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Von Hass getrieben

Thriller

von Marcus Ehrhardt (Autor:in)
220 Seiten

Zusammenfassung

Er wollte helfen - und wurde zum Gejagten. Student Jonathan Hunter freut sich darauf, die Wochen vor seiner Examensprüfung bei seiner Tante im beschaulichen Burns Creek in den Rocky Mountains zu verbringen. Plötzlich taucht eine blutüberströmte junge Frau am Straßenrand auf. Sein Beschützerinstinkt ist geweckt. Jonathan nimmt sie im Wagen mit - der Ort ist nur wenige Meilen entfernt. Doch jemand ist ihnen längst auf den Fersen und jagt sie erbarmungslos durch die unwirtliche, wilde Natur. Am Ende ihrer Kräfte treffen sie auf Hilfe und wähnen sich bereits in Sicherheit. Aber es ist noch lange nicht vorbei ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marcus Ehrhardt

 

 

 

 

Von Hass getrieben

 

 

 

 

 

Vorwort

 

 

Liebe Leserinnen und Leser dieses Buches,

 

nachdem ich jetzt sechs Titel veröffentlicht habe, die vorrangig dem Genre Kriminalroman und Kriminalthriller zuzuordnen sind, habe ich mich bei diesem Titel mit Haut und Haaren dem Thrillergenre verschrieben.

Durch viele Stunden des Schreibens und noch mehr Stunden des Nachdenkens und Recherchierens sind, so hoffe ich, ein paar spannende, aufwühlende und mitreißende Lesestunden für euch entstanden.

Wem meine Fremde-Angst-Reihe bekannt ist, wird möglicherweise hin und wieder stutzen, da ich ein paar kleine, aber feine Crossoverelemente eingebaut habe. So begegnet man dem ein oder anderen Nebencharakter wieder und auch der Ort Burns Creek, in dem dieser Thriller seinen Ursprung nimmt, könnte einigen von euch bekannt vorkommen. Aber ich betone, dass diese Story rein gar nichts mit der Fremde-Angst-Reihe zu tun hat. Es ist eine in sich abgeschlossene Geschichte, die nicht in eine Reihe oder Serie münden wird.

Nun habe ich aber genug eurer Zeit in Anspruch genommen, daher wünsche ich jetzt einen rasanten Lesespaß, der euch durch die Wildnis der Rocky Mountains hindurchzerren und in den Dschungel der Stadt entführen wird.

Kapitel 1

 

 

Als würden sie nichts wiegen, warf Jonathan Hunter seine Reisetaschen in den Fond seines hellblauen Pick-ups. Er schlug die Tür zu, die mit einem Krachen ins Schloss fiel, bevor er sich zu seinen Freunden umdrehte.

»So, Leute, macht es gut. Wir sehen uns in zwei Monaten wieder«, sagte er zu den beiden, mit denen er auf der University of Washington in Seattle Ingenieurwissenschaften studierte.

»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte Bob, der ihn gerne wieder mit zu seinen Eltern nach Los Angeles genommen hätte.

»Danke, lass mal stecken. Ich brauche Erholung von den Partys. Und in L. A. würdest du mich eh wieder von einem Club in den nächsten schleppen – genau wie letztes Jahr.« Bob brach in ein lautes Gelächter aus.

»Alter, wo denkst du hin? Ich wollte dir dieses Mal unsere Kirchen und Museen näherbringen.« Jonathan musste in das Lachen einstimmen und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Is klar«, sagte er, »aber ich brauche wirklich etwas Ruhe. Und nirgendwo ist es ruhiger als bei meiner Tante Louisa in Burns Creek.«

»Du und dein Burns Creek. Von wegen ruhig: Hast du die Story vergessen, von der du uns letztes Jahr erzählt hast?«, schaltete sich Peter, der dritte im Bunde, mit nasaler Stimme ein. Die Operation seiner Nasenscheidewand war leider nicht so gut verlaufen. Jonathan stutzte, dann fiel es ihm wieder ein.

»Ach, du meinst die Entführung des Jungen vor zwei Jahren?« Peters Nicken bestätigte seine Annahme. »Das war das Highlight dieses Kaffs für bestimmt die nächsten 100 Jahre. Seitdem ist wieder Frieden eingekehrt und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das dort nochmal ändert. Jedenfalls nicht in den nächsten Jahren, wie gesagt. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was das für ein verschlafenes Dorf ist. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man denken, man wäre ins Jahr 1950 zurückgeschleudert, abgesehen von den Handys und den heute üblichen Autos.« Jonathan blinzelte wegen der Sonne, die ihm ins Gesicht strahlte. »Aber genau deswegen fahr ich ja dort hin. Nirgends könnte ich mich besser auf das Examen vorbereiten als in dieser abgeschiedenen Idylle, fernab von allem, was wir unter Zivilisation verstehen.«

»Ich merke schon, du bist fest entschlossen. Und solange es Bier in diesem Nest gibt, müssen wir uns auch keine großen Sorgen um dich machen«, gab Bob grinsend zurück und schlug dem athletischen Jonathan, dessen kurzgeschnittene, dunkle Haare unter einer Cap der Seattle Super Sonics versteckt waren, kumpelhaft auf den Rücken. Die drei Freunde umarmten sich, dann stieg Jonathan in seinen Wagen, drückte zum Abschied mehrfach kurz auf die Hupe und fuhr lässig aus dem heruntergelassenen Seitenfenster winkend vom Parkplatz auf den Zubringer der Interstate 90.

Vor ihm lagen endlose sechs Stunden und 350 Meilen Fahrt in Richtung Osten. Sehr viel Zeit, um über Dinge nachzudenken, wichtige und unwichtige. Wenn alles glattging, könnte er am frühen Abend sein seit Kindheitstagen eigens für ihn reserviertes Zimmer über dem Saloon seiner Tante Louisa beziehen. Nur hin und wieder, wenn alle anderen Gästezimmer besetzt waren, bot sie es als Notunterkunft Fremden an. Ab morgen früh würde für ihn das große Lernen beginnen. Er betrachtete sich kurz im Rückspiegel, als die Stadtgrenze Seattles hinter ihm verschwand, und nickte sich lächelnd zu. »Ja, das wird alles klappen wie am Schnürchen. Idaho, ich komme.«

Kapitel 2

 

 

Wie ein Schraubstock umklammerten die kräftigen Hände des Mannes Kerrys schlanken Hals. Er saß auf ihr und durch sein Gewicht, das sich anfühlte wie ein tonnenschwerer LKW, presste er sie auf die harten Fußbodendielen. Ihre langen, blonden Haare hingen verklebt in wilden Strähnen herunter, an die sich der Staub geheftet hatte. Sie spürte panisch, wie sie langsam das Bewusstsein verlor. Nein, das dürfte sie nicht zulassen, so sollte es nicht enden.

