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Solana Dreams - Mara

von Alina Jipp (Autor:in)
352 Seiten
Reihe: Solana Dreams, Band 2

Zusammenfassung

Mara kämpft sich seit Jahren durch ihr Leben, das einem Fegefeuer gleicht. Obwohl die junge Frau alles versucht, um die immer größer werdenden Flammen rund um sich zu löschen, gelingt es ihr nicht. Als sie schließlich mitsamt ihrem kleinen Sohn auf der Straße landet, kommt Matt ihr zu Hilfe. Der attraktive Surflehrer nimmt Mara bei sich auf und hilft ihr dabei, ihr Leben in neue Bahnen zu lenken. Doch reicht das, um ihre geschundene Seele zu heilen? Kann aus so viel verbrannter Erde dennoch eine neue Liebe wachsen? Oder sind am Ende doch alle Bemühungen vergebens? Solana Dreams ist eine Reihe mit in sich abgeschlossenen Romanen und wiederkehrenden Personen. Jeder Teil handelt von einem Paar und kann unabhängig von den anderen gelesen werden. Teil 1: Solana Dreams - Lyanne Teil 2: Solana Dreams - Mara

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Alina Jipp

 

Solana Dreams

Mara

 

Mara – Zwei Zeitrechnungen

Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir, dass ich mal wieder zu spät dran war. Deshalb schnallte ich meinen Sohn im Buggy lieber gut an, ehe ich die dreihundert Meter Fußweg zur Praxis der Physiotherapeutin im Sturmschritt entlang eilte. Wie so oft hatte ich hier in Los Angeles keinen Parkplatz gefunden, der näher an der Praxis lag. Theoretisch gab es ja eine Tiefgarage für das Ärztehaus, aber praktisch bekam ich dort so gut wie nie einen Stellplatz und musste auf das Parkhaus der Mall ausweichen. Wie immer überkam mich ein mieses Gefühl, wenn ich zu spät oder wie jetzt auf den letzten Drücker dort ankam. Aber wie so oft hatte Julien, kurz bevor wir losmussten, eine frische Windel gebraucht. Dann hatte ich Steven noch einmal absaugen müssen, weil die Pflegekraft nicht pünktlich gekommen war … Irgendetwas kam mir immer dazwischen. Also betrat ich zum zweiten Mal in dieser Woche die Praxis ziemlich abgehetzt auf die letzte Sekunde.

»Hallo Mrs. Franklin, hi Julien. Gehen Sie schon einmal in Raum Zwei. Mrs. Bing kommt dann gleich zu Ihnen.« Wie immer begrüßte uns die Sprechstundenhilfe der Praxis freundlich lächelnd. In den zweieinhalb Jahren, die ich zweimal wöchentlich hierher kam, hatte ich sie noch nie schlecht gelaunt erlebt, was ich wirklich bewunderte. Allerdings war ich früher in meinem Geschäft nicht anders gewesen. Ich hatte meinen Blumenladen und die Arbeit mit den Pflanzen und den Kunden geliebt, aber … Schnell verdrängte ich den Gedanken an meinen eigenen kleinen Laden in Solana Beach. Das war in einem anderen Leben gewesen, in dem Leben davor. Nun war ich im Leben danach und hatte keine Zeit, über längst Vergangenes nachzudenken oder diesem nachzutrauern. Meine oberste Priorität galt nun schon lange nicht mehr meinem Leben, sondern dem meiner beiden Männer. Julien und Steven, sie waren mein ganzer Lebensinhalt und stellten mich täglich vor unzählige Herausforderungen. Erinnerungen an Solana Beach taten nur weh und kosteten Zeit, die ich nicht hatte. Nicht haben durfte.

Meine Aufmerksamkeit brauchte ich jetzt für Julien, der heute so gar keine Lust zu seinen Übungen hatte und schon motzte, ehe Mrs. Bing überhaupt den Raum betrat.

»Hause gehn«, verlangte er lautstark, aber diesen Wunsch konnte ich ihm leider nicht erfüllen.

»Nein, wir spielen jetzt mit Mrs. Bing. Du willst doch mal ein großer, starker Junge sein. Wenn du schön lieb bist, gehen wir nachher noch mit Daddy in den Garten.« Meine Schwiegermutter würde zwar meckern, falls sie uns erwischen würde, aber vielleicht hatte ich ja Glück und schaffte es, bevor sie aus dem Büro kam. Denn auf ihr Gezeter hatte ich noch weniger Lust, als auf Juliens Gejammer wegen der Krankengymnastik. Mrs. Bing gelang es zum Glück meistens, ihn nach kurzer Zeit so weit zu motivieren, dass er wenigstens unter Gestöhne bereit war, seine Übungen zu absolvieren. Aber heute war ein Tag, an dem gar nichts ging. Kaum betrat sie den Raum, fing Julien schon lautstark an zu weinen.

»Will nich. Will Hause. Nein, Nein, Nein!« Obwohl er noch nicht besonders gut sprach, so konnte er doch schon sehr deutlich machen, wenn er etwas nicht wollte und Krankengymnastik gehörte im Moment eindeutig dazu. Genau wie Ergotherapie und Logopädie. Aber er brauchte seine Therapien nun einmal, da führte kein Weg dran vorbei. In acht Wochen würde er drei werden und er war gegenüber seiner Altersgruppe weit zurück, konnte weder frei laufen – an Möbel entlang funktionierte es seit einiger Zeit – noch sprach er mehr als Zwei-Wort-Sätze. Warum das so war und ob er nun behindert oder entwicklungsverzögert war, darüber stritten sich die Ärzte teilweise. Obwohl inzwischen immer mehr in Richtung einer Entwicklungsverzögerung tendierten, aber mir war es mittlerweile egal. Ob nun die Frühgeburt oder ein noch nicht entdeckter Gendefekt der Auslöser war, änderte nichts an unserer Situation. Julien war mein ein und alles und da er mein einziges Kind war, hatte ich keine Vergleiche. Für mich war er einfach perfekt so, wie er war. Nichts konnte mich mehr aufregen, wie die Ärzte, die nach fünf Minuten, in denen sie ihn in einer für ihn fremden Umgebung gesehen hatten, über ihn urteilten. Na ja, abgesehen von meinen Schwiegereltern vielleicht. Aber mit denen musste ich leider leben – Steven zuliebe.

Endlich war die halbe Stunde rum und sowie ich Julien angezogen hatte, lachte er schon wieder und winkte Mrs. Bing zu.

»Vielleicht sollten wir mal eine Pause machen. Ich habe das Gefühl, ihr beide könntet eine Auszeit gut brauchen. Vielleicht könnt ihr mal ein paar Tage wegfahren, andere Sachen sehen und durchatmen.« Mrs. Bing lächelte mir zu, bloß schaffte ich es einfach nicht, es zu erwidern. Wie stellte sie sich das denn vor? Wir waren zwar nicht befreundet, aber wenn man sich über so lange Zeit mehrmals wöchentlich sieht, spricht man ja auch mitunter über Privates. Daher musste sie wissen, dass ich Los Angeles nicht verlassen konnte, egal wie gern ich es manchmal wollte und wie sehr ich mich nach Solana Beach zurücksehnte. Ein Urlaub wäre ein Traum, würde es aber auch bleiben. Für Steven musste ich stark sein und somit war unser Leben hier, so sehr ich ein paar Tage Ausspannen gebrauchen könnte. Es gab nun einmal keine andere Wahl.

»Ich werde darüber nachdenken«, versprach ich trotzdem halbherzig. Aber wir wussten beide, dass ich es nicht tun würde.

»Okay, aber selbst wenn ihr hier in L.A. bleibt, möchte ich die Pause. So gern ich euch mag, in den nächsten sechs Wochen möchte ich Julien hier nicht sehen. Genießt lieber etwas die Sonne, geht von mir aus ins Aquarium oder in den Park. Manchmal animiert das normale Leben mehr als jede Therapie …« Sie sprach weiter, aber ich hörte ihr gar nicht wirklich zu. Das normale Leben? Wenn ich nur wüsste, was das war. Vorher, ja, da hatte ich ein tolles Leben geführt. Als ich mit Julien schwanger geworden war, hielt ich mich sogar für die glücklichste Frau der Welt. Ich hatte einen Partner, der mich sinnbildlich auf Händen trug, ein eigenes gut laufendes Geschäft, das ich über alles liebte, Freunde und war zudem mit unserem Wunschkind schwanger. Wenn ich daran zurückdachte, dass mein einziges Problem ein paar verwelkte Blumen waren, die ich entsorgen musste, konnte ich heute nur lachen, obwohl mir eher nach Weinen zumute war. Aber dann veränderte sich unser Leben von einer Sekunde zur anderen völlig. »… Versuch auch bei den sonstigen Therapien eine Pause durchzusetzen. Es müssen ja nicht gleich sechs Wochen sein, obwohl ich das befürworten würde, aber wenigstens vier sollten es schon sein. Hörst du mir zu, Mara ähm entschuldige, Mrs. Franklin?« Das war das erste Mal, dass sie mich mit Vornamen ansprach und das tat so gut, fast als hätte ich wieder eine Freundin.

»Bleiben Sie ruhig bei Mara«, bat ich sie deshalb.

»Okay, Mara, ich bin Fiona, aber jetzt möchte ich euch wirklich nicht mehr sehen. Julien wird schon ganz ungeduldig.« Das stimmte, während wir uns unterhielten, hatte er zuerst mit ein paar Bausteinen gespielt, inzwischen war ihm das wohl zu langweilig und er war zur Tür gekrabbelt und versuchte, sich daran hochzuziehen. Da er aber nichts hatte, an dem er sich festhalten konnte, funktionierte das nicht und er fing jetzt lautstark an zu jammern.

»Tschüß, bis zum nächsten Mal«, verabschiedete ich mich und hob meinen kleinen Goldschatz schnell auf den Arm. Sofort war er wieder ruhig und lächelte. Laut meiner Schwiegermutter verwöhnte ich ihn ja viel zu sehr. Aber was verstand eine Frau wie sie schon davon? Nach Juliens Geburt hatte sie ihn zunächst mit Geschenken überhäuft, für die er noch viel zu klein war. Was sollte ein neugeborenes Baby auf der Kinderintensivstation mit einem ferngesteuerten Auto? Überall hatte sie mit ihrem Enkel angegeben, der sicher einmal ihre Firma übernehmen würde. Er war der Erbe, dem künftig alles gehören würde, da Steven seit seinem Unfall ja gesundheitlich nicht mehr in der Lage dazu war. Doch schon wenig später wurde klar, dass Julien kein normales Baby war. Seine Muskeln waren zu schwach und trotz Krankengymnastik konnte er sich mit sechs Monaten noch immer nicht drehen. Da wurde auch das Enkelkind uninteressant. Wenn nicht geradezu lästig. Heute schämte sie sich sogar für ihn und hielt ihn von ihren tollen Freunden fern.

Warum sie trotzdem darauf bestand, dass wir in dem kleinen Häuschen auf dem Grundstück ihrer Villa lebten, verstand ich nicht. Der riesige, parkähnliche Garten wäre ein Paradies für Julien zum Spielen, allerdings konnte meine Schwiegermutter es auf den Tod nicht ausstehen, wenn wir uns dort aufhielten. Selbst Steven sah sie nicht gern draußen und so hielten wir uns weitgehend im Haus auf, da Steven nicht mehr gern in die Öffentlichkeit ging.

Wehmütig dachte ich an die Zeit unseres Kennenlernen zurück, während ich Julien in seinen Buggy setzte und anschnallte. Dabei hatte ich mir schon vor über zwei Jahren verboten, an das Leben davor zu denken. Alles, was zählte, war unser jetziges – das Leben danach. Denn das war die Zeitrechnung, in der ich lebte. Wen interessierte schon Christus Geburt? Bei mir war Jahr zwei bald herum und Jahr drei würde beginnen. Inzwischen hoffte ich gar nicht mehr darauf, dass es besser werden würde oder leichter, sondern nur noch, dass uns größere Tragödien erspart blieben. Natürlich würden wir diesen Tag feiern, obwohl Steven davon gar nichts hören wollte. Aber immerhin war dieser Tag nicht nur der Jahrestag der größten Katastrophe in unserem Leben, sondern auch Juliens Geburtstag, denn die Geburt war durch die Aufregung ausgelöst worden. Heute erleichterte mir die Geburt die Erinnerungen an diesen Tag, obwohl es damals doppelt belastend war.

»Mara? Bist du es, Mara Webber ähm Franklin?« Eine Stimme, die ich unter Tausenden erkannt hätte, riss mich aus meinen Gedanken. Schnell drehte ich mich um, um zu sehen, ob sie es wirklich war.

»Jodie, was machst du denn in Los Angeles?« Das klang viel abweisender, als ich es wollte. Immerhin war sie meine beste Freundin gewesen und sie war es nicht, die den Kontakt abgebrochen hatte, sondern ich. Allerdings nicht freiwillig. »Ich freue mich wirklich, dich zu sehen«, schob ich deshalb noch hinterher. Musste sie gerade heute auftauchen, wo meine Gedanken sowieso ständig in Solana waren?

Mara – Alte Freunde

»Ich freue mich so, dich zu sehen. Unser letztes Treffen ist viel zu lange her. Wie geht es dir? Du musst mir alles erzählen.« Jodie lachte über sich selbst, weil sie mich so mit Fragen bombardierte, statt mir meine zu beantworten. »Ich bin mal wieder unmöglich, aber so kennst du mich ja.« Zumindest kannte sie mich früher. Doch das war vor dem schrecklichen Tag. Danach hatte sie versucht, den Kontakt zu halten, aber ich konnte es einfach nicht ertragen, dass ihr Leben weiter ging, während meines zum Stillstand gekommen war. Außerdem sahen meine Schwiegereltern es nicht gern, wenn ich Besuch bekam oder irgendwo hinfahren wollte.

»Hast du jetzt Zeit? Ich bin noch ein paar Stunden in der Stadt und würde gern einen Kaffee mit dir trinken gehen. Hier in der Mall gibt es ein Café mit Kinderspielecke, vielleicht gefällt das auch deinem Kleinen. Dort treffe ich mich nachher sowieso mit Lyanne – meiner Chefin – und ihrem Sohn auf ein Stück Kuchen.« Sie tat so, als wäre alles ganz normal zwischen uns und nicht, als hätte ich nicht vor über zweieinhalb Jahren jeglichen Kontakt zu ihr und meinem alten Leben in Solana Beach völlig abgebrochen. Konnte es so leicht sein, mal einen Tag auszuspannen? Und durfte ich das überhaupt? Nur eine normale Frau sein, die sich mit Freunden traf, in ein Café ging und entspannte? Zu Hause wurde ich erst später erwartet, trotzdem fiel es mir schwer, nicht sofort wieder zu Steven zu eilen.

