt rüber«, stimmen andere Gäste ein.

Ich kann es kaum fassen. Genau das habe ich mir vorhin gewünscht. Schnell schaue ich zu Uta, die immer noch neben mir hopst.

»Kommt rüber«, ertönt es erneut.

Der Ruf erhebt sich nun zu einem hektischen Chor. Die Partygäste hüpfen im Takt, wodurch das wuchtige Boot bedrohlich auf dem Wasser schaukelt. Vor Freudentaumel vergesse ich sogar meinen eigenen Namen.

Fragend betrachte ich Uta.

»Ich nicht«, meint sie entschlossen und winkt energisch ab. »Das Auto und die Sachen ... Aber du wolltest doch vorhin so gerne dort auf dem Boot sein.«

Unentschlossen wirble ich zu den rufenden Partygästen herum. Das ist eine grandiose Einladung. Kann ich sie ablehnen? Vorhin hätte ich nicht daran geglaubt, dass so etwas passieren könnte, aber kann ich Uta hier allein zurücklassen?

»Los, springt!«

»Na komm, Ella, bevor sie es sich anders überlegen. Hab Spaß und erzähl mir alles, hörst du?«

Uta macht eindeutige Handbewegungen, damit ich endlich ins Wasser springe. Dankbar umarme ich sie, hüpfe überglücklich auf der Stelle und einmal im Kreis, denn ich fühle mich völlig außer mir vor Freude.

Dann nehme ich Anlauf.

Mit einem riesigen Satz springe ich in das hellgrün schimmernde Wasser und kann kaum fassen, was ich gerade getan habe. Das Lied endet genau in dem Moment, in dem ich den höchsten Punkt meines Sprungs erreiche.

Das Wasser umhüllt mich, und ich tauche in die Tiefe, während ohrenbetäubende Freudenschreie vom Boot an mein Ohr dringen. Mit ausgestreckten Armen und einem Gefühl der Freiheit, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe, gleite ich durch das erfrischende Nass. Die Aufregung eines bevorstehenden Abenteuers rauscht wie ein wilder Strom durch meine Venen.

Ich spüre es in jeder Faser meines Körpers, bereit, die Geheimnisse des Lebens zu enthüllen.

 

 

 

Kapitel 3

 

Während ich springe, durchzuckt mich ein einziger Gedanke. Wie ungewöhnlich, wie atemberaubend mein Vorgehen ist. Andererseits ist es absolut genial.

Das Wasser um mich herum tost laut und wild. Mit rasender Geschwindigkeit entstehen tausend winzige Bläschen, die aufsteigen und fröhlich glucksende Geräusche machen. Als ich den Grund erreiche, harre ich aus, und für einen kurzen Moment breitet sich eine schwerelose Ruhe um mich aus.

Wie erwartet, sind die Fische geflohen. Ich befinde mich allein in der Tiefe. Eine Verrückte, die springt, um an Bord zu gelangen.

Der Bootsrumpf liegt genau über mir. Der Auftrieb treibt mich an die Oberfläche. Sobald ich auftauche, schnappe ich hastig nach der dringend benötigten Atemluft. Die wenigen Meter zum Boot lege ich schwimmend zurück, begleitet von ohrenbetäubendem Jubel und Pfiffen.

Sofort greifen unzählige Hände nach mir, um beim Einsteigen behilflich zu sein. Ich nehme aufgeregtes Stimmengewirr wahr und die alles übertönende Musik. Die Bässe dröhnen in meinem Magen. Oder ist das die Aufregung?

Schnell bin ich hinaufgezogen. Triefend nass stehe ich nun vor einer Menge von Menschen, die mich mit neugierig mustern. Einige klopfen mir aufmunternd auf die Schulter.

Uta steht auf dem Steg und winkt. Ihr Gesicht strahlt vor Freude. Ich bin dankbar, so eine großartige Freundin zu haben. Sie freut sich für mich und scheint genauso aufgeregt zu sein wie ich.

Ihr Mund bewegt sich. Sie ruft mir etwas zu. Bedauerlicherweise dröhnt die Musik aus den zahlreichen Lautsprechern so laut, dass ich kein einziges Wort verstehe.

Das Boot setzt sich in Bewegung. Zum Abschied hebe ich meine Hand und lächle zaghaft dem vertrauten Gesicht meiner Freundin hinterher. Hier kenne ich niemanden und ich gebe zu, dass ich jetzt nervös bin.

Was mache ich hier?

Völlig verrückt!

Plötzlich ergreift jemand meine Hand und zieht mich in eine Menschenmenge. Die Blicke bleiben weiterhin auf mir haften. Eine wunderschöne brünette Frau kommt auf mich zu, inmitten der aufgeregt durcheinander sprechenden Gruppe. Sie ist diejenige, die mich dazu gebracht hat, zu springen.

Ihre Bewegungen wirken äußerst elegant. Offensichtlich ist sie es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Solche Frauen genießen es und leben davon.

Ihre haselnussbraunen Augen ruhen freundlich, aber aufmerksam auf mir. Das gelbe Bikinioberteil zeigt mehr, als es verbirgt, und wirkt zudem kostspielig.

Sie hätte nicht gerufen, wenn sie hier nur eine unbedeutende Person gewesen wäre. Das ist sie ganz gewiss nicht. Nicht mit dieser Ausstrahlung.

»He, das war ja genial!«, ruft sie schmunzelnd und bahnt sich den Weg zu mir. Sofort machen die anderen Platz. »Warum ist deine Freundin nicht mitgekommen?«

Mit wohlwollendem Lächeln schaut sie mich an und wartet geduldig auf meine Antwort.

»Oh, unsere Sachen sind leider wasserscheu, darum ist Uta bei ihnen geblieben«, antworte ich entschuldigend und drehe meinen Kopf in Richtung Steg.

Die Schönheit vor mir lacht laut auf, als hätte ich den Witz des Jahrhunderts gemacht. Sie tritt näher, ergreift meine Hand und zieht mich an eine ruhigere Stelle. Von dort aus beobachte ich, wie einige Gäste im Rhythmus der lateinamerikanischen Musik tanzen.

»Na, dann komm schnell ins Trockene. Wie heißt du?«

»Ella.«

»Ich bin Elisa, aber alle nennen mich Lisa«, stellt sie sich vor und reicht mir ihre schmale Hand. »Als wir vorhin vorbeigefahren sind, habe ich dich tanzen sehen. Es war großartig, besonders deine mitreißende Performance. Schön, dass du zu uns gesprungen bist. Das traut sich nicht jeder.«

Nein, wer außer mir wäre schon so verrückt?

Meine nassen Haare kleben am Körper und tropfen. In diesem Moment gleiten Lisas neugierige Augen an mir hinab. Schaut sie etwa meinen uralten Bikini an? Für ihren würde ich mit Sicherheit ein Vermögen bezahlen, daher kann ich mich entspannen. Selbst in einem neuen Bikini wäre offensichtlich, dass sie auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurde.

Überhaupt: Wer meinen Bikini als Maßstab für meine Persönlichkeit nimmt, ist bei mir sowieso an der falschen Adresse. Daher halte ich tapfer ihrem durchdringenden Blick stand. Sie hat mich bestimmt nicht wegen meines Bikinis herübergerufen.

»Danke für dein Kompliment. Ich fand die Musik großartig und bei Merengue kann ich einfach nicht stillstehen.«

»Ich hoffe nicht nur bei Merengue«, lächelt sie bezaubernd und streckt sich. »Ich bin so froh, dass du hier bist, denn wir sind extra wegen dir umgekehrt. Heute ist mein Geburtstag und der Kapitän hat meinem Wunsch nachgegeben. Es ist mein Wunsch-Geburtstag. Du musst wissen, ich bekomme heute alles, was ich mir wünsche.«

Vertraulich tritt sie näher. Mit einem verschwörerischen Blick und funkelnden Augen sieht sie mich an. Ich bemerke einen dunklen Ring um die Iris, der ihr etwas Geheimnisvolles verleiht.

»Oh, dann ist das eine Geburtstagsparty. Herzlichen Glückwunsch«, antworte ich. »Leider hat mein Geschenk nicht mehr in meine Hosentasche gepasst.«

Bedeutungsvoll schaue ich auf mich hinunter, wo immer noch dicke Wassertropfen in Fäden herunterlaufen. Sie kringelt vor Lachen, während sie ihren schlanken Oberkörper mehrmals vor und zurück wiegt. Begeistert und amüsiert zugleich klatscht sie in die Hände und ich lächle sie entzückt an.

Sieht so aus, als würde ich sie an ihrem Wunsch-Geburtstag erheitern. Ein gutes Gefühl.

»Macht nichts«, winkt sie schließlich ab. »Das ist überhaupt nicht schlimm, denn weißt du was? Du bist heute mein Geschenk und deshalb tanzen wir jetzt zu dem Lied. Danach stelle ich dir alle Gäste vor.«

Mit eleganter Anmut wiegt sie sich im Takt der Musik. Für mich geht ab jetzt ein Traum in Erfüllung, und ich lasse mich nicht zweimal bitten.

Ausgelassen feiere ich mit, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Erst nach einer kurzen Pause stellt Lisa mich den Gästen vor. Alle empfangen mich freudig und klopfen mir auf die Schultern.

Ich bin diejenige, die gesprungen ist. Die Partyhopperin. Der Star des Tages. Alle halten es für unbeschreiblich, wie charmant ich das Partyboot erobert habe. Kurze Zeit später gehöre ich zur fröhlich feiernden Gruppe dazu, ohne mich jemals fremd zu fühlen. Ausgelassen winke ich den Menschen am Ufer zu. Es fühlt sich genauso berauschend an, wie ich es am Steg vorgestellt habe.

Lisa entpuppt sich als liebenswürdige Gastgeberin. Freundlich und aufmerksam sorgt sie dafür, dass ich mich in die Gruppe integriert fühle, dass ich nie allein irgendwo stehe und immer jemand zum Tanzen an meiner Seite habe. Einigen erkläre ich ein paar Tanzschritte, aber meistens unterhalte ich mich mit Lisa, die mich gerade von einem jungen Mann wegzerrt.

Gerade wiederholt er eine Salsa-Schrittfolge, die ich ihm zeige. Lisa begleitet mich weg von der improvisierten Tanzfläche und bleibt einer abseits gelegenen Stelle stehen.

»Gleich legen wir bei einem Hausboot an. Der Besitzer ist ein Freund von mir. Dort werden wir weiterfeiern. Vorher möchte ich dir noch schnell meinen Bruder vorstellen. Er ist der Kapitän und sitzt auf der Brücke. Komm mit!«

Tanzend und bestens gelaunt hüpft Lisa voran. Sie wackelt fröhlich mit ihrem knackigen Hinterteil, dass ich laut auflache. Genauso feurig und gewagt tanze ich ihr hinterher und komme erst auf der Brücke zum Stillstand.

Hier ist geht es ruhiger zu als am Heck. Als erstes fällt mir eine schlanke, Blondine auf, die missbilligend ihren Kopf zu mir dreht und mich mit ihren giftgrünen Augen fixiert.

Ihre Haare sind stark gelockt. Die hat sie zu einem unvorteilhaften Zopf gebunden. Diese Frisur erinnert mich an die Dauerwellen der Achtziger, bei denen jeder wie ein Pudel ausgesehen hat. Vor mir steht ein Pudel mit grünen Augen.

Die Pudelblondine schaut zu einem Mann, der Lisa auffällig ähnelt. Das ist bestimmt ihr Bruder. Wie seine Schwester hat er braune, leicht gewellte Haare. Hellbraune Augen gleiten minutenlang über meinen Körper auf und ab.

Diesen Blick kenne ich. Meistens von Männern. Unverhohlen taxiert er mich und sortiert mich anschließend in eine beliebige Schublade ein. Mein Bikini bedeckt nicht viel Haut. Auf Schlag ärgere mich über seinen skrupellosen Blick. Außerdem irritiert mich, dass keiner der beiden sich freut, mich hier auf der Brücke zu sehen.

Oder überhaupt an Bord.

Kein Lächeln, keine Freundlichkeit, nichts Nettes schlägt mir entgegen. Alles hier oben ist das genaue Gegenteil der ausgelassenen Stimmung auf der improvisierten Tanzfläche. Ich fühle mich, als wäre ich auf Knopfdruck direkt in eine Kühltruhe gesteckt worden.

Lisa stellt sich neben ihn und flüstert leise in sein Ohr: »Da ist sie.«

Dabei lächelt sie zufrieden, strahlt mich überglücklich an und nickt ermutigend. Ihre freundliche Geste hilft nicht viel, damit ich mich entspanne, denn ich werde immer noch argwöhnisch beäugt.