»Du gottverdammtes Dreckstück«, keuchte Edgar. Schweiß stand auf seiner Stirn, seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt. Er drückte noch fester zu. Sie hatte das Gefühl, seine Finger hätten bereits ihre Weichteile durchdrungen und würden jeden Moment ihre Halswirbelsäule zerquetschen.

Mit letzter Kraft rammte sie ihm ihr Knie zwischen die Beine. Sein Gesicht zeigte eher Überraschung als Schmerz. Verflucht, durchschoss es sie, ich hab nicht richtig getroffen. Trotzdem lockerte er seinen Griff. Jetzt oder nie: Kerry nutzte den kurzen Moment der Unachtsamkeit ihres Gegners, um nach dem gusseisernen Kerzenständer zu greifen, der beim vorhergegangen Kampf zwischen ihnen umgefallen war. Sie gab hysterische Laute von sich, während sie ihrem Angreifer die Waffe mit aller Macht gegen die Schläfe schlug. Sofort löste er die Hände von ihrem Hals, hielt sie sich an den Kopf und schrie gequält auf. Kerry drückte ihr Becken nach oben, wodurch der Mann aus dem Gleichgewicht geriet und von ihr weg strauchelte. Blitzschnell rollte sie zur Seite und landete einer Katze gleich auf ihren Füßen und Händen. Den Bruchteil einer Sekunde später hatte sie sich aufgerichtet, ihre Schlagwaffe noch festhaltend.

Edgar schüttelte sich und musste sich offensichtlich orientieren. Auch Kerry sah sich hektisch im Wohnzimmer um.

Vom Sofa aus blickte sie mit weit aufgerissenen, toten Augen eine brünette Mittvierzigerin an, neben der ein ebenfalls lebloser junger Mann lehnte. Sein T-Shirt war von Blut durchtränkt wie die Bluse der Frau. Die beiden gaben ein groteskes Bild ab, als würden Mutter und Sohn der Adamsfamily ihr abendliches TV-Programm genießen. Kerry riss ihren Blick von ihnen und fixierte Edgar. Nein, schwor sie sich, mich kriegst du nicht, ich werde überleben!

Atemlos wie zwei Boxer in der zwölften Runde standen sich die beiden gegenüber, wenige Meter voneinander getrennt. Kerry hielt den Kerzenständer vor ihren Körper, bereit, einen letzten Schlag, den Lucky Punch, zu setzen. Ihr Gegenüber schien seine Optionen auszuloten und den Raum nach einer geeigneten Waffe abzusuchen. Sie blieben am Messer haften, das im Schoß des jungen Mannes lag. Er stürzte zum Sofa. Kerry sah, worauf er es abgesehen hatte, holte weit aus und schleuderte Edgar den Ständer entgegen. Er traf ihn hart am Oberkörper.

Der Aufprall klang wie eine gestreckte Gerade auf einem Sandsack und der daraus resultierende stechende Schmerz bremste ihn aus. Doch nur kurz hielt es ihn vom Weiterlaufen ab. Unter lautem Schnaufen erreichte er das Sofa.

Das Bersten von Glas ließ ihn zusammenzucken. Er packte das blutverschmierte Messer und wirbelte herum. Der Quelle des Geräusches folgend erblickte er die Scherben der zerbrochenen Scheibe der Verandatür. Edgar brüllte auf und lief dem Mädchen hinterher aus dem Haus, die Glassplitter knirschten unter seinen Sohlen.

Tief durchatmend verharrte er auf dem Rasen hinter dem Gebäude. Er war zu langsam gewesen. Am Waldesrand sah er gerade noch das helle Sommerkleid aufblitzen, welches von roten Flecken überzogen war, bevor der dichte Kiefernwald und die Dämmerung die junge Frau verschluckten.

Kapitel 3

 

 

Der 23-jährige Jonathan Hunter freute sich unheimlich darauf, seine Tante Louisa wiederzusehen, bei der er in seiner Kindheit regelmäßig seine Ferien verbracht hatte. Mehr als drei Jahre lag sein letzter Besuch in Burns Creek, dem ehemaligen Goldgräber-Kaff im Norden Idahos nahe der kanadischen Grenze, mittlerweile zurück.

»Viel zu lange«, hatte Louisa vor wenigen Wochen am Telefon zu ihm gesagt, als er ihr von seinem Vorhaben erzählte. Er konnte durch das Telefon ihre Freude förmlich greifen und ihm ging es nicht anders.

»Das stimmt, aber dafür bleib ich dieses Mal auch länger. Versprochen«, hatte er ihr versichert. Doch ebenso, wie sich Jonathan auf seine Tante freute, konnte er es kaum abwarten, mit dem Kanu den Kootenay River flussabwärts zu paddeln und durch die dichten Wälder und steinigen Ausläufer der Rocky Mountains zu streifen, den Bären ein paar Lachse vor der Nase wegzufischen und einige Bergkämme zu bezwingen. Auch wenn er die meiste Zeit zur Vorbereitung auf seine Abschlussprüfung nutzen würde, ohne Pausen war man nur halb so effizient. Endlich mal wieder Zeit in der malerischen Natur und dem kleinen Ort zu verbringen, der, wie er seinen Freunden bereits erzählt hatte, in den 50ern stehengeblieben zu sein schien, würde ihm sicher guttun und den Kopf frei machen. Natürlich dachte er auch an die Abende im verqualmten, rustikalen Louisas Inn, dem einzigen Saloon im Umkreis von 30 Meilen, in dem man einmal pro Woche die komplette Bevölkerung antraf.

Es war eine völlig andere Welt als das stinkende, versmogte und schnelle Großstadtleben in der Millionen-Metropole Denver, Colorado, wo er im Haus seiner Eltern aufgewachsen war.

Doch dort hielt man sich die Hälfte seines Lebens im Büro auf, die andere Hälfte stand man gefühlt im Stau. Seine Lunge würde es ihm ebenfalls danken, mal ein paar Wochen mit sauberer Atemluft durchgepustet zu werden, wobei der abends gut gefüllte Saloon nicht weniger als die Innenstadt Denvers stank, musste Jonathan zugeben.