»Spielen gehen. Kuchen«, verlange Julien nun lautstark. Er verstand jedes Wort und war begeistert von der Idee. Jodie strubbelte ihm durchs Haar.

»Siehst du, dein Kleiner ist auch dafür.« Ihr Blick war so bittend, dass ich mich überwand und zusagte.

»Okay, ich bin dabei. Vorher muss ich nur kurz zu Hause anrufen, ob alles in Ordnung ist.« So ganz konnte ich halt nicht aus meiner Haut und zum Glück zeigte Jodie Verständnis dafür. Sie fragte nicht warum, schließlich war sie in den ersten Monaten nach dem Unfall immer für mich da gewesen und wollte mich unterstützen, wenn ich sie gelassen hätte. Aber als ich die Hilfe meiner Schwiegereltern angenommen hatte, sah meine Schwiegermutter es nicht gern, dass ich meine alten Kontakte pflegte. Immer wieder hielt sie mir vor, wie selbstsüchtig das war und für Steven und Julien hatte ich dann irgendwann selbst auf Anrufe und Nachrichten verzichtet. Mir blieb ja keine andere Wahl, als mich mit meinen Schwiegereltern gut zu stellen. Stevens Krankenversicherung deckte zwar die notwendigsten Kosten, aber deren und meine Ansichten darüber, was nötig war, gingen weit auseinander und dann gab da ja noch Julien, dessen Behandlungen ebenfalls Unsummen verschluckten. Doch daran wollte ich jetzt nicht denken. Jodie blieb neben mir stehen, während ich mein Handy aus der Tasche zog und die Kurzwahl für zu Hause drückte.

»Mara, ist etwas passiert?« Jennifer – eine der drei Pflegekräfte, die Steven im Wechsel betreuten – klang richtig besorgt. Irgendwie verständlich, sie kannte meinen Zeitplan und normalerweise rief ich nie zwischendurch an, sondern hielt diesen absolut exakt ein. Dazu gehörte, dass ich vor der Abfahrt anrief.

»Nein, ich wollte mich nur erkundigen, wie es heute aussieht und ob ich mit Julien noch etwas auf einen Spielplatz gehen kann.« Das Kaffeetrinken verschwieg ich lieber. Nicht wegen Jennifer, die mich immer wieder aufforderte, mir meine Freiheit zu nehmen, bloß meine Schwiegermutter durfte nichts davon erfahren.

»Steven schläft, er ist heute nicht so gut drauf, aber es war nichts Besorgniserregendes. Ich sitze bei ihm und lese. Geht ihr mal ruhig raus. Julien muss auch mal etwas anderes und vor allem andere Kinder sehen. Ich decke dich, falls der Dra… Mrs. Franklin fragt.« Beinahe hätte sie meine Schwiegermutter als Drachen bezeichnet. In Gedanken tat ich das oft, aber laut auszusprechen traute ich es mich gar nicht. Obwohl es wahrscheinlich leicht paranoid war, hatte ich Angst davor, sie könne es mitbekommen. In Stevens Zimmer lief immer eine Überwachungskamera, denn sie traute niemanden und hatte mich und die Pflegekräfte mehr als einmal beschuldigt, Steven zu misshandeln, dabei käme keiner von uns auf die Idee. Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen. Er hatte schon genug gelitten und jeder wollte ihm helfen, obwohl er manchmal echt fiese Sprüche von sich gab. So war er früher nie gewesen, aber die Schmerzen machten einen verbitterten Mann aus ihm.

»Okay, ich bleibe höchstens eine Stunde, dann komme ich ins Haus.« Nach Hause konnte ich einfach nicht sagen, auch nach all der Zeit noch nicht, denn es fühlte sich nicht wie ein Zuhause an. Es war nur das Gebäude, in dem ich lebte, oder besser, in dem ich existierte, Leben konnte man das kaum nennen. Ich legte auf und wandte mich Jodie zu.

»Alles geregelt, nun habe ich eine Stunde Zeit.« Jodie freute sich sichtlich. Julien spielte in der Zwischenzeit mit einem Auto, das im Buggy gelegen hatte. Er war ein sehr genügsames Kind und daran gewöhnt, zu warten.

Gemeinsam liefen wir zu dem Café, von dem Jodie gesprochen hatte. Währenddessen erzählte sie mir von ihrem Leben in Solana Beach, das so vertraut und trotzdem so fremd klang. Noch vor drei Jahren war ich ein Teil des Solana-Beachcenters gewesen und Besitzerin meines eigenen kleinen Blumenladens, doch jetzt klang es wie eine völlig andere Welt.

»Das Artists würde dir gefallen. Es ist ein Geschäft für Bastel- und Malbedarf und gleichzeitig eine Art Galerie mit völlig unterschiedlichen Kunstwerken. Ich bin eher für den Verkauf der normalen Waren zuständig, springe allerdings oft im Büro ein, während Lyanne sich um die Präsentation und den Verkauf der Kunstwerke kümmert. Sie hat vorher in einer Galerie gearbeitet und hat vieles verändert, seit sie bei uns ist. Nicht zuletzt ihr ist es zu verdanken, dass es nun zusätzlich Ausstellungen in verschiedenen Hotels und nicht nur in Solana gibt.« Für mich klang es wie eine völlig andere Welt, dabei konnte ich mich an Connor sogar noch erinnern. Als ich mein Geschäft aufgeben musste, hatte er mir den Bastelbedarf, den der neue Inhaber meines Blumenladens nicht haben wollte, für seinen neuen Laden abgekauft. Das musste das Artists sein, zur Eröffnung war ich schon nicht mehr in Solana Beach gewesen. Sehnsucht nach meinem alten Leben erfasste mich. Wäre Steven an diesem Tag nur wie versprochen in der Wache geblieben, dann wäre alles anders gekommen und wir würden noch immer glücklich dort leben. Schnell verdrängte ich den Gedanken wieder. Es war ein Unfall gewesen und Steven traf keine Schuld, außerdem hatte er am meisten gelitten und verloren – litt ja bis heute täglich darunter – ihn jetzt noch dafür verantwortlich zu machen, wäre unfair. Schlimm genug, dass meine Schwiegermutter es so oft tat. Wenn sie nicht gerade mir die Schuld gab, weil ich in sein Leben getreten war. Manchmal verteilte das Leben einfach Arschkarten und es half nicht, irgendwem die Schuld dafür zu geben. Deshalb hörte ich lieber weiter zu, was Jodie über das Geschäft und ihre Kollegen erzählte.

»… Und was machst du so?« Irgendwann hatte die Frage ja kommen müssen.

»Ich kümmere mich immer noch ausschließlich um Julien und Steven und lebe vom Geld meiner Schwiegereltern.« Jodie schwieg und ich bereute meine Worte sofort. Irgendwie hatte es viel patziger geklungen, als ich es beabsichtigte. Aber wenn ich ehrlich sein wollte, war es nun einmal so. Aus der selbstständigen Geschäftsfrau war eine Frau geworden, die sich von der Familie ihres Mannes aushalten ließ. Ich hasste es. Zumal meine Schwiegermutter es mir ständig vorhielt, wie abhängig ich von ihr war. »Sorry, ich wollte nicht so zickig klingen, aber ich bin es nicht mehr gewohnt, Smalltalk zu halten. Vielleicht sollte ich besser nach Hause fahren und dir nicht den Tag verderben.« Doch noch bevor ich mich umdrehen konnte, griff Jodie nach meinem Arm und drehte mich so, dass ich ihr in die Augen sehen musste.

»Lass den Quatsch, Mara. Ich lasse mich nicht wieder so leicht wegschicken, irgendwie habe ich das Gefühl, dass du gerade dringend eine Freundin brauchst und dieses Mal lasse ich mich nicht abwimmeln, nicht so wie damals. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich mir das selbst vorgeworfen habe. Aber da du deine Telefonnummer geändert hast, konnte ich dich nicht erreichen. Einmal stand ich sogar vor eurem Tor und habe geklingelt, aber ich bin nicht hineingelassen worden.« Davon habe ich nie etwas erfahren. Wahrscheinlich hatte meine Schwiegermutter verboten, jemanden anderes, außer dem Pflegepersonal, hinein zu lassen. Das sähe ihr ähnlich. Schließlich war eine ihrer Bedingungen, als es um die Kostenübernahme ging, dass wir auf ihr Grundstück ziehen mussten und ich mich verpflichtete, mich ausschließlich um meinen Mann und meinen Sohn zu kümmern. Und genau das tat ich seitdem. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr. Ich schlief kaum und wenn dann nicht tief, um ja keinen Notfall zu verpassen, und ließ mich durch nichts von meiner Aufgabe ablenken. Zumindest hatte ich das bis jetzt getan. Doch heute würde ich eine Ausnahme machen und mir diese eine Stunde stehlen – für mich. Mrs. Franklin senior würde es ja nie erfahren.

Wie verhext klingelte genau in der Sekunde, in der ich das beschloss, mein Handy. Reflexartig riss ich es aus der Tasche und ging sofort dran. Normalerweise bedeuteten solche Anrufe einen akuten Notfall bei Steven. Auch wenn das Telefonat mit Jennifer erst ein paar Minuten her war, so konnten solche Notfälle innerhalb von Sekunden geschehen.

»Ja, was ist passiert?« Meine Stimme klang selbst in meinen Ohren panisch.

»Wo bist du?« Die Stimme meiner Schwiegermutter donnerte regelrecht aus dem Telefon, so dass Jodie mich erstaunt ansah. Mir war schon jetzt klar, was das bedeutete, sie hatte im Büro die Livebilder der Kamera laufen gehabt und dadurch mitbekommen, dass ich länger wegbleiben wollte. Die Frau war ein echter Kontrollfreak. Wahrscheinlich kochte sie gerade, weil Jennifer mich deckte. Hoffentlich warf sie die Arme nicht gleich hinaus, weil sie sich verplappert hatte.

»Ich bin noch in der Stadt und wollte gerade mit Julien auf einen Spielplatz. Er braucht Kontakt zu anderen Kindern hat seine Therapeutin gesagt.« Das stimmte sogar, Fiona hatte schon öfter darauf hingewiesen und seine Logopädin war ebenfalls der Meinung, es würde ihm helfen, schneller sprechen zu lernen. Aber natürlich sah der Drache das anders.

»Darüber reden wir heute Abend noch.« Mehr sagte sie nicht, sondern legte einfach auf. Na, das konnte ja etwas werden.

»Musst du gehen?«, fragte Jodie besorgt und sah mich mitleidig an. Wahrscheinlich hatte sie jedes Wort verstanden, so wie mein Schwiegerdrache gebrüllt hatte. Irgendwie weckte das den Trotz in mir, den ich sonst hinunterschluckte.

»Nein, lass uns gehen, sauer ist sie so oder so und Julien freut sich auf den Kuchen.« Entschlossen ging ich weiter. Heute würde ich zum ersten Mal nicht sofort springen, obwohl ich es später sicher bereuen würde.

Matt – Eine seltsame Frau

Lustlos lief ich hinter Connor her. Warum zum Teufel hatte ich diesem Ausflug nur zugestimmt? Los Angeles war wirklich nicht meine Lieblingsstadt – viel zu laut, zu voll, die Abgase und dann auch noch dieses Shoppingcenter. Obendrein lebten meine Eltern seit einigen Jahren hier in der Stadt. Ein weiterer Grund, sie zu meiden. Welcher Mann betrat außerdem freiwillig so einen Tempel des Grauens? Ich sicher nicht, aber was tat man nicht alles für seinen besten Freund? Und um den eigenen dunklen Gedanken zu entkommen? Connors bessere Hälfte Lyanne war heute in der Stadt, um einige Einkäufe zu machen und dem Frauenarzt einen Besuch abzustatten. Der Frauenarzt in Solana Beach war gerade im Urlaub. Eigentlich war Jodie als Begleitung mit ihr und ihrem Sohn Nick gefahren, doch Connor hatte es zu Hause nicht ausgehalten. Lyanne übernahm sich seiner Meinung nach zu oft und er hatte Angst, dass darum vielleicht etwas mit dem Baby nicht stimmen könnte. Deshalb wollte er sie beim Frauenarzt überraschen. Blöderweise hatte er den Termin verpasst und Lyanne die Praxis schon längst wieder verlassen, als wir dort ankamen. Wäre er mal gleich mitgefahren, statt auf eine Lieferung zu warten. Das hätte ja Jodie übernehmen können.

Nun hatte er mich in diese Mall geschleppt, hier gab es angeblich ein Café, das Lyanne gern aufsuchte, weil es über eine Spielecke für Nick verfügte. Das Problem war nur, dass er weder wusste, wann sie da sein würden – oder ob überhaupt – noch sich erinnerte, wo dieses Café genau lag. Dabei war er schon selbst dort gewesen. Ganz im Gegensatz zu mir, weshalb ich nun sinnlos hinter ihm her trottete. Langsam verfluchte ich mich dafür, ihm überhaupt erzählt zu haben, dass ich heute keine Schüler hatte. Wenn meine große Klappe nicht wäre, könnte ich jetzt gemütlich am Strand liegen, surfen oder mal etwas am Haus machen. Aber nein, ich musste ja den Mund aufreißen und dann auch noch diesen Mist zusagen.

»Hier muss das doch irgendwo sein«, murmelte Connor vor sich hin, sah sich aber immer noch relativ orientierungslos um.

»Soll ich mal im Internet nachschauen?« Mein Vorschlag wurde nur mit einem Augenrollen beantwortet.

»Das hab ich schon, deshalb weiß ich ja, dass es hier sein müsste. Gleich neben dem Dessous-Geschäft. Aber ich finde beide nicht.« Er drehte sich im Kreis und holte dann doch wieder sein Handy heraus.

»Dad! Matt! Was macht ihr denn hier?«, rief auf einmal eine sehr vertraute Kinderstimme und schon stürmte Nick auf uns zu. Na, dann waren wir wohl doch nicht völlig falsch hier.

»Wir wollten euch überraschen.« Connor zwinkerte seinem Stiefsohn zu und zerzauste ihm liebevoll die blonden Haare.

»Connor Fisher, du verrückter Kerl, hast du mich wirklich bis nach L.A. verfolgt?« Lyanne sah aus, als wisse sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Entschied sich dann aber fürs Lachen.

»Sorry, mein Schatz, ich wollte unbedingt beim Arzt dabei sein, bin aber zu spät gekommen und du warst schon weg.« Er sah sie so zerknirscht an, dass ich fast Mitleid mit ihm bekam und ihr schien es nicht besser zu ergehen.