»Ah, die Bikini-Tanzmaus vom Steg«, spottet die Platin-Pudeldame.

Ihr Lächeln sitzt schief auf den schmalen Lippen. Mein erster Eindruck täuscht mich also nicht.

Niemand hat mich je ›Tanzmaus‹ genannt. Ich wette, es sollte absichtlich herablassend klingen.

Meine Wangen beginnen zu brennen, während ich in ihr höhnisch grinsendes Gesicht blicke.

Der Bruder von Lisa schaut immer noch schweigend an mir herab, ohne ein Wort zu sagen. Will er seine Freundin nicht zur Vernunft bringen? Normalerweise ruft ein guter Besitzer seinen streitsüchtigen Köter zur Ordnung. Vor allem wenn er versucht, Fremde anzufallen.

»Wird das hier eine Fleischbeschau oder gefällt dir mein Bikini einfach nur so gut?«, platzt es aus mir heraus.

Klar kommt meine Frage pampig daher, aber jetzt ist es schon gesagt. Notfalls kann ich ja wieder über Bord springen und an Land schwimmen. Was macht es da schon, wenn ich das Herrchen des Pudels frech angehe?

Die Blondine richtet sich sofort auf und legt ihre Hand auf die Schulter von Lisas Bruder. Ich schaue in das markante Gesicht vor mir, während sich die unsympathische Blondine hinter ihm räuspert.

Daraufhin regt sich endlich Hauch von Leben in ihm. Er antwortet und wirft für einen kurzen Moment einen Blick zu Lisa: »Weder noch. Du bist an Bord, weil Lisa es so wollte. Wenn sie mit dir Spaß haben will, bitte schön. Es ist ihr Geburtstagswunsch.«

Lisa beugt sich vor und drückt ihm einen überschwänglichen Kuss auf die Wange. Sie strahlt vor Glück, als hätte sie gerade ein neues Spielzeug zum Geburtstag erhalten. Für mich ist es schwer nachvollziehbar, warum sie sich so übermäßig freut. Ich bin definitiv kein willenloses Spielzeug, mit dem man nach Belieben Spaß haben kann.

Die eiskalte Bemerkung von Lisas Bruder verdeutlicht, wie altmodisch er meinen Bikini findet und wie oberflächlich er ist. Dazu gesellt sich die drängende Frage, ob ich mich von einem Kerl wie ihm überhaupt ›verschenken‹ lassen möchte.

Sofort stemme ich meine Hände in die Hüften, schaue möglichst sauertöpfisch drein und erwidere patzig: »Ich lasse mich nicht verschenken.«

Meine Worte klingen absichtlich kratzbürstig. Unverblümt knalle ich ihm meine Meinung um die leicht geröteten Ohren. Doch er reagiert nicht. Als hätte ich nichts gesagt, schaut er gelangweilt aus dem Fenster und ignoriert mich.

Eingebildeter Kerl.

Lisa legt beschwichtigend ihre Finger auf meinen Arm. »Nimm es ihm nicht übel. Er hat uns den ganzen Tag herumgefahren und kann deshalb nicht mit uns auf dem Deck feiern. Das würde mich auch ärgern, glaub mir. Immerhin ist er umgedreht, damit du springen konntest, nicht wahr Nicki?«

Du lieber Himmel, schießt es mir durch den Kopf. Soweit ich informiert bin, haben sie die DDR-T-Shirts ›Nicki‹ genannt. Ausgerechnet einer, der meinen Bikini langweilig findet, trägt den Spitznamen eines DDR-Oberteils.

Wie absurd.

Lisa unterbricht meine Gedanken. Unüberhörbar scheinheilig säuselt sie, an die Pudelblondine gewandt: »Schade, dass heute meine Wünsche in Erfüllung gehen, Ninette. Ich hätte gern gewusst, wie es wäre, wenn es anders gekommen wäre.«

Sie legt den Kopf schief und schaut Ninette provokativ an. Ihre Augen wirken hart, wobei ein wissendes, kampfbereites Lächeln ihre Lippen umspielt. Nervös regt sich Ninette daraufhin. Für einen kurzen Moment wandern ihre giftgrünen Augen zu mir.

Was hätte anders kommen können?

Ein ungutes Gefühl beschleicht mich sofort. Wahrscheinlich hat es mit mir zu tun. Bevor ich den Gedanken zu Ende führen oder nachfragen kann, holt Ninette tief Luft, um etwas zu erwidern.

Auf einmal ertönt ein scharfer Ton aus einer unerwarteten Richtung. »Könnt ihr euch bitte woanders streiten?«

Bestimmt entspringen die Spannungen zwischen den beiden Frauen einem tief verwurzelten Hass. Lisas Bruder wirft ihnen eindeutige, vorwurfsvolle Blicke zu. Offensichtlich ist er der Einzige, der an ihrem Wunsch-Geburtstag so hart mit ihr reden darf, denn Lisas Gesichtsausdruck wird sofort weicher. Zweifellos liebt sie ihn bedingungslos.

»Und nimm deine Tanzmaus mit! Nicki muss sich schließlich auf den Verkehr konzentrieren«, faucht Ninette nun mutig, da sie das letzte Wort behalten will.

»Ich«, donnere ich ärgerlich los, bis die Frontscheibe beinahe zu zerbersten droht. Ich setze einen drohenden Blick auf und trete einen Schritt näher. »Ich heiße Ella und nicht Tanzmaus. Merk dir das für die Zukunft. Ich nenne dich ja auch nicht Pudel, nur weil deine Haare mich an einen erinnern.«

Ihre offensichtliche Verwirrung nach meinem Angriff genieße ich. Geht doch. Schwuppdiwupp wird das blonde Hündchen an die Leine seines Herrchens zurückgezogen. In der Kindergartengruppe reicht oft ein ernstes Wort, um die Rangordnung wiederherzustellen. Jeder braucht gewisse Grenzen. Doch dort muss ich nie unter der Gürtellinie agieren.

Und ganz ehrlich: Als Enkelin russischer Auswanderer vermisse ich in Deutschland manchmal ein gewisses Maß an Respekt gegenüber Mitmenschen. Liberalismus schön und gut, aber jeder glaubt, dass er besser und klüger als der andere wäre. Das geht mir oft gegen den Strich.

Es ist offensichtlich, dass Ninette ein Problem mit mir hat. Aber nicht allein mit mir. Ganz besonders mit Lisa. Für einen kurzen Moment herrscht betretenes Schweigen auf der Brücke.

Zwei giftgrüne und vier nussbraune Augen starren mich regelrecht an. Lisa und ihr Bruder tauschen einen seltsamen Blick aus, den ich nicht deuten kann.

Erschrocken über mein eigenes Verhalten, erwarte ich, hochkantig hinausgeworfen zu werden. Immerhin bin ich nur ein Gast. Doch jetzt habe ich einen flotten und senkrechten Start hingelegt und Lisas Geburtstagsgäste angefaucht.

Ich bin definitiv zu weit gegangen.

Das ist für mich nichts Neues. Uta würde jetzt grinsen, mich kräftig in die Seite stoßen und sagen, ich solle getrost die russische Domina wieder in meine Handtasche stecken, weil ab jetzt alle im Raum gehorchen. Leider ist meine beste Freundin nicht hier, sonst würden wir jetzt unsere Köpfe zusammenstecken, albern kichern und alles wäre schick.

Eingeschüchtert schluckt Ninette und starrt mich betreten an. Ihr Herrchen sagt kein Wort und macht auch keinerlei Anstalten, sie zu unterstützen. Seltsam, aber mir eigentlich auch egal.

Aufmerksam betrachtet er mich. Mit einer absichtlich hochmütigen Miene zupfe ich meinen Bikini zurecht. Ich tue so, als würde ich meine vornehmste Garderobe arrangieren. Dabei blicke ich Lisas Bruder herausfordernd an und spitzte meine Lippen.

Wenn er mich hinauswerfen will, dann soll er es gefälligst jetzt tun. Da er schweigt, drehe ich mich zu Lisa und frage mit hochgerecktem Kinn: »Wie schaue ich aus?«

Flink huschen ihre Augen zum Kapitän und schweifen rasch zu mir zurück. Ein einnehmendes Lächeln breitet sich auf ihren wunderschön geschwungenen Lippen aus. Ihr Lächeln beruhigt mich. Ich bin erleichtert, dass die Party für mich vorerst weitergeht.

Verstohlen sieht sie ewig an mir hinab. »Alles sitzt perfekt und genau da, wo es sein soll. Du siehst absolut entzückend aus.«

Ihre linke Augenbraue zieht sich vielsagend nach oben. Normalerweise höre ich solche Komplimente lieber von Männern, aber ich lächele sie zufrieden an. Erwartungsgemäß wendet ihr Bruder seinen Kopf ab, schweigt weiterhin und schaut über das Steuer hinweg auf den engen Seitenarm.

»Dann lass uns gehen, damit sich die beiden wieder auf den Verkehr konzentrieren können«, schlage ich vor und hake mich bei ihr ein. »Hier ist es so furchtbar eng und ... unleidlich.«

Bei den Partygästen zurück bricht Lisa in lautes Gelächter aus und dreht sich zu mir. Sie bekommt vor Lachen kaum noch Luft. Vor Lachkrämpfen geplagt, krümmt sie sich und hält sich den Bauch. Ich stimme ein.

»Unleidlich? Du bist echt der Knaller! Wie bist du nur auf das Wortspiel mit dem Verkehr gekommen? Hast du gesehen, wie Ninette geschluckt hat?«, fragt sie immer noch lachend.

»Die mit der Pudelfrisur da drin?«, frage ich nach.

Lisa schlägt sich mehrmals auf die Oberschenkel. »Ja, ha, ha. Pudelfrisur. Du bist so goldig. Ich mag deinen Humor. Oh Mann, du bist ein wunderbares Geburtstagsgeschenk.«

Sie umarmt mich und schmatzt mir einen dicken Kuss auf die Wange. Ich schiebe sie vorsichtig etwas zur Seite. »Um ehrlich zu sein, ist sie mir gewaltig auf die Nerven gegangen.«

»Oh ja, das Gefühl habe ich auch immer bei ihr. Sie ist so unglaublich arrogant und hochnäsig, dass mir jedes Mal übel wird, wenn ich sie sehe. Ich habe nur noch nicht herausgefunden, worauf genau sie sich so viel einbildet.«

»Nun, wenn es ihre Frisur ist, dann liegt sie ziemlich daneben. Sie sollte dringend eine Stilberatung in Betracht ziehen«, antworte ich.

»Ehrlich gesagt würde eine neue Frisur nicht viel ändern. So etwas hängt nicht nur von der Frisur ab, sondern vom Wesen einer Person. Im Vertrauen: Fast niemand kann sie leiden, deswegen sucht sie bei Yanick Zuflucht. Ich verstehe echt nicht, was er an dieser Tussi findet.«

»Was hat dein Bruder eigentlich gemeint, als er sagte, dass ich hier bin, weil du es wolltest?«, frage ich vorsichtig nach und nehme ein gekühltes Mineralwasser aus der Eisbox.

Herrlich erfrischend rinnt das kalte Wasser meine Kehle hinunter. Lisa betrachtet den Tropfen, der versehentlich daneben geht und nun meinen Hals hinabtropft. Dezent wische ich ihn fort. Durch meine Bewegung richtet sie ihren Blick wieder auf mein Gesicht.

»Er ist nicht umgedreht, um dich mitzunehmen. Erst, als ich ihn auf Knien angefleht habe, obwohl heute alles nach meinen Wünschen verläuft. Nun, eine Einschränkung gibt es. Es muss legal sein. Jedenfalls stört es Ninette, denn sie ist teuflisch eifersüchtig. Ehrlich gesagt zieht er immer eifersüchtige Frauen an. Keine Ahnung warum«, erklärt sie und legt überraschend ein völlig neues Gesicht auf. Sie zuckt mit den Schultern und schnappt sich ein gekühltes Bier. »Ich bin wirklich froh, dass du gesprungen bist. Scheiß was auf die Platinsouffleuse! Wir sind jung, wir sind schön und lassen uns den Tag nicht vermiesen, oder? Die Welt liegt uns zu Füßen.«

Mit einem lauten Ausruf rennt sie in Richtung Tanzfläche. Ihre Gäste stimmen jubelnd zu, was sie mit einem siegesgewissen Lächeln erwidert. Der Mann mit den blauen Shorts und freiem Oberkörper, dem ich zuvor ein paar Salsa-Schritte gezeigt habe, kommt auf uns zu und bleibt vor Lisa stehen.