Gut, einige Highlights bot natürlich auch seine Heimatstadt, die am östlichen Fuß der Rocky Mountains lag und ursprünglich eine Goldgräberstadt ähnlich wie Burns Creek war, wobei sich die Größe Denvers daraufhin vervielfachte – ganz im Gegensatz zu Burns Creek, dachte er ohne Spott. Das Colorado State Capitol war nur eines von vielen eindrucksvollen Gebäuden, aber die größte Errungenschaft seines Heimatstaates war Jonathans Meinung nach ganz klar die Legalisierung von Marihuana im Jahre 2014.

Er kam überraschend gut durch den Verkehr. Kaum andere Wagen befuhren zur Zeit die Interstate 90 in seiner Richtung. Wenn nichts Außerplanmäßiges passieren würde, käme er eine halbe Stunde früher als geplant an. Fröhlich pfiff er zu einem Popsong, dessen Titel und Interpreten er nicht kannte. Kein Wunder bei dem ganzen Casting-Müll, der seit Jahren die Musiklandschaft flutet, dachte er und warf einen Seitenblick auf seine Westerngitarre, die neben seinen Taschen auf dem Rücksitz lag. Er liebte es, am Lagerfeuer mit Freunden ein paar gute alte Songs von Johnny Cash oder Loretta Lynn auf seiner Klampfe zu zupfen.

Die Dämmerung brach schneller herein als erwartet, was nicht zuletzt an der Wolkendecke lag, die seit etwa hundert Meilen stetig dichter wurde. Auf das Sommerwetter würde er noch etwas warten müssen.

In der Ferne erkannte er, dass irgendetwas an der Straße nicht stimmte. Blinkende Lichter veranlassten ihn, vom Gas zu gehen, und steigerten seine Aufmerksamkeit.

»Verdammt!«, entfuhr es ihm, als er kurz darauf die Beschilderung sah. »Warum hör ich Idiot keine Verkehrsinfos!« Auf den Schildern las er, dass die Straße in etwa 15 Meilen wegen Baumfällarbeiten für die nächsten drei Tage gesperrt sein würde.

Die ausgewiesene Umgehungsstrecke würde einen Umweg von über 50 Meilen bedeuten, stellte er nach kurzem Nachdenken fest. »Nicht mit mir«, sagte er sich und beschloss, nicht der Umleitung zu folgen, sondern einen anderen Weg zu nehmen. Die Ruby Road war nicht so gut ausgebaut und wegen der geringen Frequentierung auch seit vielen Jahren nicht mehr instand gesetzt worden, aber diese Route würde ihn auf direktem Weg nach Burns Creek führen, ohne nennenswert mehr Meilen fahren zu müssen als ursprünglich geplant.

An der nächsten Ausfahrt zog Jonathan auf die Abbiegespur und nach wenigen Minuten befand er sich auf einer Straße, die später direkt in die Ruby Road mündete. Mittlerweile spendete nur der Mond etwas Licht, wenn er es hin und wieder schaffte, eine Lücke zwischen den Wolken zu erhaschen.

Die vergangene halbe Stunde war Jonathan damit beschäftigt, im Kopf einen genauen Plan für die nächsten Wochen zu erstellen. Zwar hatte er ein mehr als ordentliches Lernpensum für seine anstehende Examensarbeit zu bewältigen, dennoch wollte er möglichst viel und oft die wilde Natur genießen – wer wusste schon, wann er das nächste Mal dazu Gelegenheit finden würde, wenn er erstmal in den Mühlen der Arbeitswelt gefangen sein würde. Er beugte sich etwas nach rechts, so kam er gerade mit den Fingern an das Handschuhfach. Er hatte genug von der lausigen Radiomusik und wollte endlich etwas Vernünftiges hören. Beim Herausfischen der CD nahm er den Blick für einen Sekundenbruchteil von der Straße. Als er wieder auf den Asphalt sah, blieb ihm beinahe das Herz stehen und er stieg mit seinem ganzen Gewicht auf das Bremspedal. Der Wagen schlingerte gefährlich. Kurz befürchtete Jonathan, er würde von der engen Straße abkommen und seitlich in den Wald abrutschen. Dann kam das Fahrzeug schräg auf der Fahrbahn zum Stehen. Sein Puls raste und erst jetzt bemerkte er, wie fest sich seine Hände ins Lenkrad krallten: Seine Knöchel schienen im spärlichen Mondlicht wie Glühwürmchen zu leuchten.

 

***

 

Kerry wagte es nicht, nach hinten zu sehen. Sie rannte, so schnell sie konnte. Weder spürte sie die tiefhängenden Äste, die nach ihr und ihrem Kleid griffen, noch die Dornen der Büsche, die feine Schnitte in die Haut ihrer nackten Schienbeine ritzten. Auch den aufkommenden Wind, der eine weitere unwirtliche Nacht ankündigte und unter ihre Kleidung kroch, nahm sie kaum wahr. Das Adrenalin ließ sie laufen und laufen. Denn würde sie stehenbleiben, dessen war sie sicher, wäre das ihr Todesurteil. So hetzte sie immer weiter immer tiefer in den Wald.

Der vom Regen der letzten Tage aufgeweichte Sandboden war seifig und klatschte unter den Sohlen ihrer Sneakers – zum Glück hatte Kerry sie den Pumps heute vorgezogen, dachte sie zwischendurch – immer, wenn einer der Schuhe auftraf und ein besonders lautes Geräusch dabei erzeugte. Mehrmals war sie ausgerutscht, konnte sich jedoch gerade noch fangen, bevor sie stürzte.

Kerry hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, als sie sich nach Luft schnappend die erste Pause erlaubte. Sie versuchte, durch gezielte Atemübungen ihren Puls zu senken und damit ihre Atemgeräusche herunterzufahren. Den Oberkörper nach vorne gebeugt stützte sie sich mit den Händen auf ihren Oberschenkeln ab. Im Moment rauschte das Blut scheinbar noch im Tempo eines Düsenjets zwischen ihren Ohren.

Nach einigen Minuten hatte sie sich beruhigt, soweit das in einer solchen Situation überhaupt möglich war. Zwar hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren, aber sie war sicher, dass sie mindestens zwei bis drei Meilen gerannt sein müsste. Sie lauschte konzentriert, konnte aber außer dem Wind, der die Kronen der mächtigen Kiefern zur Seite drückte, und ihren eigenen Atemgeräuschen nichts hören. Entweder hatte ihr Verfolger aufgegeben, was sie sich nicht vorstellen konnte, wenn sie an den lodernden Hass dachte, der in seinen Augen gebrannt hatte, oder er verhielt sich äußerst leise. Egal, sie müsste weiter, so oder so.

