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Zeitgenossen - Der Wille Adads (Bd. 5)

von Hope Cavendish (Autor:in)
256 Seiten
Reihe: Zeitgenossen, Band 5

Zusammenfassung

Im 20. Jahrhundert durchleben Gemma und ihre Freunde viele Veränderungen. Erneut sehen sie sich mit einem großen Krieg und zudem einer grausamen Diktatur konfrontiert, die sie vor ihre bisher schwerste Prüfung stellt. Der machthungrige Ur-Vampir Nergal verfolgt unterdessen weiterhin seinen Plan, die Menschen zu unterjochen. Um sich ihm und seinen Verbündeten entgegenzustellen, müssen die Freunde alle ihre Kräfte bündeln und auf die Unterstützung alter Feinde hoffen. Wird es ihnen gelingen, das Gleichgewicht zwischen Menschen und Vampiren zu erhalten und den Willen des babylonischen Gottes Adad zu erfüllen? "Der Wille Adads" ist der finale Band der historischen Vampirromanserie "Zeitgenossen". Im Mittelpunkt der Serie steht die Vampirin Gemma, die im Laufe der Jahrhunderte erfährt, was es bedeutet, unsterblich zu sein. Sie wird zur Zeitzeugin vieler historischer Ereignisse, erlebt Kriege, Entdeckungen und Revolutionen, begegnet der Liebe, dem Kampf und dem Tod. Ihre Freunde stehen ihr dabei oft zur Seite, doch ihren Weg muss Gemma letztendlich selbst finden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsangabe: Der Wille Adads

 

Im 20. Jahrhundert durchleben Gemma und ihre Freunde viele Veränderungen. Erneut sehen sie sich mit einem großen Krieg und zudem einer grausamen Diktatur konfrontiert, die sie vor ihre bisher schwerste Prüfung stellt. Der machthungrige Ur-Vampir Nergal verfolgt unterdessen weiterhin seinen Plan, die Menschen zu unterjochen. Um sich ihm und seinen Verbündeten entgegenzustellen, müssen die Freunde alle ihre Kräfte bündeln und auf die Unterstützung alter Feinde hoffen. Wird es ihnen gelingen, das Gleichgewicht zwischen Menschen und Vampiren zu erhalten und den Willen des babylonischen Gottes Adad zu erfüllen?

 

Der Wille Adads ist der finale Band der historischen Vampirromanserie Zeitgenossen. Im Mittelpunkt der Serie steht die Vampirin Gemma, die im Laufe der Jahrhunderte erfährt, was es bedeutet, unsterblich zu sein. Sie wird zur Zeitzeugin vieler historischer Ereignisse, erlebt Kriege, Entdeckungen und Revolutionen, begegnet der Liebe, dem Kampf und dem Tod. Ihre Freunde stehen ihr dabei oft zur Seite, doch ihren Weg muss Gemma letztendlich selbst finden.

 

Prolog

 

Eigentlich bin ich nicht zeitgemäß, ein wandelnder Anachronismus sozusagen. Wenn man aber bedenkt, dass ich inzwischen über 400 Jahre alt bin, habe ich mich unserer Zeit letztlich doch recht gut angepasst.

Im Grunde war ich in jeder Zeit, die ich durchlebte, gezwungen, mich anzupassen. Trotzdem bestand ein Großteil meines Lebens aus Kämpfen. Ich kämpfte für die Rechte der Frau, gegen Ungerechtigkeiten, gegen Vampirjäger und gegen perfide Artgenossen, wie die Sektenmitglieder der Sybarites, sowie gegen menschliche Feinde und Gegner im Krieg.

All diese Kämpfe hätte ich jedoch niemals ohne die Hilfe und den Beistand meiner Freunde durchstehen können. Da war zunächst Giles, meine große Liebe und zugleich mein Erschaffer. Er hatte mich damals in eine Vampirin verwandelt, um mir das Leben zu retten. Meine älteste Freundin Maddy war stets für mich da, wenn ich einen guten Rat benötigte. Ihr Lebensgefährte Miguel wiederum war fast immer an ihrer Seite und sein alter Kampfgenosse Francisco wurde ebenfalls zu einem wichtigen Freund für uns, ebenso wie der irische Schelm Fergus und Franciscos syrische Gefährtin Sadia. Als Gestaltwandler besaßen Fergus und Sadia neben ihren Vampirkräften zudem ganz besondere Fähigkeiten und haben uns damit als Gerfalke und als Skorpion schon so manches Mal unterstützt. Dann gab es da noch Giles’ Erschaffer Zervan, einen über zweitausend Jahre alten Vampir, der uns stets mit seiner unerschütterlichen Weisheit und Gelassenheit überraschte und uns geholfen hatte, die Ur-Vampire zu finden.

Die vier Ur-Vampire Gula, Dagan, Apason und Nergal waren gewissermaßen unsere Ahnen, denn sie stellten den Ursprung des Vampirismus dar. Sie selbst nannten sich Etemmu-Qebrus, waren vor fast viertausend Jahren in Babylonien unter ungewöhnlichen Umständen ums Leben gekommen und der babylonische Windgott Adad hatte dann aus ihren rastlosen Totenseelen die ersten Vampire der Geschichte erstehen lassen. Adad hatte den Etemmu-Qebrus Stärke, Macht und Unsterblichkeit gegeben, doch da ihr Leben abrupt und unnatürlich beendet worden war, waren sie zu stetem Durst nach dem Lebenssaft, dem Blut anderer Lebewesen, verflucht. Wenn sie andere Wesen verwandelten, übertrugen sie ihnen nicht nur ihre Stärke, sondern ebenso diesen Fluch. Da die Ur-Vampire sich teleportieren konnten und es nichts gab, das sie töten konnte, waren ihre Kräfte den unsrigen noch um einiges überlegen. Darum hatte Adad bestimmt, dass es ihnen unmöglich war, diese Eigenschaften weiterzugeben, wenn sie jemanden in einen Vampir verwandelten. So sollte verhindert werden, dass ein zu großes Ungleichgewicht zu den Menschen entstand.

Dem rachsüchtigen Nergal gefiel dieses Gebot allerdings nicht. Er strebte die Herrschaft der Vampire an und sein Ziel war es, die Menschen zu unterjochen. Zu diesem Zweck hatte er beispielsweise schon Vampirkriege entfacht, mehrfach die Sybarites unterstützt und auch ihre Entdeckung der Mort-Vivant-Erschaffung gefördert.

Gula, Dagan und Apason haben sich darum Nergal stets entgegengestellt und ihn überwacht. Bei unserer ersten Begegnung mit Gula hatten wir ihr versprochen, ihnen hierbei nach besten Kräften zu helfen. Doch Nergal hatte uns nur verhöhnt und uns angesichts der grausamen Gräueltaten, die wir im Großen Krieg unter den Menschen beobachten mussten, darauf hingewiesen, dass die Menschen es nicht wert seien, geschützt und als ebenbürtig erachtet zu werden. Nun war er uns abermals erschienen und hatte gedroht, uns die Erbärmlichkeit der menschlichen Rasse zu beweisen.

Ich begann mich zu fragen, ob es uns jemals gelingen würde, Adads Willen zu erfüllen und das Gleichgewicht zwischen Menschen und Vampiren zu erhalten. Wie viel Einfluss hatten die Ur-Vampire wirklich auf das Machtverhältnis zwischen Gut und Böse?

Hollywood ruft

 

»Nergal wird nicht aufgeben!« Diese Feststellung von Gula hallte in meinem Kopf wider. Der machthungrige Ur-Vampir hatte erst vor kurzem das Sybarite-Oberhaupt Momboisse in New Orleans dazu verleitet, die Sybarites wieder erstarken zu lassen, um die Menschen zu beherrschen. Wie konnten wir es abwehren, dass dies erneut geschehen würde?

Gula erkannte anscheinend die Sorge in meinem Gesicht und wandte sich mir zu. »Wir haben in New Orleans gemeinsam mit Dahoma das Schlimmste verhindern können«, erklärte sie mit ruhiger Stimme.

»Aber was können wir tun, damit so etwas nicht wieder passiert?«, fragte ich beunruhigt. »Sollten wir nicht vielleicht versuchen, Nergal auf den Fersen zu bleiben und etwas über seine weiteren Pläne herauszufinden?«

Gula lächelte mich milde an und augenblicklich verspürte ich erneut dieses wärmende Gefühl, das sich auch schon zuvor in ihrer Gegenwart in mir ausgebreitet hatte. »Es wird vorerst nicht notwendig sein, Nergal direkt zu verfolgen«, bekundete sie. »Seine Drohung, uns eines Tages die Schwäche der Menschen zu demonstrieren, war sicherlich ernstgemeint, aber Nergal lässt sich immer Zeit für die Umsetzung seiner Pläne. Obgleich er ungeduldig erscheint in seinem Bestreben, die Menschheit zu unterjochen, wird er nicht übereilt vorgehen.«

Francisco sah sie skeptisch an. »Aber er verfolgt diese Ziele ja immerhin auch schon seit geraumer Zeit«, wandte er ein.

»Das stimmt. Aber durch die mentale Verbindung aller Etemmu-Qebrus untereinander konnten wir immer rechtzeitig spüren, ab wann es notwendig wurde, Nergal wieder genauer zu überwachen«, entgegnete Gula. »Dies wird auch künftig so sein. Darum solltet ihr alle ruhig euer normales Leben wieder aufnehmen. Wenn ihr uns helfen möchtet, Nergal Einhalt zu gebieten, werden wir euch beizeiten informieren.«

Ich sah meine Freunde reihum an. Giles, Maddy und Miguel blickten mich zuversichtlich an, woraus ich schloss, dass sie Gulas Worten Glauben schenkten. Fergus grinste wie immer fröhlich, augenscheinlich hatte er also wohl keinerlei Bedenken, dass von Nergal in allzu naher Zeit wieder Scherereien zu erwarten wären. In Franciscos Miene las ich noch eine leise Skepsis. Doch dann sah er Sadia an, deren bewundernder Blick auf Gula ruhte, und ihr Vertrauen in die Ur-Vampirin schien ihn wiederum zu überzeugen. Ich blickte zu Dahoma, der mir prompt schmunzelnd zuzwinkerte. Bei ihm blieb es mir stets ein bisschen unklar, wie er zu all dem stand.

Schließlich hob Giles zu sprechen an: »Ich glaube, wir alle würden euch gerne nach besten Kräften unterstützen.«

Meine Freunde und ich nickten zustimmend, woraufhin uns Gula ruhig anlächelte. »Alsdann werden wir uns wiedersehen«, verkündete sie gesetzt, während ihr Anblick bereits schemenhaft zu werden begann. Im nächsten Moment war sie so unauffällig verschwunden, wie sie erschienen war.

»Nun denn, meine Freunde«, meldete sich daraufhin Dahoma aufgeräumt zu Wort. »Was haltet ihr davon, noch eine Zeitlang meine Gäste hier in New York zu bleiben? Die Stadt hat viele neue Attraktionen zu bieten, die ich euch zeigen könnte.«

»Warum eigentlich nicht?«, nahm Fergus die Einladung gut gelaunt für uns an. »Wir haben ohnehin gerade nichts Besseres zu tun.«

 

Dahoma hatte mit den Attraktionen New Yorks nicht übertrieben. Schon bei unserem letzten Besuch vor über 20 Jahren war die Stadt eine lebhafte Metropole mit zahlreichen Vergnügungsstätten gewesen. Doch der wirtschaftliche Aufschwung hatte sie tatsächlich noch weiter erblühen lassen. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte das Park Row Building mit 29 Etagen und einer Höhe von 390 Fuß als der höchste Wolkenkratzer der Stadt gegolten. Inzwischen gab es unzählige Hochhäuser und sogar mehr als doppelt so hohe Gebäude, wie beispielsweise das Woolworth Building, das mit einer Höhe von 792 Fuß und 57 Stockwerken den aktuellen Wolkenkratzer-Rekord New Yorks innehatte. Mit der New York City Subway gab es mittlerweile auch ein recht ansehnliches U-Bahn-Netz in Manhattan, das den Verkehr auf den Straßen zwar entlastete, sich dennoch nicht ansatzweise mit dem Netz der London Underground vergleichen ließ.

Zudem hatte das landesweite Alkoholverbot anscheinend die Vergnügungssucht der Bevölkerung kaum geschmälert. Egal, wofür man sich interessierte, in New York konnte man sich rund um die Uhr amüsieren. Sportbegeisterte konnten im neu errichteten Yankee Stadium die New York Yankees und ihren Star Babe Ruth beim Baseball anfeuern. Wer das Theater liebte, hatte allabendlich die Wahl zwischen zahlreichen Komödien, Tragödien und Musicals rund um den Broadway. Nicht minder populär waren die vielen großen und luxuriös eingerichteten Filmtheater, die nunmehr die kleinen Nickelodeons zunehmend abgelöst hatten und Abend für Abend das Publikum mit imposanten Kinofilmen aus Hollywood lockten.

Und natürlich waren da auch die unzähligen Speakeasies, illegale Flüsterkneipen, in denen ausgelassen gefeiert wurde und der Alkohol trotz Prohibition in Strömen floss. Fast tagtäglich entstanden an irgendwelchen geheimen Orten in New York weitere dieser Etablissements, versteckt in Hinterräumen vermeintlich ehrbarer Friseursalons, Handwerksbetriebe, Lebensmittelläden oder auch privater Wohnungen.

Dahomas Nachtclub Jordan’s Laundry war eines der beliebtesten Speakeasies, was nicht nur daran lag, dass er anstelle des vielerorts ausgeschenkten, gepantschten Alkohols exquisite Schmuggelware aus Europa servierte. Sondern auch daran, dass er in seiner allabendlichen Show so viele talentierte Künstler präsentierte. Die Tänzer, Sänger und Musiker im Jordan’s Laundry brachten das Publikum mit ihren rasanten Darbietungen stets aufs Neue zum Toben.

 

Da war es wohl auch nicht verwunderlich, dass Dahomas Club oft auch von prominenten Gästen besucht wurde. So betraten eines Abends beispielsweise zwei Männer und eine Frau den Club und sahen sich suchend nach einem Tisch um, und als Dahoma ihrer gewahr wurde, erhob er sich sofort fröhlich lächelnd und begrüßte sie munter. Alsdann geleitete er sie an unseren Tisch und setzte an, uns einander vorzustellen, wobei ihm aber der eine Mann mit einem gutgelaunten »Hier kommt das tollkühne Trio!« zuvorkam. Er hatte eine athletische Figur und war sehr braungebrannt, wodurch seine durch ein breites Grinsen entblößten Zähne umso weißer erschienen. Ich überlegte gerade, warum er mir so bekannt vorkam, da legte ihm seine Begleiterin, eine zierliche Brünette mit großen Augen, tadelnd eine Hand auf den Arm. »Wo bleiben nur deine Manieren, Doug?«

Eine leise Ahnung, woher ich die beiden kennen konnte, erwachte in mir. In dem Moment schnaufte Fergus neben mir auf und rief begeistert. »Der Tramp! Es ist der Tramp!«

Ich folgte Fergus’ Blick, der auf den zweiten Mann gerichtet war. Dieser war einen Kopf kleiner als der andere und hatte seine schwarze Lockenpracht offenbar nur mühsam mit Pomade bändigen können. Er lächelte uns spitzbübisch an, lehnte sich auf einen imaginären Gehstock, um den er sodann trippelnd eine zierliche Pirouette vollführte. Auch wenn seine Markenzeichen, die Melone und der aufgeschminkte Schnauzbart, hier fehlten, war es unverkennbar, dass er Charlie Chaplin war, und Fergus hatte ihn sofort erkannt. Nun bestand auch kein Zweifel mehr daran, dass es sich bei dem Paar in Chaplins Begleitung um Douglas Fairbanks und Mary Pickford handelte, nicht minder berühmte Filmstars, die vor ein paar Jahren gemeinsam mit Chaplin die unabhängige Filmgesellschaft United Artists gegründet hatten. Lächelnd reichten wir alle einander die Hand, während Dahoma uns als seine »guten Freunde vom Kontinent« bezeichnete und uns alle reihum vorstellte.