»Auf jeden Fall liege ich dir zu Füßen«, sagt er und schmunzelt sie an.

Mit einem vielsagendem Augenausdruck streicht er über ihr knappsitzendes Bikinioberteil und zieht Lisa zu sich. Ein langer Kuss zwischen den beiden folgt.

»Wir machen gleich Halt bei Kai, Leute«, ruft sie danach in die tanzende Menge und schaut den Mann vor sich verliebt an. Dabei klemmt sie ihre Lippe zwischen die Zähne und blickt zu mir herüber.

Vermutlich genießt Lisa das Leben in vollen Zügen. Sie erfüllt das Klischee einer wohlhabenden und verwöhnten Tochter, die alles bekommt, was sie sich wünscht. Fröhlich lachend zieht sie den Mann auf die Tanzfläche und wirkt in bester Partystimmung.

Glücklich, dass der unangenehme Vorfall auf der Brücke ihre fröhliche Stimmung nicht trübt, tanze ich beschwingt und ausgelassen zur Musik.

 

 

 

Kapitel 4

 

Bald darauf legt das Boot an einem Hausboot an. Es ankert in Sichtweite der ältesten Brauerei Berlins. Bis sie vor drei Jahren ihre Pforten geschlossen hat. Einst hat es eine Fähre für Wochenendausflügler gegeben, die sie zur anderen Seite des Flusses gebracht hat.

Die Fähre gibt es nicht mehr. Heute unterführt der Spreetunnel die Müggelspree. Er ist ein arg tropfender, immer kühler und klammer Tunnel, der massenweise von Spinnen bewohnt wird. An den Wochenenden wird er noch immer von einer Menge Ausflüglern benutzt, die in die großzügig angelegten Wälder strömen, um zu entspannen.

Im Laufe der Jahre hat sich die Natur die verwunschen wirkende Bucht zurückerobert, an deren Ufer sich einst ein riesiger Biergarten befunden hat. Jetzt wachsen überall Bäume. Nur wenige Mauerreste erinnern an die Ausflugsgaststätte. Alles sieht aus, als hätte der Mensch keinerlei Spuren hinterlassen.

Das Hausboot liegt friedlich inmitten der malerischen Bucht. Die riesigen Ausflugsdampfer fahren in Sichtweite vorbei, stören jedoch die Idylle nicht im Geringsten. Wir legen gerade neben einem kleinen Ruderboot an, das wie eine Nussschale auf hoher See wackelt, weil die Schiffsschraube das Wasser aufwirbelt.

Wir werden bereits erwartet. Ein blonder Mann, der seine langen Haare am oberen Hinterkopf zu einem Zopf zusammengebunden hat, steht am Anlegeplatz. Er trägt helle Leinenkleidung und fängt geschickt das Seil auf, das ihm zugeworfen wird.

Nachdem das Partyboot sicher vertäut ist, springt Lisa als Erste auf das Hausboot und begrüßt den wartenden Mann stürmisch. Verwundert beobachte ich es, da ich angenommen habe, dass der Mann in den blauen Shorts Lisas Freund ist.

Lisa winkt alle auf das Hausboot hinüber. »Kommt schon, Leute!«

Ihr Bruder hilft denjenigen Gästen, die sich nicht allein über den wackligen Steg trauen. Höflich reicht er ihnen seine Hand und begleitet sie sicher über den schmalen Holzsteg zu Kai, der bereits mit Lisa in den Armen auf dem Hausboot wartet.

Besonders die Damen nehmen den Service dankbar an und stehen Schlange. Mir entgehen die scheuen Blicke nicht. Nachdem er alle sicher hinübergeführt hat, streckt er mir seine Hand entgegen.

Unwillkürlich zucke ich zusammen. Offenbar glaubt er, dass ich mich nicht ohne seine Hilfe hinüberwage. Zerstreut betrachte ich seine Hand mit den feinen Linien darin. Zwischen seinem kleinen Finger und der Herzlinie verläuft eine auffällig tiefe Kerbe.

Uta findet Handlesen spannend. Bei einem Gespräch hat sie erwähnt, dass dort die Ehelinien liegen. Nach ihrer ausgiebigen Begutachtung meiner Hand hat sie mir prophezeit, dass ich zweimal heiraten werde.

Schallend habe ich losgelacht. Die orthodox erzogene Ella und zweimal heiraten? Das halte ich für unwahrscheinlich.

Lisas Bruder überragt mich um einiges, obwohl ich schon größer als der Durchschnitt der Frauen bin. Auf der Brücke hat er gesessen, warum mir seine imposante Größe und die schlanke Figur mir nicht aufgefallen ist. Umso beeindruckter bin ich nun.

Seine braunen, leicht gewellten Haare schimmern im gleißenden Sonnenlicht. Er ist attraktiv, keine Frage, aber am auffälligsten finde ich seine Augen. Wie Lisa hat auch seine Iris einen dunklen Rand. Ich finde, er verleiht dem Auge eine unglaubliche Tiefe. Etwas, das …

Nachdem er seinen Kopf leicht dreht und der Lichteinfall seine Iris seitlich erleuchtet, kommt mir der Bernstein in den Sinn. Der, den ich vor Jahren im Urlaub auf Poel gegen das Sonnenlicht gehalten habe. Das passiert meistens, wenn ich hellbraune Augen sehe.

Dieser Bernstein wurde bei seiner Entstehung durch Umwelteinflüsse verunreinigt. Genau das macht ihn für mich wertvoll. Was andere als unreinen Bernstein betrachten, ist für mich der kostbarste Schatz in meinem Leben. Ununterbrochen habe ich ihn mir in der flirrenden Sommersonne betrachtet und dabei in allerlei süßen Erinnerungen geschwelgt.

Heute ziert der Stein mein Regal im Wohnzimmer. Gelegentlich betrachte ich ihn, halte ihn gegen das Licht und lasse alte Erinnerungen mit einem angenehmen Kribbeln im Bauch aufleben.

In diese Gedanken vertieft, kann ich unmöglich wegschauen, nichts Kluges denken, geschweige denn, sinnvoll handeln. Kurz gesagt, ich stehe wie paralysiert da und nehme einfach nur wahr.

Ja, ich gebe es zu. Ich glotze ihn an.

Besser gesagt, seine Augen.

 

In den Sarg habe ich etwas hineingelegt und die bedeckte Stirn vom Mamotschka geküsst. Der Sarg wurde durch Nägel verschlossen und in die dunkle Erde hinabgelassen.

 

»Was jetzt! Du springst Ohne zu zögern ins Wasser, um zu fremden Leuten und ihrem Boot zu schwimmen, aber hier hast du Angst, wenn ich dir auf das Hausboot hinüberhelfen helfen möchte? Ist jetzt nicht wahr, oder?«, lacht er spöttisch und präsentiert makellose Beißerchen bis in die hinterste Reihe.

Mit diesem Spruch reißt er mich aus meinen süßen Erinnerungen. Unvermittelt werde ich ärgerlich. Zum zweiten Mal an diesem Tag kommt er mir mit einem dämlichen Spruch, der mich auf eine Weise verärgert, die ich nicht verstehe.

Erst begafft er mich hemmungslos auf der Brücke und äußert sich gleichzeitig abfällig. Und jetzt kommt er mir hier mit dieser arroganten Attitüde. Mein Hirn schaltet automatisch auf Gegenangriff um.

»Möglicherweise liegt es daran, dass du mir vorhin so überaus sympathisch warst. Ich bin nämlich total verknallt in dich und traue mich deswegen nicht. Ups, jetzt habe ich mich verraten.« Schnell hebe ich meine Hand vor den Mund und tue so, als hätte ich gerade ein Geheimnis verraten.

Zweifellos ist er es gewohnt, dass ihn alle Frauen anhimmeln. Jetzt mache ich mich darüber lustig. Spott ist ihm bestimmt nicht vertraut.

»Was bist du doch für ein Miststück«, zischt er gedämpft und leicht nach vorn gebeugt.

Unerschrocken erwidere ich seinen Blick und suche blind tastend seine Hand, die er beim Näherkommen abgesenkt hat. Dabei ignoriere ich absichtlich das Kribbeln, das diese Berührung in mir auslöst. Anschließend halte ich seine Hand genau so, als würde er mir über den schmalen Steg zum Hausboot helfen. Verdutzt schaut er von seiner Hand in mein lächelndes Gesicht.

»Vielen Dank für die Blumen. Jetzt hast du es wohl auf dem Schirm, oder? Ich stamme aus dem gleichen Stall wie Ninette. Deshalb mag sie mich ja auch so«, kontere ich und hoffe, dass meine Worte tief in seiner Magengrube landen. Mit süßem Lächeln sehe ich ihn an. Augenblicklich wird ihm klar, dass es eigens zu diesem Zwecke aufgesetzt wurde.

Wie beabsichtigt, ist er sprachlos. Mit seiner Hand in meiner gehe ich über den schmalen Steg und lande vor den Füßen von Kai und Lisa. Zur Begrüßung nimmt er meine Hand und bekommt blitzartig riesengroße Augen. »Die kleine Springerin.«

Seine grauen Augen sind beeindruckend. Ihnen fehlt jede Farbe, obwohl sie sich darin verstecken. Der Blick schweifen kurz zu Lisas Bruder. Sprachlos starrt der mich an. Schnell sieht Kai wieder zu mir und räuspert sich.

Das Erste, was ins Auge fällt, ist ein makelloses Gesicht, vergleichbar mit einem Gesamtkunstwerk. Wohlgeformten Lippen entfalten sich zu einem einladenden, breiten Lächeln, das wie ein letzter Sonnenstrahl in der Dämmerung die düstere Szenerie erhellt.

»Sie ist von einem Steg gesprungen und zum Boot geschwommen«, erklärt ihm Lisa.

Begeistert nickt Kai. Langsam beugt er sich zu meiner Hand und küsst sie vornehm, ohne dabei den Blick von mir abzuwenden. »Ich weiß. Ich weiß auch, wer sie ist. Willkommen an Bord, Ella.«

Ich schätze ihn auf dreißig. Damit ist er ungefähr so alt wie Lisa und Yanick. Ein gepflegter Zweitagebart ziert sein attraktives Gesicht, während er seine gepflegten Haare nach der neuesten Mode zusammengebunden hat. Völlig authentisch fügt er sich in die gemütliche Atmosphäre der Umgebung ein. Anders ausgedrückt: Er ist die gemütliche Atmosphäre, denn nichts anderes strahlt er aus.

Auf Anhieb lächle ich. »Es freut mich, dich kennenzulernen, Kai.«

»Mich freut es, dich hier zu sehen. Geh zu den anderen Gästen. Wir besprechen nur kurz etwas und kommen sofort nach. Setz dich. Setz dich doch bitte.«

Er deutet auf eine Terrasse, auf der bereits die meisten Gäste versammelt sind. Angeregt unterhalten sie sich miteinander und lachen. Eine ausgesprochen gelöste Stimmung liegt in der Luft. Einverstanden nicke ich, trotte hinüber und suche mir ebenfalls einen Platz.

Die Lounge-Möbel sind mit farblich passenden Kissen ausgestattet. Es wirkt natürlich und leger, wie Kai. Ich fühle mich, als wäre ich auf einer Restaurantinsel gelandet, nicht auf einem Hausboot. Gut, so viele Hausboote habe ich in meinem Leben bisher noch nicht gesehen, aber das weiß ja niemand.

Arm in Arm betreten Lisa und Kai die Terrasse. Sie wirken sehr vertraut und schenken sich glückselige Blicke.

»Aufgepasst, ihr Lieben«, ruft Lisa in die plappernde Menge, die augenblicklich verstummt. Geübt und gewohnt, vor vielen Menschen zu sprechen, klingt ihre Stimme fest und sicher. Erwartungsgemäß drehen sich alle Köpfe zu ihr um. »Kai hat für uns Häppchen vorbereitet. Wer Hunger und Lust auf einen kleinen Snack hat … bedient euch bitte.«

Insgeheim denke ich mir ihren kleinen Bikini weg und stelle sie mir mit sorgsamer Hochsteckfrisur in einem elegant geschnittenen Kleid vor. Auf jeden Fall ist sie sich ihrer Ausstrahlung und Wirkung bewusst. Das ist angeboren, geübt, gelebt und unterscheidet sie von der breiten Masse. Allerdings muss ich zugeben, dass Lisa überhaupt nicht wie eine verhätschelte Göre wirkt. Selbstsicher ja, arrogant nein.