»Warum hast du das denn heute Morgen nicht gesagt? Dann hätten wir doch zusammen fahren können.« Das fragte ich mich allerdings auch. Connors Herumgedruckse hörte ich mir aber nicht an, sondern beschäftigte mich lieber mit Nick. Den Jungen sah ich sonst nur wenig, obwohl ich ihn wirklich gern mochte. Zugegebenermaßen hatte er sonst ständig seinen Hund dabei und auf den reagierte ich leider hochgradig allergisch.

»Und was hast du gemacht, während deine Mom beim Arzt war?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Lyanne ihn bei der Untersuchung dabei haben wollte.

»Da war ich mit Jodie im Park auf einem Spielplatz. Aber unser Strand ist viel schöner. Dort war überall Beton, kein Sand.« Das verstand ich voll und ganz, der Kleine war eine Wasserratte, so wie ich es ebenfalls seit Kindesbeinen an war, und er lernte gerade Surfen.

»Apropos Jodie, wo ist die eigentlich?« Stimmt, jetzt da Connor fragte, fiel mir auch auf, dass sie fehlte.

»Sie hat eine alte Freundin gesehen und wollte unbedingt mit ihr reden. Wir treffen uns im Kindercafé.« Lyanne lächelte mich leicht unsicher an, sie wusste, dass ich normalerweise solche Orte mied. In meinen Kursen hatte ich zu viele Katastrophenkinder. Leider war nicht jedes Kind so gut erzogen wie ihr Sohn. »Aber vielleicht sollten wir uns einen anderen Treffpunkt aussuchen, jetzt da ihr hier seid.« Nicks Unterlippe schob sich sofort schmollend nach vorn. Wahrscheinlich hatte er sich sehr darauf gefreut und das wollte ich ihm nicht verderben. Die Kinder dort würden mich schon nicht auffressen und Nick war mein kleiner Kumpel, für ihn tat ich alles – na ja, fast alles.

»Nein, lasst uns dorthin gehen. Die haben sicher Kuchen und Eisbecher für mich.« Ein strahlendes Lächeln von Nick belohnte mich dafür. Schnell hielt ich ihm die Handfläche hin, damit er einschlagen konnte.

»Danke, Matt.« Wenig später enterten wir einen Tisch direkt neben der Spielecke des Kindercafés. Nick ging gleich zum Spielen, während wir in die Karte guckten. Die Eisbecher hier sahen wirklich gut aus. Wenn ich mich schon von Connor in diese Höllenstadt schleifen lassen musste, konnte er mich wenigstens mit etwas Süßem belohnen. Am besten nahm ich eine Geschmacksbombe – wie der Eisbecher mit Früchten und Schokoladensoße auf der Karte hieß.

Lyanne zeigte Connor inzwischen das neuste Ultraschallbild und er starrte verliebt darauf statt in die Karte, da er aber sowieso immer dasselbe nahm – Spaghettieis – brauchte er dort ja gar nicht hineinsehen. Lyanne würde sicher etwas mit Früchten nehmen, seit sie schwanger war, aß sie Unmengen an Obst.

»Wollen wir auf Jodie warten, oder schon bestellen?«, fragte ich, als der Kellner in unsere Richtung sah. Doch genau in diesem Moment entdeckte ich die Fehlende schon. Sie kam zusammen mit einer Frau, die einen Buggy schob, auf uns zu. Von der sah man außer langen blonden Haaren nicht viel, denn sie hielt den Kopf gesenkt. Überhaupt wirkte ihre ganze Körperhaltung sehr unsicher. Sie schien sich absolut nicht wohl zu fühlen. Als Surflehrer war ich es gewöhnt, immer auf die Körpersprache meiner Schüler zu achten, und ihre sagte eindeutig, dass sie sich ganz weit weg wünschte. Dagegen war der kleine Kerl im Buggy umso fröhlicher, er zeigte aufgeregt auf die Eisbecher auf den anderen Tischen und klatschte dann in seine Hände.

»Mommy ham«, rief er lautstark. Die Frau entspannte sich etwas und nickte.

»Ja, Julien. Gleich bekommst du ein Eis.«

»Eis, Eis, Eis«, echote er. Inzwischen hatten die drei uns erreicht und Jodie stellte uns vor.

»Das ist Connor, einer der beiden Besitzer des Artists, wo ich inzwischen arbeite. Vielleicht kennt ihr euch noch. Dann haben wir hier seine Verlobte Lyanne, ihr Sohn heißt Nick und spielt dort drüben.« Lächelnd zeigte sie in Richtung der Spielecke und zum ersten Mal hob die Unbekannte ihren Kopf. Mich traf es fast wie ein Schlag, denn dieses Gesicht hatte ich schon einmal gesehen. Im Moment wusste ich zwar nicht, woher es mir so bekannt vorkam, aber ich war mir ganz sicher. Gesichter vergaß ich nur selten. »Und das ist Matt, ein guter Freund von uns, er ist Besitzer einer Surfschule in Solana Beach.« Das klang natürlich gleich viel hochtrabender als Surflehrer.

»Das sind Mara und ihr Sohn Julien. Mara gehörte früher das Blumengeschäft gegenüber des Artists. Nun lebt sie mit ihrer Familie leider hier in L.A. und wir haben uns ewig nicht gesehen.« Höflich stand ich auf und reichte ihr die Hand. Sie lächelte andeutungsweise und dieses Lächeln berührte etwas in mir. Es lag eine tiefe Traurigkeit darin, die sie zu überspielen versuchte. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war es fröhlicher. Das wusste ich noch. Nur wollte mir absolut nicht einfallen, wann und wo wir uns begegnet waren. In diesem Blumenladen ganz sicher nicht. Mit Grünzeug konnte ich nicht viel anfangen, wenn ich ehrlich war.

»Schön, dich kennenzulernen. Wollen wir Julien zu Nick in die Spielecke lassen? Er freut sich bestimmt über Gesellschaft.« Lyanne lächelte freundlich, trotzdem sah Mara sich etwas skeptisch um, hob ihren Sohn dann doch aus dem Buggy heraus.

»Ich weiß aber nicht, ob Julien der richtige Spielpartner für deinen Sohn ist. Die meisten Kinder können leider nicht viel mit ihm anfangen. Er ist nicht so weit wie andere Kinder in seinem Alter.« Man konnte ihr ansehen, dass es ihr wehtat, das laut auszusprechen. Trotzdem ging sie mit dem Kleinen auf dem Arm die paar Schritte hinüber und setzte ihn auf dem Boden ab. Dort krabbelte der Junge zu einer Kiste mit Autos, zog sich etwas unbeholfen daran hoch und fing an, diese auszuräumen. Nick gesellte sich zu ihm und nachdem Mara sich davon überzeugt hatte, dass die beiden allein klar kamen, setzte sie sich zu uns.

»Siehst du, das geht schon. Nick kann gut mit jüngeren Kindern umgehen. Nun such dir erst einmal etwas aus. Wir haben von hier aus ja alles im Blick.« Im Gegensatz zu Jodies Freundin war Lyanne völlig entspannt. Mara sah die ganze Zeit angespannt zu ihrem Sohn.

»Wie geht es Steven?« Meiner Meinung nach stellte Jodie da eine absolut harmlose Frage, aber Maras Reaktion sagte irgendetwas völlig anderes aus. Einen Moment lang senkte sie den Kopf und als sie ihn wieder hob, lag etwas Kämpferisches in ihrem Blick. Keine Ahnung, wie ich das beschreiben sollte, irgendwie eine Mischung aus Angst, Trauer und Wut.

»Ich würde gerne sagen, dass es ihm gut geht. Doch das wäre eine Lüge. Möchtest du es wirklich wissen? Es könnte euch allen den Appetit verderben.« Einen Moment lang sahen sie alle, außer mir, Mara geschockt an. Dann senkte sie den Kopf. Ich war mir sicher, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen, bevor sie den Blick abwandte. Obwohl ich sie überhaupt nicht kannte, verspürte ich das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Doch das stand mir natürlich nicht zu. Nach einem kurzen unangenehmen Schweigen ergriff sie wieder das Wort: »Ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe. In den letzten Jahren habe ich es verlernt, Smalltalk zu betreiben, und lege jedes Wort auf die Goldwaage. Tut mir leid, wenn ich euch den Tag verdorben habe.« Sie stand wirklich auf und ich wollte nichts lieber, als sie aufzuhalten, auch wenn ich selbst nicht wusste, warum. Irgendetwas hatte Mara an sich, das mich völlig in ihren Bann zog. Dabei stand ich sonst eher auf unkomplizierte Frauen.

»Bleib, bitte. Ich bin mir sicher, das lässt sich alles klären. Du musst nichts erzählen, wenn du nicht willst. Und guck doch, wie schön die Jungs spielen.« Lyanne rettet die Situation mit ihrer Einmischung und ich hätte sie am liebsten aus Dankbarkeit gedrückt, als Mara sich wieder setzte. Jodie sah Lyanne ebenfalls dankbar an. Ihr fehlten wohl ebenfalls die Worte.

Mara – Normalität – was ist das?

Eigentlich sollte ich es inzwischen durch meine Schwiegermutter gewohnt sein, mich als Außenseiter zu fühlen, doch heute war es besonders schlimm für mich. Dabei gaben sich alle die größte Mühe, mich zu integrieren und mit einzubeziehen, aber ich spürte doch, dass ich einfach nicht zu ihnen passte. Irgendwie stellte ich mich selbst ins Abseits. Das Gespräch drehte sich um Dinge, über die ich nicht mitsprechen konnte.

Das Artists hatte ich schließlich noch nie gesehen und die Zeit, in der ich selbst Geschäftsinhaberin gewesen war, schien mir so unendlich weit weg. Einen anderen Job hatte ich zur Zeit auch nicht, wenn man von der Pflege Stevens und das Versorgen von Julien absah. Für die meisten Menschen zählte aber nur bezahlte Arbeit, das hatte ich im letzten Jahr öfter bemerkt, sobald das Gespräch irgendwo darauf kam, dass ich nur zu Hause war. Deshalb sprach ich inzwischen nicht mehr darüber, wie viel ich mit meinen Männern zu tun hatte. Ich tat es ja gern, schließlich liebte ich sie beide, doch manchmal wünschte ich mir nur eine Auszeit. Viel öfter aber einfach einen gesunden Ehemann und Sohn. Natürlich wusste ich, dass es unmöglich war, diesen Wunsch zu erfüllen, dennoch durfte ich ja träumen.

»Wenn du mal wieder nach Solana Beach kommst, musst du unbedingt bei uns im Laden vorbeisehen. Du warst doch schon immer so kreativ, ich glaube, es wäre genau dein Ding.« Jodie strahlte mich an und ich nickte brav. Ich brauchte ihr ja nicht auf die Nase zu binden, dass ein Besuch in Solana im Moment so realistisch wie eine Reise zum Mond für mich war. Und erst recht nicht, dass meine Kreativität seit Stevens Unfall völlig verschwunden war. Mein Blick wanderte zu meinem Sohn, der zu meiner Überraschung absolut friedlich mit Nick spielte. Obwohl dieser ja älter war und sicher sonst anders spielte, ließ er immer wieder einen Ball eine Kugelbahn hinunterrollen, was Julien mit Klatschen und Gelächter kommentierte. Wenigstens einer von uns schien sich hier also wohl zu fühlen. Da er viel zu selten mit anderen Kindern zusammenkam, wenngleich es ihm sicher guttäte, blieb ich brav sitzen, obwohl alles in mir danach schrie, hier zu verschwinden. Zu viele Erinnerungen an meine Freundschaft mit Jodie und das Kennenlernen mit Steven kochten hoch.

»Wenn du schon mal da bist, musst du unbedingt mit dem Zwerg zu mir an den Strand kommen. Zum Surfen ist er zwar noch zu klein, aber man kann in der Bucht auch prima baden, da es zuerst ganz flach rein geht und die großen Wellen erst weiter draußen kommen.« Mechanisch nickte ich. Dabei konnte ich es mir kaum vorstellen, mit Julien wirklich an den Strand zu fahren und dann noch bis Solana Beach raus. So viel freie Zeit hatte ich nicht und würde ich auch nie haben, solange Steven lebte. Und das würde er hoffentlich noch sehr lange, egal wie oft er sagte, dass er gehen wollte, um mir ein besseres Leben zu ermöglichen. Schnell verdrängte ich diese traurigen Gedanken an den Todeswunsch meines Mannes wieder, denn es war zu schrecklich, mich näher damit zu befassen.

»Wirklich überzeugt wirkst du nicht, Mara.« Jodie sah mich skeptisch an. »Dabei würde euch eine Auszeit sicher guttun. Matt will in seinem Haus demnächst Gästezimmer ausbauen und vermieten. Ich kann mir vorstellen, dass das etwas für euch wäre. Er bewohnt ein Stelzenhaus direkt am Stand.« Es klang wirklich traumhaft, allerdings würde es genau das bleiben müssen. Ein Traum. Mit Steven und dem ganzen Pflegeequipment war es unmöglich, wegzufahren. Und wenn er mal wieder im Krankenhaus lag, brachte ich es erst recht nicht fertig, ihn allein zu lassen. Obwohl die Ärzte mir jedes Mal dazu rieten, diese Zeiten zur Erholung zu nutzen. Fraglos würde meine Schwiegermutter mir die Hölle heißmachen, wenn ich auch nur den Wunsch äußerte. Da sie für alles bezahlte, durfte ich ihrer Meinung nach sowieso nur machen, was sie genehmigte. Manchmal fühlte ich mich wie ihre Leibeigene, dabei sollte ich echt Dankbarkeit empfinden, weil sie alles finanzierte. Doch leider verhinderte ihr Verhalten dies sehr effektiv.

»Mara? Hörst du mir eigentlich zu?« Jodie unterbrach meine Gedanken und der traurige Tonfall machte mir sofort ein schlechtes Gewissen. Warum musste ich ständig an meinen Schwiegerdrachen denken, statt mal abzuschalten und den Nachmittag zu genießen? So schnell würde ich wahrscheinlich keine Auszeit wieder bekommen.