»Vom Kontinent?«, wiederholte Fairbanks fragend, derweil die Drei sich zu uns setzten. »Woher kommen Sie denn genau?«

»Gemma, Maddy und ich stammen aus England«, erklärte Giles, »Fergus aus Irland, Francisco und Miguel aus Spanien und Sadia aus Syrien.«

»Aus Syrien?« Chaplin beugte sich interessiert zu Sadia hinüber. »Sind Sie womöglich eine echte orientalische Prinzessin?«

»Orientalin: ja. Prinzessin: nein«, antwortete Sadia lächelnd.

»Und sie lebt zudem schon eine ganze Weile in Spanien«, ergänzte Francisco mit wachsamem Blick und legte demonstrativ seine Hand auf Sadias.

Chaplin gab einen übertriebenen Seufzer von sich. »Ich verstehe!«, sagte er bedauernd und lächelte dann spitzbübisch.

»Wir waren während unserer Hochzeitsreise in Europa«, meldete sich nun Fairbanks wieder zu Wort. »Ich liebe den Kontinent! Alles ist so geschichtsträchtig und die Menschen sind so kultiviert!«

»Na ja, es gibt auch in Europa ein paar Banausen«, entgegnete Fergus heiter. »Aber selbstredend repräsentieren meine Freunde und ich das vornehme Blut.«

Anscheinend kam Fergus gerade mal wieder in Fahrt, darum versetzte ich ihm unauffällig einen leichten Tritt unter dem Tisch.

Doch Fairbanks schien von dessen Bemerkung ziemlich angetan. »Das habe ich mir gleich gedacht. Ich wette, Sie stammen alle aus adligen Familien?«

Fergus senkte demütig die Lider. »Ach Gott, ich selbst bin ja nur ein einfacher Sir, doch mein Freund Giles hier ist ein Viscount, Francisco ein Marqués, Miguel ein Barón, und Gemma und Maddy sind Marquises.«

Fairbanks riss beeindruckt die Augen auf und starrte zu Dahoma hinüber. »Holy Moly, Dahoma, du hast mir ja nie erzählt, dass du so hochwohlgeborene Freunde hast!«

»Ach, heutzutage haben solche Titel doch gar nicht mehr so viel zu sagen«, wehrte Giles Fairbanks’ Bewunderung ab.

»Meinen Mann können Sie mit Titeln immer beeindrucken«, widersprach Mary Pickford lächelnd. »Unser Charles stammt ja auch aus England«, sie deutete auf Chaplin, »allerdings kommt er aus eher einfachen Verhältnissen.«

Chaplin protestierte gespielt beleidigt. »Du kränkst mich, meine Liebe! Immerhin entstamme ich dem vornehmsten Bühnenadel, einer langen Reihe von Gauklern, Clowns und Artisten.«

»Das könnte man von unserem Fergus direkt auch annehmen«, erklärte Giles trocken.

»Mylord, das trifft mich bis ins Mark!«, gab sich Fergus empört. »Dafür sollte ich Euch fordern! Gleich hier und jetzt! Ihr wählt die Waffen!«

»Ein Duell! Ein Duell!«, johlte Fairbanks und klatschte begeistert in die Hände. Er deutete eine leichte Verbeugung gegenüber Giles an. »Ich biete mich als Ihr Sekundant an.«

Derweil verneigte sich Chaplin grinsend vor Fergus. »Und ich mich als der Ihrige. Wir Gaukler müssen schließlich zusammenhalten.«

Fergus klopfte ihm gerührt auf die Schulter. »Meiner Treu! Das nenne ich wahre Loyalität!«

Mary Pickford seufzte lächelnd und sah mich verständnisvoll an. »Anscheinend sind Ihre Jungs ebenso schwer zu bändigen wie meine?«

»Ja, leider!«, antwortete ich lachend. »Sie sind immer noch nicht dem Flegelalter entwachsen.«

Fairbanks beugte sich mit Verschwörermiene zu Giles hinüber. »Die Ladies wissen einen guten Kampf halt nicht zu schätzen.«

Giles sah spitzbübisch lächelnd zu mir herüber und ich merkte ihm an, dass er geneigt war, Fairbanks zu widersprechen, da er mich ja schon bei dem einen oder anderen Kampf erlebt hatte. Darum gab ich ihm mit einem warnenden Blick zu verstehen, nicht zu viel über uns zu verraten. Giles deutete mein Mienenspiel richtig und erwiderte daraufhin mokant, dass vom »zarten Geschlecht halt nicht zu viel zu erwarten« sei.

Fairbanks stimmte ihm prompt fröhlich zu, was seine Gattin zum Anlass nahm, sich zu erheben und reihum Sadia, Maddy und mich anzuschauen. »Meine Damen, was halten Sie davon, mir an die Bar zu folgen? Ich würde Sie gerne zu einer Flasche Champagner einladen. Oder auch zwei oder drei. Unterdessen können die Herren dann ausgiebig diskutieren, was sie heute Nacht vielleicht noch von uns zu erwarten haben – oder auch nicht.« Sie lächelte uns entspannt an und Maddy, Sadia und ich folgten vergnügt ihrem Vorschlag und ließen die Männer mit leicht verdutzten Mienen an unserem Tisch zurück. Dahomas gewohnt heiseres Lachen hallte uns leise hinterher, als wir zu Bar hinüber gingen.

An der Bar nahmen wir auf vier nebeneinanderstehenden Hockern Platz, während Mary die erste Flasche Dom Pérignon orderte. Der Barkeeper stutzte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er uns dann routiniert den Champagner einschenkte. Auch wenn sich die Rechte und Freiheiten für Frauen seit dem Krieg massiv verbessert hatten und wir inzwischen in der Öffentlichkeit ebenso ungezwungen feiern konnten wie die Männer, so war der Anblick von vier Damen, die ohne männliche Begleitung an einer Bar saßen und tranken, doch für die meisten immer noch ungewohnt.

Nachdem wir einander zugeprostet hatten, erklärte Mary: »Ich muss mich für Doug entschuldigen. Im Großen und Ganzen ist er relativ pflegeleicht. Aber manchmal schlägt er etwas über die Stränge.«

»Aber das ist doch nicht der Rede wert«, entgegnete Maddy lächelnd. »Die Männer sind halt zuweilen ein wenig übermütig. Hin und wieder sind wir das doch auch.« Sie zwinkerte mir zu und ich erinnerte mich an den einen oder anderen Schabernack, den Maddy und ich gemeinsam getrieben hatten. Zum Beispiel im Jahre 1601 mit jenem zudringlichen Großgrundbesitzer in Schottland, dem wir als vermeintliche Hexen den Schreck seines Lebens eingejagt hatten.

»Na, Sie haben ja auch gut reden«, versetzte Mary. »Ihr Miguel scheint eher der ruhige Typ zu sein.«

»Aber Francisco kann ziemlich temperamentvoll werden«, meldete sich nun Sadia zu Wort.

»Aber wohl kaum dir gegenüber?«, hakte ich zweifelnd nach. »Ich glaube, er könnte dir nie böse sein.«

»Das stimmt.« Sadia lächelte verliebt. »Er liegt mir förmlich zu Füssen – auch wenn er das niemals zugeben würde.«

Mary nahm einen Schluck aus ihrem Champagnerglas und musterte mich prüfend. »Was ist mit Ihnen? Liegt Ihrer Ihnen auch zu Füssen?«

Ich schüttelte zögernd den Kopf. »Nein, das nun doch nicht. Aber das würde ich auch gar nicht wollen.«

Pickford sah mich eine Weile lang schweigend an. Dann nickte sie zustimmend. »Allem Anschein nach ist Ihre Beziehung meiner am ähnlichsten. Aber er respektiert Sie?«

Ich nickte. »Wir respektieren uns gegenseitig. Anders würde es nicht funktionieren. Vor allem da wir bei allen Gemeinsamkeiten auch immer mal wieder unabhängige Ziele verfolgen.«

Mary erhob feierlich ihr Glas. »Diese Akzeptanz der Männer ist eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Zeit. Es lebe das 20. Jahrhundert!«

Da wir Mary Pickford nur schwerlich hätten erklären können, dass zumindest unsere Männer diese Akzeptanz uns gegenüber bereits vor gut zweihundert Jahren erlernt hatten, stimmten wir in ihren Toast mit ein.

Anschließend fragte Mary uns, womit wir uns denn üblicherweise beschäftigten, und als sie von Maddys Tätigkeit als Ärztin, Sadias Interesse für die Elektronik und meinem Engagement für frauenrechtliche Themen hörte, zeigte sie sich beeindruckt.

»Meine Damen, was halten Sie davon, Doug und mich für eine Zeitlang auf unserem Anwesen Pickfair in Kalifornien zu besuchen?«, fragte sie schließlich. »Denn wir müssen leider schon morgen wieder zurückreisen und ich hätte gerne viel mehr Zeit mit Ihnen verbracht, um unsere anregenden Gespräche zu vertiefen. Ich bin sicher, auch im Namen meines Mannes zu sprechen, ja, ich würde mich gar nicht wundern, wenn er da drüben am Tisch bereits eine ähnliche Einladung ausgesprochen hätte.«

Ich wechselte einen kurzen Blick mit Maddy und Sadia und sah ihnen an, dass sie ebenso wie ich nicht abgeneigt waren, dem Vorschlag Folge zu leisten.

»Lassen Sie uns doch zu den Männern zurückkehren und schauen, was sie dazu sagen«, schlug ich vor.

»Ah, die holde Weiblichkeit beehrt uns wieder«, begrüßte Fairbanks uns aufgeräumt, als wir an den Tisch zurückkehrten. Chaplin ließ es sich unterdessen nicht nehmen, Sadia den Stuhl zurechtzurücken, was diese mit einem Lächeln und Francisco mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte.

»Schnurzelchen, du wirst es kaum glauben, diese englischen Burschen sind zwar rasend kultiviert, aber von Filmen verstehen sie überhaupt nichts«, stellte Fairbanks an Pickford gewandt fest. »Das ist für Charlie und mich natürlich ein unhaltbarer Zustand, darum haben wir überlegt, unsere Freunde vom Kontinent für eine Weile nach Pickfair einzuladen und ihnen in Hollywood alles zu zeigen. Was hältst du davon?«

Mary lächelte uns daraufhin nur wissend an, während Fairbanks zu quengeln begann, weil sie ihm nicht antwortete. »Hm? Na? Was hältst du davon, Himbeertörtchen? Nun sag schon!«

 

Drei Tage später bestiegen wir in der Grand Central Station einen Zug, in dem wir vier Schlafwagenabteile gebucht hatten, in Richtung Kalifornien. Meine Freunde und ich hatten die Einladung von Pickford, Fairbanks und Chaplin gerne angenommen – nicht zuletzt, weil Maddy, Miguel, Francisco und Sadia noch nie in Kalifornien gewesen waren. Fergus, Giles und ich waren wiederum neugierig, inwieweit sich die Region seit unserem letzten Besuch vor etwa zwanzig Jahren wohl verändert haben mochte. Zudem war der Staat noch längst nicht so dichtbesiedelt wie New York, was es uns einfacher machen würde, unsere Verpflegung zu sichern. Denn obgleich wir dank der Möglichkeit, heutzutage Blutkonserven zu lagern, auch in New York nicht von Durst geplagt waren, erschien die Aussicht dennoch recht verlockend, einmal wieder auf die Jagd gehen und frisches Wildtierblut genießen zu können.

Wie gewohnt hatten wir in Chicago einen kurzen Zwischenaufenthalt, weil wir dort den Zug wechseln mussten, und ich fühlte mich an die Zeit erinnert, in der ich dort gemeinsam mit Dahoma und Giles den Duc de Longueville beschattet hatte, um hinter das Geheimnis der Mort-Vivant-Erschaffung zu kommen. Seinerzeit hatte zwischen Giles und mir ein sehr gespanntes Verhältnis geherrscht, weil ich ihm während seiner fast zehn Jahre dauernden Gefangenschaft bei den Rittern des Dan großes Unrecht angetan hatte. In Chicago hatte sich diese Spannung zwischen uns schließlich in einem leidenschaftlichen Intermezzo entladen, das schlussendlich zu unserer Versöhnung geführt hatte. Ich sprach Giles darauf an, als der Zug den Bahnhof verließ und wir aus unserem Abteilfenster die Lichter des nächtlichen Chicago betrachteten.

»Selbstverständlich erinnere ich mich daran«, raunte Giles mir ins Ohr, während seine Arme mich von hinten umschlungen. »Anscheinend waren wir recht ausgehungert nacheinander.«

Er drückte mich an sich und an meinem Gesäß spürte ich, dass sein Hunger auch jetzt wieder geweckt worden war. Sofort loderte in mir das nur allzu vertraute Feuer, das selbst nach all den Jahren nie zu erlöschen schien. Ich drehte mich zu Giles um, presste meine Lippen in einem heißen Kuss auf seine und ließ es zu, dass er mich auf das Abteilbett zog, während das rhythmische Stampfen der Zugräder im Hintergrund das sich steigernde Tempo unserer Erregung untermalte.

 

Drei Tage später kam unser Zug in Los Angeles an, wo uns drei Chauffeure in Uniform am Bahnhof abholten und uns zu drei Limousinen führten, die – wie Francisco uns erklärte – exklusive und nur in limitierter Menge produzierte Modelle des Herstellers Du Pont Motors waren.

Die Wagen brachten uns dann nach Beverly Hills, wo das Pickfair genannte Anwesen von Douglas Fairbanks und Mary Pickford auf einem kleinen Hügel am Fuße des Benedict Canyons inmitten eines 18 Acres großen Grundstücks thronte.

Mary Pickford empfing uns strahlend in der geräumigen Eingangshalle der Villa und entschuldigte sich, dass Doug uns leider nicht begrüßen konnte, da er derzeit bei Dreharbeiten im Studio war. Dann führte sie uns in vier sehr geschmackvoll eingerichtete Gästezimmer. »Wenn Sie möchten, führe ich Sie im Haus herum, aber vielleicht wollen Sie sich nach der langen Reise erst einmal ein wenig erholen?«, fragte sie. »Ich habe unten am Pool ein paar Erfrischungen für uns alle anrichten lassen. Albert bringt Sie gerne dorthin, nachdem Sie sich etwas frisch gemacht haben.« Sie wies auf einen vornehm dreinblickenden Butler, der im Hintergrund bereits die Dienerschaft angewiesen hatte, unser Gepäck auf unsere Zimmer zu verteilen und uns nun huldvoll zunickte und sodann gemeinsam mit Pickford verschwand.

Giles warf einen nachdenklichen Blick auf das Kingsize Bett in der Zimmermitte und sah mich dann mit glitzernden Augen an. »Was meinst du? Sollen wir es rasch ausprobieren, bevor wir hinuntergehen?«

Ich lachte amüsiert auf. »Ein verlockendes Angebot! Aber wir sollten eventuell lieber noch ein paar Schlucke von unserem Reisevorrat an Blut zu uns nehmen, ehe wir uns zu unserer Gastgeberin gesellen. Das ermöglicht es uns, etwas entspannter beim Verzehr ihrer Erfrischungen zu bleiben.«

Widerstrebend gab Giles mir recht und nach dem wir uns umgezogen und gestärkt hatten, ließen wir uns von Albert gemeinsam mit den anderen an den großen nierenförmigen Pool an der Westseite des Grundstücks bringen.

Dort wartete zu unserer Überraschung nicht nur Mary mit einem üppigen Buffet exquisiter kalter Platten auf uns, sondern auch ein hochgewachsener, sehr attraktiver Mann, der uns mit melancholischem Blick anschaute. Ich erkannte ihn sofort als den gefeierten Filmstar Rudolph Valentino, wenngleich Mary ihn nur als ihren »Hausgast und lieben Freund Rudy« vorstellte. Mit traurigem Gesicht reichte er uns allen die Hand, nur bei der Begrüßung von Sadia flackerte kurz so etwas wie Interesse in seinen Augen auf.

Während Mary uns ans Buffet führte, ließ sich Valentino ermattet auf einen der Liegestühle am Pool sinken, und unsere Gastgeberin raunte uns zu, dass sich »Rudy« in ihrem Haus gerade von seiner strapaziösen Ehe mit der launenhaften Künstlerin Natacha Rambova erhole.