Kai und ihr Bruder öffnen die bodentiefen Fenster und schieben sie zur Seite. Dahinter tut sich ein Wohnzimmer auf, in dem ein sehr großes Buffet aufgebaut wurde. Der Wohnraum wird so Teil der Terrasse und umgekehrt. Ein Sommer hier muss himmlisch sein.

Das Buffet sieht erstklassig aus und wirkt wie eine kulinarische Offenbarung. Das Essen ist liebevoll angerichtet. Dieses Buffet einen kleinen Snack zu nennen, gleicht einer Beleidigung und ist zugleich eine Ohrfeige für den talentierten Koch. Es wurde eindeutig an nichts gespart.

Murmelnd strömen die Gäste auf das Abendessen zu und versammeln sich um die kulinarischen Köstlichkeiten. Ich schaue über einige Schultern und finde, dass es Sünde wäre, etwas davon zu essen. Erst recht, es sich schnöde in den Mund zu schieben.

Hätte ich mein Handy dabei, würde ich Uta ein Foto schicken. Sicher würde sie Bauklötze über diese Pracht staunen. Wo sie doch schon bei meinen Röllchen ausflippt, die gegen dieses Buffet glatt lächerlich wirken.

Plötzlich erscheint der Mann in den blauen Shorts neben mir. Er lächelt freundlich. Wie ich wartet er darauf, einen ausgiebigen Blick auf die dargebotenen Speisen werfen zu können.

»Entschuldige, ich habe leider deinen Namen vergessen. Wie heißt du noch einmal?«

Er lächelt noch immer. Das Gedrängel ist dicht. Nur langsam lichten sich die Reihen. Jetzt haben wir einen Spalt und ich betrachte mir das Angebot aus der Nähe.

»Schon gut. Bei so vielen neuen Namen kein Wunder. Ich bin Johannes, aber alle nennen mich Jo.«

»Ja, es sind wirklich viele neue Namen«, lächele ich zurück. »Ihr kennt euch sicher alle. Ich habe mir nicht alle Namen gemerkt.«

»So ist es und wir sind dir gegenüber diesbezüglich klar im Vorteil. Mach dir nichts draus. Ich bekomme bei dem Anblick echt Hunger, weiß aber nicht, was ich zuerst nehmen soll. Worauf hast du Appetit?«

Jo hält sich seinen Magen und verschafft sich einen Überblick über das reichliche Essensangebot. Er deutet auf einen Teller und sieht mich an. »Hier, vielleicht das. Koste es. Eigentlich musst du von allem probieren. Kai hat in der Bölschestraße ein angesagtes Restaurant.«

Gemeinsam gehen wir das Buffet ab, füllen unsere Teller mit den verlockenden Kreationen aus Kais Restaurant und plaudern miteinander. Mit jedem Wort, das aus Jos Lippen strömt, tauche ich tiefer in die Welt der exquisiten Speisen ein, die mir zuvor unbekannt waren. Ich stelle neugierig Fragen, ergründe die Geheimnisse der Geschmäcker und am Ende halte ich einen Teller prall gefüllt mit kulinarischen Schätzen in meinen Händen. Gemeinsam suchen wir uns einen ruhigen Platz, lassen uns nieder und beginnen zu essen.

Während unseres Gesprächs erfahre ich, dass heute Lisas Geburtstag ist – ein besonderer, runder Meilenstein im Leben, denn sie wird dreißig Jahre alt. Diese Zahl, hat für viele Frauen eine tiefgründige Bedeutung. Sie kann Entsetzen oder melancholische Gedanken hervorrufen. Ein kurzer Blick zu Lisa verrät mir, dass sie mit ihren eigenen Gedanken ringt.

Mein Blick schweift anschließend über die Terrasse. Mir wird bewusst, dass ich mich in einer völlig anderen Welt befinde, die mir ein leichtes Unbehagen bereitet. Niemand hier ist unhöflich oder wirft mir schräge Blicke zu. Würde ich nicht in meinem Bikini stecken, wäre unübersehbar, dass ich aus der Menge heraussteche.

Sanfte Klänge erfüllen die Luft. Einige der Gäste wagen sich auf die kleine Tanzfläche. Die Atmosphäre erinnert an eine gehobene Bar mit lateinamerikanischer Musik. Mitten in der Stadt. Ein Ort, an dem Sorgen, finanzielle Engpässe und die Wirrungen des Alltags keine Bedeutung hat.

»Hm, wirklich, es ist kaum zu glauben«, raune ich bewundernd, während ich genussvoll in die delikaten Schinkenrollen beiße, die ich in meiner erhobenen Hand halte.

Diese kleinen Köstlichkeiten sind knusprig paniert und verbergen in ihrem Inneren einen verlockend würzigen Käse. Die Gewürze verschmelzen auf perfekte Weise mit dem Käse. Oh, Uta müsste diese unbedingt probieren. Ihr innerer Kompass würde sich heute ganz bestimmt auf das Buffet richten.

Es ist schade, dass sie nicht hier ist, um diesen Nachmittag zu genießen. Wir würden uns köstlich amüsieren. Ihr zu Ehren fische ich einen Happen mit Steinpilz-Pesto vom Teller und schiebe ihn mir langsam in den Mund. Am liebsten würde ich bei diesem Geschmack in die Waagerechte sinken.

Es schmeckt göttlich

Jo bemerkt meine Freude und grinst breit. Meine Augen folgen seinem Blick zu Lisa. Sie steht an Kais Seite, in vertrautem Flirt versunken.

»Sind die beiden ein Paar?«, frage ich Jo, der gerade auf seinen Teller schaut und sichtlich darüber nachdenkt, welche Köstlichkeit er als nächstes probiert.

»Das bleibt für mich ein Rätsel. Sie spricht nicht viel darüber. Ihr Herz ist schwer zu entschlüsseln. Zumindest für mich«, antwortet er, hebt den Blick und sieht mich an.

»Auf dem Boot vorhin schien es, als ob du und sie ...«

Jo unterbricht meinen Satz, während er ein aufwendig garniertes Gurkenstück kaut. »Freie Liebe. Das komplette Programm der Sechzigerjahre.«

»Aber das ist doch kein Konzept aus den Sechzigerjahren«, widerspreche ich. »Schon lange zuvor haben sich Frauen für die gesellschaftliche Akzeptanz der Trennung von Ehe und Liebesleben eingesetzt. Es wurde erst in den Sechzigerjahren, dank der Pille, in breiterem Maße möglich. Erstaunlich, wie hartnäckig sich falsche Überlieferungen halten.«

»Mensch, du kennst dich aber aus«, bemerkt er anerkennend.

»Natürlich, weil es ein faszinierendes Thema ist. Besonders spannend ist, wie viel Arbeit noch vor uns liegt, um gleiche Rechte zu verwirklichen«, erwidere ich.

»Bist du etwa eine Emanze?«, fragt er mit einem neckenden Lächeln.

»Wenn damit gemeint ist, dass sexuelle Übergriffe als solche verurteilt werden sollten, ohne dass ein klar ausgesprochenes ›Nein‹ notwendig ist, und dass gleiche Arbeit den gleichen Lohn verdienen sollte ... dann ja. Dann bin ich eine Emanze. In diesem Fall fasse ich das Wort Emanze als Kompliment auf«, erkläre ich und lächle zurück. »Versteh mich nicht falsch, aber solche Kommentare zeigen, wie geduldig Papier sein kann. Auch in Gesetzesbüchern.«

»Schon gut.« Erheitert lacht Jo auf. »Ich bin einer von der guten Sorte.«

Geistesabwesend schweift sein Blick zu Lisa, die sich lachend in Kais Arm schmiegt. Zerstreut lächelt er und beißt ein großes Stück von einer Käsekartoffel ab.

»Scheint so, sonst würdest du Lisas Neigungen ablehnen und damit auch sie.«

»Nein, so einer bin ich nicht. Sie ist einfach unglaublich. Lisa ist die Verrückte von den beiden und war schon immer eine kleine Rebellin. Weißt du, sie will leben und ich liebe sie genauso, wie sie ist.«

»Wie lange kennst du beide?«

»Lisa und Nicky? Schon eine gefühlte Ewigkeit.«

»Ninette mag wohl keiner hier, außer Lisas Bruder?«

»Ich glaube, selbst der nicht. Schau dir das doch an.« Es klingt abfällig. Mit einer eindeutigen Geste kickt er mit seinem Kopf in die Richtung, in der Ninette steht.

Schmollend lehnt sie an der Hauswand aus Holz und starrt zu Yanick, der sich mit Lisa auf der Tanzfläche zu einem langsamen Merengue dreht. Elegant bewegen sich Bruder und Schwester zum Takt des Liedes. Seine Drehungen führt er geschickt aus und baut gekonnt Salsa Schritte ein, wenn Lisa kurz von ihm getrennt tanzt. Sie harmonieren gut miteinander.

Sicher tanzen sie oft zusammen und haben Spaß daran. Lisa fädelt sich geschickt unter seinem Arm durch und bewegt erotisch ihre Hüfte. Das Lied ist zu Ende. Ungestüm wirbelt er sie mittels Zeigefinger mehrmals um die eigene Achse, bis sie auflacht und seinen Übermut stoppt. Freundschaftlich küsst er ihre Haare und schlingt den Arm um ihre Schulter. Lisa kichert und stupst ihn in seine Seite.

Ich bin bei Weitem nicht die Einzige, die beide aufmerksam beobachtet. Die meisten Frauen verfolgen heimlich ihren Tanz, während sie sich in den Ecken der Sitzgelegenheiten verstecken oder vorgeben, etwas zu essen.

»Sie merkt es nur nicht«, bemerkt Jo, reißt mich aus meinen Beobachtungen und wirft einen angewiderten Blick in Richtung Ninette.

»Ich habe sie in Aktion erlebt und konnte sie auf Anhieb nicht ausstehen«, gestehe ich.

Er nickt zustimmend und ich konzentriere mich wieder auf meinen Teller, der noch immer mit allerlei kulinarischen Köstlichkeiten gefüllt ist. Genüsslich falte ich etwas Bündner Trockenfleisch. Mein Blick schweift umher, während ich mir die hauchdünne Scheibe in den Mund schiebe. Sie zergeht dort leicht säuerlich auf meiner Zunge und schmilzt unglaublich zart dahin.

»Lisas Bruder auch, denn er war so …«

Jo unterbricht mich abrupt. »Nicky? Ach, der ist echt okay. Du, Ella? Vielleicht, wenn alle gegangen sind, könntest du gerne mit Lisa und mir ... wenn du möchtest?«

Ein prüfender Blick in seine Augen verrät mir, dass er es wirklich ernst meint. Ich muss kurz nachdenken. »Freie Liebe? Ohne Herz? Tut mir leid, Jo, aber das ist nicht meins. Ich bin eher der monogame Typ, verstehst du? Ich bevorzuge das Zusammensein zu zweit, mit heruntergelassenen Rollos und romantischem Kerzenschein. Ganz furchtbar spießig, ich weiß«, antworte ich schnell, aber aufrichtig.

Jo lächelt und schaut mich eifrig an. »Das finde ich nicht spießig. Nun gut, dann eben nur wir beide. Ich werde sicherlich irgendwo eine romantische Kerze für dein Herz auftreiben«, schlägt er mir eifrig und mit hoffnungsvoll aufgerissenen Augen vor.

»Jo, ehrlich gesagt, bin ich ein großer Fan von Romantik und all dem Drum und Dran. Aber ich denke wirklich, dass das keine gute Idee ist. Da rührt sich einfach nichts in mir«, gestehe ich.

Jo schaut mich an und antwortet mit einem selbstbewussten Lächeln: »Bei mir schon.«

Seine aufrichtige Antwort erheitert mich, und ich muss lachen. In diesem Moment nähert sich Lisa, setzt sich auf den Boden vor uns und schaut abwechselnd zwischen Jo und mir hin und her. »Nun, wie geht es euch beiden? Schmeckt euch das Essen? Braucht ihr noch etwas?«

»Lisa, du süße Maus«, begrüßt Jo sie und beugt sich zu ihr vor. Sein Mund landet auf ihren schön geformten Lippen. Eindeutige Geräusche sind zu hören, bis sie sich schließlich mit verliebten Blicken voneinander lösen.

»Was soll ich sagen? Gerade eben wollte er noch eine Kerze anzünden, um meine romantische Seite zu wecken. Jetzt küsst er dich. Ich bin enttäuscht von dir, Jo«, erzähle ich mit einem Schmunzeln.