Mittlerweile meldeten sich ihre Verletzungen, die sie beim Kampf im Haus und bei der anschließenden Flucht davongetragen hatte. Kerry tastete sich komplett ab. Außer einigen Prellungen, oberflächlichen Schnitten und Schürfwunden schien alles in Ordnung zu sein. Du bist halt ein zähes Luder, sagte sie sich. Sie band die Schnürsenkel, die sich auf der wilden Flucht gelöst hatten, und zog ihr unangenehm verdrehtes Kleid zurecht, bevor sie sich wieder auf den leicht abschüssigen Weg machte. Der nächste Ort müsste ungefähr zehn Meilen entfernt liegen und wenn sie ihr Gefühl nicht massiv täuschte, sollte die Richtung in etwa passen. Zumindest hoffte sie es.

Sie hielt laufend den eingeschlagenen Kurs bei, auch wenn sie deutlich langsamer vorankam als zu Beginn ihrer Flucht. Einerseits schwand ihre Kraft, andererseits wurde der Waldboden zunehmend steiniger. Sollte ich mich so geirrt haben?, dachte sie. Ihrer Erinnerung nach müsste sich das Waldgebiet bis nach Burns Creek erstrecken und sie dürfte nur den weichen, moosig-sandigen Untergrund unter ihren Füßen spüren. Das Gegenteil war der Fall: Es wurde zunehmend steiniger und härter. Das ließ darauf schließen, dass sie sich eher auf ein Massiv zubewegte als auf die Ortschaft. Kerry überlegte nicht lange und änderte die Laufrichtung, sodass sie im rechten Winkel ihrer bisherigen Route weiterlief. Langsam spürte sie die Kälte, die sich unter ihrem Kleid ausbreitete, denn obwohl es Mitte Juli war, wurden die Nächte in dieser Gegend bitterkalt, selbst Nachtfrost war keine Seltenheit. Trotzdem machte sie sich darüber keine Gedanken. Sie war dem stählernen Griff des Mannes entkommen, der sie erwürgen wollte – da wäre es doch eine erbärmliche Ironie des Schicksals, sollte sie auf der Flucht erfrieren. So kämpfte sie sich weiter durch das unbekannte Gelände.

Überrascht blieb sie stehen, als sie auf einmal befestigten Schotter unter ihren Füßen spürte. Erleichtert schloss sie die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Eine starke Windböe brandete auf und ließ ihre zerzausten Haare fast senkrecht vom Kopf abstehen. Direkt nach dem Abebben des Windstoßes hörte sie ein Motorengeräusch. Sie riss die Augen auf, sah den Lichtkegel direkt auf sich zukommen und konnte im letzten Moment von der Straße springen, bevor der Wagen sie erfasste. Kerry sah die aufblendenden Bremslichter und hörte, wie das Fahrzeug über den Schotter rutschte, bis es schräg auf der Fahrbahn zum Stehen kam. Ihr stockte abermals der Atem. Wenn ER es wäre, hätte er leichtes Spiel mit ihr, da die Flucht sie viel Kraft gekostet hatte. Kerry glaubte nicht, dass sie ihm, der sich körperlich erholen hatte können, auch nur den Hauch eines Widerstandes entgegnen könnte.

Sie verharrte am Waldrand, in den sie sich wieder zurückgezogen hatte, und beobachtete den Pick-up. Sie biss sich auf die Lippen, als sie im Mondlicht den Mann sah, der aus dem Wagen stieg.

 

***

 

Jonathan fixierte den Rückspiegel. Außer einem Stück der Straße und den Schemen des Waldrandes konnte er im roten Licht der Bremsleuchten nichts erkennen.

»Was zum Teufel war das?«, sagte er fassungslos. Er griff nach dem Baseballschläger, der hinter dem Fahrersitz verstaut war, und stieg zögernd aus. Langsam ging er zum Heck des Wagens und schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. »Hallo, ist da jemand?«, sagte er leise. Keine Reaktion. Sein Griff um den Schläger wurde fester. Er wiederholte die Frage lauter. Nichts. Jonathan machte ein paar Schritte vorwärts. »Hallo?«, rief er abermals und erschrak. Wie aus dem sprichwörtlichen Nichts tauchten die Umrisse einer Frau auf. Sie kam ihm entgegen. Ihr Gang wirkte unsicher, kraftlos.

 

***

 

Die Anspannung fiel von ihr wie das Regenwasser aus dem Fell eines sich schüttelnden Hundes. Kerry wusste nicht, was sie dem Mann, der nach ihr rief, antworten sollte. Sie atmete tief durch und ging langsam auf ihren Retter zu. Beim Blick in das Gesicht des Mannes, der in ihrem Alter sein müsste, fragte sie sich, wer sich im Moment mehr fürchtete.

»Er will mich töten«, sagte sie leise. Ein kalter Schauer lief Jonathan über den Rücken.

»Was? Wer will dich töten?«, fragte er. Dann erst sah er die Blutflecken auf ihrem Kleid. Im nächsten Moment brach sie zusammen und er konnte mit einem beherzten Zugreifen gerade noch verhindern, dass sie mit dem Kopf auf die Straße prallte. Jonathan nahm sie auf den Arm und trug sie zum Auto, wo er sie auf den Beifahrersitz gleiten ließ. Langsam kam sie zu sich.

»Er ist durchgedreht«, sagte sie fast tonlos. Jonathan dachte nicht, dass ein noch kälterer Schauer ihn überkommen konnte, doch er hatte sich geirrt. »Hat sie alle umgebracht. Ich konnte ihm gerade so entkommen.« Wie vermutlich jeder Mann gefiel auch Jonathan sich in der Rolle des edlen Retters, der ein attraktives Mädchen aus den Fängen eines Bösewichts befreien konnte. Aber diese Story war eindeutig zu heftig, um Superman-Allüren zu entwickeln. Trotzdem bemühte er sich, ruhig und vernünftig zu bleiben. Etwas ungelenk griff er in den Fußraum zu seinem Rucksack, wobei er leicht ihre Wade streifte. Er zog eine Wasserflasche und ein Sandwich hervor und reichte es ihr.