»Leben die beiden denn in Scheidung?«, fragte Maddy neugierig, die den Darsteller romantischer Liebhaber offensichtlich ebenso schnell erkannt hatte wie ich.

»Bislang nicht«, verneinte Pickford, »aber vermutlich kommt es früher oder später doch noch dazu. Nur macht die liebe Natacha unserem Rudy mit ihren Launen leider das Leben zur Hölle. Kürzlich hat er sogar versucht, sich umzubringen.« Sie sah mitleidig zu Valentino hinüber und interessiert folgten wir ihrem Blick.

»Kennt ihr beiden den Mann denn auch?«, fragte Sadia nun Maddy und mich, woraufhin wir sie überrascht ansahen.

»Das ist Rudolph Valentino, ein berühmter Filmstar!«, verkündete Maddy zwar leise, aber nichtsdestoweniger nachdrücklich. »Hast du noch keinen seiner Filme gesehen?«

Sadia schüttelte den Kopf. »Nein. In was für Filmen hat er denn gespielt?«

»Nun beispielsweise spielte er die Titelrolle in ›Der Scheich‹«, begann ich. »Als Scheich Ahmed Ben Hassan entführt er Lady Diana Mayo und verliebt sich in sie.«

»In ›Camille‹ verkörperte er den Studenten Armand, der der Kurtisane Marguerite verfällt, und in ›Blood and Sand‹ den berühmten Matador Juan Gallardo, der in eine Amour fou mit der schönen Carmen gerät«, zählte Mary Pickford auf.

»Und in ›A Sainted Devil‹ ist er der Edelmann Don Alonzo de Castro, der seine Braut vor den Intrigen seiner eifersüchtigen Exgeliebten und aus den Fängen eines skrupellosen Banditen rettet«, ergänzte Maddy.

Sadia nickte beeindruckt und reckte ein wenig den Hals, um Valentino etwas besser in Augenschein nehmen zu können.

Die Männer hatten sich unterdessen an einem Bartisch weiter hinten versammelt und dank meines Vampirgehörs konnte ich aufschnappen, worüber sie sich gerade unterhielten.

»Allem Anschein nach kennen sich unsere Damen mit dem Œuvre dieses schwermütigen Hausgastes sehr gut aus«, kommentierte Giles mit spöttischem Lächeln an Miguel gewandt und nippte an seinem Champagnerglas.

»Den Eindruck habe ich ebenfalls«, antwortete dieser schmunzelnd.

»Ihr könnt es ihnen doch nicht verdenken, dass sie von dem Knaben so hingerissen sind«, erklärte Fergus grinsend. »Schließlich seid ihr beiden schon ein wenig eingerostet.«

Giles und Miguel boxten ihn entrüstet lachend in die Seite.

Francisco hingegen kniff nur nachdenklich die Augen zusammen und behielt Sadia im Blick.

 

Nachdem wir den Nachmittag über mit Mary geplaudert, uns im Pool erfrischt, auf den Liegestühlen entspannt und zum Schein am Buffet gelabt hatten, gesellten sich am Abend Douglas Fairbanks und Charlie Chaplin zu uns.

»Da sind ja meine hochwohlgeborenen Freunde«, begrüßte Fairbanks uns entzückt. »Als dieser Bursche erfuhr, dass Sie hier sind, ließ er es sich nicht nehmen, mich zu begleiten.« Er wies auf Chaplin, der mit einem breiten Lächeln eine Verbeugung andeutete.

Die beiden schnappten sich zwei Liegestühle und setzten sich zu uns, wobei sich Chaplin direkt zwischen Sadia und mich platzierte und erstere mit einem theatralischen Augenklimpern anschmachtete. »Meine orientalische Blume!«, flötete er. »Seit unserer letzten Begegnung finde ich keinen Schlaf mehr. Eure Schönheit peinigt mich in meinen Träumen!«

»Obgleich Sie nicht schlafen können, gelingt es Ihnen dennoch, zu träumen?«, erwiderte Sadia prompt vergnügt. »Das ist interessant.«

»Und wenn er nicht schleunigst beginnt, von anderen Themen zu träumen, werden ihn noch ganz andere Dinge peinigen ...«, fügte Francisco unverzüglich, aber grinsend hinzu.

Wir alle lachten laut auf, nur Valentino, der den ganzen Nachmittag über eher schweigsam in seinem Liegestuhl gelegen hatte, beugte sich zu Sadia hinüber. »Sie stammen aus dem Orient?«, fragte er interessiert. »Woher denn genau?«

»Aus Deir ez-Zor. Das liegt am Rande der Syrischen Wüste.«

Valentino ließ seinen melancholischen Blick in die Ferne schweifen. »Die Wüste! Erbarmungslos und wundervoll zugleich.«

»Waren Sie schon einmal dort?«, fragte Sadia.

»Leider nicht.«

»Das ist schade«, meldete sich nun Fergus grinsend zu Wort. »Ich kann Ihnen versprechen, dass so ein ordentlicher Sandsturm Sie mal wieder so richtig auf Vordermann bringen kann.«

»Haben Sie tatsächlich schon einmal einen Sandsturm erlebt?«, fragte Fairbanks neugierig. Daraufhin erzählte Fergus ihm von unserer Wüstenexpedition, verschwieg allerdings, dass wir dabei auf der Suche nach unseren vampirischen Ursprüngen gewesen waren, sondern nannte als Ziel die Besichtigung der alten babylonischen Kultstätten.

Während Fairbanks und Chaplin – sofort Feuer und Flamme für unsere Abenteuer – Giles und Fergus in ein Gespräch über unsere Reisen verwickelten, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Valentino zu, der mit glühendem Blick Sadia bei ihrer Unterhaltung mit Pickford, Maddy und Miguel beobachtete.

Mit leichtem Unbehagen registrierte ich, dass Francisco ebenfalls jenen Blick bemerkt hatte. Zwar umgarnte auch Chaplin Sadia ständig, doch tat er dies auf so öffentliche und übertriebene Weise, dass jedermann begriff, dass es wohl eher scherzhaft gemeint war. Valentino hingegen ...

Ich hielt es für ratsam, die Situation ein wenig aufzulockern, darum wandte ich mich an Mary Pickford. »Wollten Sie uns nicht die Villa zeigen? Ich habe schon so viel von Ihrem beeindruckenden Einrichtungsstil gehört und bin darauf ganz gespannt.«

»Aber natürlich gerne!«, erwiderte Mary sofort erfreut und forderte uns alle auf, ihr ins Haus zu folgen. »Rudy kennt Pickfair ja bereits zur Genüge, darum könntest du ihm hier am Pool ein wenig Gesellschaft leisten, Doug«, bat sie Fairbanks. Die beiden fügten sich ihrem Vorschlag, Chaplin hingegen schloss sich uns fröhlich an.

 

Kurz darauf führte uns Mary – ganz die stolze Gastgeberin – durch die Villa. »Früher stand hier auf dem Grundstück lediglich eine kleine Jagdhütte«, begann sie die Führung. »Wir haben das Gebäude dann großräumig aus- und umgebaut. Fast alle Räume haben Parkettboden und holzverkleidete Wände, hier in der Halle haben wir die Decke zudem mit Fresken verzieren lassen.«

In einem Nebentrakt des Hauses zeigte Mary uns einen Raum, der komplett wie ein alter Wildwest-Saloon gestaltet war, mit einer Mahagony-Bar mit vergoldeten Armaturen an der einen Wand, diversen Tischen und Stühlen sowie verschiedenen Bildern des Wildwest-Malers Frederic Remington an den übrigen Wänden. »Hier feiern wir oft Partys mit unseren Freunden«, erklärte Mary lächelnd.

»Und was für welche!«, fügte Chaplin übermütig hinzu.

In einer Vitrine entdeckten wir mehrere flache Blechpfannen mit Rillen am Rand sowie verschieden geformte Rinnen.

»Eine Ausrüstung zum Goldwaschen«, stellte Fergus fachkundig fest.

»Kennen Sie sich damit aus?«, fragte Chaplin neugierig.

»Ein bisschen«, antwortete Fergus prompt. »Damals beim kalifornischen Goldrausch ...«, er fing einen warnenden Blick von mir auf und fuhr hastig fort, »... war mein Großonkel dabei. Und er berichtete mir, wie sie mit solchen Geräten die Goldnuggets ausgesiebt haben.«

Chaplin sah ihn nachdenklich an. »Ich dachte, Ihre Familie gehört zum irischen Landadel?«

»Das stimmt auch. Aber mein Großonkel war das schwarze Schaf der Familie. Ihn zog es in die Neue Welt, auf der Suche nach Glück und Gold. Und später kehrte er zurück in den Schoss der Familie und berichtete von seinen Abenteuern.«

»Diese Ausrüstung ist übrigens echt antik«, verkündete Mary. »Sie stammt aus der Zeit des Klondike-Goldrausches und Charlie wollte sie mir schon abluchsen, weil er gerade einen Film zu dem Thema dreht.«

»Und genau deshalb müssen Sie mir unbedingt von den Abenteuern Ihres Großonkels berichten«, ergänzte Chaplin launig an Fergus gewandt. »Ich könnte noch ein wenig Inspiration gebrauchen.«

Der Salon, den Mary uns anschließend zeigte, war mit verschiedenen antiken Möbeln eingerichtet, darunter eine bauchige Kommode mit filigranem chinesischen Dekor.

Pickford wies mit einer einladenden Geste in den Raum. »Unser Rokoko-Zimmer. Leider nur im Rokoko-Stil, die Möbel sind Anfang des Jahrhunderts hergestellt worden.«

Fergus strich über die Oberfläche der Kommode. »Ja, die Verarbeitung lässt auf eine maschinelle Fertigung schließen. Nichtsdestoweniger ein sehr schönes Stück im Louis-quinze Stil.«

»Louis XV.?«, fragte Chaplin. »War das nicht der französische König, der sein Volk so gebeutelt hat, dass es zu revoltieren begann?«

»Die Französische Revolution brach allerdings erst unter seinem Nachfolger Louis XVI. aus«, widersprach ich. »Und Louis XV. hätte gerne mehr Reformen durchgesetzt, musste jedoch stets gegen den Widerstand seiner Parlamente und der Adelsopposition kämpfen.«

Chaplin zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das klingt ja fast, als wären Sie seinerzeit dabei gewesen.«

»Geschichte ist eines von Gemmas Steckenpferden«, erklärte Maddy daraufhin schmunzelnd. »Und die Beschäftigung mit Architektur und verschiedenen Kunstepochen wiederum eines von Fergus’ Interessensgebieten, weshalb er sich auch ein wenig mit Möbeln auskennt. Unglückseligerweise haben wir alle viele Interessensgebiete.«

Chaplin nickte sinnierend. »So etwas reicht gleich für mehrere Leben. Aber umso dringender muss ich darauf bestehen, dass Sie mich einmal bei den Dreharbeiten besuchen kommen. Offensichtlich könnten Sie mich in vielerlei Hinsicht beraten.«

 

Als wir am nächsten Morgen ins Frühstückszimmer kamen, fanden wir wieder ein reichhaltiges Angebot an für Menschen sicherlich delikaten Speisen vor.

Douglas Fairbanks saß schon am Tisch und begrüßte uns wie üblich freudestrahlend. »Mary hat sich mal wieder selbst übertroffen.« Dann stutzte er kurz mit einem Blick auf Valentino, der direkt hinter uns erschien. »Mein lieber Rudy, so früh bekommen wir dich doch sonst nie hier zu Gesicht.«

Valentino sah ihn ernst an. »Schließlich möchte ich nicht unhöflich gegenüber euren Gästen erscheinen.« Mit einer galanten Bewegung rückte er für Sadia einen Stuhl zurecht und fragte sie, ob er ihr etwas vom Frühstücksbuffet bringen dürfe.

Sadia zögerte, was Valentino falsch deutete. »Vermutlich sind Sie normalerweise exotischere Speisen gewohnt?«, erkundigte er sich.

»Alter Knabe, Sie haben ja gar keine Ahnung!«, antwortete ihm daraufhin Francisco mit grimmigem Grinsen und nahm demonstrativ neben Sadia Platz.

Valentino betrachtete ihn irritiert, woraufhin Mary Pickford nach seinem Arm griff und ihn zum Buffet führte. »Nun sei ein braver Junge Rudy. Hol dir etwas zu essen und leiste unseren Gästen Gesellschaft!«

Fergus und Giles feixten breit und schadenfroh, was mich dazu veranlasste, sie mit einem sanften Knuff zur Räson zu rufen.

Hernach erhob sich Fairbanks und erklärte entschuldigend, dass er sich nun auf den Weg ins Filmstudio machen müsse. »Aber Mary wird sie ja nachher zu uns bringen. Ich freue mich schon darauf, Ihnen alles zu zeigen. Am Wochenende werde ich zudem etwas mehr Zeit für Sie haben. Vielleicht können wir dann ja mal gemeinsam auf die Jagd gehen?«

»Eine hervorragende Idee!«, rief Fergus derart vergnügt, dass ich mich gezwungen sah, ihm unter dem Tisch einen kleinen Tritt zu verpassen.

 

Nach dem Frühstück fuhren wir zu den Pickford-Fairbanks Studios. Valentino begleitete uns, was bei Mary Verwunderung und bei Francisco leichte Gereiztheit hervorrief.

Nachdem wir mit den Limousinen ein breites Tor durchquert hatten, hielten wir auf einem großen Parkplatz vor einem Bürogebäude an. Ein wenig enttäuscht blickte ich mich um. Irgendwie hatte ich mir ein Hollywoodstudio abenteuerlicher und voller bunter Kulissen vorgestellt.

In dem Moment kam Fairbanks strahlend auf uns zu. Auf dem Kopf trug er einen flachen schwarzen Filzhut im Stil spanischer Flamencotänzer, dazu einen schwarzen engen Anzug, an den Beinen lange schwarze Lederstiefel und im Gesicht einen aufgeklebten dünnen Schnurrbart. Er wies uns an, in mehrere kleine Automobile mit offenem Verdeck umzusteigen, die zahlreich auf dem Parkplatz bereitstanden, offenbar das übliche Transportmittel auf dem Studiogelände.

Während Mary zurückblieb, da sie noch Büroarbeit zu erledigen hatte, wurden wir von Douglas und seinen Mitarbeitern in einer großen Kurve um das Bürogebäude herum kutschiert und fanden uns nur wenige Minuten später inmitten eines mittelalterlichen Burghofes wieder.

»Hier haben wir ›Robin Hood‹ gedreht«, berichtete Fairbanks stolz und klopfte an eine Wand der Burgmauer, was einen verdächtig hölzernen Ton verursachte. »Selbstverständlich bestehen die Kulissen nur aus Holz und Pappe.«

Dennoch war ich beeindruckt. Dies entsprach schon eher meiner Vorstellung von einem Hollywoodstudio.

Hinter dem Burghof befand sich wiederum eine Freifläche mit einem großen künstlichen See, der für die Dreharbeiten von Szenen auf dem Meer angelegt worden war, wie Douglas uns darlegte. Von dort aus blickten wir auf eine hohe und etliche Yards breite Konstruktion aus Holzgerüsten mit mehreren Türmen und Kuppeln. »Das ist die Rückseite von Bagdad«, erklärte Fairbanks lachend, und als wir die Konstruktion mit unseren Wagen umrundet hatten, begriff ich, was er meinte.

Denn von der anderen Seite aus präsentierte sich uns eine bunte, exotische Kulisse orientalischer Architektur, die wir sofort als den Schauplatz von »Der Dieb von Bagdad« erkannten. Der Film war gerade mit großem Erfolg in den Kinos angelaufen und begeisterte das Publikum nicht zuletzt durch seine diversen Effekte, zu denen unter anderem ein magisches Seil und ein fliegender Teppich zählten.