Mit großen, leuchtenden Augen beäugt Lisa mich und wandert mit ihrem Blick an meinem Zopf entlang, der über die Schulter hängt. » Dein Haar ist wirklich wunderschön. Darf ich es einmal berühren?«

»Natürlich darfst du«, antworte ich sanft, weil sie eine der wenigen ist, die zuvor fragt. Viele tun es, ohne zu fragen. Ich empfinde das nicht nur als unangebracht, sondern auch als übergriffig.

Lisa zögert keine Sekunde und berührt sanft das Ende meines Zopfes. Ihre Finger gleiten behutsam durch die Haarspitzen, als wären sie kostbare Seide.

»Sie sind so unglaublich weich«, schwärmt sie und streicht sich damit zärtlich über die Wange. Dann wiederholt sie diese Geste kichernd bei Jo, der lachend den Kopf dreht.

Ich sehe auf und lande direkt in den Augen von Yanick. Er steht bei einer kleinen Gruppe von Männern und beobachtet uns. Seine Augenbrauen sind deutlich zusammengezogen, als ob ihm unser Tun missfällt. Nachdem er meinen Blick bemerkt, wendet er den Kopf ab.

Lisa legt meinen langen Zopf auf meinem Oberschenkel ab und streicht zärtlich mit ihrer flachen Hand mehrmals darüber. Mit dieser sanften Berührung streichelt sie nicht nur mein Haar, sondern auch meine Seele. Ich schaue zu ihr hinunter. Sobald sie ihre Augen öffnet, empfinde ich ihren unschuldig wirkenden Blick als eine stumme Bitte.

Es gibt sicherlich nur wenige Menschen, die ihr einen Wunsch abschlagen.

»So wundervoll«, flüstert sie und schaut tief in meine Augen. »Bleibst du bei uns, wenn nachher alle gegangen sind? Jo und ich … wir feiern noch ein wenig allein weiter. Gegen eine zweite Frau hat er bestimmt nichts einzuwenden. Ich werde persönlich für die Kerzen sorgen und eine romantische Atmosphäre schaffen.«

»Jo hat bereits erwähnt, dass das möglich wäre«, erwidere ich ruhig.

»Hast du das?«, erkundigt sie sich überrascht an Jo gewandt, der breit schmunzelt und eifrig nickt. »Du weißt genau, was ich mir heute wünsche, nicht wahr?«

Ihr treuer Hundeblick richtet sich plötzlich auf mich, als sie sagt: »Heute ist mein Wunsch-Geburtstag, und du bist mein Geschenk, oder?«

Jetzt sagt sie offen, was sie die ganze Zeit gedacht hat. Ich spüre, dass es an der Zeit ist, klare Grenzen zu setzen. »Ich weiß, dass heute dein Geburtstag ist. Aber diese Wunsch-Geburtstagsvereinbarung gilt nicht zwischen uns«, erkläre ich bestimmt. »Und wie ich Jo bereits gesagt habe, führen meine Ambitionen in eine ganz spießige, monogame Richtung, und ausschließlich in Bezug auf das männliche Geschlecht.«

Augenblicklich wandert der bekümmerte Blick von Lisa zu Jo. Ihr Gesicht wird lang. »Dann habe ich also bedauerlicherweise die falschen Chromosomen geerbt bekommen? Dabei bin ich so verliebt in sie.«

»In wen bist du mal nicht verliebt, Lisa?«, versucht Jo, sie aufzuheitern.

»In Ninette«, antworte ich, an die erstbeste Person denkend, die mir spontan in den Sinn kommt.

Jo und ich sehen uns an, und dann bricht lautes Gelächter aus. Minutenlang können wir uns vor Lachen kaum beruhigen.

»Die zählt nicht, denn die mag niemand«, kichert Jo und verschluckt sich fast an seinem Getränk.

»Ich würde eher monogam und heterosexuell werden als mit der …«, scherzt Lisa. »Komm, Jo, tanz mit mir! Und du, Ella, überleg es dir noch einmal, ja? Bitte!

Verneinend schüttele ich mit dem Kopf und wende mich wieder meinem Teller zu. Währenddessen tanzen Lisa und Jo miteinander. Kauend beobachte ich diese wunderbare Frau, die das Glück hat, in einer Zeit geboren zu sein, in der sie ihre pansexuellen Vorlieben völlig frei ausleben kann. Sie hüpft um Jo herum wie ein Flummi, der vor Energie und Lebensfreude nur so strotzt. Und er hat Mühe, mit ihrer Energie Schritt zu halten.

Großartige Frau.

Auch Yanick tanzt mit einer kurzhaarigen Blondine, die ihre üppigen Kurven an ihn drückt. In einer eleganten Drehung huscht ein Lächeln über sein Gesicht, vermutlich weil sie ihm zuvor etwas Ins Ohr geflüstert hat. Ich lehne mich entspannt in die weiche Sitzauflage zurück und beobachte ihn minutenlang, meine Lider fast geschlossen.

Es ist auffällig, dass er mit keiner Frau länger tanzt als für zwei Tänze, unabhängig davon, ob sie hübsch sind, kurvige Figuren haben oder zu der Musik tanzen können. Mit einer Engelsgeduld zeigt er ihnen einfache Schritte und schenkt damit den Herzen dieser Frauen unvergessliche Momente.

Offenbar ist er der Traum jeder Schwiegermutter. Ein wahrer Gentleman. Doch seine Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf mich. Macht nichts, denn ich habe keine Mutter mehr, die von einem Schwiegersohn wie ihm träumen könnte.

 

 

 

Kapitel 5

 

Nachdem ich meinen geleerten Teller auf eine Ablage gestellt habe, suche ich nach einem geeigneten Tanzpartner. Mein Blick fällt auf Kai. Er steht allein da. Mit einem Happen in der Hand beobachtet er die Leute auf der Tanzfläche, während er seine Hüften zum Rhythmus bewegt.

Ich schleiche mich zwischen den tanzenden Gästen hindurch zu ihm. Er schenkt mir ein umwerfendes Lächeln, sobald er bemerkt, dass ich auf ihn zukomme.

»Ich bin gerade ohne Tanzpartner, und du auch. Wie wäre es, wenn wir zusammen tanzen?«, frage ich und hebe einladend meine Arme an.

Seine gradlinige Nase kräuselt sich leicht zwischen den Augenbrauen. »Ich habe zwei linke Füße. Du wirst bestimmt keinen Spaß mit mir haben. Es gibt wirklich bessere Tänzer.«

»Ich möchte es gern selbst beurteilen«, bleibe ich hartnäckig und ergreife seine Hand.

»Lieber nicht. Ich fürchte, es könnte extrem peinlich werden. Und ich möchte hier immerhin noch eine Weile als Respektsperson gelten«, entgegnet er zögernd.

»Ach, komm schon. Zeig mal her.« Entschlossen ziehe ich ihn auf die Tanzfläche.

»Nicht, Ella! Das war nicht gelogen. Ich tanze ganz unterirdisch. Bitte nicht«, fleht er.

Ich drehe mich zu ihm um, bringe mich in Tanzposition und zwinge ihn widerstrebend dazu, meine Hände zu ergreifen. Tatsächlich tanzt er steif wie ein Brett, das zusätzlich an ein anderes genagelt wurde. Sein Gesicht schaut wenig begeistert aus. Er bewegt sich unsicher. Selbst die einfachsten Grundschritte überfordern ihn.

»Sieh es mal so: Ich möchte mit dir tanzen und kenne hier kaum jemanden. Du bist meine erste Wahl. Meine Respektsperson. Also lass uns Spaß haben«, versuche ich, ihn aufzumuntern.

»Deine erste Wahl. Wirklich?«

»Ehrenwort.«

»Also gut. Wenn ich deine erste Wahl bin … Du merkst doch aber schon, dass ich für Tanzen kein Talent habe, nicht wahr?«, erkundigt er sich und klingt sichtlich gequält. Sein Gesichtsausdruck zeigt eindeutig, wie unwohl er sich fühlt. »Sag mir bitte nicht, dass alle um uns herum zuschauen und lachen. Nein, nein, ich möchte es gar nicht wissen. Das ist großartig. Jetzt ist mein Ruf ruiniert. Danke dir, Ella.«

Unauffällig schaue ich mich um. Wir werden nicht beobachtet.

»Du denkst einfach zu viel, Kai«, erkläre ich, während mein Blick auf Kais Hüften ruht. »Wenn du aufhörst zu grübeln und dich einfach im Takt bewegst, wird deine Hüfte automatisch lockerer. Probiere es mal.«

»Du willst nicht wirklich, dass sich meine Hüfte lockert. Glaube mir«, antwortet er mit einem schelmischen Grinsen.

»Na gut, wie du möchtest«, erwidere ich leicht beleidigt und mache Anstalten, mich von ihm abzuwenden.

Bevor ich mich entfernen kann, zieht er mich energisch an sich. Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, denn offensichtlich will er nicht, dass ich gehe. Das gefällt mir.

»Stopp mal. Eben gerade hast du gesagt, dass ich deine Nummer eins bin. Dann zeig mir, wie es geht. Wie bekomme ich es besser hin?«, fragt er nun gut gelaunt.

»Du musst nicht wie ein Turniertänzer tanzen, um mich zu beeindrucken. Das tust du auch so. Ich finde, du bist ein interessanter Mann.«

Übergangslos schaut er mich an. »Ziemlich direkt.«

»Nein, ehr ehrlich. Oh, Gott, Kai. Flirten wir etwa miteinander?«

»Ich würde sagen, du flirtest mit mir. Himmel, werde ganz nervös.«

»Etwa, weil ich dich interessant finde?«

»Exakt deswegen.«

»Wie du tanzt ist mir egal. Ich möchte nur mit dir flirten. Glaub mir«, antworte ich mit einem Augenzwinkern.

Sofort legt er seine Hand auf meine Taille. »Also dann. Ich mach es folgendermaßen: Ich drücke mich unauffällig an dich und mache dir einfach alle Bewegungen nach. Nun bist du meine private Tanzlehrerin und damit meine Respektsperson. Eine, die interessant flirtet.«

Ich freue mich, dass er nicht das Weite sucht und fahre mit meinen Händen behutsam zu seiner Hüfte. Mit sanftem Druck führe ich ihn, wo es nötig ist, und lenke ihn in die gewünschte Richtung. Wir tanzen einen Merengue, der sich durch einfache Grundschritte auszeichnet, und er passt sich schnell dem Takt an. Seine Hüfte wird allmählich lockerer.

Erfreut grinst er mich an. »Gibst du auch Einzelstunden? Lisa versucht so oft, mir Merengue beizubringen. Leider bleiben ihre Mühen erfolglos.«

»Warum das? Ich hatte den Eindruck, du weißt sehr gut, wie es geht. Ich habe gesehen, wie du deinen Unterleib vorhin gegen ihren gedrückt hast. Du warst mehr als nur locker. Lügst du mich etwa an?«

»Prinzipiell nicht«, schmunzelt er breit. »Körper ist aber nicht gleich Körper. Bei einem bin ich locker, ein anderer schüchtert mich ein.«

»Stelle dich bei Gelegenheit allein vor einem Spiegel«, weiche ich. »Stell dir vor, deine Körper ist eine Perlenkette. Er ist der Faden, der durch die Perlen gezogen ist. jede Perle möchten sich bewegen. Es ist wirklich ganz einfach.«

»Ganz einfach?«, fragt er skeptisch und lockert seinen Griff.

»Ganz einfach«, bekräftige ich.

Mit geschlossenen Beinen bewege ich meine Hüfte, ohne den restlichen Körper zu bewegen. Gebannt sieht er mir zu.

»Regel Nummer eins: Nicht nachdenken. Die Bewegung kommt aus dem Becken«, erkläre ich.

»Entschuldige, bei mir kommt gleich etwas anderes aus dem Becken.«

Ich biege mich vor Lachen und er stimmt fröhlich ein.

»Regel Nummer zwei: Selbstbeherrschung«, raune ich nah an seinem Ohr und stelle mich wieder in die Tanzposition zurück.

Ich zeige ihm, wie er sein Knie leicht beugen kann, während wir eng miteinander tanzen. Nach einer Weile beherrscht er auch das. Schließlich sieht es nicht mehr aus, als würde ein Roboter mit mir tanzen. Wir haben Spaß und lachen viel, denn er hat die seltene Gabe, mich angenehm zu unterhalten.

Plötzlich nähert sich Yanick. Anstatt mich anzusehen, richtet er seinen Blick auf Kai, der plötzlich nervös wirkt. »Ähm, ich werde mal eben Lisa helfen«, unterbricht er unseren Tanz und verlässt mich Hals über Kopf.