»Entschuldige, ich war in Gedanken.« Das hörte sich besser an, als das, was ich eigentlich sagen wollte. ›Ich bin den Umgang mit Menschen nicht mehr gewohnt.‹ Wie sollte ich überhaupt erklären, dass ich kaum noch normale Gespräche führte und das seit Jahren? Bei Steven musste ich mir jedes Wort dreimal überlegen, damit er es nicht falsch auffasste. Bei meiner Schwiegermutter hieß es: Zähne zusammenbeißen und die Klappe halten. Julien war auch kein geeigneter Gesprächspartner. Erstens sprach er ja noch kaum und zweitens war er ein Kind. Ansonsten sah ich ja meistens nur die Ärzte, Pfleger und Therapeuten und mit denen führte ich fast nur Gespräche über Behandlungen und den aktuellen Zustand. Persönliche Plaudereien waren da die absolute Ausnahme, schließlich musste ich immer daran denken, dass sie alle von meiner Schwiegermutter bezahlt wurden. Oh Mann, nun schweifte ich schon wieder gedanklich ab. »Ich bin wahrscheinlich eine furchtbare Begleitung. Soll ich lieber gehen, bevor ich euch noch allen den Tag verderbe?« Eigentlich wollte ich bereits aufstehen, doch Matt war schneller und legte mir die Hand auf die Schulter und mich überlief ein Schaudern. Nicht aus Kälte oder weil ich mich unwohl fühlte, eher das Gegenteil und das durfte nicht sein. Bevor ich mich schnell verabschieden konnte, ergriff er das Wort.

»Bitte bleib und hör auf, dich zu entschuldigen. Es gibt manchmal Situationen, in denen einem nicht nach Reden ist, aber deshalb musst du doch nicht alleine sein. In unserem Kreis ist immer Platz und wir sind nicht immer so aufgekratzt wie heute.« Er sah mich so bittend an, dass ich gar nicht anders konnte, als mich langsam wieder auf meinen Stuhl zu setzen, außerdem verlangte Julien nun lautstark nach Eis und krabbelte zu mir. Dabei grinste er so süß, dass mein Herz regelrecht zerfloss. Mein kleiner Engel, für ihn würde ich wirklich alles tun und jedes Hindernis aus dem Weg räumen, nur um ihn glücklich zu machen.

»Ja, ich bleibe. Es tut mir leid, dass ich so unhöflich war.« Beschämt senkte ich meinen Blick und nahm lieber meinen Sohn auf den Schoß, als die anderen anzusehen. Zu meinem Glück kam jetzt der Kellner und statt weiter auf mein Benehmen einzugehen, ging das Bestellen los. Mir dröhnte schon etwas der Kopf, denn so viel Gerede war ich einfach nicht gewohnt. Die Freunde von Jodie waren zwar weder besonders laut, noch sprachen sie durcheinander, dennoch gab es eigentlich keine Sekunde der Ruhe. Sie erzählten, neckten sich gegenseitig, lachten, erzählten weiter … Obwohl sie sich redlich Mühe gaben, mich einzubeziehen, fühlte ich mich trotzdem wie ein Eindringling. Wahrscheinlich vermieste ich ihnen mit meiner Angespanntheit den ganzen Nachmittag, aber ich konnte nicht aus meiner Haut.

Zum Glück dauerte es nicht lange, bis mein Kaffee und Juliens Eis kam. Nun konnte ich mich darauf konzentrieren, ihn zu füttern. Eigentlich konnte er ja schon allein essen, allerdings nicht besonders gut mit Besteck und ich wollte verhindern, dass er hier im Café mit den Fingern aß und hinterher alles einsaute. Zu meiner Freude und meinem Erstaunen kam von keinem ein Wort dazu. Meine Schwiegermutter regte sich immer tierisch auf, wenn ich den Kleinen fütterte. Ihrer Meinung nach brauchte er nur eine ordentliche Tracht Prügel und dann würde er schon anständig mit Besteck essen. Das war eines der wenigen Themen, wo ich ihr nicht nur innerlich, sondern auch lautstark Kontra gab. Niemand würde meinen Sohn jemals schlagen.

»Hey, kleiner Mann.« Dieser Matt grinste meinem Sohn verschwörerisch zu. »Du magst doch bestimmt noch eine Waffel hinterher, oder? Nick bekommt immer noch eine.«

»Wafefl«, antwortete Julien nuschelnd. Welches Kind würde dazu schon nein sagen? Und ich brachte es nicht fertig, jetzt etwas dagegen zu halten. Obwohl er heute Abend bestimmt nicht mehr richtig essen würde.

»Na, dann komm, Sportsfreund.« Matt hielt Julien die Arme hin und mein Sohn, der sonst jeden Fremden misstrauisch beäugte, wurde zum Verräter und ließ sich ohne Protest hochheben und wegtragen. Nick folgte den beiden zur Theke, wo sie ihre Bestellung aufgaben und nur wenig später hielten die Jungs eine leere Eiswaffel in der Hand. Gemeinsam gingen die drei zur Spielecke. Okay, Julien wurde getragen, doch ihm schien es sichtlich zu gefallen. Alle sahen zu ihnen und zum ersten Mal an diesem Nachmittag sagte keiner ein Wort, sondern jeder hing seinen Gedanken nach. Lange hielt es aber nicht an.

»Matt kann wirklich gut mit Kindern umgehen«, meinte Lyanne lächelnd. »Wir müssen ihn nur davon abhalten, Nummer zwei vor dem ersten Geburtstag mit so etwas zu füttern.« Ihr Mann nickte brav, sah allerdings nicht so aus, als glaubte er an einen Erfolg. Ich beneidete sie so sehr um ihr normales Leben mit so völlig normalen Problemen. Aber was war überhaupt Normalität? Ich kannte es nicht mehr.

Matt – Die Frau ist tabu

Nach dem Eis blieben wir noch etwas im Café. Die Kinder eroberten wieder das Spielzeug und die Frauen unterhielten sich über Lyannes Schwangerschaft, rätselten, welches Geschlecht das Baby wohl haben würde und sowas. Mir fiel es leichter, mich mit den beiden Jungs in der Spielecke aufzuhalten, als mit dieser Mara an einem Tisch zu sitzen. Die Frau hatte irgendetwas an sich, das mich magisch anzog. Obwohl sie kaum sprach und ständig abwesend wirkte, weckte sie etwas in mir. Ich wollte sie beschützen, halten … dabei war sie absolut tabu, denn ich machte mich grundsätzlich nicht an verheiratete Frauen heran. Schließlich war ich nicht mein Vater, der ständig seine Affären hatte, die meine Mutter stillschweigend ignorierte. Aber Mara wirkte so verletzlich und vom Leben gebeutelt, da meldete sich mein Beschützerinstinkt. Es schien nicht so, als hätten sie und der Kleine, der gerade mit einem Auto gegen mein Knie schlug, einen Beschützer. Schnell beugte ich mich zu ihm herab und hielt die kleine Hand vorsichtig fest, um ihm nicht weh zu tun.

»Nein, Julien. Das macht man nicht. Du tust mir sonst weh.« Der Junge sah mich fragend an. Verstand er mich nicht? »Das macht aua«, versuchte ich, es ihm begreiflicher zu machen.

»Oh. Aua.« Nun begriff er, was ich meinte. Traurig sah er mich an, krabbelte ein Stück näher und pustete etwas feucht auf das Knie, das er zuvor mit dem Auto gehauen hatte. Irgendwie ja eklig, da ich nun einen nassen Fleck an der Hose hatte, aber gleichzeitig auch niedlich. Der Kleine besaß ziemlich viel Empathie für sein Alter.

»Hier, damit können Sie es abwischen.« Mara reichte mir ein Feuchttuch und sah mich nur kurz an, bevor sie den Kopf schnell wieder senkte. »Er wollte Sie bestimmt nicht anspucken. Es tut mir leid.« Ihr war das sichtlich peinlich, dabei sah ich die Sache gar nicht so schlimm.

»Danke für das Tuch, aber entschuldigen brauchen Sie sich wirklich nicht. Er meinte es ja nur gut und wollte mein Aua wegpusten.« Sie verzog ihre Lippen zu einem Lächeln, aber es erreichte ihre Augen nicht. Warum nur war diese wunderschöne Frau so furchtbar traurig? Das konnte doch nicht nur daran liegen, dass ihr bezaubernder Sohn entwicklungsverzögert war, wie sie vorhin erklärt hatte.

»Das versucht er bei Steven oft, leider kann der das so gar nicht haben.« Was für ein Arschloch, gerade als Vater musste er doch mehr auf den Jungen eingehen. Natürlich sagte ich es nicht laut, Mara schien jedoch meine Gedanken zu erraten.

»Er meint es nicht böse, aber Steven hat dauerhaft große Schmerzen. Er versucht ja, sie auszuhalten, aber die Medikamente reichen nicht aus, da er nicht so viel nehmen will, damit er nicht geistig beeinträchtigt wird. Für ihn ist das alles am schwersten.« Sie seufzte leise und wechselte dann abrupt das Thema. »Surflehrer ist bestimmt kein einfacher Beruf, oder? Ich kenne mich damit ehrlich gesagt gar nicht aus, obwohl ich früher in Solana Beach gelebt habe. Aber die einzigen Surfer, die ich näher gesehen habe, waren die bei einem Weihnachtswettbewerb, viele davon in Kostümen. Das fand ich sehr seltsam.« Ihr Gesichtsausdruck dabei war wirklich zum Schießen. Man konnte ihr den Unglauben direkt ansehen.

»Hey, unser Weihnachts- und Ostersurfen hat inzwischen Tradition. Die Wettbewerbe in Kostümen finden jetzt jedes Jahr statt und werden immer größer und beliebter.« Ich versuchte, möglichst ernst zu bleiben. Denn obwohl diese Wettkämpfe ein großer Spaß waren, hatten sie doch einen wichtigen Hintergrund. Das Ganze war aus der Not geboren, zu der Zeit musste ich noch um jeden Surfschüler kämpfen und hätte fast mein Haus aufgeben. Der erste Wettbewerb hatte mich sozusagen vor dem finanziellen Ruin gerettet. Gleich im Anschluss hatte sich meine Schülerzahl beinahe verdoppelt, so dass ich die Idee, Fremdenzimmer in meinem Haus zu vermieten, seitdem etwas vernachlässigte. Obwohl ein zweites Standbein schon vernünftig wäre. Zimmer standen genug zur Verfügung und die Renovierung war so gut wie abgeschlossen, es fehlten nur noch neue Tapeten, Farbe und die passenden Möbel und Dekosachen. Trotzdem konnte ich mich nicht dazu durchringen, den letzten Schritt zu tun. Wahrscheinlich würde es sowieso floppen, denn ich konnte nicht kochen und wer wollte schon ein Zimmer mit einer Gemeinschaftsküche mieten? Okay, bei Surfern waren solche Unterkünfte tatsächlich nicht ungewöhnlich. Connor und Daniel ermunterten mich zwar immer wieder dazu, endlich zu eröffnen, aber ich brachte es nicht über mich. Neulich deutete Dan schon an, ich solle mir eine Frau suchen, die den Part der Gastgeberin übernimmt, aber dazu hatte ich nun wirklich keine Lust. Beziehungen hielten bei mir nie lange und dann noch zusammen leben und arbeiten? Das würde nie funktionieren. Ich mochte es lieber unkompliziert und auf Abstand.

Ein plötzliches Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass Mara und ich uns minutenlang angeschwiegen hatten. Sie zog eilig ihr Mobiltelefon heraus und meldete sich.

»Ja …« Kurze Pause, in der sie wahrscheinlich zuhörte. »Was? … Wann? …« Eigentlich war es nicht meine Art zu lauschen, da sie jedoch nach jeder Frage angespannter wurde, versuchte ich nun doch, allerdings leider vergeblich, etwas zu verstehen. »Wie geht es ihm?« Wieder eine kurze Pause, in der ich aber nur mitbekam, wie aufgeregt ihr Gegenüber klang. »Ja, ich komme sofort.« Wie von der Tarantel gestochen sprang Mara auf. »Ich muss los. Tut mir leid. Ein Notfall.« Sie schnappte sich ihren Sohn, der lautstark protestierte, weil er weiter mit Nick spielen wollte, rannte zum Tisch und setzte ihn in den Buggy. »Es tut mir wirklich leid«, entschuldigte sie sich noch einmal bei allen und lief auch schon los. Julien brüllte so laut, dass wir ihn noch einige Zeit hörten, bis sie entweder die Mall verließen oder er sich wieder beruhigte. Ich wusste nicht, was ich von der ganzen Geschichte halten sollte. War der Anruf nur ein Fake, um schnell verschwinden zu können, oder war wirklich etwas Schreckliches passiert, das ihren plötzlichen Aufbruch erklären könnte? Allerdings müsste sie dann eine ziemlich gute Schauspielerin sein.

Oh Mann, warum beschäftigte mich das alles nur so? Wahrscheinlich würde ich diese Mara sowieso nie wieder sehen, obwohl allein der Gedanke daran mir auf den Magen schlug. Verdammt, ich wollte sie wiedersehen, wenngleich wir kaum ein paar Sätze gewechselt hatten. Um diese Frau aus meinem Kopf zu verbannen, forderte ich Nick zum Spielen auf. Leider war ihm inzwischen die Lust vergangen und so gingen wir Hand in Hand wieder zu unserem Tisch.

»Wollen wir dann auch los?«, fragte Jodie, wahrscheinlich fand sie die Stimmung ebenso bedrückend wie ich. »Wir haben ja auch noch ein Stückchen zu fahren und wie ich Lyanne kenne, brauchen wir unterwegs mindestens drei Pinkelpausen.« Damit schaffte sie es, uns wieder etwas aufzuheitern. Connor ging zum Tresen, um für uns alle zu bezahlen. Wir räumten in der Zwischenzeit unsere Sachen zusammen, dabei fiel mir eine Handtasche auf, die neben Maras Stuhl am Boden stand. Schnell hob ich sie hoch.

»Gehört die euch?« Fragend sah ich die Frauen an, die beide synchron mit den Köpfen schüttelten.

»Zeig mal her, vielleicht ist es Maras und sie hat sie bei ihrem überstürzten Aufbruch vergessen. Falls nicht, geben wir sie einfach beim Kellner ab.« Jodie griff gleich nach der Tasche, öffnete sie und zog eine Geldbörse heraus. »Es ist Maras und sie hat ihre ganzen Papiere hier drin. Vielleicht sollten wir sie ihr bringen. Wenn sie nicht zu Hause ist, können wir die bestimmt bei irgendwem abgeben, irgendwer muss ja wegen Steven im Haus sein. Wobei, wenn er in die Klinik muss, dann …« Jodie wurde immer leiser und verstummte zum Schluss. Zu gern hätte ich gefragt, was mit diesem Kerl los war, dass er nicht allein bleiben konnte. Mara hatte ja schon ein paar sehr seltsame Kommentare abgegeben. Wahrscheinlich hatte er irgendeine Krankheit, deshalb auch die Schmerzen, von denen sie gesprochen hatte. Zum Glück nahm Connor mir die Nachfrage ab.