»Gefällt es Ihnen?«, fragte Valentino an Sadia gewandt. »Ich kann Sie mir sehr gut auf dem Balkon dort oben vorstellen. Das Gesicht mit einem zarten Seidentuch verhüllt, der Blick sehnsüchtig auf den Horizont gerichtet, auf der Suche nach dem Geliebten, der zur Verteidigung von Ihnen, seiner angebeteten Prinzessin, in den Kampf ziehen musste.«

»Offen gestanden war mein Leben in Syrien von dem einer Prinzessin weit entfernt«, erwiderte Sadia lächelnd. »Und die Sehnsucht nach einem Geliebten ist den Frauen in meinem Land auch eher untersagt. Dort ist es üblich, dass die Familie den Ehemann aussucht und oft ist es jemand, der dem Vater in geschäftlicher Weise nutzt.«

Valentino sah sie entsetzt an. »Aber so etwas ist barbarisch! Niemand sollte ein empfindsames Herz derart quälen dürfen. Auch die eigene Familie nicht. Eine so wunderschöne Frau sollte sich ihren Geliebten selbst aussuchen dürfen.«

Francisco beugte sich mit einem wölfischen Lächeln zu ihm hinüber. »Und genau das hat sie auch getan, mein Freund!« Dann griff er nach Sadias Hand und schlenderte mit ihr ein Stück weiter das Gelände hinab.

Valentino indes blickte ihnen nachdenklich hinterher und es verblüffte mich einigermaßen, dass er nicht im Mindesten eingeschüchtert wirkte. Dass Francisco wiederum bislang sein Temperament so gut im Griff hatte, beeindruckte mich allerdings ebenso.

Als Nächstes zeigte uns Douglas Fairbanks einen Kulissenbereich, der im Stil einer spanischen Hacienda gestaltet war und – wie er uns erklärte – für seine aktuelle Produktion errichtet worden war. »Der Mann mit der Peitsche« hieß der Film und Douglas spielte darin den Landedelmann Don Cesar de Vega, der aufgrund einer Intrige seines Erzrivalen unschuldig zum Tode verurteilt wird, sich aber retten kann und später als maskierter Rächer zurückkehrt und schließlich nicht nur seinen Ruf rehabilitiert, sondern auch das Herz seiner Angebeteten erobert.

Nun verstanden wir letztendlich auch den Grund für Fairbanks’ Kostümierung und wir durften eine Zeitlang bei den Dreharbeiten zuschauen. Fairbanks präsentierte uns eine rasante Fechtszene, in der er allerlei akrobatische Kunststückchen vollführte, auf Treppengeländer und von Balustraden sprang und schließlich seinen Gegner mit einem spektakulären Streich besiegte. Anschließend fragte er unsere Männer nach ihrer Meinung zu seiner Kampftechnik und es entspann sich ein ausführliches Fachgespräch, das Maddy, Sadia und mich veranlasste, die Männer ihren Diskussionen zu überlassen und zu den Verwaltungsgebäuden zurückzukehren.

Auf unsere Frage hin führte uns ein Studiomitarbeiter zu Mary Pickfords Büro. Mary war gerade in ein Telefongespräch verwickelt und winkte uns fröhlich lächelnd zu sich.

Kurz darauf hatte sie das Telefonat beendet und seufzte tief. »Das war mein Agent. Wir haben die Planung der nächsten Projekte besprochen. Leider will mich das Publikum immer nur in der Rolle des kleinen Mädchens sehen, weshalb wir wohl demnächst mit den Dreharbeiten zu ›Little Annie Rooney‹ beginnen, in dem ich eine 12-Jährige spielen werde.«

Wir sahen Mary erstaunt an. Nun gut, sie wirkte mit ihrer Statur von fünf Fuß recht zierlich, aber sie war bereits Anfang dreißig und eine gestandene Geschäftsfrau. Dann betrachtete ich sie etwas genauer und mir dämmerte, dass das Publikum Mary Pickford vermutlich kaum auf dieselbe Weise wahrnahm wie wir. Ihr Gesicht sah noch sehr jugendlich aus und ihre Figur war entsprechend zart. Zudem präsentierte die Presse sie auch stets als den mädchenhaften Typ. Doch ich konnte gut verstehen, dass ihr dieses Rollenklischee mit der Zeit zu einseitig wurde.

»Kürzlich habe ich die Dorothy Vernon in dem gleichnamigen Historiendrama gespielt«, fuhr Mary fort. »Das war einmal eine Rolle nach meinem Geschmack. Doch die Einnahmen spielten gerade nur so die Kosten wieder ein. Die Filme hingegen, in denen ich freche, kleine Rotzgören verkörpere, werden stets Kassenhits.«

»Nun, diese Rotzgören sind zwar Mädchenrollen und keine Frauenrollen, aber immerhin sind es selbstbewusste Figuren, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und nicht unterwürfig sind«, versuchte Maddy zu trösten.

»Das stimmt«, räumte Mary lächelnd ein. »Etwas anderes käme für mich auch gar nicht in Frage. Trotzdem würde ich gerne häufiger starke Frauen verkörpern – und nicht immer nur starke Mädchen.«

»Vielleicht könnten Sie versuchen, sich altersmäßig von Film zu Film langsam zu steigern?«, überlegte ich. »Gerade historische Rollen könnten sich hierfür gut eignen, da in den vergangenen Jahrhunderten Frauen teilweise schon ziemlich früh erwachsen werden mussten.«

Pickford blickte mich sinnierend an. »Die Idee hat was für sich. Charlie hat recht, ich denke, Sie könnten uns tatsächlich gut bei unseren Filmprojekten beraten.«

Ich ließ mir den Gedanken durch den Kopf gehen. Eine Weile lang in Hollywood zu leben und zu arbeiten, erschien mir zu meinem eigenen Erstaunen sogar recht reizvoll. Etliche der Filmschaffenden hier stammten aus Europa und brachten ein hohes kreatives Potential in diese aufstrebende Industrie ein. Allerdings war ich nicht sicher, ob meine Freunde dies ebenso sehen würden. Giles beispielsweise würde die Abenteuerlust über kurz oder lang vermutlich wieder an ferne Orte ziehen.

 

Am nächsten Morgen besuchten wir Charlie Chaplin bei den Dreharbeiten zu »Goldrausch«, den Film über den Klondike-Goldrausch, von dem er und Mary uns bereits berichtet hatten. Chaplin führte uns begeistert durch sein Studiogelände, das fast einem englischen Dörfchen ähnelte, da es unter anderem verschiedene Cottages, eine Villa im Tudorstil sowie reichlich grüne Landschaft aufwies.

Wie er uns erklärte, hatte er für »Goldrausch« in den Bergen der Sierra Nevada unter enormem Aufwand ein altes Goldgräberdorf errichten lassen. Doch der Großteil der dort gedrehten Szenen des Films war ihm letztendlich ungeeignet erschienen, sodass er sie nun hier in seinem Studio erneut nachdrehen ließ.

In einer großen Halle zeigte Chaplin uns eine Berglandschaft aus Holz und Pappe, auf der künstlicher Schnee aus kleinen Papierschnipseln aufgebracht war. Er erklärte uns, dass sie das Gebirge hier nachgebaut hatten, damit ein paar der halsbrecherischen Szenen des Films für ihn nicht wirklich zum Halsbruch führen konnten.

Dann verschwand er in einer Garderobe und kam kurz darauf in seiner bekannten Tramp-Montur wieder heraus, nur dass er zusätzlich zu Melone, Frack und ausgebeulten Hosen diesmal noch eine Goldgräberausrüstung auf dem Rücken trug. Über ein Gerüst bestieg er dann die künstliche Berglandschaft und trippelte in seinem typischen Gang über einen schmalen, kunstschneebedeckten Pfad entlang der Felswand. Einer der Kameramänner ließ uns einen Blick durch die Kamera werfen und dabei sahen wir, dass diese so ausgerichtet war, als würde Chaplin tatsächlich an einem schwindelerregenden Abgrund entlang und nicht in einer Pappkulisse schlendern. Folglich wirkte es auch prompt gefährlich, als der Tramp an einer Kurve des Pfades ins Straucheln geriet und sein äußeres Bein minutenlang über dem vermeintlichen Abgrund zitterte.

Ich fing einen Blick von Fergus auf, der mich breit angrinste und offenbar großes Vergnügen daran hatte, solch eine Filmproduktion mitzuerleben. Wie ich mir eingestehen musste, fand ich ebenfalls Gefallen daran.

»Später wird dann noch ein Schwarzbär aus seiner Höhle kommen und ein Stückchen auf dem Pfad hinter mir her laufen, ohne dass ich es merke«, berichtete Chaplin fröhlich, nachdem er wieder zu uns gestoßen war. »Aber bei der Szene können wir keine Zuschauer zulassen, weil wir sie mit einem echten Bären drehen wollen und dies für Publikum zu gefährlich wäre.«

»Mit einem echten Bären?« Fergus beugte sich interessiert vor.

»Ja, wir haben es mit einem Menschen im Kostüm versucht, aber das sah schlicht zu unecht aus«, begründete Chaplin seine Entscheidung.

»Allerdings werdet ihr dennoch gleich eine Kostümszene zu sehen bekommen«, verkündete er sodann und führte uns in eine benachbarte Halle, in der das Innere einer einfachen Holzhütte aufgebaut war. »Eines der großen Themen des Klondike-Goldrauschs war sicherlich der Hunger, den die Goldsucher in Schnee und Eis zu leiden hatten, darum wird es auch im Film mehrere Szenen geben, die dies thematisieren. Dies ist Mack Swain.« Er stellte uns einen bärtigen und stämmigen Darsteller vor, der uns allen freundlich die Hand schüttelte. »Später werden Mack und ich zum Beispiel gemeinsam einen Schuh von mir verspeisen – der in Wirklichkeit natürlich aus Lakritz gefertigt ist. In dieser Szene hier jedoch wird Mack derart vom Hunger geplagt, dass er Halluzinationen bekommt und mich für ein großes Huhn hält. Und selbstverständlich versucht er, mich zu fangen und zu essen.«

Mit diesen Worten nahm Chaplin auf einem Regiestuhl Platz und bedeutete uns, uns neben ihn zu setzen. Dann griff er nach einem Megaphon aus Blech und gab den Befehl zum Start der Szene. Mack Swain setzte sich an den Tisch in der Hütte und aus der Garderobe kam ein als großes Huhn verkleideter Mann und begann, auf der anderen Seite des Tisches auf und ab zu laufen.

»Stopp! Nein, so doch nicht!«, rief Chaplin und stellte ärgerlich das Megaphon beiseite. Dann rannte er in die Kulisse und machte dem Kostümierten vor, wie er das Huhn zu spielen hatte, indem er mit den Armen flatterte und den Kopf ruckartig bewegte.

»Genau so bewegt sich ein Huhn«, kommentierte Fergus Chaplins Bewegungen beifällig. »Der Bursche im Kostüm hat doch keine Ahnung.«

Unterdessen kam Chaplin zurück und nahm seinen Platz wieder ein. Mack und das Huhn setzten ihr Spiel fort.

»Stooooppp!«, brüllte Chaplin jedoch gleich darauf erneut. »Ich sagte ruckartig! Ruckartig! Nicht steif!« Er rannte abermals in die Hüttenkulisse, um zu demonstrieren, wie sich das Huhn zu bewegen hatte.

Nachdem sich dieses Spielchen noch zweimal wiederholt hatte, gab der Huhn-Darsteller entnervt auf und Chaplin übernahm selbst dessen Rolle. Und nun bekamen wir eine perfekte Hühner-Darbietung zu sehen. Ebenso wie Mack Swain starrten wir fasziniert auf dessen fleischgewordene Halluzination in Form von Chaplin im gefiederten Kostüm. Das Huhn stolzierte ruckartig vor ihm auf und ab, zuckte mit dem Kopf und scharrte mit den Füßen. Und als der vom Hunger geplagte Mack es mit dem Gewehr zu jagen begann, rannte es hektisch davon und schlug dabei panisch mit den Flügeln auf und ab.

»Ein Gerfalke ist natürlich wesentlich eleganter«, stellte Fergus daraufhin vergnügt fest. »Aber der kleine Gaukler macht das nicht schlecht.«

 

Beim gemeinsamen Abendessen in der Villa Pickfair war Chaplin ebenfalls zugegen und fragte Fergus nach den Berichten seines Großonkels über den kalifornischen Goldrausch aus.

»Bei der Goldsuche war Onkelchen eigentlich gar nicht so erfolgreich«, berichtete Fergus. »Dafür aber umso mehr in San Francisco, wo er ein paar Saloons aufgebaut und vielen glücksspielsüchtigen Goldsuchern das Geld aus der Tasche gezogen hat.« Meinen Freunden und mir war natürlich klar, dass es sich bei Fergus’ angeblichem Onkel vielmehr um seinen Freund Niall handelte und dass die beiden gemeinsam so manches Abenteuer erlebt hatten.

Chaplin indes fand Fergus’ Aussage offenbar hochinteressant. »Was hielten Sie davon, für mich als Berater zu arbeiten?«, fragte er prompt. »Die Geschichten Ihres Onkels und Ihre eigenen umfangreichen Kenntnisse könnten für meine weiteren Projekte ebenso hilfreich wie inspirierend sein.«

»Das gleiche Angebot habe ich gestern auch Gemma schon gemacht«, rief Mary sogleich aus, noch bevor Fergus etwas darauf antworten konnte. »Meine Freunde, ganz ernsthaft gefragt: Könnten Sie sich nicht eventuell vorstellen, eine Weile hier in Hollywood zu bleiben?« Chaplin, Fairbanks und Valentino ließen daraufhin sofort zustimmende Laute hören.

Ich wechselte einen Blick mit meinen Freunden. Giles, Maddy, Miguel und Sadia sahen eher verblüfft aus, Francisco hingegen blickte skeptisch drein und Fergus grinste mich wie üblich breit an.

»Das ist ein verlockendes Angebot«, erwiderte ich sodann. »Aber Sie werden verstehen, dass wir das erst untereinander besprechen müssen.«

Genau dies taten Giles und ich dann später nachts auf unserem Zimmer. »Würdest du gerne in Hollywood bleiben? Und für die Filmleute arbeiten?«, fragte er mich.

»Du vermutlich eher nicht?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage.

Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich fürchte, dass dies auf Dauer nichts für mich wäre.«

»Nun, es bräuchte ja nicht von ewiger Dauer zu sein«, wandte ich ein.

»Aber ganz so kurz nun auch wieder nicht. Wenn sie dich und Fergus gerne als Berater hätten, wäre eure Tätigkeit sicherlich nicht schon nach wenigen Wochen beendet. Mit euren Kenntnissen könntet ihr immerhin für sehr viele Projekte nützlich sein. Und ihr müsstet zudem stets aufpassen, dass euer geschichtliches Wissen nicht euer wahres Alter verrät.«

Ich musste einräumen, dass Giles wahrscheinlich mit beidem recht hatte, und setzte gerade zu einer Antwort an, als von draußen plötzlich Trompeten und Gitarrenklänge ins Zimmer drangen. Giles und ich wechselten einen verblüfften Blick und gingen ans Fenster.

Im Garten stand Rudolph Valentino in weißem Piratenhemd und Schärpe inmitten einer Mariachi-Band vor dem Fenster von Sadias und Franciscos Zimmer und begann in dem Moment, die romantische Ballade »Cielito Lindo« zu schmettern.

»Grundgütiger! Das bringt Franciscos Fass sicherlich zum überlaufen ...«, murmelte ich, während Giles laut loslachte.

»Dieser Schwerenöter ignoriert aber auch konsequent, dass Sadia bereits vergeben ist«, kommentierte er amüsiert den Gesang. Dann lief er zu der Wand hinüber, die sich zwischen unserem und dem Zimmer von Francisco und Sadia befand, und drückte sein Ohr lauschend dagegen.

»Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich eben ein lautes Knurren vernommen«, berichtete er erheitert.

Ich öffnete das Fenster und reckte mich weit hinaus, um zu schauen, ob Sadia oder Francisco irgendeine Reaktion auf das Ständchen zeigten, aber ihr Zimmer blieb dunkel und das Fenster geschlossen.

»Diesen romantischen Clown zu ignorieren, ist vermutlich das einzig Richtige«, meinte Giles, der inzwischen zu mir ans Fenster zurückgekehrt war.