»Hier, du scheinst etwas zu essen zu brauchen.« Sie nickte mit einem zaghaften Lächeln und nahm ihm die Sachen aus der Hand. Jonathan schaute nochmal in den Rückspiegel und startete den Wagen. »Bis Burns Creek sollten es nur noch ein paar Meilen sein. Das müssten wir in 20 bis 30 Minuten schaffen. Von dort können wir die Polizei rufen.« Sie nickte abermals, biss gierig in das Brot und nuschelte mit vollem Mund:

»Kerry.«

»Was? Ach so. Hi, ich bin Jonathan«, sagte er stockend. Normalerweise verhielt er sich wesentlich routinierter in Gegenwart von hübschen Frauen. Aber im Moment fühlte er sich wie in einem schlechten Film. Was zum Teufel war hier vorgefallen? Er dachte darüber nach, welches Glück diese Frau hatte, dass er seine Reiseroute aufgrund der Baumfällarbeiten hatte ändern müssen. Aber vor wem lief sie weg? Ein Mörder, hier in dieser Einöde?

Während seiner Überlegungen vergingen einige Minuten, in denen Kerry das Sandwich herunterschlang. Er durchbrach das Schweigen: »Willst du erzählen, was passiert ist?«, fragte er vorsichtig. Sie schüttelte leicht den Kopf.

»Nein. Im Moment nicht«, erwiderte sie leise, »vielleicht später.« Aus dem Augenwinkel taxierte er sie. Sie schien Schlimmes durchgemacht zu haben, daran ließ ihr Äußeres keinen Zweifel. Trotz der vielen Fragen, auf die er unbedingt eine Antwort bekommen musste, beschloss er, sie erstmal in Ruhe zu lassen und nicht weiter neugierig zu sein. Sie fuhren einige Meilen schweigend weiter.

 

***

 

Gerade erreichten sie eine langgezogene Kurve, als Jonathan im Rückspiegel Scheinwerfer aufblitzen sah. Im ersten Moment dachte er sich nichts dabei, außer, dass tatsächlich noch ein Verrückter neben ihm in dieser Pampa unterwegs war. Das änderte sich schlagartig:

»Was hat der denn vor?«, fragte er angespannt, als sie aus der Kurve herausfuhren und die Lichter schon direkt hinter ihnen waren. Kerry drehte den Kopf über ihre Schulter und warf einen Blick nach hinten.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Im nächsten Moment zog der Wagen hinter ihnen nach links und setzte zum Überholen an.

»Ist der nicht ganz dicht?« Der Wagen, ein dunkler SUV, fuhr jetzt direkt neben ihnen. Jonathan sah hinüber und erkannte dank des Mondlichts das Gesicht eines Mannes, welches zu einer Fratze verzerrt war. Er schien ebenfalls in ihren Wagen zu sehen. Kerry drehte sich zu Jonathan und beugte sich leicht nach vorn, um selbst zu gucken.

»Das ist er!«, schrie sie. Auch der Mann im anderen Wagen schien sie erkannt zu haben, denn er zog nach rechts und rammte den Pick-up ohne Vorwarnung. Der Aufprall rüttelte die beiden durch.

»Was zur Hölle ...«, entfuhr es Jonathan, der es schaffte, mit allen Reifen auf der Straße zu bleiben und sich, indem er Vollgas gab, wieder vor den SUV zu setzen. Die Hoffnung, dem Killer entkommen zu können, hielt nur wenige Sekunden an. Mit einem Scheppern krachte er den beiden ins Heck, wodurch ihre Köpfe brutal in die Stützen gepresst wurden. Bevor sie darauf reagieren konnten, hörten sie einen Knall, fast zeitgleich zerbarst ihre Heckscheibe. Unwillkürlich zuckten sie zusammen, hunderte Glassplitter verteilten sich im Innenraum des Wagens. Jonathan konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er schaute mit aufgerissenen Augen in den Rückspiegel und erkannte, dass ihr Verfolger erneut zum Überholen ansetzte. Mit aller Kraft stieg Jonathan in die Bremsen und schaffte es, unter Einsatz der Handbremse ein sensationelles Wendemanöver hinzulegen, wofür er sich in einer anderen Situation gefeiert hätte. Jetzt war er heilfroh, eine Chance zu bekommen, dem Irren zu entwischen. Kerry hielt sich mit einer Hand am Griff über der Tür fest, mit der anderen stützte sie sich auf dem Armaturenbrett ab. Jonathan beschleunigte und ein Blick in den Rückspiegel gab ihm die Gewissheit, dass ihr Verfolger ebenfalls gewendet hatte. Ihm war bewusst, dass der SUV einen großen Geschwindigkeitsvorteil besaß, da sein Pick-up im Verhältnis zum Gewicht doch eher wenige Pferde unter der Haube hatte.

»Wir haben nur eine Chance«, sagte er zu Kerry, die weiter gebannt aus der Windschutzscheibe starrte. Sie reagierte nicht. Toll, du bist mir ja eine große Hilfe, dachte er. Egal, sie konnte eh nichts tun. Erleichtert stellte er mit einem Blick in den Rückspiegel fest, dass ihr Verfolger sich nicht so schnell näherte, wie er befürchtet hatte.

Eine Meile weiter, direkt nach einer scharfen Kurve, bremste Jonathan stark ab, schaltete die Scheinwerfer aus und bog in einen unbefestigten Waldweg ein. Er fuhr soweit hinein, bis er sicher war, dass sie von der Ruby Road aus nicht mehr zu erkennen sein würden.

»Was tust du?«, fragte Kerry ängstlich. Jonathan drehte sich um und beobachtete den Weg.

»Wenn er vorbeifährt, können wir es nach Burns Creek schaffen.« Auch Kerry drehte sich um, sodass sie fast Wange an Wange durch das Loch in der Heckscheibe schauten. Nach wenigen Sekunden überkam sie ein befreiendes Gefühl. Der SUV fuhr tatsächlich vorbei. Jonathan wartete einige Atemzüge, dann startete er den Motor – beziehungsweise, er versuchte es.

»Was ist los?«

»Keine Ahnung«, schrie Jonathan, »spring an, du Dreckskarre!« Erneut drehte er den Zündschlüssel. Nichts. Außer dem kläglichen Wimmern des Motors wegen des vergeblichen Startversuches war nichts zu hören. Kerry blickte ihn sorgenvoll an, was ihn noch nervöser machte. Er schlug frustriert auf das Armaturenbrett. Im ersten Moment nahm er kaum wahr, dass sich ihre Hand auf seinem Unterarm befand. Erst als Kerry sich damit festkrallte, registrierte er es. Gerade wollte er fragen, was das sollte, als er ihrem ängstlichen Blick folgte. Jetzt schaute auch er zwischen den Kopfstützen hindurch und zuckte augenblicklich zusammen.