»Was hat der denn? Was Schlimmes? Das klingt ja alles etwas mysteriös.« Jodie zögerte, fing dann aber doch nach einem tiefen Seufzen an zu sprechen.

»Steven war früher Feuerwehrmann und als Mara schwanger war, wurde er bei einem Großbrand schwer verletzt. Er hat Verbrennungen am ganzen Körper, lag mehrere Wochen im Koma und musste unzählige Hautverpflanzungen über sich ergehen lassen. Auch seine Lunge wurde stark geschädigt, sodass er meistens beatmet werden muss. Mara hat durch den ganzen Stress eine Frühgeburt gehabt und hätte beinahe beide verloren.« Wie schrecklich, wie viel konnte ein Mensch ertragen? Kein Wunder, dass sie sich vorhin so seltsam verhalten hatte. Am liebsten wäre ich sofort losgestürmt, um ihr irgendwie zu helfen, ich wusste nur nicht, wie ich das anstellen könnte.

»Wir fahren einfach bei ihr vorbei und wenn sie nicht dort sein sollte, fahre ich morgen nochmal nach L.A. und bringe ihr die Tasche.« Alle sahen mich verwundert an. Okay, sie wussten, wie wenig ich die Großstadt mochte und dass ich freiwillig nach L.A. fuhr, kam wirklich so gut wie nie vor. Früher musste ich öfter hierher, weil ich hier meine Boards und das Zubehör gekauft hatte, aber inzwischen bestellte ich eigentlich alles, was ich brauchte, über meinen Lieblingsfachhändler im Internet. Allerdings hatte ich da doch neulich Werbung für einen neuen Händler gesehen. Die perfekte Ausrede für mein Angebot. Zwar sahen meine Freunde mich immer noch seltsam an, aber das war mir egal. Ich wollte Mara unbedingt wiedersehen und ihr meine Hilfe anbieten.

Mara – Angst und Kampfgeist

Die Angst fraß mich regelrecht auf, während ich mein Auto, so schnell ich konnte, durch die Stadt lenkte. Leider hatte der Feierabendverkehr bereits eingesetzt und ich kam viel langsamer voran, als ich wollte. Zum Glück hatte wenigstens Julien sich inzwischen beruhigt und war eingeschlafen. Ihm hatte der plötzliche Aufbruch aus dem Café so gar nicht gefallen und die ersten Minuten im Auto hatte er wie verrückt gebrüllt. Normalerweise hetzte ich ihn nicht gern so, doch heute konnte ich keine Rücksicht nehmen. Auch wenn er sonst immer die oberste Priorität in meinem Leben hatte, jetzt gerade zählte nur sein Vater. Wäre ich nach dem vorzeitigen Ende der Therapie nur gleich nach Hause gefahren, dann hätte ich Steven vielleicht aufhalten können.

Mir liefen eisige Schauer über den Rücken, wenn ich nur daran dachte, möglicherweise zu spät zu kommen. Wie sollte ich es mir je verzeihen, wenn er mit seinem Selbstmordversuch Erfolg hatte und ich ihn nicht verhindert hatte, weil ich unbedingt Kaffeetrinken gehen musste? Es war alles meine Schuld, genau wie meine Schwiegermutter es am Telefon gesagt hatte. Ich hatte ihn im Stich gelassen, um mich zu amüsieren.

Endlich konnte ich den Highway verlassen und in das Viertel einbiegen, in dem wir lebten. Hier war zum Glück kaum Verkehr, da nur Bewohner oder angemeldete Besucher hereinkamen und so stand ich wenige Minuten später in der Auffahrt vor unserem Haus. Erst hier kam mir der Gedanke, dass Steven vermutlich gar nicht mehr hier war, sondern in einer Klinik. Dort brachte man Patienten nach einem Suizidversuch doch hin, oder? Warum hatte sie mir nicht gesagt, wo er hingebracht worden war? Wollte sie mich für mein Fehlverhalten bestrafen? In der Hoffnung, dass noch jemand vom Pflegeteam im Haus war und mir weitere Auskunft geben konnte, wollte ich aber zuerst hier nachsehen, bevor ich meiner Schwiegermutter hinterhertelefonierte. Außerdem konnte ich vielleicht Julien schnell ins Bett bringen und jemanden damit beauftragen, auf ihn aufzupassen. Normalerweise machte ich das nie, aber jetzt wollte ich nur zu Steven und mich davon überzeugen, dass er wieder in Ordnung kommen würde. Oder zumindest soweit in Ordnung, wie er heute Morgen noch gewesen war. Kaum war ich mit meinem schlafenden Sohn auf dem Arm im Haus angekommen, hörte ich zu meinem Erstaunen die keifende Stimme meines Schwiegermonsters, die jemanden – ich hoffte nur nicht Steven – herunterputzte.

»… Darf nicht möglich sein. Wenn er es geschafft hätte, würde ich sie bis auf ihren letzten Cent verklagen, aber auch so sind Sie untragbar für diesen Job. Sie sind entlassen.« Okay, Steven war es nicht, jedoch eine der Pflegekräfte, die für ihn angestellt war.

»Ich war wirklich nur kurz zur Toilette. Wie hätte ich ahnen sollen, was er vor hat?« Jennifer klang verzweifelt. Ich wollte nichts lieber, als ihr beizustehen, doch zuerst musste ich Julien hinlegen, damit er nicht durch das Geschrei seiner Großmutter geweckt wurde. Wie sollte ich beruhigend auf sie einwirken und ihn gleichzeitig nicht wecken? Also schlich ich mich zu seinem Zimmer, steckte das Babyphone ein, das über eine App mit meinem Handy gekoppelt war und begab mich dann in die Höhle der Löwin. Hoffentlich würde sie mich nicht gleich zerfleischen. Zuzutrauen wäre es ihr, aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich musste wissen, was Steven getan hatte und wo er nun war.

»Ich bin wieder da. Wie geht es Steven und wo ist er?« Für ein paar unendlich lange Sekunden schwieg mein Schwiegermonster und starrte mich nur hasserfüllt an, doch dann ging ihr Gezeter erneut los, nur dass ich dieses Mal das Opfer war. Daran war ich allerdings seit Jahren gewohnt und so verschloss ich mein Herz und ihr Geschrei. Zum einen Ohr rein und zum anderen wieder hinaus.

»Du verdammte Schlampe. Wo hast du dich herumgetrieben? Nach der Therapie habt ihr sofort nach Hause zu kommen, ich halte euch doch nicht aus, damit ihr Party macht, während mein armer Sohn so eine Verzweiflungstat begeht …« Natürlich beantwortete sie, wie so oft, keine meiner Fragen, sondern schrie mir nur immer und immer wieder zu, wie schlecht ich war und wie ich das Leben der ganzen Familie zerstört hatte. Diese Leier kannte ich schon und normalerweise wartete ich ab, bis sie sich ein kleines bisschen beruhigte, aber jetzt fehlte mir die Geduld dazu, denn ich musste wissen, wo Steven war und wie es ihm ging.

»Stopp!«, schrie ich, so laut ich konnte. Dabei hoffte ich, dass Julien davon nicht wach wurde. Zum Glück reagierte mein Handy erst einmal nicht. Meine Schwiegermutter war so geplättet, dass sie wirklich einen Moment den Mund hielt. Diese Gelegenheit musste ich nutzen. »Du kannst mich später so lange anschreien, wie du willst, aber zuerst muss ich wissen, wie es Steven geht und wo er ist.«

»Er lebt, hat aber viel Wasser geschluckt und auch eingeatmet, seine Lungen könnten dadurch kollabieren. Deshalb ist er in der Klinik bei Doktor Brown«, antwortete Jennifer an Stelle meiner Schwiegermutter. Okay, da war er gut aufgehoben. Doktor Brown behandelte ihn schon seit drei Jahren und versuchte immer wieder, ihn von der Dauerbeatmung zu entwöhnen, leider ohne dauerhaften Erfolg. Natürlich hing Steven nicht mehr vierundzwanzig Stunden am Tag am Sauerstoffgerät, aber trotzdem noch täglich einige Stunden. Je nachdem wie es ihm gerade ging. Manchmal reichte auch eine Sauerstoffmaske.

»Haben sie das Wasser absaugen können?« Mit Bronchoskopien kannten wir uns leider aus. Da Stevens geschädigte Lunge immer wieder vermehrt Schleim produzierte und wenn das normale Absaugen nicht mehr ausreichte, musste er in die Klinik. Durch das Narbengewebe in seiner Lunge war die Prozedur für ihn schrecklich schmerzhaft. Deshalb war bei ihm bei einer Bronchoskopie jedes Mal eine Sedierung nötig. Die er leider nicht besonders gut vertrug, aber anders ging es nicht, wenn sie mit einem Schlauch in seine Lunge mussten, um den Schleim abzusaugen. Früher hatte ich absolut keine Ahnung von Medizin gehabt. Woher auch? Ich war Floristin und hatte in meinem Laden nebenbei noch Bastelbedarf verkauft und Bastelkurse veranstaltet. Außerdem hatte ich in meiner Freizeit gern gemalt. Doch seit dem schrecklichen Tag vor drei Jahren, an dem mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden war, hatte ich gezwungenermaßen mehr über den menschlichen Körper gelernt, als mir lieb war. So wusste ich inzwischen, dass mit über siebzig Prozent verbrannter Haut noch eine geringe Überlebenschance bestand und dass man mit Verbrennungen der oberen Atemwege leben konnte. Wie, das war da natürlich die andere Frage.

Steven hatte Monate im Krankenhaus verbracht und lange Zeit im künstlichen Koma gelegen, während die Ärzte um sein Leben gekämpft hatten. Es waren unzählige Hauttransplantationen nötig gewesen, so dass er heute wie ein Flickenteppich aussah. Aber mich störte das nicht, denn ich liebte ihn noch immer, auch wenn sich meine Gefühle für ihn im Laufe der Monate im Krankenhaus und der Jahre danach gewandelt hatten. Wo früher die Verliebtheit und die körperlichen Aspekte unserer Beziehung das Wichtigste waren, so waren diese inzwischen einer eher geschwisterlichen Liebe gewichen. Niemals würde ich ihn allein lassen, aber die Leidenschaft hatte sich in Luft aufgelöst. Es gab Tage, da war er mein bester Freund und andere, da war er wie mein zweites Kind. Doch jetzt hatte ich keine Zeit, um über unsere seltsame Beziehung nachzudenken. Ich musste endlich wissen, wie es ihm ging.

»Jennifer würdest du dich bitte ausnahmsweise um Julien kümmern? Er schläft gerade und ich möchte ihn ungern wecken, und mit ins Krankenhaus nehmen. Du weißt ja, wie er auf Ärzte reagiert.« Meine Schwiegermutter musste ich gar nicht fragen, das sagte mir meine Erfahrung. Sie weigerte sich, seit sie von seiner Entwicklungsverzögerung wusste, sich um ihr Enkelkind zu kümmern. Jennifer dagegen war längst wie eine Tante für ihn. Immerhin verbrachte sie mehr Stunden pro Woche mit meinem Sohn und mir, als seine Großmutter dies in seinem ganzen Leben getan hatte. Aber inzwischen verletzte mich das längst nicht mehr. Die Zeiten waren Geschichte.

»Wie kannst du ihr nach dem Vorfall heute dein Kind anvertrauen? Sie soll ihre Sachen packen und sofort mein Grundstück verlassen. Diese unverantwortliche Person, aber du bist ja selbst nicht besser. Treibst dich zu deinem Vergnügen herum, statt dich um deinen Mann zu kümmern. Ihr passt perfekt zusammen …« Ich hörte ihr gar nicht mehr zu, sonst würde ich hier heute nicht mehr wegkommen. Bei ihr half nur die Überrumpelungstaktik.

»Willst du mit ins Krankenhaus, oder hier weiter rumschreien?« Für einen Moment sah sie mich tatsächlich mit weit geöffneten Mund an und sagte nichts mehr. Leider würde das nicht lange anhalten. Wahrscheinlich war es nur der Schock, weil ich es noch nie gewagt hatte, so mit ihr zu sprechen. Aber die Begegnung mit Jodie hatte mir irgendwie etwas von meinem alten Kampfgeist zurückgegeben. Vor dem Unglück hätte ich mich nie so von jemanden herumschubsen lassen wie in den letzten Jahren. Gegen unsere Beziehung war sie ja von Anfang an gewesen, doch das war uns egal. Steven und ich gehörten zusammen und ignorierten seine nie zufriedenen Eltern. Nach dem Unfall hatte sich das geändert, um Stevens Versorgung zu sichern, hatte ich immer alles geschluckt und mich wie Dreck behandeln lassen. Doch damit war nun Schluss. Stevens erneuter Selbstmordversuch zeigte mir deutlich, dass sich etwas ändern musste. Nicht nur für mich, sondern auch für ihn. Noch wusste ich zwar nicht, wie ich das schaffen könnte, aber ich würde mein Versprechen an Jodie einhalten und mich bald wieder bei ihr melden. Zusammen würden wir eine Lösung finden, da war ich mir sicher. Vielleicht wurde es Zeit, das Haus meiner Schwiegereltern zu verlassen und uns wenigstens ansatzweise so etwas wie ein normales Leben zu ermöglichen. Auf jeden Fall musste ich Steven zeigen, dass ich nicht bereit war, ihn aufzugeben. Ich würde für uns drei kämpfen, egal was kam. Doch zuerst einmal musste ich zu ihm und ihn für das, was er getan hatte, sprichwörtlich in den Hintern treten. Aufgeben war keine Option. Dieses Motto hatte ich schon lange.

 

 

Matt – Belauschte Gespräche

Langsam aber sicher hielten meine Freunde mich wahrscheinlich für völlig verrückt und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, ich mich ebenfalls. Zum vierten Mal in dieser Woche fuhr ich nach Los Angeles und zum Haus beziehungsweise Anwesen der Franklins. Das Haus hatte ich bisher ja nur von weitem gesehen, denn es stand einige hundert Meter vom Tor entfernt. Ich wurde nur über Sprechanlage am Tor abgefertigt, nachdem ich schon nur mit einem Trick überhaupt in das bewachte Wohngebiet gekommen war. Einmal von Mrs. Franklin Senior höchstpersönlich, die mir erklärte, dass ich verschwinden sollte, als ich nach Mara fragte, ohne auf die vergessene Tasche einzugehen. Danach wurde ich nur noch vom Personal abgewiesen. Ich konnte nur hoffen, dass Mara durch meine Aktion keine Probleme bekam, trotzdem zog es mich wie magisch wieder dorthin, in der Hoffnung, heute erfolgreicher zu sein. Wenn ich doch nur ihre Nummer hätte, um sie anrufen zu können. Leider besaß selbst Jodie keine aktuelle Telefonnummer von ihr und im Internet war gar nichts über sie zu finden.