Nachdem Valentino sein Lied beendet hatte, blickte er noch eine Zeitlang sehnsüchtig zum Zimmer von Sadia und Francisco hoch, dann trat er schließlich mit seinen Mariachis den Rückzug an.

Giles und ich nahmen unterdessen unser Gespräch wieder auf. »Wenn du nicht mehr so lange in Kalifornien bleiben möchtest, hast du denn irgendwelche anderen Pläne?«, fragte ich.

Giles zögerte einen Moment. »Zervan hat mir vor kurzem geschrieben, dass er nun in Indien lebt. Er arbeitet dort am Hof des Maharadschas von Jaipur. Ich könnte ihn dort besuchen und mal schauen, wie es in den Kolonien so läuft.«

Giles hatte offensichtlich mal wieder die Abenteuerlust gepackt. Dies würde für uns voraussichtlich eine erneute Trennungsphase bedeuten, aber ich konnte ihn gut verstehen. »Irgendwie scheint Zervan stets gute Beziehungen zu allen möglichen orientalischen Herrscherhäusern zu pflegen«, stellte ich bewundernd fest.

Giles nickte. »Ja. Und da Man Singh II., der Maharadscha von Jaipur, erst zwölf Jahre alt ist, kann er Zervans Unterstützung gut gebrauchen.«

»Erst zwölf?«, wiederholte ich überrascht. Dann kam mir in den Sinn, dass es auch in Europa schon sehr junge Herrscher gegeben hatte. »Nun ja, Henry II. war erst neun, als er den englischen Thron bestieg, und Edward Tudor ebenso.«

Giles sah mich nachdenklich an. »Du würdest dich tatsächlich gut als Beraterin beim Film eignen. Vor allem bei historischen Themen.«

»Also bedeutet das für uns beide, wieder einmal Abschied zu nehmen?«

Er zog mich an sich. »Ja, das bedeutet es wohl. Aber diesen Abschied sollten wir ausgiebig zelebrieren.« Er küsste mich leidenschaftlich und brachte mich damit vorerst auf andere Gedanken.

 

Am nächsten Tag unternahmen meine Freunde und ich einen Jagdausflug in die Santa Monica Mountains. Unseren Gastgebern hatten wir erzählt, dass wir uns mal ein wenig in der Region umschauen wollten, im Hinblick darauf, dass ein paar von uns hier vielleicht für die nächsten Monate nach einer Bleibe Ausschau hielten. Die Berglandschaft bot eine reichhaltige Fauna, und nachdem wir uns an einem Puma, einem Luchs und an zwei Kojoten gestärkt hatten, setzten wir uns auf einer Waldlichtung zusammen, um unsere weiteren Pläne zu besprechen.

»Offen gestanden vermisse ich meine Arbeit«, begann Maddy das Gespräch. »Ich habe überlegt, meine medizinischen Kenntnisse noch mal durch ein Aufbaustudium aufzufrischen und mich eventuell mit einer kleinen Praxis selbständig zu machen. Und Miguel würde mich gerne begleiten. Ihn zieht es auch wieder zurück nach London.«

»Und wir würden gerne nach Madrid zurückkehren«, sagte Sadia. »Am Anfang war es ja noch ganz amüsant, wie dieser Valentino mich umgarnte, aber so langsam strapaziert er damit doch meine Nerven – von Franciscos Nerven ganz zu schweigen.« Sie warf Francisco einen verständnisvollen Blick zu und griff nach seiner Hand, während dieser mit den Augen rollte.

»Ich kann ja verstehen, dass der Knabe für Sadia schwärmt, aber wenn er weiterhin so aufdringlich bleibt, muss ich ihm vielleicht doch noch die Kehle umdrehen«, gab er mit einem heiteren Zwinkern zu bedenken. »Oder schlimmer noch: Meine kleine Skorpionin ist irgendwann so genervt, dass sie ihn eines Tages sticht.«

Sadia lachte und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Ich staunte einmal mehr, wie sehr die beiden sich durch ihre gegenseitige Liebe verändert hatten. Sadia war viel selbstbewusster als früher und Francisco hatte sein Temperament wesentlich besser im Griff.

»Also mir gefällt es hier!«, verkündete Fergus vergnügt. »Diese Filmleute scheinen alle irgendwie ein bisschen plemplem zu sein. Ich mag das.«

»Demnach wirst du Chaplins Angebot annehmen und für sie arbeiten?«, hakte ich nach.

Fergus nickte fröhlich.

»Das werde ich auch«, erklärte ich. »Aber Giles wird Zervan in Jaipur besuchen, somit bleiben nur du und ich hier.« Ich blickte die anderen an. »Ich weiß jetzt schon, dass ich euch alle wieder schrecklich vermissen werde.«

»Wenn uns die Trennung zu lang wird, kommen wir uns einfach zwischenzeitlich besuchen«, tröstete Maddy mich. »Das Reisen geht schließlich viel schneller als früher. Mit dem Dampfer sind wir innerhalb von acht Tagen in New York und drei Tage später dann bei euch in Hollywood.«

»Zudem schreitet ja auch die Flugzeugentwicklung immer weiter voran«, ergänzte Fergus begeistert. »Es hat ja bereits erste Passagierflüge gegeben. Vielleicht kann Giles schon bald einfach zu dir fliegen.«

Ich blickte Giles ein wenig wehmütig an, während dieser meinen Blick erwiderte und mir zart eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. »Schön wäre es.«

 

Ausgrabung eines alten Geheimnisses

 

Nachdem unsere Freunde abgereist waren, machten Fergus und ich uns in den nächsten Tagen auf die Suche nach einem Haus, in dem wir die folgende Zeit wohnen konnten. Mary und Douglas hatten uns zwar angeboten, weiterhin ihre Gäste in Pickfair zu bleiben, doch wir wollten ihre Gastfreundschaft nicht so lange strapazieren. Zudem war es für uns einfacher, unbemerkt unsere Jagdausflüge zu unternehmen, wenn wir für unser Kommen und Gehen niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen mussten.

Wir hatten Glück und fanden bald ein terrakottafarbenes Anwesen im spanischen Stil in den Hollywood Hills. Es hatte zuvor einem Filmstar gehört, der – wie es hieß – an einer Alkoholvergiftung gestorben war, und wurde komplett möbliert verkauft. Da wir finanziell unabhängig waren und nun obendrein unsere Beraterverträge mit den United Artists in der Tasche hatten, bereitete uns der Erwerb der Villa keine Probleme. Die Lage in direkter Nähe zu den Santa Monica Mountains war für uns sehr vorteilhaft und die Ausstattung mit Pool, einer auf vier Ebenen gestaffelten Terrasse, einem üppigen Garten, einem großen Kaminzimmer mit Chintzsesseln und eleganten Jugendstilmöbeln sowie mehreren Schlaf- und Gästezimmern ließ nahezu keine Wünsche offen.

Die Arbeit in Hollywood machte Fergus und mir Spaß. Der Film »Goldrausch« kam nur wenige Monate später in die Kinos und letztendlich hatte Chaplin kaum etwas von den Erlebnissen von Fergus’ vermeintlichem Großonkel für die Handlung verwendet. Aber nichtsdestotrotz wurden unsere fundierten historischen Kenntnisse allgemein geschätzt und gerade im Hinblick auf Kostüm, Bühnenbild und Requisiten konnten wir oft beratend eingreifen und so beispielsweise verhindern, dass bei einer Filmproduktion Objekte gezeigt wurden, die in der betreffenden Epoche noch gar nicht erfunden waren.

Fergus’ Aussage, dass alle Filmleute ein bisschen »plemplem« wären, war natürlich grob übertrieben, aber nicht wenige der Künstler – vor allem oft Schauspieler – pflegten tatsächlich einen recht exzentrischen Lebensstil. Hin und wieder waren wir auch zu einer jener berühmt-berüchtigten Hollywoodpartys eingeladen, bei denen der Alkohol in Strömen floss und die zu fortgeschrittener Stunde oft mehr einer Orgie denn einer Feier glichen.

Auch Rudolph Valentino war ein gern gesehener Gast auf vieler dieser Partys. Von Sadias Abreise hatte er sich erstaunlich schnell erholt, auch wenn er sich etwa eine Woche lang als völlig untröstlich gebärdet hatte. Das ausschweifende Nachtleben, strapaziöse Dreharbeiten und die schwierige Scheidung von Natacha Rambova schienen ihm im nächsten Jahr dann jedoch derart zugesetzt zu haben, dass er plötzlich mit mehreren Magengeschwüren und einem Blinddarmdurchbruch zusammenbrach und schon bald darauf im Krankenhaus verstarb. Sein früher Tod schockte uns ebenso wie viele seiner Kollegen und bei seinen Fans löste er sogar eine regelrechte Massenhysterie aus. Zu seinem Begräbnis in New York kamen über 100.000 Menschen, es gab Drängeleien an seinem Sarg und die Polizei musste schließlich einschreiten, nachdem mehrere Menschen verletzt worden waren.

Mary Pickford, Douglas Fairbanks und Charlie Chaplin betrauerten natürlich ebenfalls das frühe Ableben ihres Freundes und Kollegen. Doch da sie bei ihrer Arbeit weitaus besonnener als so manch andere Filmschaffende waren, ließen sie sich von der allgemeinen Hysterie ebenso wenig mitreißen wie von den diversen feuchtfröhlichen Partys.

Chaplin und Fairbanks brachten trotz aller munteren Ausgelassenheit kontinuierlich Filme heraus, die fast alle Publikumserfolge wurden. Und auch Mary wurde als Darstellerin gleichermaßen geachtet wie als Produzentin.

1927 wurde sie gemeinsam mit Chaplin und Fairbanks von Louis B. Mayer, dem Boss der MGM-Studios, zu einem Bankett eingeladen und wollte meine Meinung dazu wissen, weil sie nicht sonderlich motiviert war, dort hinzugehen.

»Warum denn nicht?«, fragte ich. »Was hast du zu verlieren, wenn du hingehst?« Mittlerweile waren wir gut befreundet und darum zum ›Du‹ übergegangen.

»Ach, ich weiß auch nicht«, erwiderte sie. »Ich habe einfach keine rechte Lust dazu. Das ist vermutlich nur wieder so ein großspuriges Altherren-Ereignis, bei der sich alle mächtigen Hollywoodbosse wichtigtun wollen. Als Frau war es für mich sowieso schon nicht sehr leicht, mich in dieser Branche durchzusetzen, darum halte ich nicht viel von diesen Veranstaltungen.«

»Aber du hast dich trotzdem durchsetzen können. Und dass sie dich zu dieser Veranstaltung einladen, zeigt, dass sie dich als Geschäftsfrau ernst nehmen«, wandte ich ein. »Ich würde auf jeden Fall hingehen.«

»Na schön, wenn du meinst«, gab Mary widerwillig nach.

In der darauffolgenden Nacht rief Mary mich gegen drei Uhr an und berichtete mir, dass sie soeben von jenem Bankett zurückgekehrt war und dass Mayer allen Gästen die Gründung einer Akademie unterbreitet hatte, die sich für die Förderung der Forschung und des kulturellen, pädagogischen und technologischen Fortschritts in der Filmbranche einsetzen wollte. Jene Akademie war dann tatsächlich noch während des Banketts gegründet worden und alle Bankettgäste, auch Mary, Chaplin und Fairbanks, waren somit ihre Gründungsmitglieder.

Die offiziellen Gründungsverträge für jene Organisation wurden dann drei Monate später unterschrieben, wobei die Akademie dann auch ihren endgültigen Namen erhielt: Academy of Motion Picture Arts and Sciences. Kümmerte die Academy sich anfangs noch vorwiegend um arbeitsrechtliche Themen in der us-amerikanischen Filmindustrie, so ging man mit der Zeit zunehmend dazu über, nach Möglichkeiten zu suchen, besondere Leistungen von Filmschaffenden zu würdigen und auszuzeichnen. Diese Bestrebungen gipfelten dann schließlich zwei Jahre später in der Verleihung der ersten Academy Awards in den Kategorien »Bester Film«, »Beste Regie«, »Beste(r) Hauptdarsteller(in)«, »Beste(r) Nebendarsteller(in)« und weiteren, die schon bald darauf unter ihrem Spitznamen »Oscars« in die Filmgeschichte eingehen sollten.

Mary selbst hatte bereits im April 1930 einen jener Oscars als beste Hauptdarstellerin für ihre Rolle in ihrem Film »Coquette« gewonnen, doch diesen Erfolg konnten Fergus und ich leider nicht mehr gemeinsam mit ihr feiern, weil wir zu jener Zeit schon nicht mehr in Hollywood weilten.

 

Anfang des Jahres hatten Fergus und ich nämlich Besuch von Giles und Zervan erhalten, die uns schilderten, dass Gula sie in Indien aufgesucht und ihnen – beziehungsweise uns allen – einen Auftrag erteilt hatte.

»Sie bittet uns, nach Mesopotamien zu reisen«, berichtete Zervan, nachdem er, Giles, Fergus und ich uns an einem großen Tisch auf unserer Terrasse versammelt hatten. »Anscheinend hält sich Nergal derzeit dort auf und wir sollen ihn überwachen.«

»Zieht es ihn zurück in die alte Heimat?«, fragte Fergus grinsend. »Was will der Bursche denn dort?«

»Gula zufolge kehrte Nergal über die Jahrhunderte hinweg immer wieder mal dorthin zurück«, antwortete Zervan. »Offenbar ist er bis heute davon getrieben, dass er nicht weiß, wer ihn damals töten ließ. Gula hatte uns ja seinerzeit bei unserer ersten Begegnung erzählt, dass Nergal derjenige war, der Xavier de Radisset einst auf die Spur jener alchimistischen Schriften gebracht hatte, die diesen letztendlich zu den Zutaten für die Erschaffung der Mort-Vivants führten. Und wir sollen darum nun beobachten, ob er eventuell auch noch Zugang zu anderen Schriften solcher Art hat.«

Besorgt runzelte ich die Stirn. Der Sybarit Xavier de Radisset war vor über zweihundert Jahren eine der Schlüsselfiguren in unserem Kampf gegen die gefährliche Vampirsekte der Sybarites gewesen, da er das Geheimnis der Erschaffung von Mort-Vivants entdeckt hatte. Jene untoten Wächter wurden erst nach ihrem Tod in Vampire verwandelt und waren ihrem Erschaffer sklavisch ergeben. Es gab im Prinzip nichts, das sie zerstören oder besiegen konnte. Das hatte sie zu einer sehr starken Waffe der Sybarites gemacht und es war uns erst vor knapp dreißig Jahren gelungen, die Übermacht der Sybarites zu schwächen, nachdem wir selbst hinter das Geheimnis der Mort-Vivant-Erschaffung gekommen waren. Da Nergal stets bestrebt war, die Menschen zu unterjochen, sah es ihm ähnlich, dass er damals einem Sybariten die Möglichkeit zur Schöpfung einer so mächtigen Waffe zugespielt hatte. Immerhin waren Xavier de Radisset und sein Vater, der Duc de Longueville, die einzigen Sybarites, die das Geheimnis kannten. Und Xavier war später von seinem Vater im Kampf getötet worden.

Der Gedanke, dass es womöglich noch andere babylonische Schriften geben könnte, die Nergal bei seinen Plänen dienlich sein könnten, bereitete mir einiges Unbehagen.