»Gute Idee«, antworte ich schnell, obwohl mir die Unterbrechung gar nicht gelegen kommt. »Ich wollte sowieso gerade eine Runde um den Block gehen und etwas trinken.«

Die Tatsache, dass wir uns auf einem Hausboot befinden und nicht irgendwo in der Innenstadt, habe ich dabei gänzlich vergessen. Flugs husche ich an Yanick vorbei, bevor er etwas sagen kann. Eilig steuere ich auf den Tisch mit den Getränken zu.

Unbeirrt trottet er mir hinterher. Hastig öffne ich eine Flasche Mineralwasser und drehe mich zu Jo, der sich mit einigen Leuten unterhält. Dadurch kann mich Yanick nicht so leicht ansprechen. Hoffe ich.

Ich raune Jo etwas zu, woraufhin er schmunzelt. Sein Blick gleitet jedoch zu Yanick, der sich bestimmt hinter mir befindet. Entnervt von seiner Hartnäckigkeit drehe mich um.

»Du schon wieder?«, fahre ich ihn ruppig an.

»Ich wollte dich um einen Tanz bitten.«

»Ach nö«, entgegne ich lang gezogen. »Ich kann nicht gut tanzen, aber hier. Sie schon.«

Ich schiebe eine hübsch gelockte Blondine vor seine Nase, die sich soeben an mir vorbeidrängt. Betreten blickt sie drein, weil sie sich angeregt unterhalten hat. Geschwind trete ich den Rückzug an. Verdattert steht er nun vor der Blondine und entschuldigt sich bei ihr. »Nachher Rosi. Warte mal kurz, Ella.«

Genervt drehe ich mich erneut um und sehe dabei zu, wie er auf mich zu kommt. »Waas?«,

»Es ist doch nur ein Tanz.«

»Genau. Mit anderen tanzt du zwei, also lassen wir es besser. Außerdem finde ich dich doof.«

Lauthals lacht er los, statt sich geschlagen zu geben.

»Gut, es war gelogen. Ich halte dich für langweilig, nein, für selbstgefällig. Ich möchte nicht mit dir tanzen. Lass mich in Ruhe. Tu mir einen Gefallen und mach die glücklich, die dich dumm-grinsend anhimmeln. Ich gehe inzwischen eine Runde um den Block, meinen Traumprinzen suchen.«

»Der steht vor dir.«

»Wo?« Suchend sehe mich um und drehe mich sogar einmal im Kreis. »Sag schon, wo steht er?«

Er tritt einen Schritt auf mich zu. Durch sein Parfüm überwältigt, weiche ich zurück.

»Du solltest ihn suchen gehen«, raunt er mir zu. »Er ist hier irgendwo auf dem Hausboot, darauf verwette ich mein Hinterteil.«

Perplex glotze ich ihn an, denn ich habe mit einer anderen Antwort gerechnet. Er wendet sich ab und geht zu Ninette. Sie straff sich. Ein erfreutes Lächeln umspielt ihre Lippen, als er ihre Hand ergreift und sie in das gemütliche Hausboot lotst.

Während er im Inneren des Hauses verschwindet, winkele ich meinen Arm an und knicke meine Finger, ein bis nur der Mittelfinger aufrecht stehen bleibt. Es ist ein stummer Ausdruck meiner Verwirrung und Frustration. Als er sich auf dem Weg dorthin umdreht, erkennt er meine Geste.

Ich bin sicher, er sieht den ausgestreckten Mittelfinger. Ein Hauch von Triumph durchzuckt mich. Gemächlich spaziere ich zu der Hausecke und lehne mich gegen die Wand.

Was ist nur los mit mir? Wie kann es sein, dass dieser arrogante Mensch mich so vollkommen aus der Fassung bringt?

Angestrengt versuche ich, meine aufgewühlten Gefühle zu beruhigen, indem ich meine Beine vertrete und auf dem Hausboot herumschlendere. Als ich schließlich auf Höhe des kleinen Ruderbootes ankomme, lasse ich meinen Blick über die vorbeifahrenden Schiffe auf dem Fluss gleiten. Abseits der Party und den karibischen Klängen beobachte ich die vorbeifahrenden Schiffe, die auf dem ruhigen Fluss unterwegs sind.

Dem einen oder anderen Passagier winke ich zurück. Gewiss möchten die meisten ihre gute Laune dieses sonnigen Tages mit anderen teilen. Die Wellen der vorbeifahrenden Ausflugsdampfer prallen gegen das Hausboot und verschwinden mit einem lauten Klatschen, als hätten sie nie existiert.

Stimmen dringen an mein Ohr. Sie unterbrechen die herrliche Stille, die bisher nur vom sanften Plätschern des Wassers unterbrochen wurde. Ich lehne meinen Kopf gegen die Seitenwand des Hauses, in der Hoffnung, die Stille wiederherstellen zu können.

Doch die aufkommenden Stimmen werden immer lauter. Sie kommen aus dem angelehnten Fenster, das sich neben meinem Kopf befindet.

»Sag ihr, sie soll die eingebildete Tussi wegschicken.«

»Das werde ich nicht tun.«

Ich erkenne die Stimme von Yanick. Schnell sehe ich mich um. Niemand ist in der Nähe und ich werde beim Lauschen nicht ertappt, spitze meine Ohren.

»Nicky, bitte. Tu es für mich.«

»Ninette, heute ist ihr Wunsch-Geburtstag und sie hat sich nun einmal die Kleine vom Steg gewünscht. Da kann und werde ich nicht tun, was du mir hier versuchst, einzuflüstern. Ganz ehrlich, ich würde es nicht einmal in Erwägung ziehen, wenn es nicht Lisas Geburtstag wäre. Also bitte, lass es sein. Deine Worte erschöpfen mich nur. Warum kommst du nicht einfach zu mir her.«

 

 

 

Kapitel 6

 

Offensichtlich dreht sich das Gespräch um meine Person. Meine Neugierde ist geweckt. Ich spitze meine Ohren und bewege mich unauffällig näher zum Fenster, um das Gespräch besser belauschen zu können.

»Vorhin auf der Brücke hat sie sich wirklich aufgespielt. Und du hast gar nichts dazu gesagt. Das fand ich nicht gut. Ich wette, sie hat an sich herumschrauben lassen. Und überhaupt wirkt sie ... billig. Schau dir nur ihren ollen Bikini an. Der ist noch schlimmer als das, was man im Angebot bei Aldi findet. Das ist wirklich unterstes Niveau. Außerdem ist heute doch auch dein Geburtstag. Es ist auch deine Feier.«

Obwohl sie versucht, ihre Worte freundlich klingen zu lassen, kommt ihre Herablassung klar zum Vorschein. Ich kann nicht anders, als angewidert den Kopf zu schütteln und unwillkürlich den Mund zu verziehen. Die Frau ist der reinste Albtraum.

Doch plötzlich fällt mir etwas auf. Moment mal. Er hat auch Geburtstag?

Zwillinge?

Alles klar, verstehe. Sie sind zweieiige Zwillinge. Interessant.

»Das ist dein Problem, Ninette. Sei brav und komm her!«

»Wäre ja gerne nett zu dir, wenn du mich endlich …« Ninette unterbricht sich und zögert.

»Dich endlich was?«

»Mir endlich sagst, woran ich bei dir bin.«

Eine Weile ist es still. Dann höre ich wie sie flüstern. Etwas klirrt. Es klingt, als ob jemand in Ärger oder Eile, Dinge von einem vollgestellten Tisch beiseite fegt.

Vorsichtig und zögernd spähe ich nun durch das Fenster, aus dem die Stimmen dringen. Es ist eine Küche. Mein Blick fällt direkt auf den Rücken von Ninette.

Sie sitzt auf der Arbeitsplatte. Ihr Rücken ist mir zugewandt. Auf ihrer Hüfte ruht eine Hand, die nur von Yanick stammen kann.

Die Intimität zwischen ihnen ist offensichtlich. Sie sind bereits in leidenschaftlicher Umarmung versunken und stehen kurz davor … Ups! Wenn ich in Kais Haut stecken würde, würde ich nachher meine Küchenarbeitsplatte desinfizieren. Und überhaupt: Wer ist hier billig?

Inmitten dieser aufgeladenen Atmosphäre wagt Ninette die Frage: »Sag, begehrst du mich?«

Yanick antwortet nicht. Seine Augen sind geschlossen.

Die Hände mit den sorgfältig gepflegten Fingernägeln ruhen flach auf der Arbeitsplatte. Ninette stöhnt verführerisch, wenn auch leicht unnatürlich.

Ich bekomme Panik, beim Spionieren entdeckt zu werden. Ein einziger Blick von Yanick könnte genügen. Gegen alle Vernunft verharre ich aber regungslos, wie erstarrt.

Einzig mein Kopf senkt sich voll Abscheu und Ekel. Selbst das kann ich mir nicht erklären, denn es ist schließlich seine Sache, mit wem er verkehrt.

Inzwischen krallt Ninette ihre Nägel fest in seine Oberarme. Ich fühle sie an meinen Oberarmen, als wäre ich Yanick. Zeitgleich steigt eine rätselhafte Aversion in mir auf, die ihre flehenden Worten unzureichend unterbricht.

»Sag mir, dass du mich willst.«

Ein neues, undefinierbares Gefühl überkommt mich. Bevor ich es zuordnen kann, öffnet Yanick urplötzlich seine Augen.

Sie treffen direkt auf meine. Ihn unvermittelt erkennend, hebe ich meinen Kopf und blicke gebannt in seine Augen. In diesem Augenblick wird mir klar, warum ich hier wie erstarrt stehe und keinen Schritt von der Stelle bewegen kann.

Es fühlt sich an, als wäre es das Natürlichste und Selbstverständlichste auf der Welt. So, als hätten wir uns jeden Tag unseres Lebens in die Augen gesehen und wollten es auch gar nicht anders. Keine Überraschung, kein Erstaunen, kein Schreck oder ob der seltsam komischen Situation, gar Befremden übertüncht diese seltsame Vertrautheit.

Mein Gesicht entkrampft sich zeitgleich mit seinem. Wie an einem unsichtbaren Band gezogen, fühle ich mich schlagartig von ihm angezogen und nähere mich auf bizarre Art. Während ich auf ihn ›zu schwebe‹, löst sich mein Körper dabei seltsam gleitend auf. Nur noch wir existieren und die Welt dreht sich einzig und allein für uns.

Ganz sicher, ich kenne ihn. Er öffnet seinen Mund und formt die Worte: »Ich will dich.«

Mit diesen Worten löst das mysteriöse Band abrupt auf. Blitzartig schnelle ich wieder zurück an das Fenster und finde mich in der Realität zurück.

Habe ich gerade wirklich meine Hand ausgestreckt, um noch einen Moment länger in dieser tiefen und intensiven Verbindung zu verweilen? Wie dem auch sei. Der Augenblick ist ebenso schnell vorbei, wie er entstanden ist. Zurück bleibt eine seltsam anmutende Leere.

Endlich aus meiner Erstarrung befreit, ziehe ich mich aufgewühlt vom Fenster zurück. Das Ganze muss ich erst einmal verarbeiten. Ganz sicher hatte ich gerade das fremdartigste Erlebnis meines Lebens, und ich kann es überhaupt nicht einordnen.

Werde ich etwa verrückt?

Neben dem Fenster gelehnt, hole ich mehrmals kräftig Luft. Emotionen überfluten mein Herz. Das Denken erscheint sinnlos.

Mein Puls rast, und ich muss mich vorbeugen, weil ich nicht verstehe, was gerade mit mir geschieht. Das kann doch nur ein Traum gewesen sein, denn so etwas passiert nur dort und fühlt sich dann auch noch so real an.

Mein rasender Herzschlag spricht eine ganz andere Sprache. Es war definitiv kein Traum, das ist sicher.

Langsam und in Gedanken versunken bewege ich mich zurück in Richtung Terrasse. Weitere Spaziergänge sind damit heute Abend gestrichen.

»Ella! Ella, wo bist du?« Lisa kommt um die Ecke geflitzt. Ungeduldig winkt sie mich zu sich. »Oh, da bist du. Ich habe dich überall dich gesucht. Gleich beginnt das Feuerwerk, komm schnell! Es ist eine Überraschung.«

Für mich wäre das heute die zweite Überraschung. Die erste habe ich gerade von ihrem Bruder bekommen, doch Lisa ahnt nichts davon. Wie sollte ich es ihr erklären? Selbst Uta, die an Übersinnliches und all diesen Unsinn glaubt, könnte ich das nicht einmal annähernd begreiflich machen.