Endlich erreichte ich die Zufahrt zum Anwesen und zum ersten Mal war das Tor nicht verschlossen, sondern stand sogar weit geöffnet, wie um mich einzuladen, es zu passieren. Einen Moment lang zögerte ich noch. War es eine Straftat, durch ein offenes Tor auf ein Grundstück zu fahren? Eigentlich doch nicht, oder? Immerhin kam ich nicht, um etwas zu stehlen, sondern um etwas zurückzubringen. Aber vielleicht sollte ich meinen Wagen lieber an der Seite parken und zu Fuß hineingehen. Ja, das erschien mir noch besser und so lief ich wenig später die ellenlange Auffahrt hinauf. Erst nach einigen Metern fiel mir auf, dass auf dem parkähnlich angelegten Grundstück nicht nur ein Haus stand, sondern zwei. Na super! In welchem lebte wohl Mara? Möglicherweise im etwas kleineren, wenn das nicht fürs Personal oder für Gäste gedacht war. So genau kannte ich mich bei den reichen Leuten nicht aus. Aber hingehen und klingeln oder klopfen konnte ich ja. Erst als ich noch näher kam, wurde ich in meiner Vermutung bestätigt, denn neben dem kleinen Haus parkte ein Krankentransporter, dessen Türen weit geöffnet waren. Wahrscheinlich kam ich gerade völlig unpassend, trotzdem schaffte ich es nicht, einfach umzudrehen und zu gehen, obwohl ich das kurz in Erwägung zog. Je näher ich kam, umso lauter hörte ich eine keifende Stimme. Noch verstand ich nicht jedes Wort, aber genug, um herauszuhören, wer da gerade zur Sau gemacht wurde. Mara. Und sofort regte sich wieder mein Beschützerinstinkt. Je näher ich kam, umso deutlicher verstand ich, was diese Person dort keifte.

»Undankbares Weib. Seit Jahren füttere ich euch durch und du schaffst es nicht einmal, dich um meinen Sohn zu kümmern. Am liebsten würde ich dich und diese Missgeburt vor die Tür setzen.« Bisher hatte ich keine Erwiderungen hören können, doch nun stand ich vor der geöffneten Haustür und jetzt antworte Mara klar und deutlich.

»Wie kannst du deinen eigenen Enkel als Missgeburt bezeichnen? Und das auch noch vor dem Pflegepersonal? Er gehört zu deiner Familie, genauso wie Steven und die beiden sind nun einmal keine Probleme, die man delegiert, sondern Menschen. Menschen mit Gefühlen, aber davon hast du ja keine Ahnung, du trampelst nur auf ihnen herum und wunderst dich dann, dass so etwas passiert.« Nun wurde der Drache erst richtig wild.

»Gibst du mir etwa die Schuld? Du undankbares Stück. Wie kannst du es wagen? Hätte Steven dich nicht kennengelernt, wäre das alles nie passiert.« Dieses Gespräch war eindeutig nicht für fremde Ohren bestimmt, doch ich blieb trotzdem, wo ich war. Immerhin schien ich sowieso nicht der einzige Zuhörer zu sein.

»Im Gegensatz zu dir, gebe ich niemanden die Schuld, sondern versuche einfach, für Steven und Julien da zu sein. Die beiden sind mein kompletter Lebensinhalt, auch wenn du das nicht verstehst und trotzdem habe ich das Recht, einmal eine Stunde mit Freunden in ein Café zu gehen. Steven war nur wenige Minuten allein, das hätte genauso gut passieren können, wenn ich kurz zur Toilette gewesen wäre oder bei der Waschmaschine. Ich kann nicht vierundzwanzig Stunden am Tag an seinem Bett sitzen, das würde nicht nur mich wahnsinnig machen, sondern …« Sie verstummte plötzlich und ich fragte mich warum. Noch immer stand ich vor der geöffneten Tür und machte mich nicht bemerkbar, war das jetzt nicht der perfekte Zeitpunkt dafür? Eigentlich schon, dennoch zögerte ich weiterhin.

»Mrs. Franklin, wir sind fertig und würden gerne gehen.« Nun konnte ich eine männliche Stimme hören, die ziemlich angepisst klang. »Vielleicht sollten Sie Ihren Streit nicht gerade in Hörweite des Patienten führen. Er braucht noch Ruhe und Schonung und nichts, was seine Depressionen noch verstärkt.« Damit hatte er ganz sicher recht, doch der Drache sah das wohl nicht so.

»Was geht es Sie an, wie laut ich bin? Sie haben ihren Job erledigt und mir meinen Sohn zurückgebracht und nun verschwinden Sie von meinem Grundstück. Auf Hilfskräfte wie Sie höre ich ganz sicher nicht.« Ihre Stimme zitterte vor Wut und mich wunderte es fast, dass keine Flammen aus dem Haus schossen. Die Frau musste ein Drache sein. Der Mann murmelte noch etwas, was ich nicht verstehen konnte, doch als Antwort darauf kam nur eine Schimpftirade der übelsten Sorte. Hoffentlich war der Kleine nicht in Hörweite. Kurz darauf begleitete Mara einen Krankenwagenfahrer zur Tür. Sie sah so fertig aus, dass mein Herz regelrecht blutete, doch obwohl ich die Hand zum Gruß hob, schien sie mich nicht zu bemerken.

»Entschuldigen Sie bitte das Verhalten meiner Schwiegermutter, sie …« Mara brach mitten im Satz ab, wahrscheinlich brachte sie es nicht fertig, diesen Drachen noch zu verteidigen.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Madame. Passen Sie nur gut auf sich, Ihren Mann und Ihren Sohn auf. Die Stimmung in diesem Haus ist absolut vergiftet. Es geht mich zwar nichts an, aber Sie sollten dringend überlegen, ob Sie die Pflege und Therapien Ihres Mannes und Sohnes nicht anders finanziert bekommen.« Er seufzte leise und trat einen weiteren Schritt näher an Mara heran. Ich konnte ihn jetzt kaum noch verstehen. »Wenn Sie einen anderen Platz haben, bringen wir Ihren Mann kostenlos dorthin. Da sind sich alle Kollegen bei uns einig.« Er wartete keine Antwort ab, wahrscheinlich wusste er, dass sie im Moment nichts sagen konnte, steckte ihr aber noch irgendetwas zu und machte sich dann auf den Weg zu seinem Wagen. Ich fühlte mich gerade sehr unwohl in meiner Rolle als heimlicher Zuhörer, obwohl ich ja gar nicht lauschen wollte, hatte ich es getan. Und nun würde Mara mich jede Sekunde entdecken und das ganz genau wissen. Was sollte ich nur zu meiner Verteidigung vorbringen? Ich Trottel hatte sogar ihre Handtasche, wegen der ich ja hier war, im Auto vergessen.

»Matt, was machst du denn hier?« Trotz ihrer sichtlichen Überraschung sprach Mara sehr leise und sah sich vorsichtig um. Wahrscheinlich um zu gucken, ob ihre Schwiegermutter ihr folgte.

»Du hast deine Handtasche im Café vergessen und ich wollte sie dir bringen. Doch obwohl ich schon mehrfach geklingelt habe, hat man mich nicht zu dir gelassen.« Oh Mann, ich klang wie ein Schuljunge, dabei war ich sonst echt nicht so ein Feigling. »Heute stand das Tor offen, deshalb bin ich einfach hochgelaufen, blöderweise liegt deine Tasche jetzt noch in meinem Wagen. Soll ich sie schnell holen?« Ich drehte schon halb um, bevor sie antworten konnte. Doch sie hielt mich am Ärmel fest und winkte dann dem Krankentransportfahrer anzuhalten.

»Wenn sie«, flüsterte Mara und zeigte auf das Haus, »mitbekommt, dass du hier bist, komme ich in Teufelsküche. Bitte fahr mit raus, wenn der Wagen draußen ist, wird das Tor geschlossen und du kommst hier nicht mehr weg. Fahr bis zur nächsten großen Kreuzung und dann rechts, dort ist ein Café neben einer Drogerie. Da treffen wir uns in einer Stunde, falls du soviel Zeit hast, wenn nicht, gib bitte dem Fahrer meine Tasche. Ich muss jetzt wieder rein.« Ihre Stimme klang leicht hysterisch, obwohl sie noch immer flüsterte.

»Ich warte dort, Mara«, versprach ich daher nur und beeilte mich, in den Krankentransporter zu steigen. Dabei kam ich mir vor wie ein Schwerverbrecher, der aus dem Knast ausbrach. In was für eine komische Geschichte war ich hier nur hineingeraten? Der Fahrer gab wieder Gas und erst, als wir das Grundstück der Lincolns verlassen hatten, atmete ich ein bisschen auf und der Fahrer, der bisher geschwiegen hatte, taute nun etwas auf.

»Versuchen Sie bitte, Mrs. Mara Franklin und den Kleinen dort rauszubekommen. Für ihren Mann kommt jede Hilfe zu spät, das hier war sein sechster Selbstmordversuch in nur acht Monaten, aber ich fürchte, dass auch der Kleine bald depressiv wird bei dieser Großmutter. Sie ist eine richtige Giftnatter und saugt allen in ihrer Umgebung den Lebenswillen aus. Die Umgebung mag traumhaft sein, aber auch ein goldener Käfig ist ein Gefängnis und die beiden haben es nicht verdient, dort eingesperrt zu sein.« Er sprach so eindringlich mit mir, als wäre es ihm ein ganz persönliches Anliegen. Dann steckte er mir eine Visitenkarte hin. »Hier, falls sie es irgendwie schaffen, alle dort hinaus zu bekommen, unsere Hilfe ist Ihnen sicher.« Ich bedankte mich etwas perplex. Für was hielt dieser Mann mich? Superman? Ich wollte doch eigentlich nur Mara ihre Tasche zurückbringen. Okay, ganz richtig war das nicht. Genauso sehr wollte ich Mara wiedersehen, nur wusste ich wirklich nicht, ob ich der Retter sein könnte, den er in mir sah. Zuerst einmal musste ich in Ruhe mit Mara sprechen, meine Hilfe würde ich ihr auf jeden Fall anbieten, wenngleich ich nicht wusste, wohin das führen sollte.

 

 

Mara – Überforderung

Entsetzt sah ich dem Wagen hinterher und fragte mich, wie ich erklären sollte, warum Matt einfach vor meiner Haustür stand. Ich konnte von Glück sagen, dass mein Schwiegermonster das bisher nicht mitbekommen hatte, oder mich noch nicht darauf angesprochen hatte.

Für gewöhnlich betrat keine Maus das Grundstück, ohne dass sie es mitbekam. Aber heute gab es einen Kurzschluss in der Videoüberwachung und Torsteuerung, nur aus diesem Grund war das Tor offen, als der Krankentransport Steven brachte. Normalerweise wurde es hinter jedem Wagen sofort geschlossen. Manchmal fragte ich mich, wie sie das überhaupt schaffte. Immerhin führte sie ihre Produktionsfirma mit eiserner Hand, aber irgendwie gelang es ihr trotzdem, ihre Augen überall zu haben.

Hätte ›Das Böse‹ den Besuch mitbekommen, wäre sie wahrscheinlich endgültig ausgerastet. Vermutlich würde sie mir unterstellen, dass ich Steven betrog oder so etwas. Ohne mit der Wimper zu zucken würde sie mich und Julien auf die Straße setzen. Damit drohte sie mir ja sowieso ständig, aber heute wäre das Fass wohl übergelaufen.

Stevens erneuten Selbstmordversuch legte sie natürlich wieder einmal nur mir zu Last. Ich war ja grundsätzlich an allem schuld, aber dass ich es gewagt habe, eine Stunde länger wegzubleiben, nur um einen Kaffee zu trinken, war wohl zu viel. Seit Tagen schrie und tobte sie deswegen, wenn sie hier war. Jede Stunde, die sie im Büro verbrachte, brachte eine Erleichterung für mich, aber heute hatte sie sich tatsächlich freigenommen. Wahrscheinlich nur, um mich zu kontrollieren. Dabei hatte ich doch ein Recht auf ein eigenes Leben. Und so sehr ich Steven liebte, mit jedem Tag, den wir in dieser vergifteten Umgebung verbrachten, fiel es mir schwerer, diese Gefühle für ihn aufrecht zu erhalten. Seine ablehnende und gleichzeitig fordernde Art, die er in letzter Zeit an den Tag legte, machte es mir nicht gerade leichter. Dabei war ich mir fast zu hundert Prozent sicher, dass sich alles ändern könnte, wenn wir nur ein Haus oder eine kleine Wohnung - weit weg von dem Schwiegerdrachen - hätten. Aber dazu benötigte ich Geld, das ich nicht hatte. Die Vierundzwanzig-Stunden-Pflege konnte ich mir einfach nicht leisten, selbst wenn ich mir wieder einen Job suchen würde. Außerdem fehlte mir dann auch eine Betreuung für Julien und so saßen wir hier fest. Ebenso wenig brachte ich es übers Herz, Steven zu verlassen, obwohl er das immer wieder von mir forderte. Seiner Meinung nach sollte ich nicht an einen Krüppel gefesselt sein, sondern frei und ungebunden mein Leben genießen. Oder mir einen Mann für gewisse Stunden suchen, andererseits wollte er oft, dass ich den ganzen Tag an seinem Bett saß.

Manchmal wünschte ich mir fast, sie würde ihre Drohung wahr machen und uns auf die Straße setzen. Dann wären wir zwar obdachlos, aber Julien und mich würde ich schon irgendwie durchbringen, obwohl ich keinerlei Ersparnisse mehr besaß. Meine Schwiegermutter war uns erst zu Hilfe gekommen, als ich finanziell absolut in der Klemme steckte. Und sämtliches Geld von der Unfallversicherung und aus dem Verkauf meines Ladens für Stevens Pflege und meine Krankenhausaufenthalte während der Schwangerschaft und nach der Geburt draufgegangen war. Da konnte sie sich als Retterin aufspielen und mir blieb gar keine andere Wahl, als all ihren Bedingungen zuzustimmen.