»Aber werden wir Nergal in Mesopotamien überhaupt finden können?«, fragte ich skeptisch. »Die Region ist riesig und bedeckt fast die Hälfte des heutigen Syrien sowie große Teile des heutigen Irak.«

»Eben«, fügte Fergus grinsend hinzu. »Zudem kann sich der Bursche doch nach Belieben teleportieren und könnte uns womöglich irgendwo überraschen, noch bevor wir auf ihn aufmerksam werden.«

»Diese Bedenken habe ich gegenüber Gula auch geäußert«, meldete sich nun Giles zu Wort. »Und sie meinte daraufhin, dass wir beruhigt in Richtung Babylon reisen könnten und vor Ort schon dafür gesorgt werden würde, dass wir Nergal frühzeitig aufspüren könnten.« Er zuckte mit den Schultern. »Fragt mich nicht, was sie damit gemeint hat. Ihr wisst ja selbst, dass sie ein bisschen rätselhaft sein kann.«

Das wussten wir in der Tat. Trotzdem vertrauten wir alle ihr bedingungslos und somit war ich ebenso wie Giles und Zervan sofort bereit, ihrer Bitte nachzukommen. Fergus indes war ein wenig hin- und hergerissen. Einerseits wollte er genauso gerne wie wir nach Babylon reisen – nicht zuletzt, weil ihn solch ein Abenteuer stets lockte. Andererseits hat er vor kurzem seinem Freund und Landsmann Niall versprochen, gemeinsam mit ihm in die irische Heimat zu fahren. Dort hatte noch bis vor wenigen Jahren ein Bürgerkrieg um die irische Unabhängigkeit getobt. Und obgleich der Krieg mittlerweile beendet war, herrschten immer noch Unruhen im Land. Fergus und Niall wollten sich deshalb vor Ort ein Bild von der Lage machen und sehen, ob sie ihre Landsleute in irgendeiner Weise unterstützen konnten.

Sowohl Zervan als auch Giles und ich hatten Verständnis für diesen Wunsch und darum ermutigten wir Fergus, nach Irland zu reisen.

Dafür wollten uns Francisco und Sadia nach Babylon begleiten. Giles hatte ihnen bereits von Indien aus telegraphisch von Gulas Bitte berichtet und sie hatten daraufhin direkt zu uns nach Hollywood telegrafiert, dass sie gerne mit uns fahren würden. Maddy und Miguel waren ebenfalls informiert worden, aber Maddy war inzwischen so stark in den Aufbau ihrer neuen Praxis eingebunden, dass sie London nicht verlassen konnte, und Miguel wollte auch nicht ohne sie reisen.

 

So kam es denn, dass Mary Pickford und Douglas Fairbanks wenig später eine große Abschiedsparty für Fergus und mich veranstalteten. Wir hatten ihnen erzählt, dass uns neue Aufgaben zurück nach Europa zogen – die genauen Gründe für unsere Abreise aus Hollywood konnten wir ihnen natürlich nicht mitteilen, aber sie akzeptierten dies und äußerten nur ihr Bedauern darüber, dass wir fortgingen. Wir versprachen, sobald wie möglich einmal zu Besuch zurückzukehren, und das war durchaus ehrlich gemeint, denn schließlich hatten wir unsere verrückten Hollywood-Freunde mittlerweile ins Herz geschlossen.

Nichtsdestotrotz waren wir natürlich auch gespannt auf unser neues Abenteuer und so bestiegen Zervan, Giles, Francisco, Sadia und ich nur wenige Wochen später am Pariser Bahnhof Gare de l’Est den Orient-Express. Genau 26 Jahre war es her, als wir das letzte Mal eine Reise mit dem berühmten Luxuszug unternommen hatten – mit exakt demselben Ziel wie dieses Mal. Die Einrichtung der Waggons war noch ebenso elegant und auserlesen wie damals, es gab nur mittlerweile ein paar technische Verbesserungen. Die Schlafwagen waren nicht mehr rein aus Teakholz gefertigt, sondern wegen der besseren Lärmdämmung aus Metall. Zudem gab es eine Zentralheizung sowie fließend Wasser in den Waschnischen der Schlafwagenabteile.

Den Speisewagen suchten wir – wie schon bei unserer damaligen Reise – nur gelegentlich auf, da unser Speiseplan von dem der Menschen ja schließlich ein wenig abwich und obendrein das dort verwendete Silberbesteck für uns sehr unangenehm zu berühren war. Dafür gefiel uns der mit wertvollen, floralen Intarsien verkleidete und mit noblen Ledersesseln sowie kleinen Beistelltischen aus Mahagoni eingerichtete Salonwagen ausnehmend gut. Viele der Reisenden nutzten ihn, um hier in Ruhe ihre Zeitung oder ein Buch zu lesen. Auf Wunsch brachte ein Kellner Drinks, Tee oder Kaffee.

Eines Morgens wurde ich schon ziemlich früh wach, und da ich Giles nicht weiter stören wollte, zog ich mich an, um den Salonwagen aufzusuchen und von dort aus den Sonnenaufgang über der vorbeiziehenden Landschaft zu betrachten.

In der Tür zum Salonwagen hielt ich dann jedoch inne, da ich dort in einem Sessel eine Dame mittleren Alters mit kinnlangen braunen Locken entdeckte, die im fahlen Licht einer kleinen Tischlampe in einem Buch las. Ich machte Anstalten, mich umzudrehen, weil ich sie nicht stören wollte, da bemerkte sie mich und sprach mich auf Englisch an. »Kommen Sie doch ruhig herein, schließlich habe ich kein Privatrecht auf diesen Waggon«, forderte sie mich mit einem freundlichen Lächeln auf.

Ich folgte ihrer Aufforderung und nahm ihr gegenüber Platz. »Sie wirkten so in Ihre Lektüre vertieft, da wollte ich Sie nicht stören«, erklärte ich.

»Aber nicht doch!«, wiegelte sie ab. »Die Dame, mit der ich mir mein Abteil teile, hat leider einen etwas geräuschvollen Schlaf. Aber ich stehe ohnehin meist recht früh auf und vertreibe mir die Zeit bis zu dem Frühstück gerne ein wenig mit Lesen.«

Ich warf einen Blick auf das Buch, das sie neben sich abgelegt hatte. Es war ein Reiseführer über Bagdad.

»Sie wollen nach Bagdad reisen«, stellte ich fest und lächelte sie an. »Das ist auch das Ziel von meinen Freunden und mir.« Zumindest die erste Station fügte ich in Gedanken hinzu, da ich ja noch gar nicht wusste, wohin genau uns unsere Reise führen würde.

Meine Gesprächspartnerin lächelte leicht verlegen und zog den Rock ihres Tweedkostüms glatt. »Ich muss gestehen, dass ich eine gewisse Schwäche für den Orient habe. Allerdings habe ich vor, nur ein paar Tage in Bagdad zu bleiben und dann nach Ur weiterzufahren. Ich habe Freunde dort, die die dortigen Ausgrabungen leiten.«

»Die Woolleys?«, fragte ich überrascht.

Sie nickte. »Ja. Kennen Sie sie?«

»Natürlich nicht persönlich«, entgegnete ich. »Aber ich kenne ein paar von Leonard Woolleys Veröffentlichungen zu den frühdynastischen Königsgräbern, die er während seiner Ausgrabungen in Ur entdeckt hat.« Wir hatten uns im Vorfeld unserer Reise mit einigen solcher Ausgrabungsberichte beschäftigt. Denn sollte es tatsächlich weitere alte babylonische Schriften geben, die Nergal bei seinen Machtbestrebungen in irgendeiner Weise weiterhelfen konnten, dann konnte es nicht schaden, den aktuellen Forschungsstand aller laufenden Ausgrabungen im Blick zu behalten.

Mein Interesse schien meiner Gesprächspartnerin zu gefallen. »Somit interessieren Sie sich wohl ebenfalls für die Archäologie?«, fragte sie erfreut. »Dann kommen Sie uns doch dort einmal besuchen. Ich logiere bei den Woolleys, und wenn ich sie frage, werden sie Sie sicherlich gerne bei den Ausgrabungen herumführen.« Unterdessen hatten sich die ersten Strahlen der Sonne über die vorbeiziehenden Berge erhoben und diese in rötliches Licht getaucht. Sie blickte auf ihre Armbanduhr und richtete sich mit einem Lächeln auf. »In wenigen Minuten wird das Frühstück serviert. Wollen Sie mir noch rasch Ihren Namen verraten, meine Liebe, damit ich weiß, wen ich den Woolleys empfehlen darf?«

»Sehr gerne«, antwortete ich. »Gemma Winwood. Und mit wem hatte ich das Vergnügen?«

»Mein Name ist Agatha Christie. Und es hat mich sehr gefreut, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.« Mit diesen Worten entschwand sie Richtung Speisewagen und ich überlegte, warum ihr Name mir irgendwie bekannt vorkam.

 

Drei Tage später kamen wir dann in Istanbul an, wo wir wie seinerzeit zwei Nächte im Hotel Pera Palace residierten, bevor wir weiterreisten. Nur, dass die Stadt damals noch Konstantinopel geheißen hatte und die Hauptstadt des Osmanischen Reiches gewesen war. Seit dem Zerfall jenes Reiches nach dem Großen Krieg gehörte Istanbul nun zur türkischen Republik, hatte seinen Hauptstadtstatus jedoch an Ankara abtreten müssen. Dies tat der immer noch eindrucksvollen Pracht jener Metropole, die vom Bosporus getrennt sowohl einen europäischen als auch einen asiatischen Teil besaß, allerdings keinen Abbruch.

Zu unserem Bedauern konnten wir nur ein paar der zahlreichen Sehenswürdigkeiten besichtigen, bevor wir dann von der asiatischen Seite der Stadt aus mit der anatolischen Eisenbahn und der Bagdadbahn weiter bis nach Damaskus in Syrien reisten.

Obwohl der letztgenannte Zug sein Endziel Bagdad im Namen trug und mit dem Bau der Bahnstrecke bereits vor unserer damaligen Reise begonnen worden war, war die komplette Strecke bislang immer noch unvollendet geblieben. Dies war nicht zuletzt dem Großen Krieg, dem darauf folgenden Zerfall des Osmanischen Reiches und der Zuordnung der vorherigen osmanischen Provinzen zu verschiedenen Staaten geschuldet.

Darum legten wir die letzte Teilstrecke bis Bagdad mit Bussen der Nain Transport Company zurück, einem Unternehmen, das von zwei neuseeländischen Brüdern gegründet worden war und Reisende durch die Syrische Wüste transportierte. Dieser Reiseabschnitt unterschied sich nun wiederum merklich von unserer einstigen Route, da wir seinerzeit die Karawanenwege noch auf ganz traditionelle Art mit Kamelen und Maultieren entlanggereist waren. Nichtsdestotrotz bewegten sich die großen Dreiachser teilweise derart schaukelnd und schlingernd durch die Wüste, dass die Fahrt in ihnen etwas zartbesaitetere Mitreisende prompt seekrank werden ließ und in uns wiederum Erinnerungen an unsere damaligen Kamelritte wachrief.

In Bagdad hatten wir Zimmer im Tigris Palace Hotel reserviert und direkt bei unserer Ankunft informierte uns der Concierge darüber, dass eine Nachricht für uns bereitlag. Genauer gesagt war diese Nachricht an Zervan adressiert, doch als er sah, dass Gula die Absenderin war, lud er uns ein, den Brief gemeinsam in seinem Zimmer zu öffnen.

In ihrem Schreiben bat Gula uns, so bald als möglich nachts die alte Ausgrabungsstätte in Babylon aufzusuchen, damit wir für unsere Suche nach Nergal vorbereitet werden konnten. Weitere Angaben standen nicht in dem Brief, doch da es bereits dunkel war und wir Gula vertrauten, machten wir uns sofort zu Fuß auf den Weg nach Babylon. Wir hätten auch ein Taxi mieten können, das uns in die Stadt Al-Hillah nahe der Ausgrabungsstätte gebracht hätte. Aber wir wollten so wenig Aufsehen wie möglich erregen und darum war diese Fortbewegungsmethode aufgrund unserer Vampirgeschwindigkeit letztendlich die schnellste und im schützenden Dunkel der Nacht auch die unauffälligste.

 

Die Ausgrabungen von Babylon waren einst von dem deutschen Archäologen Robert Koldewey geleitet und von uns im Jahr 1904 bei unserer damaligen Babylon-Reise besichtigt worden. Nun lag das Gelände gleichwohl völlig verlassen da, denn die Ausgrabungen waren während des Großen Krieges zum Erliegen gekommen und seitdem nicht wieder aufgenommen worden. Wie wir sehen konnten, hatten Koldewey und seine Mitarbeiter nach unserem Besuch noch einen Großteil des alten babylonischen Wohngebietes Merkes freigelegt, doch nicht wenige Bereiche der Stätte waren in den darauffolgenden Jahren offenbar durch Sandstürme erneut vergraben worden.

Indes waren nach wie vor viele der Jahrtausende alten Mauern noch rudimentär erhalten und umgaben uns im fahlen Mondlicht wie stumme Zeugen einer längst vergangenen Kultur.

»Erinnert ihr euch, wie Gula damals das alte Babylon durch ihre Erzählung vor unseren Augen hat lebendig werden lassen?«, fragte Giles, während er seinen Blick über das Gelände schweifen ließ.

Wir nickten, denn uns allen gingen vermutlich beim Anblick der alten Mauern ähnliche Erinnerungen durch den Sinn.

»Ob Gula gleich wieder erscheinen wird?«, fragte nun Francisco und sah sich erwartungsvoll um.

»Das werden wir wohl einfach abwarten müssen«, antwortete Zervan mit leichtem Schmunzeln, während wir langsam über das Gelände spazierten.

Mir kam es fast so vor, als ob es uns alle unbewusst in eine ganz bestimmte Richtung zog und als wir auf einem erhöhten Platz ankamen, der weiträumig von einigen Mauer- und Säulenresten umgeben war, blieben wir schließlich stehen. Meiner Erinnerung zufolge hatte Koldewey uns damals von einem wichtigen Tempel berichtet, der in babylonischer Zeit an dieser Stelle gestanden hatte.

Die Nacht war bislang die ganze Zeit sternenklar und komplett windstill gewesen, aber plötzlich veränderte sich etwas. Es begann mit einem unwirklichen Leuchten um uns herum – ähnlich, wie wir es seinerzeit kurz vor unserer ersten Begegnung mit Gula erlebt hatten. Dann kam mit einem Mal ein kräftiger Wind auf, der zunächst an unserer Kleidung und unseren Haaren zerrte, bevor er wieder von uns abließ. Das Seltsame daran war nur, dass der Wind immer noch da war, sich geradezu in eine Art Sturm verwandelte – nur wir selbst wie durch eine unsichtbare Wand davor geschützt schienen. Wir standen zusammen in der Mitte des Platzes und etwa zwei Armeslängen von uns entfernt tobte plötzlich ein Sturm, der den Sand durch die Luft wirbelte, sogar kleinere Steine in Bewegung versetzte und mit einem lauten Rauschen um uns herum brauste.

Verwundert blickte ich meine Freunde an, auf deren Gesichtern sich ebensolches Erstaunen über das Phänomen spiegelte. Es war, als wenn wir uns in einer Art Sturmloch oder in einer anderen Dimension inmitten der um uns herum wütenden Urgewalt befanden.

Dann legte sich der Sturm ebenso abrupt, wie er gekommen war, und mich überkam ein ganz eigentümliches Gefühl. Es fühlte sich an, als wenn mein Körper ein Schwamm wäre und nun von den Füßen bis zum Kopf eine bestimmte Substanz aufsaugen würde. Und diese Substanz war: Gewissheit. Ich wusste plötzlich, dass wir Gula am nächsten Tag wiedersehen würden und zwar exakt um zehn Uhr morgens. Das erschien mir nun wiederum so absurd und profan zugleich, doch ehe ich mich versah, hatte ich es auch schon laut gesagt.

»Wir werden morgen um zehn Uhr Gula treffen«, verkündete ich an meine Freunde gewandt und stellte im selben Moment fest, dass wir alle zeitgleich denselben Satz ausgesprochen hatten.

Zervan, Giles, Francisco, Sadia und ich starrten uns daraufhin zunächst stumm an, dann sprachen wir alle durcheinander:

»Was war das gerade?«

»Dieser Sturm ... und wir mittendrin ... das muss der Windgott Adad gewesen sein oder nicht?«

»Wir haben alle das Gleiche gesagt, also haben wir offenbar auch alle das Gleiche gespürt?«

»Und was hat das nun alles zu bedeuten?«

»Können wir jetzt plötzlich hellsehen?«

»Meine Freunde, ich verstehe eure Ungeduld«, ließ sich daraufhin Zervan mit einem gelassenen Lächeln vernehmen. »Aber ich bin sicher, dass Gula uns morgen die Antworten auf alle unsere Fragen geben wird. Und wir wissen ja nun, dass wir sie morgen treffen werden.«

Wir akzeptierten diese Aussage und machten uns auf den Rückweg nach Bagdad – mit einem kleinen Umweg zu den Niederungen des Euphrat, wo wir noch rasch auf die Jagd gingen, um uns für die kommenden Tage mit Tierblut zu stärken.