»Er hat uns entdeckt«, flüsterte sie. Ihm kroch das Entsetzen langsam den Rücken hoch, als er sah, dass sich Scheinwerfer ihrem Wagen näherten. Der Killer musste seinen Plan durchschaut haben und würde in wenigen Sekunden bei ihnen sein. Er würde sein Werk vollenden, wenn sie es nicht noch irgendwie verhinderten.

»Wir müssen weg!«, rief er plötzlich und griff nach dem Rucksack, der zu ihren Füßen lag.

»Wohin?« Sie machte keine Anstalten, sich zu bewegen.

»Ist das jetzt nicht völlig egal?«, reagierte er panisch. »Erstmal weg!« Mit diesen Worten öffnete er die Tür und schwang sich aus dem Fahrzeug. Kerrys Regungslosigkeit dauerte nur einen Moment, dann sprang auch sie aus dem Wagen und rannte Jonathan hinterher, der sich bereits einige Meter in den Wald geschlagen hatte.

 

***

 

Als Edgar nach etwa einer halben Meile kein Fahrzeug mehr vor sich sehen konnte, obwohl eine langgezogene gerade Strecke vor ihm lag, war ihm klar: Die beiden hatten die Straße verlassen. Er wendete und es dauerte nicht lange, bis er den Waldweg entdeckte, in den sie ausgewichen sein mussten. Eine andere Möglichkeit kam für ihn nicht in Frage.

Beim Überholvorgang vorhin hatte er das Gesicht des Flittchens genau erkennen können und sofort gewusst, dass er es zu Ende bringen könnte. Die Verstärkung, die sie sich gesucht hatte, würde ihr nicht helfen. Dies war sein Terrain, seine Heimat, hier kannte er jeden Kiesel und jede Kiefer, sie würde ihm nicht entkommen. Er fuhr im Schritttempo den dunklen Weg hinein, rollte Meter für Meter weiter in das sich meilenweit ausdehnende Waldstück, bis er den Pick-up entdeckte. Edgar beschleunigte und hielt kurz darauf hinter dem verlassenen Wagen. Die Fahrertür war angelehnt, die Beifahrertür stand weit offen. Schnell suchte er mit seinen Augen die nähere Umgebung ab, konnte jedoch nichts entdecken. Erst als er das Fernlicht hinzuschaltete, konnte er am Ende des Lichtkegels eine Bewegung ausmachen. Da liefen sie! Sie flüchteten. Langsam schob sich der SUV an dem abgestellten Wagen vorbei und folgte dem Waldweg. Er war sicher, dass die Flüchtenden ihre Richtung nicht großartig ändern würden, daher dürfte es ein Kinderspiel werden. Der Weg beschrieb eine fast durchgängige Rechtskurve und endete vor dem kleinen Massiv. Wenn sie diesem an seinem Fuß folgten, würden sie nach einigen Stunden den mittleren Arm des Kootenay Rivers erreichen. Und da sie weder ein Kanu noch ein Floß dabei hatten, würde dort ihre Flucht enden und sie säßen in der Falle. Edgar lachte auf und schlug siegessicher mit seiner Handkante ans Lenkrad.

Kapitel 4

 

 

In was für eine verdammte Scheiße bin ich hier nur hineingeraten?, fragte sich Jonathan atemlos. Sie rannten seit mehreren Minuten, so schnell es die Umstände zuließen, immer tiefer in den Wald hinein, weg vom Weg und vor allem: raus aus der Gefahrenzone. Weg von dem Irren, der sie von der Straße drängen wollte und der tatsächlich auf sie geschossen hatte. Jonathan konnte es immer noch nicht fassen.

Die spitzen Nadeln an den tiefhängenden Ästen peitschten durch sein Gesicht und die Widerhaken an den Dornen der Sträucher, die überall hier wuchsen, rissen an seinen Jeans wie kleine, klebrige Finger. Aber es zählte einzig, dass sie vorankamen.

Kurz darauf stürzte Kerry über eine hervorstehende Baumwurzel und landete auf dem Bauch, woraufhin sie einen spitzen Schrei ausstieß. Mehr vor Schreck als vor Schmerz, vermutete Jonathan. »Steh auf!« Er griff nach ihrem Oberarm und half ihr, hochzukommen. »Wir müssen weiter!«

»Warte, mein Knie«, bat sie, folgte ihm jedoch leicht humpelnd und rieb immer wieder mit der Hand über ihr Bein, während er sein Lauftempo etwas widerwillig dem ihren anpasste.

»Beiß die Zähne zusammen, darum kümmern wir uns später«, sagte er und hoffte, dass sie wirklich einen sicheren Platz fänden.

Zwar konnte Kerry einigermaßen mit Jonathans reduziertem Tempo Schritt halten, doch er merkte zusehends, dass sie am Limit zu sein schien. Ihr Atem rasselte und sie schnaufte wie eine Dampflokomotive, ganz zu Schweigen vom gelegentlichen Wimmern aufgrund ihrer Schmerzen.

Da sie seit Beginn ihrer Flucht weder Scheinwerfer eines Autos noch Motorengeräusche wahrgenommen hatten, wagten sie es, kurz anzuhalten. Sie hatten mittlerweile den Waldrand erreicht. Vor ihnen ragten Felswände steil in die Höhe, davor verteilten sich zahllose Steine und Felsen verschiedener Größe. Hier und da fristete ein besonders robuster Baum oder Strauch, der es geschafft hatte, seine Wurzeln durch das Gestein zu schlagen, sein tristes Dasein.

Jonathans Augen suchten konzentriert den Fuß des Massivs und danach den Wald in der Richtung, aus der sie gekommen waren, nach verdächtigen Bewegungen ab. Alles schien ruhig zu sein. Außer dem Wind, der durch die Schneise aus Wald und Felsen pfiff, hörte er lediglich den einsamen Ruf einer Eule in der Ferne.

»Hier können wir kurz Pause machen«, sagte er zu Kerry. Dankbar zog sie sich an ihm vorbei und ließ sich auf einen Felsbrocken nieder, der die Höhe eines Barhockers hatte.

»Ich kann nicht mehr«, klagte sie. »Mein Knie ist im Eimer und ich bin total am Ende.«

»Lass mal sehen«, sagte er und hockte sich vor sie. Er spielte seit frühester Kindheit Football, daher kannte er sich mit der Behandlung von Sportverletzungen bestens aus. Oft genug war er selbst in den Händen von Physiotherapeuten gewesen, wenn sein Meniskus mal wieder Probleme machte oder seine Schulter schmerzte.

Kerry zog den Saum ihres Kleides bis zur Mitte ihres Oberschenkels hoch und zeigte auf eine Stelle oberhalb ihres rechten Knies.