Als ich die Terrasse erreiche, geselle ich mich zu den anderen Gästen. Wir schauen gemeinsam in den Himmel und warten gespannt auf das versprochene Feuerwerk. Doch egal, wie sehr ich mich bemühe, an etwas anderes zu denken, es gelingt mir einfach nicht.

Das kann doch nicht wahr sein.

Ich fühle noch einmal, wie ich zu ihm gezogen wurde, ohne mich ernsthaft dagegen wehren zu können. Was ist mit mir geschehen?

Ich schließe meine Augen, denn bei dieser Erinnerung breitet sich eine wohlige Wärme in meinem Herzen aus, die mich überwältigt und sich rasend schnell in alle Richtungen ausdehnt. Sie verzehrt mich auf angenehme Weise, ein unglaublich intensives Gefühl. Und alles, was ich jetzt will, ist, diesen Moment in mir wiederzubeleben und ihn für immer festzuhalten.

Ich will dich.

Und ich habe nicht daran gezweifelt. Ich muss mich vorbeugen, weil mich sonst etwas niederstreckt, was mir große Angst einflößt. Dieses Gefühl überkommt mich mit solch intensiver Urgewalt, dass ich fürchte, machtlos zu Boden zu gehen.

Für einen Augenblick wird mir schwindelig. Meine Atmung beschleunigt sich. Nach einigen schnellen, flachen Atemzügen beginne ich mich allmählich zu beruhigen und richte mich wieder auf. Niemand bemerkt es.

Keine stierenden Blicke, kein Misstrauen. Nichts. Alles ist in Ordnung.

Und dennoch …

Etwas stimmt nicht. Gerade eben ist meine Welt aus den Fugen geraten. Ich spüre die Auswirkungen bis in jede Faser meines Körpers. Es fühlt sich an, als könnte ich mich diesem Gefühl nicht widersetzen. Sich dagegen zu wehren, scheint zwecklos.

Dämlich lächelnd stolpert Ninette auf die Terrasse. Yanick eskortiert sie. Ein Teil von mir möchte ihr ins Gesicht schlagen. Gleichzeitig fürchte ich, dass ich hysterisch werde. Meine Gedanken und Gefühle wirken auf mich verstörend.

Yanick gesellt sich zu den Gästen. Er unterhält sich mit dem einen, lächelt den anderen an, und ich fühle mich wie eine einfältige Närrin, die bei seinem Anblick dahinschmilzt.

Das kann doch nicht wahr sein. Was tut dieser sentimentale Don Juan mit mir?

Das Feuerwerk beginnt und ich sehe hinauf in den Himmel. Oh und Ah Rufe der Gäste erfüllen die sommerwarme Luft.

Augen wie Bernstein, die vertraut und tief in die Seele blicken können. Nur ihn habe ich wahrgenommen.

Ich will dich.

Oh! Ah! Applaus bricht los.

Was ist am Fenster mit mir passiert?

Oh! Ah! Der Beifall hallt wider.

Ich senke den Kopf und denke nach. Das Feuerwerk interessiert mich kaum. Ein Schauer überläuft meinen Körper. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf den Ort, an dem Yanick sich gerade mit den Gästen unterhalten hat.

Er sieht zu mir.

Ein erneuter Schauder durchfährt mich. Instinktiv spüre ich, dass er in der Küche das Gleiche empfunden hat wie ich. Siegessicher lächelt er. Mein Herz setzt für einen Schlag aus.

Dieser Mensch ist gewiss nicht mein Traumprinz, Gott verflucht noch mal. Was ist mit mir los?

Begeistert klatscht die Menge. Das Feuerwerk ist vorbei. In meiner Not wende ich mich der Menge zu, die sich langsam in Bewegung setzt. Die Sicht auf ihn wird versperrt. Zum Glück.

Vermutlich hätte ich es ohnehin keine Sekunde länger ausgehalten. Gleich wäre ich in die Brandung gesprungen, um vor meinen unlogischen Gefühlen zu flüchten. Benommen suche ich nach einer Erklärung, finde aber keine schlüssige. So bin ich sonst nicht. Erst recht nicht bei einem Frauenhelden wie ihn.

Kais Stimme durchbricht meine Gedanken. Sie erklingt laut und deutlich über dem Klatschen der Gäste. Laut rufend fordert er zum gemeinsamen Sprung in das Wasser auf, bevor die Dunkelheit einsetzt. Alle, die sich abkühlen wollen, sollen in das erfrischende Nass springen.

Er selbst steht schon an einer Stelle, an der das möglich ist und entkleidet sich unter Jubelrufen. Unsere Blicke treffen sich.

Mein Atem stockt. Es fühlt sich an, als ob die Zeit für einen Augenblick stehenbleibt, nur damit ich seinen Anblick genießen kann. Seine fröhliche Art. Die überschäumende Liebe, die in seinem Herzen wohnt.

Doch dann, wie auf Knopfdruck, strömen alle in seine Richtung und versperren mir die Sicht auf ihn. Gerade hat er sich das Leinenhemd ausgezogen. Dabei wollte ich doch …

Was, Ella?

Ich wollte zu ihm gehen, ihn in eine stille Ecke ziehen, seine wunderbaren Lippen küssen und mich frei und lebendig fühlen.

Hilfe! Was geschieht hier?

Da die meisten Gäste ohnehin in Badebekleidung feiern, stürzen sie sich wild in die Bucht, während ich versuche, mich zu sammeln. Oder genauer gesagt, meine Gedanken, die sich anfühlen, als wären sie ferngesteuert. Jahrzehntelang ist kein einziger Mann annehmbar für mich, dann heute …?

Lachsalven erklingen, die nur von der einen oder anderen kreischenden Frauenstimme unterbrochen wird. Kurz darauf wimmelt es im Wasser von einer ausgelassenen Menge, die Wassertropfen in alle Richtungen aufspritzt.

Die Musik dröhnt mit tiefen Bässen. Ihr Rhythmus stampft, raubt mir den Atem und die Sinne, während sie meine erhitzte Seele mitreißt. Es ist Zumba, der sich immer mehr im Europa ausbreitet. Meist mit wenigen, schnellen, lateinamerikanischen Schritten, anderen Tanzstilen und Aerobic Elementen gemischt.

Ich eile zur Brüstung der Terrasse und sehe zu, wie sich weitere Gäste in das Wasser stürzen. Bald darauf ist die Tanzfläche verlassen.

Ich betrete sie. Meine Beine folgen dem rauschenden Beat, während sich weitere Gäste laut jubelnd ins Wasser stürzen. Ausgelassen tanzend lasse ich Dampf ab.

Genau das brauche ich, um die seltsam fesselnden haselnussbraunen Augen von Yanick zu vergessen. Genau das brauche ich, um den verführerischen Mund von Kai aus meinem Gedächtnis zu verbannen, den ich am liebsten stundenlang küssen möchte.

Kai steht an der Brüstung und zieht sich seine Leinenhose aus. In einer geschmeidigen Bewegung lässt er sie geschickt über seine Hüfte gleiten, was eine kleine Anspielung auf seine tänzerische Unbeweglichkeit ist.

Zustimmend nicke ich. Mein Daumen geht nach oben. Kai freut sich über mein Lob. Er erwidert das Lächeln und hebt ebenfalls lachend den Daumen. Zur Antwort lasse ich meine Hüfte ebenfalls einmal kreisen.

Splitternackt dreht er sich zur Menge, die im Wasser ausgelassen tobt. Er hüpft zum schnellen Takt. Sein Auftritt bleibt nicht unbemerkt und sorgt für Begeisterung bei den Gästen, die alle zu ihm schauen. Er dreht sich zu mir, immer noch hüpfend.

Wieder hebe ich meinen Daumen, um ihn zu loben. Kai feuert die Leute weiter an, und die Stimmung erreicht ihren Höhepunkt.

Nun hüpft er ein wenig rückwärts und sieht prüfend zur Menge, die den Takt mit Köpfen und Armen begleitet. Mit wilden Armbewegungen signalisiert er ihnen, Platz zu machen, weil er zu ihnen springen möchte.

Nachdem die Menge Platz gemacht hat, taucht er kopfüber ins Wasser ein, begleitet von ohrenbetäubendem Jubelgeschrei. Sofort stehe ich genau an der Stelle, an der er gerade noch gestanden hat.

Ich singe laut den Text mit. Meine Hände strecken sich aus. Ausgelassen tanze ich zum stampfenden Rhythmus.

Beifall ertönt aus dem Wasser, weil meine Tanzdarbietung ebenfalls bemerkt wird. Einige Gäste im Wasser folgen meinen Armbewegungen. Sie lassen ihre Hände kreisen oder wippen mit den Köpfen, je nachdem, was ich ihnen vorgebe.

Lisa gesellt sich zu mir und ahmt meine Schritte nach. Zusammen heizen wir nun den Gästen im Wasser ein. Sie kann hervorragend mithalten und hat sichtlich Spaß an unserem Spiel. Sie orientiert sich an meinen Bewegungen und strahlt immer wieder fröhlich in Richtung unseres Publikums.

Das Gegröle aus dem Wasser wird lauter. Immer mehr Menschen kopieren unsere Bewegungen. Ich fühle mich fast wie eine Animateurin, die ihren Urlaubern ordentlich einheizt.

Sommer, gute Laune, Unbeschwertheit.

Unserer Hände sind hoch erhoben, bis Lisa meine Hand ergreift und wir gemeinsam Anlauf nehmen, um unter tosendem Jubel in die erwartungsvolle Menge im Wasser zu springen. Erst kurz vor der Wasseroberfläche lösen wir die Hände.

So tauche ich zum zweiten Mal an diesem Tag in das erfrischende, grüne Wasser ein und fühle mich dabei noch freier als zuvor. Über allem dröhnt der wummernde Bass. Die Party ist schlichtweg genial.

Unter Wasser sehe ich Köpfe, Beine und Arme, während unzählige Luftbläschen um mich herum aufsteigen. Ich warte auf den Auftrieb und bewege dann meine Arme, um an die Oberfläche zurückzukehren. Noch immer entzückt, schwimme ich zu einer Stelle, die etwas abseits liegt. Der Bass dröhnt in meinem Magen wie wild, und die jubelnde Menge übertönt die Musik mühelos.

Einige Gäste erklimmen das Hausboot. Mit Anlauf springen sie in das Wasser, begleitet von ausgelassenem Geschrei und Pfiffen. Ich wische mir das Wasser aus den Augen.

Kai taucht vor mir auf. Er lächelt mich bezaubernd an, was ich erwidere. Sofort kommt er näher, gibt mir ein Zeichen zum Luftholen und zieht mich dann unter Wasser. Alles geschieht so schnell, dass ich kaum reagieren kann.

Unter Wasser führt er mich unter das Hausboot und taucht dort wieder auf. Wir befinden uns an einer Stelle, an der ein kleiner Zwischenraum befindet. Riesige Pontons, die das Holzhaus tragen, ragen rechts und links neben unseren Köpfen empor.

Der wummernde Bass dringt geradewegs in meinen Magen. Über uns höre ich Schreie und Schritte von den Gästen, die ins Wasser springen. Wir befinden uns irgendwo unter der Tanzfläche. Diejenigen, die springen, werden lautstark angefeuert.

Ich schaue mich im Halbdunklen um und suche nach einem Halt. Kai hält sich an einem Griff fest, während sich die andere sanft auf meinem Rücken legt und mich behutsam zu sich zieht. Seine grauen Augen suchen meine im Halbdunkel.

Sein Mund lächelt, wie bei einem kleinen Jungen, der seiner ersten Freundin sein geheimes Versteck zeigt und sich freut, weil es ihr gefällt. Ich setze ein Schmunzeln auf und entspanne mich, denn hier, fernab der feiernden Menge, haben wir genug Luft für eine ganze Weile.

Ich lege einen Arm um seinen Hals, damit ich mich festhalten kann. Gedanklich singe ich den Text des Liedes mit und tippe mit einem Finger den Takt auf seiner Schulter.

»Ein schönes Versteck«, flüstere ich.

Kai bleibt stumm. Wasser tropft aus seinen Haaren. Sie rinnen über seine Wangen bis zum Kinn hinab, das er unter Wasser versteckt.

Ich umarme ihn fest, meine Arme um seinen Hals geschlungen. Ich spüre seinen Herzschlag, bis mir schwindelig wird und ich mich selbst kaum noch erkenne.

»Wolltest du mir das zeigen?«

»Nein, ich möchte ungestört mit dir reden.«

Sobald er ausspricht, wonach ich mich gesehnt habe, wird alles um uns herum unwichtig. Die Welt verschwimmt übergangslos im Halbdunkel unseres Verstecks.