Anfangs hatte ich sogar noch die Hoffnung, wir könnten uns irgendwie annähern, sie musste mich ja nicht gleich lieben, aber zumindest tolerieren und Steven und Julien waren schließlich ihr Sohn und Enkel. Sollte sie da nicht irgendwelche positiven Gefühle für die beiden haben? Falls sie die doch hatte, schaffte sie es auf jeden Fall meisterhaft, diese zu verstecken. Was ihr Ausbruch vorhin nur einmal mehr eindrucksvoll bewies. Julien schlief glücklicherweise, aber Steven musste jedes bösartige Wort seiner Mutter mit anhören. Das half ganz sicher nicht, ihn aus seinem seelischen Tief wieder herauszuholen. Ich würde ihm so gern helfen, leider wusste ich absolut nicht mehr wie und da half auch das nette Angebot des Fahrers nicht wirklich weiter. Ich fühlte mich so kaputt und überfordert im Moment, dass ich nur noch ins Bett kriechen und mir die Decke über die Ohren ziehen wollte. Natürlich würde ich das nicht tun, allerdings der Gedanke barg etwas Verführerisches. Es war ja schön und gut, dass der Krankentransportservice Steven kostenlos transportieren würde, aber wohin? Ich hatte keinen Ort, an den wir gehen könnten. Von der nicht vorhandenen Pflege mal ganz abgesehen. Die konnte ich nicht allein leisten, denn Steven brauchte vierundzwanzig Stunden am Tag jemanden, der für ihn da war. Ich musste ja auch irgendwann schlafen, mich um Julien kümmern und einen Job annehmen, um uns zu ernähren. Meine Gedanken drehten sich mal wieder im Kreis, wie ich seufzend bemerkte.

So sehr ich unter dem Verhalten meiner Schwiegermutter litt und vor allem darunter, wie sie Julien behandelte, so musste ich ihr zugutehalten, dass sie für alles aufkam. Für Stevens Pflege und Therapien, Juliens Therapien und außerdem für unseren Unterhalt. Ich gab mich mit einem sehr kleinen Taschengeld zufrieden, denn ich brauchte nicht viel, trotzdem stand ich in der Schuld meiner Schwiegereltern. Wenngleich ich meinen Schwiegervater so gut wie nie zu Gesicht bekam. Die Ehe der beiden lief wohl nicht besonders gut. Obwohl sie das nie zugeben würden. Jedenfalls verbrachte er die meisten Feierabende offiziell in der Stadtwohnung, weil die näher am Büro lag und nicht hier. Nur bei öffentlichen Auftritten sah man sie noch zusammen, doch die waren selten geworden seit Stevens Unfall, den sie totschwiegen. Zuerst wollten sie ja Julien als Ersatz ins Rampenlicht führen. Aber als Frühchen war er einfach nicht das niedliche Baby, das dafür geeignet war und als seine Entwicklungsverzögerung immer deutlicher wurde, bewahrten sie lieber völliges Stillschweigen über seine Existenz. Wenn es mal eine offizielle Party hier auf dem Grundstück gab, durften wir unser Haus nicht verlassen. Das sollten wir allerdings sowieso so wenig wie möglich, im Garten sah sie uns nicht gern und das Grundstück sollte ich am besten nur zu meinen Terminen mit Julien und zum Einkaufen verlassen. Deshalb auch meine Idee, mit dem Café neben der Drogerie, um mich mit Matt zu treffen. Ich würde einen Einkauf als Alibi vorschieben müssen.

»Wo bleibst du denn?«, herrschte mich der Drache an, während ich wieder hinein ging. »Kümmer dich verdammt nochmal endlich um deinen Ehemann. Wofür hat er dich denn?« Es fehlte eigentlich nur, dass sie die Peitsche zückte, um mich anzutreiben. Da Julien aber immer noch ruhig war, tat ich einfach, was sie von mir verlangte und lief hinüber in Stevens Zimmer. Dort lag er im Bett und starrte die Wand an, während sie endlich wieder rüber ins Haupthaus ging. Stevens neue Pflegekraft, - Jennifer hatte meine Schwiegermutter ja gekündigt, - las ihm gerade etwas vor. Eigentlich ja nett, aber sie las nicht aus seinem Thriller vor, sondern aus einem Erotikroman, das war nun wirklich nichts für ihn, zumal dieser Teil seines Lebens leider nicht mehr funktionierte. Selbst dort hatte er Verbrennungen erlitten, außerdem trug er einen Dauerkatheter. Konnte sie sich nicht denken, wie sich das psychisch auf ihn auswirkte?

»Stopp, hören Sie sofort auf!«, forderte ich die Pflegerin leise aber bestimmt auf, die mich ein bisschen ungläubig ansah. »Sie können ihm gern vorlesen, doch bitte aus seinen Büchern und nicht sowas.« Sie lächelte etwas mitleidig, klappte dann jedoch zum Glück ihr Buch zu.

»Oh Mann, ich hasse solche dicken Schinken und außerdem sind Erotikromane gerade voll im Trend. Aber wenn Sie so prüde sind, lese ich die halt in meiner Freizeit.« Wie konnte eine ausgebildete Pflegekraft nur so wenig einfühlsam sein? Hatte sie denn die Akten nicht gelesen? Obwohl ich schnellstmöglich zu Matt wollte, nahm ich mir jetzt die Zeit, die Frau zu einem vier Augen Gespräch zu bitten. Steven ignorierte uns zwar, aber ich war mir absolut sicher, dass er jedes Wort verfolgte, das im Zimmer gesprochen wurde. Das Ignorieren war eine neue Masche von ihm, seit er im Krankenhaus nach seinem Selbstmordversuch, bei dem er mit dem Rollstuhl in den Pool gefahren war, aus der Bewusstlosigkeit erwacht war. Zuerst hatten die Ärzte eine Schädigung des Gehirns befürchtet, doch alle Tests fielen gut aus. Daher hatten die Ärzte ein psychisches Problem diagnostiziert und einen Aufenthalt in einer Psychiatrie vorgeschlagen, aber es gab keine, die auf Patienten wie ihn eingerichtet war. Also würde er zukünftig nicht nur einmal wöchentlich Besuch vom Psychologen bekommen, sondern dreimal, außerdem hatten sie ihm Antidepressiva verordnet, allerdings weigerte er sich, die zu schlucken.

»Welches Buch hat Jennifer dir denn zuletzt vorgelesen, Steven? Dann hole ich es schnell.« Ich hoffte ja immer noch, dass er wieder auf mich reagierte, aber Steven dachte gar nicht daran, sondern blickte weiter stur auf die Wand. Ausgerechnet jetzt meldete Julien sich lautstark und ich musste zuerst ihn aus dem Bett holen und etwas beschäftigen, ehe er friedlich spielte und ich im Nebenraum die Sachen mit der Pflegerin klären konnte. Eigentlich wollte ich auch nochmal zu Steven, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war, doch die Zeit lief mir davon. Ich fragte mich, ob Matt überhaupt noch auf mich wartete, aber was sollte ich tun? Zerteilen konnte ich mich nun einmal nicht. Wie so oft fühlte ich mich völlig überfordert, allen Anforderungen gerecht zu werden. Im Wohnzimmer, das zwischen Juliens Kinderzimmer und Stevens Zimmer lag, erklärte ich der Pflegerin leise, was sie falsch gemacht hatte. Erst als diese endlich einsah, was sie angestellt hatte, sah ich die Möglichkeit, mich davon zu stehlen. Ich erklärte ihr, dass ich noch einmal schnell in die Drogerie musste und sie Steven keinesfalls allein lassen sollte und bei Problemen meine Schwiegermutter oder mich über die Kurzwahltasten auf dem Telefon erreichen konnte. Natürlich hatte sie die eins bekommen und ich nur die zwei. Eigentlich lächerlich, da sie sich im Normalfall fast nie um ihren Sohn kümmerte, aber über solche Kleinigkeiten regte ich mich schon lange nicht mehr auf. Stattdessen ging ich lieber in Juliens Zimmer hinüber, um ihn zu holen und endlich losfahren zu können.

Beinahe rechnete ich damit, noch einmal von meiner Schwiegermutter aufgehalten zu werden, als ich ihre Haushälterin anrief, um meine Abwesenheit zu melden. Ohne die Abmeldung traute ich mich aber nicht, das Grundstück zu verlassen, denn das würde mein Schwiegermonster sonst noch endgültig zum Ausrasten bringen. Obwohl ich mich ja tatsächlich nur wegen meiner Handtasche mit Matt treffen wollte, hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Eigentlich total bekloppt, wenn das so weiter ging, brauchte ich bald ebenfalls psychologische Betreuung. Bisher lehnte ich diese rigoros ab, aber langsam fragte ich mich, wie lange ich noch so leben konnte, ohne zusammenzuklappen.

Matt – Ohne nachzudenken

Seit vierzig Minuten saß ich in dem von Mara beschriebenen Café und wartete. Langsam fragte ich mich, wie lange ich hier warten sollte. Wahrscheinlich kam sie gar nicht mehr. Denn selbst wenn sie wollte, so schien es wirklich ein goldener Käfig zu sein, wie der Fahrer des Krankentransportes schon angedeutet hatte, in dem sie da mit dem Kleinen lebte.

»So schnell gebe ich aber nicht auf, vielleicht kommt sie ja gleich«, sprach ich mir selbst Mut zu. Zwei Stunden würde ich ihr noch geben, wenn sie bis dahin nicht aufgetaucht war, würde ich nach Hause fahren und ihr die Tasche einfach zuschicken. Um die Zeit zu überbrücken, bestellte ich mir einen weiteren Kaffee und eine Waffel mit Eis und Sahne. Ich liebte Süßes und da ich normalerweise den halben Tag trainierte, konnte ich mir diese Vorliebe problemlos leisten. Es hatte schon große Vorteile, Surflehrer zu sein und auf seine Fitness achten zu müssen. Außerdem aß ich oft, wenn ich Stress hatte und im Moment gab es davon mehr als genug. Nicht nur Maras Situation belastete mich, meine Gedanken wanderten auch immer wieder zu meinen Eltern, obwohl ich das sonst vermied. Warum musste meine Mutter sich nach so vielen Jahren der Funkstelle jetzt plötzlich bei mir melden? Seit ihrem Anruf hatte sie mir noch mehrere Nachrichten geschickt, in denen sie um meinen sofortigen Besuch bat. Sie lebten ebenfalls in L.A. - sollte ich vielleicht … Schnell verdrängte ich die Gedanken an sie wieder. Mara war für mich im Moment wichtiger und das, obwohl ich sie kaum kannte.

Ich ließ mir Zeit beim Essen und war noch nicht einmal zur Hälfte fertig, als Mara mit Julien auf dem Arm das Café betrat und sich suchend umsah. Schnell stand ich auf und winkte ihr zu, doch statt einer erfreuten Reaktion, zuckte sie leicht zusammen. Was sollte das denn? Sie hatte mich doch hierher bestellt. Nach kurzem Zögern kam sie aber doch auf mich zu und setzte sich mir gegenüber.

»Entschuldige bitte, dass es so lange gedauert hat. Aber bei uns ist die Hölle los.« Sie lächelte mit einem etwas betretenen Gesichtsausdruck.

»Und der Kreischdrache bewacht nun die Höhle? Würde passen, genug Feuer spuckt sie ja.« Gegen dieses Weib waren meine eigenen Eltern ja beinahe Engel. Aber wirklich nur beinahe. Mara sah mich einen Moment lang fast entsetzt an und ich bereute mein loses Mundwerk. Doch dann lachte sie auf einmal los. Ihr Lachen war so wunderschön, dass es mich regelrecht ansteckte und der Kleine fiel ebenfalls mit ein, obwohl ich mir nicht sicher war, ob er verstand, was ich da eben gesagt hatte. »Sorry, das stand mir nicht zu. Ich kenne sie ja gar nicht wirklich, aber vorhin habe ich ungewollt einige der Schimpftiraden mitbekommen und dabei Bilder von feuerspeienden Drachen vor mir gesehen.« Obwohl sie mir nicht böse erschien, hielt ich eine Entschuldigung für angebracht.

»Ich verstehe dich gut. Ich selbst nenne sie auch oft so. Oder Schwiegermonster, das trifft es ebenfalls gut. Sie kann einem schon ordentlich Feuer unterm Hintern machen, wenn man ihrer Meinung nach einen Fehler macht.« Sie senkte ihre Stimme und flüsterte den Rest beinahe: »Atmen zum Beispiel.« Nun mussten wir beide lachen und meine Bewunderung für Mara wuchs noch weiter. Wie konnte sie in ihrer Situation nur ihren Humor behalten?

»Ich habe leider nicht viel Zeit, denn ich bin offiziell nur schnell weg, um Windeln zu besorgen. Außerdem kann ich meinen Mann wirklich nicht so lange alleine lassen, sonst kommt er wieder auf dumme Gedanken und seiner neuen Pflegerin traue ich noch nicht so recht über den Weg.« Sie schluckte kurz und warf mir einen entschuldigenden Blick zu, dann wechselte sie abrupt das Thema. »Du musst mich für ziemlich bescheuert halten, wenn du vorhin zugehört hast. Ich war mal eine selbstständige Geschäftsfrau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand und mit einem Traummann an ihrer Seite und jetzt sieh mich an.« Sie lachte bitter. »Inzwischen bin ich eher die Babysitterin des ehemaligen Traummannes. Versteh mich nicht falsch, ich liebe Steven immer noch, aber inzwischen eher wie ein zweites Kind und nicht mehr wie einen ebenbürtigen Partner. Trotzdem kann und werde ich ihn nicht im Stich lassen und deshalb weiter unter der Terrorherrschaft meiner Schwiegermutter stehen.« Es sprudelte nur so aus ihr heraus, als müsse sie es sich mal von der Seele reden. Eine Träne lief ihr über das Gesicht und sie wischte sie hastig weg. Keine Ahnung, ob es ihr einfach peinlich war oder ob sie sich für ihren kleinen Ausbruch schämte. »Sorry, ich bin gerade völlig am Ende mit den Nerven und habe seit Tagen kaum geschlafen. Normalerweise erzähle ich niemanden von meinen Problemen, weil sie sowieso niemand ändern kann. Danke, dass du mir meine Tasche gebracht hast, ich muss jetzt wirklich die Alibiwindeln kaufen und dann wieder zurück.« Irgendwie war ich fast froh über ihren Ausbruch, denn nun verstand ich sie ein kleines Bisschen besser. Zunächst konnte ich ja gar nicht verstehen, wieso sie sich von diesem Drachen so herumschubsen ließ, aber nun wurde mir langsam bewusst, dass sie das alles nur für ihren Mann tat. Und das musste ich ihr hoch anrechnen. Andere in ihrer Situation hätten wahrscheinlich längst das Handtuch geworfen und wären gegangen. Doch Mara hatte Prinzipien und stand für ihre Lieben ein, auch wenn sie selbst darunter litt. Und dass sie litt, sah man ihr heute eindeutig an. Sie eilte mit Julien bereits wieder zum Ausgang und ich fragte mich, wo sie die Kraft hernahm, den Kleinen die gesamte Zeit zu tragen. Der musste doch schon ganz schön schwer sein. Schnell warf ich einen Schein auf den Tisch, gab dem Kellner ein Zeichen und eilte ihr hinterher.