»Da tut es weh.« Jonathan tastete vorsichtig um das Knie herum, ebenso ein paar Zentimeter unter- und oberhalb davon. Sie zuckte hin und wieder und sog zischend die Luft ein, als er auf die Kniescheibe drückte.

»Sorry. Beug und streck das Bein ein paarmal.« Sie tat, wie ihr geheißen.

»Ich bin zwar kein Fachmann, aber ich bin mir sicher, dass du nur eine Prellung hast. Von den Kratzern und Schürfwunden am Bein mal abgesehen.« Unter anderen Umständen hätte er sich gerne länger und intensiver damit befasst. Kerry hatte sehr schöne, wohlgeformte Beine und ihre Haut fühlte sich zart unter seinen Händen an. Aber im Moment ging es nicht um Spielereien, sondern darum, lebendig aus dieser Sache herauszukommen.

»Das beruhigt mich«, sagte sie und strich ihr Kleid wieder nach unten. »Was meinst du, ist er noch hinter uns her?«

Warum fragst du mich das?, dachte er. Der Irre hat es doch auf dich abgesehen.

»Ich denke, wir haben ihn abgeschüttelt. Jedenfalls kann ich weder was von ihm hören noch was sehen.« Tatsächlich war Jonathan sicher, dass der Killer die Verfolgung aufgegeben hatte.

»Hast du eine Ahnung, wo wir sind?«, wollte sie von ihm wissen.

»Hm, ich weiß in etwa, wo die Straße liegt, auf der unser Auto steht. Aber ich habe überhaupt keinen Plan, wo wir hingelaufen sind. Schließlich haben wir bestimmt drei oder vier Mal die Richtung gewechselt. Und so gut kenne ich mich hier auch nicht aus. Weißt du es?« Kerry atmete hörbar aus.

»Ich bin ein Kleinstadtkind. Frag mich was Einfacheres.« Jonathan nahm seinen Rucksack ab und griff hinein. Er fand eine Flasche Wasser, öffnete sie, trank einen Schluck und reichte sie Kerry.

»Nimm nur einen Schluck, wer weiß, wann wir Wasser finden und sie auffüllen können.« Sie nahm das Getränk dankend entgegen und gab es ihm wieder, nachdem sie zwei kleine Schlucke genommen hatte.

»Was hast du noch alles da drin?« Er steckte sie zurück.

»Leider nur ein paar Sandwiches, ein Handtuch, Wasser und das hier.« Er zeigte ihr ein Jagdmesser, ließ es jedoch gleich wieder in die Tasche fallen.

»Zumindest sind wir nicht ganz wehrlos«, sagte sie und folgte mit den Augen der aufblitzenden Klinge. »Aber ein Kompass wäre nicht schlecht, oder ein Handy.«

»Tut mir leid, dass ich nicht auf einen Survival-Trip vorbereitet war«, sagte er unwirsch. »Aber Netz hätten wir hier bestimmt eh nicht.«

»Und was machen wir jetzt?« Sie stützte ihren Kopf auf die Hände und schaute ihn an, während er überlegte.

»Selbst wenn wir in die richtige Richtung gelaufen sein sollten, sind es bis Burns Creek noch mindestens 5 oder 6 Meilen – Luftlinie.« Er hob entschuldigend die Hände. »Und ich glaube nicht, dass wir direkt diese Richtung eingeschlagen haben.«

»Also?«

»Also werden wir uns für eine Richtung entscheiden müssen und dieser so lange folgen, bis wir an eine Straße oder an einen Ausläufer des Kootenay Rivers kommen.« Sie seufzte, als ob sie über diese nicht unerwartete Antwort enttäuscht gewesen wäre.

»Und welche schlägst du vor?« Jonathan sah sich nochmal um und kratzte sich am Kopf.

»Ich denke, wir orientieren uns erstmal am Fuß der Anhöhe und sobald wir einen Pfad finden, der nach oben führt, steigen wir hinauf. Dort suchen wir uns einen Platz, an dem wir sicher über die Nacht kommen und morgen früh, sobald es hell wird, können wir besser sehen, wohin wir müssen.«

»Klingt nach einem Plan«, sagte Kerry und erhob sich. »Dann sollten wir keine Zeit verlieren.« Jonathan nickte. »Deine Behandlung hat Wunder bewirkt«, sagte sie nach wenigen Schritten. »Es tut gar nicht mehr so weh.«

»Wahrscheinlich war es eher die Pause.«

»Sei nicht so bescheiden, du hast begnadete Hände.« Sie stieß ihm leicht ihren Ellbogen in die Seite. Prinzipiell stand Jonathan einem Flirt aufgeschlossen gegenüber, erst recht mit so einem attraktiven Mädchen, aber doch nicht, während sie auf der Flucht vor einem Killer in der Wildnis waren.

»Dort«, sagte er und zeigte auf eine Stelle ein paar Meter vor ihnen, nur um wenige Sekunden später zurückzurudern. »Mist!« Der vermeintliche Pfad entpuppte sich als ein etwa armtiefer Spalt.

Kurz darauf hatten sie mehr Glück. Direkt hinter einem Busch, der wenige Beeren trug, führte ein schmaler, gewundener Weg nach oben. Nach etwa einer halben Stunde hatten sie zehn Höhenmeter überbrückt und ein kleines Plateau gefunden, welches von einem Felsvorsprung zur Hälfte überdacht wurde.

»Was hältst du von dieser Stelle?«, fragte Kerry. Jonathan musste nicht lange überlegen.

»Wir werden nichts Besseres finden, denke ich.« Ihr fiel auf, dass er unschlüssig zu sein schien, deshalb fragte sie:

»Und warum runzelst du dann die Stirn?«

»Ich überlege, ob wir es wagen können, ein Feuer zu machen.«

»Oh ja, Feuer wäre super, es ist schweinekalt.« Jonathan blickte sich nach wie vor skeptisch um.

»Ein kleines können wir wohl riskieren, außerdem würde uns das wildes Getier vom Leib halten.«

Binnen weniger Minuten hatten sie Äste und Zweige zusammengesucht und sie innerhalb eines Kreises aufgetürmt, den sie aus herumliegenden Steinen gebildet hatten.

»Da soll noch jemand sagen, Rauchen wäre ungesund«, sagte Jonathan und zog ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Beim Anzünden des Reisighaufens sprach er seine Gedanken laut aus: »Viel höher hätte unser Lager nicht sein dürfen, sonst hätten wir kein Holz mehr gefunden.« Sie lehnten sich dicht aneinander an die Felswand und zu ihren Füßen loderte das Feuer.