 

Am nächsten Morgen erhielten Giles und ich um kurz vor zehn einen Anruf von der Rezeption, der uns darüber informierte, dass in der Hotellobby eine Besucherin auf uns warten würde. Noch bevor wir die Lobby betraten, durchströmte mich wieder dieses warme, vertraute Gefühl, das ich jedes Mal erlebt hatte, wenn ich Gula begegnet war, und einen Wimpernschlag später erblickten wir sie auch schon. Sie saß in einem der Sessel der großen Empfangshalle, blickte uns mit einem freundlichen Lächeln entgegen und wirkte dabei wie eine typische europäische und völlig unauffällige Touristin. Sie hatte uns ja ohnedem bei unserer ersten Begegnung ihre Fähigkeit demonstriert, von ihrem Umfeld als ganz normaler Mensch wahrgenommen zu werden.

Zervan saß bereits neben Gula und Francisco und Sadia waren zusammen mit Giles und mir in der Lobby eingetroffen, darum setzten wir uns nun ebenfalls zu den beiden.

Gula begrüßte uns alle mit einem freundlichen Nicken. »Ich bin gekommen, um euch zu erklären, was gestern Nacht geschehen ist«, begann sie sofort und sprach dabei mit so leiser Stimme, dass wir sie dank unseres verschärften Vampirgehörs verstanden, aber niemand anderes in der belebten Empfangshalle uns zuhören konnte.

Gespannt blickten wir sie an und Gula fuhr fort: »Gestern Nacht hat der Windgott Adad euch aufgesucht. Er hat euch die Gabe verliehen, die Nähe von uns Etemmu-Qebrus schon frühzeitig zu spüren. Darum wusstet ihr auch, dass ihr mich heute treffen würdet, und ihr wusstet zudem genau, wann dies geschehen würde. Diese Fähigkeit wird es euch erleichtern, herauszufinden, ob Nergal hier in der Region womöglich noch weitere alte Schriften sucht, die er für seine Machtpläne missbrauchen könnte. Ob dieser Gabe wird verhindert, dass Nergal euch durch sein plötzliches Erscheinen irgendwo überraschen könnte, denn ihr werdet immer rechtzeitig wissen, wenn einer von uns in der Nähe ist.«

»Aber diese Fähigkeit bezieht sich nur auf euch Etemmu-Qebrus?«, hakte Giles nach.

Gula nickte. »Ja und sie wird zeitlich begrenzt sein. Ihr werdet diese Gabe nur so lange besitzen, bis eure Aufgabe hier erfüllt ist.«

Giles und Francisco sahen nun ein wenig enttäuscht aus und ich musste mir ein Lächeln verkneifen. Natürlich wäre es für uns alle reizvoll gewesen, über gewisse mentale Fähigkeiten zu verfügen. Doch wie wir ja inzwischen wussten, war es Adads Wille, das Machtgefüge zwischen Ur-Vampiren, Vampiren und Menschen möglichst stets im Gleichklang zu halten, folglich konnte uns solche eine Gabe nicht dauerhaft vergönnt bleiben.

Gula verabschiedete sich sodann, da sie uns nur aufgesucht hatte, um uns über unsere neue Fähigkeit aufzuklären.

Wir hingegen machten uns auf den Weg ins Stadtzentrum, um uns bei den Behörden über antike Stätten in der Region zu erkundigen. Sollten irgendwo noch alt-babylonische Schriften existieren, die Nergal für seine Zwecke nutzen könnte, dann hätten wir an solchen Stätten beziehungsweise an deren Ausgrabungen am ehesten eine Chance, etwas darüber herauszufinden. Auf unserem Weg mussten wir allerdings ein wenig achtgeben, uns nicht in einem der zahlreichen Souks zu verirren, die oft direkt von den Hauptstraßen abgingen und in einem für uns unüberschaubaren Gewirr kleiner Gässchen endeten. Diese Souks waren traditionelle arabische Handelsviertel, die streng nach den Produkten getrennt waren, die die jeweiligen Handwerker und Händler dort feilboten. So gab es beispielsweise einen Kupfersouk, in dem diverse Becher, Kannen und Kessel aus Kupfer angeboten wurden und einen das rhythmische Klopfen und Hämmern der Kupferschmiede über weite Strecken hinweg begleitete. Im Gewürzsouk wiederum konnte man die verschiedenen bunten, zu kunstvollen Kegeln aufgestapelten und exotisch duftenden Gewürze bestaunen. Ich hätte mich gerne noch ein wenig in diesen kleinen Vierteln umgeschaut, deren farbenfrohe Vielfalt an Waren sämtliche Sinne ansprach, aber wir wollten unseren Auftrag ernst nehmen und daher lieber unsere Erkundungen vorantreiben.

Das Königreich Irak stand derzeit unter britischem Mandat, darum hatte viele wichtige Behörden in der Hauptstadt Bagdad auch eine britische Oberaufsicht, sodass wir schließlich ohne große Schwierigkeiten Ansprechpartner für unsere Recherche nach Ausgrabungen in der Region fanden. Man verwies uns auf das Archäologische Museum Bagdad, das vor vier Jahren von der britischen Forscherin Gertrude Bell gegründet worden war, und dort stießen wir tatsächlich auf eine sehr informative Liste nahezu aller aktuellen sowie früheren Ausgrabungen in Mesopotamien. Hierunter schienen die vom Archäologen Leonard Woolley im etwa 215 Meilen entfernten Ur geleiteten Ausgrabungen, von denen ich bereits in London gelesen hatte, augenscheinlich mit die verheißungsvollsten zu sein. Nicht nur, dass Woolley dort eine noch sehr gut erhaltene Zikkurat sowie verschiedene Königsgräber ausgegraben hatte. Bei früheren Ausgrabungen waren dort auch sehr viele Tonzylinder mit Inschriften gefunden worden, aus denen die Forscher unter anderem herausgefunden hatten, dass es sich bei der Stadt um das bereits im Alten Testament erwähnte Ur und zudem um eine der wichtigsten Städte babylonischer Zeit handeln musste.

Also beschlossen wir, zunächst weiter nach Ur zu reisen, und kehrten ins Hotel zurück, um unsere Sachen zu packen. Zu unserer Überraschung war dort in der Zwischenzeit ein Brief für mich eingetroffen, den man mir an der Rezeption überreichte. Die Absenderin war meine Reisebekanntschaft aus dem Orient-Express und sie lud uns in dem Schreiben im Namen der Woolleys, ihrer Gastgeber, ein, doch ebenfalls als deren Gäste in Ur zu logieren.

Dieses Angebot erschien uns überaus großzügig, da die Woolleys uns ja gar nicht kannten. Zudem kam es unseren Plänen natürlich sehr gelegen und so gab ich beim Concierge ein Telegramm auf, das Mrs. Christie und die Woolleys darüber informierte, dass wir ihre Einladung dankend annähmen und uns nun auf dem Weg nach Ur machten.

 

Von Bagdad nach Ur gab es eine Zugverbindung, und obgleich die Reise dorthin nicht ansatzweise so komfortabel war wie die Fahrt im Orient-Express, verlief sie dennoch reibungslos und so kamen wir am nächsten Abend beim Haus der Woolleys an. An der Tür wurden wir sogleich nahezu überschwänglich von einer hageren Dame begrüßt, die sich uns als Katharine Woolley vorstellte. Neben ihr stand meine Reisebekanntschaft Mrs. Christie mit einem bescheidenen Lächeln und einem Blick, der zu meiner Verwunderung fast schon um Entschuldigung zu bitten schien.

Ich stellte meine Freunde Mrs. Christie und Mrs. Woolley vor, während letztere uns hereinbat und uns durch das Haus hindurch zu einem kleinen Gästehaus führte. Dabei sprach sie ununterbrochen auf uns ein:

»Sicherlich wollen Sie alle sich erst einmal frisch machen. Die Fahrt hierher ist ja alles andere als angenehm. Und entschuldigen Sie bitte den ganzen Dreck im Haus, wir hatten bis vor kurzem einen Sandsturm und der unsägliche Sand ist in jede Ritze eingedrungen. Ach, ich bin so froh, dass Sie da sind! Die gute Agatha hat mir von Ihnen erzählt und ich schlug Ihr vor, Sie alle doch einfach hierher einzuladen, denn es ist so langweilig, immer nur dieselbe Gesellschaft um sich herum zu haben. Damit meine ich selbstverständlich nicht dich, meine Liebe!« Woolley tätschelte bei diesen Worten Christies Arm, die hierauf mit einem gutmütigen Lächeln nickte, während Woolley ohne Luft zu holen fortfuhr, »... aber ab und zu braucht man schlichtweg frisches Blut, nicht wahr? Sie werden das sicher verstehen?«

»Durchaus, Verehrteste, so etwas verstehen wir durchaus!«, warf Giles mit einem mokanten Lächeln ein und ich versetzte ihm einen unauffälligen Tritt, als Katharine Woolley ihn kurz irritiert anschaute.

Dann setzte sie jedoch sogleich ihren Monolog fort: »Wissen Sie, Agatha ist so ein angenehmer Gast, nie stellt sie irgendwelche Ansprüche! Dabei ist sie doch so eine talentierte Autorin. Sicherlich kennen Sie ihre Bücher?«

Offenbar hatten wir alle ein wenig ratlos ausgesehen, denn nun machte Woolley umgehend ihrer Entrüstung Luft. »Aber Sie werden doch wohl ihre Romane kennen? ›Alibi‹ habe ich damals direkt verschlungen und ›Der blaue Express‹ ist der Titel ihres jüngsten Geniestreiches. Ihr fallen immer so raffinierte Wendungen ein, und egal, wie sehr ich mich auch anstrenge, ich errate bis zum Schluss nie, wer der Mörder ist.«

In dem Moment machte es Klick bei mir. Aber natürlich: Agatha Christie! Meine Reisebekanntschaft war die berühmte Kriminalautorin – und zudem offenbar eine sehr bescheidene Person, denn sie hatte mich bislang mit keiner Silbe darauf aufmerksam gemacht. Auch jetzt sah sie uns sehr verlegen an, es schien ihr eher unangenehm zu sein, dass Katharine Woolley sie so anpries. Ich wiederum fühlte mich ein wenig beschämt, dass ich sie nicht erkannt hatte, obwohl sie mir doch ihren Namen genannt hatte.

Nachdem Woolley uns unsere Zimmer in dem kleinen Gästehaus zugewiesen hatte, ließ sie uns alleine, damit wir uns bis zum Dinner, das in zwei Stunden stattfinden sollte, frisch machen konnten. Das ließ uns ausreichend Zeit, zuvor noch rasch im Dunkeln das nur wenige Meilen entfernten Hammar Marschland aufzusuchen, um kurz auf die Jagd zu gehen.

 

Als wir schließlich im Haupthaus zum Dinner erschienen, stellte Katharine Woolley uns alle anwesenden Personen vor.

Zunächst wies sie auf einen hochgewachsenen Mann mit strengem Blick, der neben ihr stand. »Meinen Mann Leonard muss ich Ihnen sicherlich nicht noch explizit vorstellen«, erklärte sie vollmundig.

In der Tat kannte ich Leonard Woolley, den berühmten Archäologen, natürlich schon von Zeitungsfotos her. Er begrüßte uns alle mit einem festen Händedruck und musterte uns interessiert.

»Und dies ist Max Mallowan, sein Assistent«, fuhr Katharine fort und stellte uns einen schlanken jungen Mann vor, der sich etwas hinter Leonard Woolley hielt. »Und hier haben wir Pater Burrows, unseren Inschriftenforscher, sowie Algy Whitburn, archäologischer Architekt.«

Leonard Woolley wandte sich unterdessen sogleich an Zervan und fragte ihn, ob sein Name persisch sei, was dieser bejahte. Zervan trug zwar seit etlichen Jahren immer mal wieder westliche Kleidung – so hatte er auch hier zum Dinner einen formellen Anzug gewählt – aber er kombinierte diese stets mit einem Turban und war natürlich nicht zuletzt wegen seines Namens und seines dunklen Teints unschwer als Orientale zu identifizieren.

»Darf ich fragen, wie Sie alle einander kennengelernt haben?«, wollte Woolley nun wissen und ließ seinen Blick neugierig über meine Freunde und mich schweifen. »Denn Sie schienen mir doch eine ... nun ja, ziemlich bunt gewürfelte Truppe zu sein.«

Für einen Briten war dies eine recht indiskrete Bemerkung, doch offenbar war bei einem Forscher wie Woolley die Neugierde größer als ein Bedürfnis, gesellschaftlichen Konventionen zu entsprechen.

»Uns eint das Interesse an der alt-orientalischen Kultur«, erklärte Zervan daraufhin schmunzelnd, nachdem er zuvor einen raschen Blick mit uns gewechselt hatte. »Meine Freunde und ich haben uns auf Reisen kennengelernt. Ich selbst darf mich in bescheidenem Ausmaß einiger Kenntnisse in babylonischer Geschichte rühmen und meine Freunde interessieren sich ebenfalls sehr dafür. Wir haben uns beispielsweise kürzlich auch die Ausgrabungsstätte von Babylon angeschaut. Zu schade, dass die Ausgrabungen zum Erliegen gekommen sind.«

Leonard Woolley nickte. »Mein deutscher Kollege Robert Koldewey hat sich dort seinerzeit recht ruhmreich hervorgetan. Ihre Freunde sind zu jung dafür, aber Sie hätten ihn eigentlich noch kennenlernen können.«

»Das habe ich damals auch tatsächlich«, bestätigte Zervan lächelnd. »Und wir hatten einen sehr interessanten Diskurs über Keilschrift.«

Woolley sah ihn scharf an. »Sie kennen sich mit Keilschrift aus?«

Zervan nickte bescheiden. »Ein wenig. Ich hatte ein paar Jahre lang die Gelegenheit, mich näher damit zu beschäftigen.« Dass er im 6. Jahrhundert vor Christus geboren war und seinerzeit die Keilschrift als einzige ihm bekannte Schriftform erlernt hatte, verschwieg Zervan an dieser Stelle. Unsere Gastgeber hätten ihn sonst vermutlich auch für verrückt erklärt.

Dafür beugte sich Pater Burrows interessiert vor und verwickelte Zervan in eine Diskussion über alte Inschriften.

Dies veranlasste nun wiederum Katharine Woolley, leicht entnervt mit den Augen zu rollen. »Da sehen Sie, meine Lieben, was ich hier Tag für Tag erdulden muss«, klagte sie, an Agatha Christie, Sadia und mich gewandt. »Stets sind die Herren nur am Fachsimpeln und mir gegenüber völlig unaufmerksam. Lediglich der treue Max ist ein aufmerksamer Gast.« Hieraufhin tätschelte sie dem zu ihrer Rechten sitzenden Mallowan majestätisch die Hand, was dieser mit einem verlegenen Blick auf den Tisch quittierte.

Ich beobachtete, wie Christie ihn kurz mitleidig ansah, und fragte mich, welche seltsame Stimmung zwischen Katharine Woolley und den Gästen beziehungsweise Mitarbeitern ihres Gatten doch zu herrschen schien.

Dieser Eindruck wurde noch verstärkt, als Katharine im nächsten Moment spöttisch die Stimme erhob. »Meine Herren, ich unterbreche ja nur ungern ihre munteren Gespräche, aber hätte eventuell einer von Ihnen die Güte, mir das Salz zu reichen?« Prompt verstummte das angeregte Fachgespräch und die Männer überboten sich in wortreichen Entschuldigungen für ihre Unaufmerksamkeit, wobei Algy Whitburn schließlich das Rennen um den Salzstreuer gewann und ihn der Hausherrin reichte.

Mein Blick begegnete dem von Agatha Christie, und ich versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Auf mich wirkte er wie eine Mischung aus Verlegenheit angesichts dieses Szenarios einerseits und heimlichen Amüsement über die Skurrilitäten menschlichen Sozialverhaltens andererseits.