Unsere Blicke verlieren sich in den Augen des anderen. Das gedämpfte Plätschern des Wassers und die entfernten Rufe der feiernden Gäste verblassen in der Bedeutungslosigkeit.

Seine Augen, die mich bis eben so intensiv betrachtet haben, sind jetzt auf meine Lippen gerichtet. Ein sinnlicher Glanz liegt darin, der mich aufwühlt und mein Herz hinauf in die Abendwolken fliegen lässt.

»Worüber wolltest du reden?«

»Nicht direkt reden«, haucht er belegt.

»Eine großartige Idee«, flüstere ich.

Meine Stimme ist kaum zu vernehmen. Muss sie auch nicht, denn unsere Lippen schweben nur einen Hauch voneinander entfernt. Langsam, fast schüchtern nähern wir uns aufeinander zu. Seine Stirn berührt meine, sanft und zärtlich, als würden die Flügel von Schmetterlingen sich aneinander schmiegen.

Der Atem, den wir teilen, schmeckt süß und verheißungsvoll. Ich schließe meine Augen, um diesen Moment noch intensiver zu erleben. Meine freie Hand gleitet sachte seinen Rücken hinauf.

 

 

 

Kapitel 7

 

Luftblasen steigen auf. Sie zaubern flüchtige Muster an die Wasseroberfläche. Ein geräuschvoller Atemzug unterbricht die Magie und den Fluss der Zeit.

Eine Hand legt sich schwer auf Kais linke Schulter.

Kai dreht sich um. Dabei bemerke ich Yanick. Beunruhigend eindringlich schaut er Kai an. »Ich muss dich mal kurz sprechen.«

»Kann das nicht warten?« Die Irritation in seiner Stimme kann Kai kaum verbergen. Über die plötzliche Störung erschrocken, lockert er den Griff.

»Kann es nicht. Entschuldigst du uns, Ella?« Yanick bittet höflich, aber seine Miene verrät, dass es um eine ernste Angelegenheit geht.

Ich hole tief Luft und sinke rasch in die Tiefe. Ich begreife, dass ich störe. Kais Finger strecken sich nach mir aus, bekommen mich jedoch nicht mehr zu fassen, weil ich mich entferne.

Nachdem ich den Rand des Hausbootes erreiche, atme ich hastig an der Wasseroberfläche ein und tauche erneut ab. Unter Wasser erblicke ich vier Beine, die sich in einem intensiven Gerangel verstricken.

Dann taucht einer von ihnen ab. Ich kann nicht erkennen, wer es ist, denn ich schwimme schnell in die sich feiernde Menschenmasse zurück, wo ich mich inmitten des jubelnden Getümmels verberge. Die Frage, was vor sich geht, bleibt vorerst ungeklärt und wirft einen langen Schatten über den romantischen Ausgang des Abends, den ich mir erträumt hatte.

Kai schwimmt zu der Kante des Hausbootes. Yanick folgt ihm. Ununterbrochen spricht er auf ihn ein und gestikuliert dabei heftig. Kai zieht sich hinauf und stellt sich an den Rand, von dem Gäste mutig ins Wasser springen.

Sein suchender Blick wandert über die Gesichter im Wasser. Er bleibt geduldig, prüft jedes genauestens, weshalb ich mich langsam bewege, um so unbemerkt wie möglich zu bleiben. Verzweifelt sucht Kai nach mir, findet mich jedoch nicht.

Auch Yanick zieht sich schließlich hinauf und späht suchend in die Menschenmasse. Er hört nicht auf, auf den armen Kai einzureden und dabei wild zu gestikulieren. Als dieser immer noch nicht reagiert und ungerührt nach mir Ausschau hält, packt Yanick schließlich seinen Arm und zerrt daran.

Mit weit vorgebeugtem Oberkörper schreit Yanick ihn an und führt heftige Armbewegungen aus. Beide Männer stehen sich nackt gegenüber, inmitten der ungewöhnlichen Umgebung des Hausbootes, was die Szene umso bizarrer wirken lässt. Zwischen ihnen entfaltet sich eine Dramatik, die bedrohlich wirkt.

Mit ausgestrecktem Arm deutet Yanick in die Menge und fordert mit der freien Hand die Aufmerksamkeit von Kai ein. Der bückt sich, um seine Sachen aufzuheben, die zu seinen Füßen liegen. Weil Yanick nicht locker lässt, schnellt er blitzartig in die Höhe, schreit Yanick an und stampft wütend dreinblickend davon.

Yanick positioniert sich an der Kante und sucht fieberhaft jedes Gesicht im Wasser ab. Nachdem er mich entdeckt, wird er in das Wasser gerissen. Ein springender Gast stößt ihn versehentlich an. Er verliert das Gleichgewicht, stürzt ins Wasser und landet direkt neben der kurzhaarigen Blondine.

Schnellstens drehe ich mich um und schwimme zu der Anlegestelle zu den beiden Booten. Dort stoße ich auf ein knutschendes Pärchen.

Unverrichteter Dinge kehre ich um, ohne eine Atempause einzulegen. Fieberhaft suche ich nach einem Weg, um zu Kai zurückzukehren. Yanick möchte ich meiden, geselle mich daher notgedrungen zu den badenden Gästen. Hier ist ein sicherer Ort, an dem Sorgen des Tages auf den Wellen des Vergessens davonschweben.

Immer wieder gleite ich für eine Weile unter die Oberfläche und verweile dort, weil ich mich nicht traue, zur Kante zu schwimmen. Yanick steht noch immer dort und scannt unermüdlich die Gesichter im Wasser ab. Also tauche ich in der Masse unter und denke angestrengt nach.

Beinahe hätte Kai mich geküsst. Die Erinnerung daran löst ein heftiges Kribbeln in meinem Magen aus. Ich fahre mit den Händen über mein Gesicht und versuche angestrengt, die Gedanken zu sortieren.

Ich hole tief Luft und tauche ein letztes Mal ins kühle Wasser ab. Unter der Wasseroberfläche lasse ich mich langsam absinken und bewege die Arme leicht, um nicht wieder an die Oberfläche zu steigen.

Jemand nähert sich. Das Gesicht wird allmählich deutlicher, je näher die Person kommt. Wenige Meter vor mir stoppt sie, lässt ebenfalls ihre Beine absinken und schaut mich an.

Es ist Yanick.

Vor lauter Aufregung und weil ich davon ausgegangen bin, dass er mich in der Menschenmenge nicht entdeckt hat, entweicht mir ein Atemstoß. Mein Herz rast.

Doch er rührt sich nicht, guckt mich nur aus seinen warmen, haselnussbraunen Augen an. Weniger als einen Meter trennt uns. Er verharrt in dieser Entfernung, ohne näherzukommen.

Unvermittelt huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Er schaut kurz nach oben und taucht gemächlich auf, wobei sein Blick die ganze Zeit auf mir ruht. Majestätisch gleitet sein unbekleideter Körper nach oben. Seine Beine bewegen sich elegant und legen die Richtung fest.

An der Wasseroberfläche angekommen, schwimmt er langsam zum Hausboot. Zögernd tauche ich auf und beobachte, wie er aus dem Wasser steigt.

Er greift nach seiner Hose und schlüpft hinein, ohne einen Blick zu mir zu werfen. Dann schnappt er sich die erste beliebige Frau, die ihm über den Weg läuft und führt sie auf die Tanzfläche.

Über sein seltsames Verhalten verwirrt, bleibe ich zurück. Schließlich schwimme ich ebenfalls zur Kante und ziehe mich aus dem Wasser. Klatschnass laufe ich geradewegs ins Badezimmer und verriegle die Tür.

Mein Körper zittert und ich weiß genau, es ist seinetwegen, obwohl das nicht sein darf. Krieg dich wieder ein, dummes Mädchen, schimpfe ich mit mir selbst, während ich mich im Spiegel betrachte und versuche, wieder Fassung zu finden.

Es klopft an der Badezimmertür.

»Alles in Ordnung?«, fragt Kai, nachdem ich öffne.

Er ist angezogen und späht besorgt in das Badezimmer. Ich nicke und ziehe ihn hinein. »Kann ich mir einen Kamm ausleihen?«

Kai drängt sich an mir vorbei. Ich weiche ein wenig zurück und beobachte aufmerksam, wie er eine Schublade durchwühlt. Meine Hände zittern leicht. Meine Gedanken kreisen immer noch um seine weichen Lippen. Ich spüre sie auf meinen und fürchte, ich verliere gleich den Verstand.

Seine Hand streckt sich aus, ohne dass er mich ansieht. Ich starre auf den Kamm und bleibe regungslos stehen, denn ich möchte, dass er mich anschaut. Ewig stehen wir so da. Keiner von uns sagt etwas.

Ich atme schwer, bis er seinen Kopf in meine Richtung wendet. Ausdruckslos schaut er an mir vorbei. Mein Herz bricht in eintausend Stücke. Es kann nicht begreifen was vor sich geht, warum dieser warmherzige Mann mich plötzlich anstarrt, als wäre ich ein gefährliches Monster.

Dabei könnten wir jetzt ungestört wiederholen, was wir vorhin … Er könnte die Tür verriegeln und wir wären allein. Es könnte klopfen, so oft es wollte, doch wir würden uns nicht stören lassen. Hauptsache, die Zeit bleibt wieder stehen.

Seine grauen Augen treffen meine, doch sie senken sich rasch. Etwas stimmt nicht.

»Was ist mit dir, Kai?«

Keine Antwort.

Ein erstickter Seufzer entrinnt meiner Kehle. »Was ist passiert?«

»Tut mir leid. Ich kann nicht, Ella.«

»Rede mit mir«, bitte ich und trete näher.

Vorsichtig lege ich meine Hand auf seinen Rücken. Etwas quält ihn und ich muss herausfinden, was es ist.

Er ächzt, legt den Kamm langsam auf den Rand des Waschbeckens und schüttelt den Kopf. Seine stumme Geste sagt mir, dass es keine Wiederholung geben wird.

»Ich kann nicht, Ella.«

Zügig reißt er sich von mir los und verlässt das Bad. Ich eile zur Tür, um sie zu verschließen. Er möchte es nicht noch einmal versuchen, und ich habe die Botschaft verstanden. Trotzdem schmerzt diese Tatsache.

Ich lehne meinen Kopf gegen die Tür und verharre so, bis es erneut klopft. Hat er es sich vielleicht anders überlegt? Das Klopfen ertönt erneut, und ich öffne die Tür mit einem begeisterten Lächeln, unfähig, mein Herz zu verschließen.

Statt Kai steht die kurzhaarige Blondine vor mir. Sie lächelt mich an und schiebt sich an mir vorbei. »Hi. Bist ein bisschen blass um die Nase. Geht es dir gut?«

»Passt schon. Wollte nur mal kurz durchatmen.«

»Na, wenn du meinst, dass es hier drinnen klappt, bitte. Tu dir keinen Zwang an. Hast du was dagegen, wenn ich …? Wo hast du eigentlich tanzen gelernt?«, fragt sie, während sie schon ungeniert auf der Toilette sitzt.

»Dafür gibt es Tanzschulen«, erwidere ich und versuche, das plätschernde Geräusch zu übertönen.

Sie zupft ein Stück Papier von der Rolle und faltet es sorgsam. Tief enttäuscht beginne ich, meine nassen Haare zu kämmen und flechte sie zu einem losen Zopf, der aus zwei dicken Strähnen besteht. Es geht schnell, und die Haare können so noch schneller trocknen.

»Ich finde es genial. Ich hätte auch gerne so eine Schule besucht. Aber ich war in einem Internat in Bayern. So langweilig und kleinkariert.« Sie kichert und spült ihre Hände, dann kommt sie zum Waschbecken. »Gefällt dir die Party?«

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ISBN (ePUB)
9783739487052
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Liebesroman contemporary Berlin Romantik Sommer Erwachsene Familiensaga Urlaub Serie Saga historisch Familie

Autoren

  • Adelina Zwaan (Autor:in)

  • Anna Conradi (Autor:in)

Adelina Zwaan (Pseudonym), 1971 in der Hansestadt Wismar geboren, lebt in Leipzig und arbeitet bei einem örtlichen Energieversorger. In ihren bildgewaltigen und tiefgründigen Liebesromanen taucht sie tief in die inneren Konflikte ihrer meist bindungsunfähigen Protagonisten ein. Schreibt sie nicht, ist sie als Fengshui-Beraterin unterwegs, malt Aquarelle, gestaltet Grußkarten, näht oder fängt flüchtige Momente mit ihrer Kamera ein.
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Titel: Spring! Verdrängte Gefühle