»Mara, warte doch. Darf ich euch noch begleiten? Nur zum Einkaufen?« Sie sah mich etwas verwirrt an, nickte dann allerdings, während sie ihren Sohn in den Kindersitz des Einkaufswagens setzte.

»Es ist ein freies Land und du kannst hingehen, wo du willst, Matt. Aber ich habe es jetzt wirklich eilig.« Sie lief hinein und ich folgte ihr, während ich eine meiner Visitenkarten der Surfschule aus der Tasche zog. Schnell schrieb ich noch meine private Handynummer unter die offizielle Nummer der Surfschule. Anfangs hatte ich den Fehler gemacht, diese an alle meine Kunden rauszugeben. Doch danach hatte ich keine ruhige Minute mehr. Daher blieb das Geschäftshandy meist im Büro und ich guckte morgens und abends die Nachrichten durch. Dort verbrachte ich kaum Zeit und so gut, dass ich mir eine Sekretärin leisten könnte, verdiente ich mit meiner Surfschule auch nicht. Deshalb wollte ich ihr lieber die Privatnummer geben.

»Ich will mich wirklich nicht aufdrängen, Mara, aber wenn du Hilfe brauchst, melde dich bitte bei mir. Und wenn du es hier gar nicht mehr aushältst bitte genauso. Ich habe immer ein Gästezimmer für dich und Julien frei.« Doch Mara schüttelte nur stur ihren Kopf.

»Danke, aber ich kann Steven nicht alleinlassen. Er wollte nie wieder nach Los Angeles zurück und nun muss er im Haus seiner Eltern leben, in einem Körper, der ihm nicht gehorcht, ihm dafür aber ständig Schmerzen bereitet.« Das hörte sich alles so schrecklich an und ich fragte mich, warum manche Menschen so viel erleiden mussten. »Ich kann ihn nicht im Stich lassen und ihm noch dazu seinen Sohn wegnehmen. Meine Schwiegermutter lässt uns nie wieder zu ihm, wenn wir einmal weggehen. Das hat sie mir schon hundertfach geschworen. Sie wartet ja nur darauf, dass ich die Flucht ergreife, damit sie allen erzählen kann, dass sie immer gewusst hat, was ich für eine schlechte Ehefrau bin.« Okay, das klang eher nach Trotz als nach Liebe. Aber darüber durfte ich mir kein Urteil erlauben. Andere hätten wahrscheinlich schon längst das Handtuch geworfen an ihrer Stelle.

»Nimm meine Nummer bitte trotzdem. Wir können uns ja wenigstens schreiben oder miteinander telefonieren, wenn du mal jemanden von außerhalb zum Zuhören brauchst. Ich versprech, dich weder zu irgendwas zu drängen, noch dich für irgendetwas zu verurteilen.« Warum mir das so wichtig war, konnte ich selbst nicht sagen, aber Mara hatte etwas an sich, das mich vom ersten Moment an faszinierte. Obwohl ich genau wusste, dass ich bei ihr wirklich keine Chance hatte. Sie war ihrem Mann trotz der Umstände absolut treu ergeben und wahrscheinlich zögerte sie deshalb immer noch, meine Karte anzunehmen. »Bitte, ich möchte dir nur ein Freund sein und Jodie würde sich ebenfalls freuen, wieder ab und zu etwas von dir zu hören. Du musst ja nicht den ganzen Tag mit ihr oder mir schreiben, aber ab und zu ein Lebenszeichen.« Schnell holte ich einen Stift aus der Tasche und suchte Jodies Nummer aus meinen Kontakten, um sie für Mara aufzuschreiben. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie dringend Hilfe brauchte, um nicht bald einen Zusammenbruch zu erleiden, und wenn sie die von mir nicht annehmen wollte, dann ja vielleicht wenigstens von ihrer ehemals besten Freundin.

»Meinst du, es ist für Jodie in Ordnung, dass du mir ihre Nummer gibst?« Mara klang skeptisch, aber längst nicht mehr so ablehnend wie zuvor. Zum Glück konnte ich sie in dem Punkt gleich beruhigen.

»Auf jeden Fall! Nach deinem überstürzten Aufbruch war sie ziemlich traurig, dass ihr nicht mehr dazu gekommen seid, eure Nummern zu tauschen, und sie deshalb keine Möglichkeit hat, dich zu kontaktieren.« Endlich nahm Mara mir die Karte ab.

»Danke, ich werde mich melden«, versprach sie. »Aber jetzt muss ich wirklich los, bevor der Ärger zu Hause zu groß wird. Noch einmal danke für deine Mühe, Matt. Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gutmachen soll.«

›Indem du mir einen Kuss gibst‹, wollte ich sagen, ließ es aber lieber. Ich wusste ja, dass dieser Wunsch unerfüllt bleiben würde.

»Meld dich, bitte«, antworte ich stattdessen und winkte ihr und Julien nach, als sie Richtung Kasse stürmten. Für mich war es nun Zeit, in mein normales und wie ich langsam begriff, sehr leichtes Leben zurückzukehren. Dabei hoffte ich echt, dass Mara sich melden würde. Sie konnte ein paar Freunde wirklich dringend brauchen. Und ich wäre ihr wahrlich gern ein Freund.

Mara – Gefühlschaos

Matts Visitenkarte in meiner Hosentasche fühlte sich tonnenschwer an, dabei war es ja im Grunde genommen nur ein kleines Stückchen Pappe. Doch obwohl ich nichts falsch gemacht hatte und ja eigentlich nur meine Handtasche zurückholen wollte, überkam mich ein schlechtes Gewissen. Total bescheuert, aber so war es nun einmal. Seit Jahren musste ich mir die Schimpftiraden meiner Schwiegermutter anhören und langsam hatte ich ihre Anschuldigungen, mich jedem Mann an den Hals zu werfen, wohl verinnerlicht. Dabei wollte ich gar nichts von Matt. Klar, er war ein netter Kerl, aber ich hatte meinen Mann und zu diesem wollte ich schnellstmöglich zurück. Ich hatte gar keine Zeit, an andere Männer zu denken. Daher beeilte ich mich, schnell wieder nach Hause zu fahren. Im Grunde genommen hatte ich ja nicht einmal gelogen. Juliens Windeln gingen wirklich zur Neige und ich brauchte Nachschub. Demnach konnte man mir ja eigentlich nicht vorwerfen, dass ich zwei Dinge miteinander verknüpft hatte. Die Handtasche und vor allem die Papiere darin benötigte ich schließlich und ich konnte ja nichts dafür, dass Matt sie nicht am Tor abgegeben hatte.

Doch kaum hielt ich wieder vor unserem Haus, kam der Drache sogleich auf mich zugestürmt. Matts Bezeichnung für sie war wirklich treffend, denn beinahe konnte ich den Dampf aus ihrem Mund und eine Feuerwalze auf mich zukommen sehen. Ihre Wut auf die Welt und ganz besonders auf mich, musste riesig sein. Was hatte ich jetzt schon wieder verbrochen? Von meinem Treffen mit Matt konnte sie ja nichts wissen und selbst wenn, es waren nur wenige Minuten gewesen.

»Wie kannst du nur? Du undankbares Stück. Ich füttere dich und den Bastard seit Jahren durch und das ist der Dank? Aber damit ist jetzt Schluss!« Sie schrie los, sowie ich meine Tür öffnete. Schnell warf ich einen Blick auf Julien, aber der spielte brav in seinem Sitz und achtete zum Glück kaum auf seine Großmutter. Für ihn war sie sowieso keine Bezugsperson, sie kam, meckerte rum und verschwand wieder. Oft brachte sie ihn allerdings leider mit ihren Ausbrüchen zum Weinen, was ich hasste. Bloß wie sollte ich das ändern? Wie so oft wünschte ich mir, mich gegen sie wehren zu können. Doch das konnte ich nicht, solange ich Steven nicht im Stich lassen wollte und das kam für mich nicht in Frage. In guten wie in schlechten Zeiten, das hatten wir uns bei unserer Hochzeit geschworen. Auch wenn die schlechten Zeiten bereits viel länger andauerten als unsere guten.

»Ich habe schon immer gewusst, dass du es nicht wert bist, eine Franklin zu werden, hätte Steven nur auf mich gehört. Dann wäre er in die Firma zurückgekommen und würde heute ein glückliches und gesundes Leben führen …« Diese Leier kannte ich schon zu Genüge. Ja, wäre Steven zurück in die Produktionsfirma seiner Eltern gegangen, dann wäre er nicht im Einsatz als Feuerwehrmann so schwer verletzt worden. Ob er aber ein glückliches Leben gehabt hätte, ist die andere Frage, denn er hat den Beruf des Feuerwehrmannes geliebt und war im Büro todunglücklich gewesen. Außerdem hätte er genauso gut bei einem Autounfall verletzt werden können. Obwohl ich nicht besonders gläubig war, so glaubte ich doch, dass man seinem Schicksal nicht entkommen konnte. Wenn ich mich auch immer wieder fragte, womit ein so guter Kerl wie er dieses Schicksal nur verdient hatte. Meine Schwiegermutter und ihre Schimpftirade blendete ich völlig aus, erst als Julien in seinem Sitz unruhig wurde, kam ich gedanklich wieder ins Hier und Jetzt. Zwar versuchte ich, ihr Gemecker zu ignorieren, aber leider gelang es mir nicht mehr richtig.

»… undankbare Schlampe bist, wusste ich ja schon, aber dass du jetzt zudem noch heimlich andere Männer triffst, das ist ja wohl die Höhe. Ich werde jedenfalls nicht weiter zulassen, dass du hier schmarotzt und dabei deinen Mann im Stich lässt.« Normalerweise ließ ich sie meist reden und reagierte gar nicht auf ihre Anschuldigungen, weil es dann am schnellsten vorbei war, aber nun konnte ich nicht mehr den Mund halten, wenn ich nicht platzen wollte.

»Verdammt nochmal, es reicht mir jetzt! Ich war ein einziges Mal mit einer alten Freundin und ein paar Bekannten von ihr Kaffeetrinken. Einmal in über drei Jahren, während du ständig deine feinen Partys besuchst und das Leben genießt, was du ja auch sollst. Ja, mein Mann ist krank, aber das heißt doch nicht, dass wir vollkommen aufhören müssen zu leben.« Einen Moment schaffte ich es wirklich, dass sie ihren Mund hielt. Wahrscheinlich schockte ich sie mit meinem Ausbruch völlig. Denn normalerweise war ich es ja, die immer brav kuschte. Aber jetzt ließ ich einiges heraus, das schon lange in mir schlummerte. »Ich bin mir sicher, dass es Steven guttäte, wenn er das Grundstück mal verlassen könnte, ohne zu irgendwelchen Ärzten fahren zu müssen. Einfach mal einen Ausflug an einen See oder ans Meer, das er so geliebt hat. Ich glaube, das würde ihm mehr bringen, als jede Therapiestunde beim Psychologen.« Das dachte ich schon länger, bloß außer mit den Pflegekräften hatte ich noch nie mit jemanden darüber gesprochen. Aber zumindest Jennifer und Tanja, ihre Kollegin aus der Nachtschicht, waren meiner Meinung. Nur Jennifer war ja jetzt nicht mehr da. Ich würde sie echt vermissen. Julien fing an zu weinen und ich drückte ihn schnell an mich. Diese Streitereien vor ihm taten ihm sicher nicht gut.

»Dann hau doch ab, wenn du alles besser weißt. Ich füttere euch seit Jahren aus Gutmütigkeit durch und das ist der Dank? Da reißt man sich jahrelang den Arsch auf, um einen Nachfolger für die Firma großzuziehen, und dann passiert dieses Unglück und all meine Hoffnungen sterben, wenngleich mein Sohn noch lebt. Aber wie soll er in seinem Zustand die Firma leiten? Wenn er wenigstens eine passende Frau geheiratet hätte statt eine Blumenverkäuferin oder ein gesundes Kind gezeugt hätte. Aber diese Missgeburt kommt ja auch nicht als Nachfolger in Frage.« Nun brannte eine Sicherung bei mir durch. Wie konnte sie es nur wagen, meinen inzwischen kreischenden Sohn, eine Missgeburt zu nennen? Ich drückte Julien fest an mich und ging hinein, ohne auf ihre weiteren Beschimpfungen zu hören. Drinnen lief ich direkt in Stevens Zimmer und setzte mich mit dem immer noch weinenden Julien auf dem Schoß an sein Bett. Zum Glück folgte mir der Drache nicht.

»Steven, bitte rede mit mir. Es kann so nicht mehr weiter gehen.« Doch er reagierte wieder nicht, sondern drehte nur seinen Kopf weg. Dieser verdammte Sturkopf. Seufzend stand ich auf und ging hinüber in Juliens Zimmer, das wir den Rest des Tages auch nur verließen, um zu essen oder ins Badezimmer zu gehen. Ich nutzte die Zeit ganz intensiv, um mich mit Julien zu beschäftigen und alles andere auszublenden. Zumindest solange, bis mein Sohn schlief und ich mich meiner Situation wieder stellen musste. Ich schaltete das Babyphone ein, griff nach meinem Handy und einem Buch und ging zu Steven hinüber, der zwar wach war, mich aber weiterhin ignorierte. Ich setzte mich auf den Stuhl neben ihn und prüfte automatisch den Monitor, der seine Sauerstoffversorgung anzeigte. Im Moment war die zum Glück in Ordnung, obwohl er gerade nicht beatmet wurde. Seine neue Pflegerin stand am Medikamentenschrank und verschaffte sich einen Überblick über die Medikamente. Ich hoffte, dass sie damit umgehen konnte. Doch das schien zu funktionieren, zumindest teilte sie mir mit, welche Tabletten wir nachbestellen mussten und das deckte sich mit denen, die Jennifer mir vor Stevens Selbstmordversuch mitgeteilt hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752124965
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Liebesroman Neuanfang Krankheit Romance

Autor

  • Alina Jipp (Autor:in)

Alina Jipp wurde 1981 geboren und lebt mit ihren Kindern und 3 Katern in einem kleinen Ort im Harz. Sie hat schon immer viel gelesen und Geschichten im Kopf gehabt aber erst mit über 30 angefangen zu schreiben und kann seitdem nicht mehr aufhören.