 

Am nächsten Morgen war es am Frühstückstisch recht still. Es schien fast so, als ob niemand es wagte, ein Gespräch zu beginnen, das Katharine Woolley möglicherweise nicht genehm sein könnte. Und ihr Ehemann sowie seine Mitarbeiter waren permanent bemüht, ihr die Marmelade, die Milch zum Kaffee oder die Butter zum Toast zu reichen – fast schon, als wollten alle ihr möglichst jeden Wunsch von den Augen ablesen. Unsere Gastgeberin wiederum belohnte diese Bemühungen mit einem hoheitsvollen Lächeln, anscheinend hielt sie dieses Verhalten für völlig angemessen. Während meine Freunde dieses Treiben erstaunt beobachteten, fiel mein Blick kurz auf Mrs. Christie, die mir diesmal gegenüber saß und gerade verstohlen etwas in ein kleines Notizbüchlein schrieb. Als sie damit fertig war, sah sie auf, bemerkte meinen Blick und schaute zunächst ein wenig ertappt drein. Dann zuckten ihre Mundwinkel in dem offenkundigen Versuch, ein Lächeln zu unterdrücken, und sie zwinkerte mit kurz schelmisch zu.

Obwohl unsere Gastgeberin allem Anschein nach die uneingeschränkte Herrscherin in ihrem Haus war, verhielt sie sich doch gegenüber den meisten Personen in ihrem Umfeld sehr charmant und war stets bemüht, ihre Gäste zu unterhalten. So ordnete Katharine beispielsweise direkt nach dem Frühstück an, dass ihr Gatte und der Pater meine Freunde und mich auf der Ausgrabungsstätte herumführen sollten. Max Mallowan hingegen wurde von ihr als Begleiter für Agatha Christie abkommandiert und sollte ihr ein paar der Sehenswürdigkeiten der Region zeigen.

Agatha protestierte kurz gegen diese Regelung. Offenbar war es ihr unangenehm, dass Katharine Woolley einfach so über Max Mallowan verfügte, ohne diesen zuvor nach seinen eigenen Wünschen zu fragen. Aber ihr Widerspruch wurde rigoros abgeschmettert und so ging sie in ihr Zimmer, um eine kleine Reisetasche für den befohlenen Ausflug zu packen. Im Hinausgehen fragte sie mich leise, ob ich sie eventuell kurz in ihr Zimmer begleiten möge, und so ging ich mit ihr.

»Meine Liebe, ich hätte Sie vermutlich vorwarnen sollen, dass Katharine recht willensstark ist«, begann sie, während die ein paar Kleidungsstücke aus einer Kommode holte und in eine Tasche packte. »Aber da Sie mir im Orient-Express erzählt hatten, dass Sie sich für Archäologie interessieren, hielt ich es für eine gute Idee, Sie hierher einzuladen, und Katharine war sofort Feuer und Flamme für meinen Vorschlag.«

»Mrs. Woolley erscheint mir tatsächlich nicht ganz unkapriziös«, bestätigte ich lächelnd. »Aber nichtsdestoweniger ist sie auch sehr charmant.«

Christie nickte zustimmend. »Oh ja, in der Tat! Sie besitzt die Gabe, die Leute um den Finger zu wickeln. Oder sie mit spitzer Zunge abzustrafen – je nachdem, in welcher Stimmung sie gerade ist. Ein faszinierender Charakter.«

»Inspiriert sie Sie?«, fragte ich neugierig. »Ich habe bemerkt, wie Sie sich während des Frühstücks etwas notiert haben.«

»Oh, äh, ach das. Mir war nur plötzlich eine Idee gekommen, die ich festhalten wollte. Nichts von Belang.« Agatha schien leicht zu erröten. »Dass die Woolleys Ihnen übrigens das ganze Ausgrabungsgelände zeigen wollen, ist indes ein großes Privileg. Es kommen nämlich immer mal wieder Touristen hierher, die neugierig auf die Ausgrabungen sind, und üblicherweise ist dies Leonard eher lästig«, wechselte sie dann das Thema.

»Dann freue ich mich umso mehr darauf«, antwortete ich. »Aber Ihr Ausflug mit Max nach Nejef und Kerbala wird sicherlich auch sehr interessant.«

Abermals zeigte sich eine leichte Röte auf Christies Wangen und sie runzelte die Stirn.

»Oder möchte Sie den Ausflug gar nicht unternehmen?«, hakte ich nach.

»Diese Orte möchte ich schon gern besichtigen«, entgegnete sie. »Nejef ist eine heilige Stadt, die Tag und Nacht Pilger anzieht, und in Kerbala steht eine der bedeutendsten Moscheen. Aber der junge Mallowan hat sicherlich Besseres zu tun, als für jemanden wie mich den Touristenführer zu spielen. Bestimmt bin ich nur eine Last für ihn.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach ich. »Es stimmt schon, dass Katharine Max quasi befohlen hat, Ihnen die Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Aber er hat auf mich eigentlich sehr erfreut über diesen Auftrag gewirkt.«

Agatha blickte mich skeptisch an.

 

In der darauffolgenden Nacht wachte ich plötzlich auf, weil eine eisige Kälte mich umfing. In der nächsten Sekunde wusste ich, dass Nergal sich irgendwo in der Nähe aufhalten musste. Ich schlug die Augen auf und sah, dass Giles neben mir ebenfalls erwacht war.

Er sah mich stirnrunzelnd an. »Die Gabe, die uns Adad verliehen hat, ist sehr mächtig«, stellte er fest. »Nergals Nähe ist kein Gefühl oder eine Ahnung, ich weiß definitiv, dass er irgendwo dort draußen ist.«

Wir zogen unsere Morgenmäntel an, um mit Zervan, Francisco und Sadia darüber zu sprechen, und stießen bereits im Flur auf unsere Freunde, die offensichtlich aus demselben Grund geweckt worden waren wie wir.

»Was sollen wir tun?«, fragte ich. »Wir alle haben offenbar Nergals Anwesenheit gespürt. Allerdings war es bei mir anders als bei meiner Vorahnung von dem Treffen mit Gula. Weder weiß ich, wo genau sich Nergal aufhält, noch ob oder wann wir auf ihn treffen werden.«

»Vielleicht sollten wir nach ihm suchen?«, schlug Francisco vor.

»Aber wo?«, gab Giles zu bedenken. »Willst du die ganze Region in einem Radius von 10 Meilen absuchen? Oder von 50 oder gar 100 Meilen? Wenn Fergus mit uns gekommen wäre, hätte er womöglich eine gewisse Chance gehabt, die Umgebung von der Luft aus in Gerfalkengestalt abzusuchen, aber ohne ihn wäre es wie die sprichwörtliche Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.«

»Aber wir alle können Nergal doch jetzt spüren«, überlegte ich. »Vielleicht verstärkt sich dieses Gefühl oder Wissen, je näher wir ihm kommen?«

Zervan machte eine beschwichtigende Geste. »Meine Freunde, ich denke nicht, dass die Gabe, die uns Adad verliehen hat, auf diese Weise funktioniert. Bei Gula wussten wir vorab genau, wann und wo wir sie treffen würden, weil sie auch beabsichtigt hatte, uns zu treffen. Gleichwohl blieb jene Gewissheit immer gleich stark bis zu dem Treffen mit ihr, sie wurde nicht größer, je näher wir ihr räumlich kamen – oder war dies bei euch anders?«

Zögernd schüttelte ich den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Die Gewissheit kam nach dem Sturm, der uns umhüllt hatte, und sie blieb bis zu dem Treffen unverändert.«

Giles, Francisco und Sadia bestätigten, dass es ihnen ebenso ergangen war.

Zervan nickte. »Darum denke ich, dass diese Gabe uns frühzeitig warnen wird. Wird es zu einer Begegnung mit Nergal kommen, werden wir es ein paar Stunden früher wissen. So, wie wir es auch bei Gula gewusst haben.«

»Aber wenn Nergal seinerseits ein Zusammentreffen mit uns vermeiden will?«, wandte Giles ein.

»Dann wird es ihm auch sicher gelingen, uns aus dem Weg zu gehen«, vermutete Zervan. »Aber sollte er tatsächlich auf der Suche nach weiteren alt-babylonischen Schriften sein, dann wird er früher oder später hier in Ur auftauchen. Denn wie wir wissen, ist dies die bedeutendste archäologische Ausgrabungsstätte. Heute Nacht können wir nichts mehr tun. Wir sollten uns alle wieder schlafen legen.«

Wir sahen ein, dass Zervan recht hatte, und zogen uns in unsere Zimmer zurück.

»Ganz wohl fühle ich mich nicht dabei«, gestand ich, als ich meinen Morgenmantel wieder auszog und mich neben Giles ins Bett legte. »Solange Nergal in der Nähe ist, wird mich diese eisige Kälte durchströmen. Und einfach abzuwarten, was möglicherweise als Nächstes geschehen wird, liegt mir nicht besonders.«

»Geduld war noch nie deine Stärke, meine Teuerste«, erklärte Giles mit einem spöttischen Lächeln, aber er zog mich dabei in seine Arme. »Aber uns allen geht es genauso und dieses kalte Gefühl gemahnt uns daran, auf der Hut zu bleiben.«

 

Der Wahrheitsgehalt von Giles’ Worten zeigte sich am nächsten Tag, als uns Leonard Woolley durch das Ausgrabungsgelände von Ur führte. Obgleich wir der Führung und den Erläuterungen des Archäologen sehr aufmerksam und interessiert folgten, waren wir alle doch gewissermaßen permanent auf der Hut. Die Gewissheit, dass Nergal sich hier irgendwo aufhielt, hatte unsere ohnehin bereits verstärkten Vampirsinne noch einmal um ein paar Grade verschärft.

Das Gelände, durch das uns Woolley führte, war recht weitläufig, etwa 130 Acres groß, wie uns der Archäologe erklärte, und ebenso wie Babylon war es in etliche Hügel und Gräben unterteilt.

Nachdem wir einen Bereich durchschritten hatten, den Woolley als Wohnsiedlung des Volkes bezeichnet hatte, näherten wir uns einem größeren, durch Mauerreste abgegrenzten Gelände.

»Die Stadt Ur war in sumerischer Zeit sehr bedeutend«, erklärte Woolley, »und sie lag damals auch noch am Meer. Etwa 220 Yards links von uns befand sich der westliche Hafen zum Euphrat und es gab auch noch einen nördlichen Hafen, der etwa 680 Yards von hier entfernt ist. Die Mauerreste direkt vor uns umgrenzen den Temenos von Ur, das innere Heiligtum.«

Er forderte uns mit einer Geste auf weiterzugehen und fuhr dann mit seinen Erläuterungen fort. »Zu unserer Rechten befinden sich die Königsgräber der ersten Dynastie von Ur. Die meisten davon waren leider bereits geplündert, als wir hierherkamen. Aber in einem Grab haben wir neben dem Skelett noch etliche Grabbeigaben gefunden. Einem Rollsiegel zufolge war es eine Hofdame oder Königin namens Puabi und in ihrem Grab befand sich ein goldener Kopfputz sowie weitere wertvolle Grabbeigaben aus Gold, Lapislazuli, Achat und Karneol.«

Das innere Heiligtum von Ur war offensichtlich der interessanteste Bereich des Ausgrabungsgeländes. Nachdem Woolley uns die Überreste eines alten Königspalastes und eines Tempels der Göttin Ningal gezeigt hatte, lag vor uns der beeindruckendste Fund der Anlage: die Ruinen einer großen Zikkurat, also eines antiken Tempelturms, der dem Mondgott Nanna gewidmet war. Woolley zufolge muss die Zikkurat einst ungefähr 27 Yards hoch gewesen sein und sich über eine Fläche von etwa 68 mal 47 Yards erstreckt haben.

Der Archäologe zeigte uns im Anschluss noch weitere Überreste von anderen Gebäuden und Anlagen, und ehe wir uns versahen, war die Dämmerung bereits herangebrochen. Von Nergal hatten wir weit und breit nichts gesehen, indes war unsere Wahrnehmung seiner Nähe nach wie vor präsent.

Dafür verlief der Abend für uns vergleichsweise unspektakulär. Katharine Woolley beherrschte beim Dinner wie gewohnt das Tischgespräch. Und da Max Mallowan und Agatha Christie sich noch auf ihrem kleinen Ausflug befanden, hatte Katharine nun anscheinend Zervan zu ihrem Favoriten erkoren. Zumindest stellte sie ihm allerlei Fragen nach seinem Leben und umgarnte ihn mit Komplimenten über seine orientalische Gelassenheit, auf welche er mit derselben reagierte. Sie bestand zudem darauf, dass wir unbedingt noch ein paar Tage ihre Gäste bleiben sollten, damit wir uns auch noch die bisherigen Funde der Ausgrabungen anschauen konnten und sie Zervan ihre Zeichnungen der Gegenstände präsentieren konnte. Ursprünglich war Katharine nämlich als archäologische Zeichnerin zu dem Ausgrabungsteam in Ur gekommen, Leonards Ehefrau war sie erst ein paar Jahre später geworden.

 

Katharine Woolleys Vorschlag, noch ein wenig länger in Ur zu bleiben, kam uns sehr gelegen. Zum einen, da wir Nergal in der Nähe wussten, zum anderen, weil wir herausfinden wollten, ob sich unter den alten Schriften, die das Ausgrabungsteam gefunden hatte, womöglich bereits irgendwelche Informationen befanden, die Nergal in die Hände spielen konnten.

In der Nacht besprachen wir in Zervans Zimmer, wie wir hierbei vorgehen wollten.

»Wie uns Katharine berichtet hat, werden alle bisherigen Ausgrabungsfunde wohl in einem Raum im Haupthaus gelagert. Vielleicht sollten wir uns dort zunächst einmal umsehen?«, schlug ich vor.

»Und wenn wir dort nichts Interessantes finden, könnten wir das Ausgrabungsgelände durchkämmen. Womöglich liegen dort ja noch weitere Tontafeln vergraben«, fügte Francisco hinzu.

Wir stimmten ihm zu und warteten, bis im Haupthaus alle Lichter erloschen waren und wir davon ausgehen konnten, dass sich alle Mitglieder des Ausgrabungsteams schlafen gelegt hatten.

Dann schlichen wir uns in den Lagerraum mit den Ausgrabungsfunden. Das durch ein Seitenfenster hereinscheinende schwache Mondlicht reichte dank unseres verschärften Sehsinnes völlig aus, um den ganzen Raum gründlich zu durchsuchen. In der Mitte des Raumes befand sich ein massiver Tisch, auf dem einige archäologische Zeichnungen ausgebreitet waren und verschiedene Tonscherben lagen, die offenbar jemand zusammensetzen wollte. An einer Wand standen etliche größere Fundstücke wie ein voluminöser Tonkrug, Steinplatten und Pfeiler, Reste von Statuetten. Die kleineren Funde wie Tonschüsseln, Becher, Fragmente von Musikinstrumenten, Schmuck, Waffen und diverse Alltagsgegenstände waren auf mehrere Schränke und Regale verteilt. Zwei Regale beinhalteten vor allem Objekte mit Inschriften, in erster Linie Rollsiegel, Tonzylinder und Tontafeln, und Zervan nahm sie dementsprechend näher in Augenschein.

»Kannst du die Schriften entziffern?«, fragte Giles.

Zervan nickte, während er mit konzentriertem Blick die Tafeln und Siegel begutachtete, und wir warteten gespannt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752124781
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Krieg Historischer Vampirroman Freundschaft Vampirroman Abenteuer Undercover Vampire unsterblich Fantasy Urban Fantasy Romance Historisch Reise

Autor

  • Hope Cavendish (Autor:in)

Hope Cavendish schreibt in verschiedenen Genres – doch egal, ob nun Vampire oder Menschen die Protagonisten in ihren Büchern sind, das Menschliche steht in ihren Geschichten im Vordergrund. In Braunschweig aufgewachsen, lebt Hope mittlerweile schon seit vielen Jahren im Ruhrgebiet und liebt es, ihre Leser mit ihren Büchern in andere Welten entführen zu dürfen.
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Titel: Zeitgenossen - Der Wille Adads (Bd. 5)