»Gibst du mir eine?« Sie zeigte auf die Marlboro-Schachtel, die halb aus seiner Hosentasche ragte.

»Klar«, sagte er und fischte zwei Zigaretten heraus. Unter anderen Umständen wäre das gerade recht romantisch, dachte er: Über mir die sternenklare Nacht – okay, es ist ziemlich bewölkt, aber egal – zu den Füßen ein Lagerfeuer und eine hübsche Frau im Arm. Wenn der Boden nur nicht so kalt und hart wäre. Aber man kann nicht alles haben, schloss er seine gedankliche Reise.

»Danke«, sagte Kerry und rückte an ihn heran.

»Sag mal«, begann er, »was ist eigentlich passiert? Ich meine, warum ist dieser Irre hinter dir, oder besser gesagt, hinter uns her?« Kerry hielt kurz den Atem an. Dann sah sie zum Himmel hinauf, der Mond wurde zum Teil von den Wolken verdeckt.

»Ich war ein paar Tage mit meinem Freund bei seinen Eltern zu Besuch«, erzählte sie. »Wir waren noch nicht lange zusammen und vorher hatte ich noch keine Gelegenheit gehabt, die Eltern kennen zu lernen. Sein Vater Edgar kam mir von Anfang an etwas komisch vor.« Sie nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette.

»Komisch? Was meinst du damit?«

»Komisch im Sinne von merkwürdig. Er war über die Maße galant und an mir interessiert. Damit es keinen Ärger gibt, habe ich Pete, meinem Freund, davon nichts erzählt. Das schien Edgar als Signal zu verstehen und so hat er mich gestern angegraben. Ich habe ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass ich mit seinem Sohn zusammen bin und dass er seine Avancen tunlichst sein lassen soll. Daraufhin ließ er mich in Ruhe.« Jonathan hing gebannt an ihren Lippen. Er spürte das Zittern ihres Körpers und vermutete, dass es jetzt nicht allein an der Kälte lag. »Heute fing er mich in der Küche ab. Er küsste mich einfach so gegen meinen Willen und begrabschte mich an den Brüsten und zwischen den Beinen.« Jonathan sah, wie sie angewidert das Gesicht verzog. »In dem Moment kam zum Glück – im Nachhinein besser leider – Pete herein und hat es gesehen. Darauf stritten sie sich und als Petes Mom Amy hinzukam, wurde es noch schlimmer.« Die Tränen rannen über ihre Wangen und glänzten im fahlen Licht des Mondes. »Ich habe Pete angefleht, dass wir wegfahren sollen. Aber ich kam überhaupt nicht mehr an die Leute heran. Nachdem Pete seiner Mom lautstark erzählt hatte, was er gesehen hat, ist es eskaliert. Pete und Edgar fingen an, sich zu schlagen, und Amy rannte heulend ins Wohnzimmer. Ich stand wie paralysiert daneben und konnte nichts tun.« Ihre Stimme stockte, leise fuhr sie fort: »Plötzlich hielt Edgar ein Messer in der Hand und stach es Pete in den Hals.« Jonathan schluckte. »Pete torkelte ins Wohnzimmer zu seiner Mom, die sofort anfing, hysterisch zu schreien. Darauf lief Edgar hinterher und schnitt ihr die Kehle durch. Er hat einfach so seine Familie umgebracht!« Er konnte kaum glauben, was er hörte. Das klang wie aus einem schlechten Splattermovie. Wenn er nicht Kerry leibhaftig mit ihren blutigen Haaren und dem verfärbten Kleid neben sich sitzen gehabt hätte, würde er es nicht glauben. »Als beide tot waren, ließ er das Messer in Petes Schoß fallen und blieb regungslos hinter ihnen stehen. Ich hatte mich in der Zwischenzeit vorsichtig genähert. Kurz hoffte ich, er käme zur Besinnung, da fing er an herumzuschreien und stürzte sich unvermittelt auf mich. Zu meinem Glück hatte er das Messer nicht mehr. Aber er versuchte, mich zu erwürgen. Ich kann jetzt noch seine Hände an meinem Hals spüren.« Als ob sie es unterstreichen wollte, griff sie mit einer Hand an ihre Kehle. »Mit Hilfe eines Schürhakens oder Lampenständers – so genau weiß ich das nicht mehr – gelang es mir, mich für einen Augenblick von ihm zu befreien und durch die Terrassentür ins Freie zu flüchten. Dann lief ich um mein Leben. Ich rannte und rannte – bis ich schließlich auf dich gestoßen bin.« Sie sah ihn mit ihren tränengefüllten Augen an. Er legte seinen Arm um sie und drückte sie fest an sich. Sie wirkte so zerbrechlich, es musste ein Wunder gewesen sein, dass sie sich vor einem erwachsenen Mann hatte retten können.

»Oh mein Gott, was für eine Hölle! Haben denn die Nachbarn nichts mitbekommen?«

»Nachbarn? Das ist das einzige Haus im Umkreis von ein paar Meilen. Als mir Pete davon erzählt hatte, hielt ich es noch für voll romantisch. Du weißt ja, ich komme aus einer Kleinstadt.«

»Ja, stimmt, das mit den einsamen Hütten ist hier keine Seltenheit. Meine Welt ist das nicht.«

»Und jetzt ist nicht nur mein Freund tot, sondern sein Vater will mich auch noch umbringen.« Sie schluchzte.

»Meine Güte, das ist wirklich unglaublich, was du durchmachen musstest.« Sie nickte, immer noch zitternd. »Aber morgen sieht die Welt anders aus, wir werden sicher bald jemanden finden und die Cops verständigen können.«

»Ja«, sagte sie leise. Jonathan nahm mit seiner freien Hand ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich.

»Ich werde nicht zulassen, dass dir noch etwas geschieht. Verlass dich auf mich.« Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Plötzlich krachte es. Es hörte sich an, als ob jemand auf einen Ast treten getreten wäre, der unter seinem Gewicht zerbarst. Kerry und Jonathan hielten die Luft an.

 

***

 

Es verging eine Stunde, bis Edgar das Ende des Weges erreicht hatte. Er war die Strecke im Schritttempo gefahren und hatte konzentriert auf der von ihm aus gesehen rechten Seite nach den beiden Ausschau gehalten. Vergeblich. Edgar stellte den Motor aus, ließ die Hände auf die Oberschenkel und das Kinn auf die Brust sinken. Kurz, sehr kurz dachte er daran, seine Jagd abzubrechen. Doch der Hass brandete wieder auf wie ein Tsunami, der im Begriff war, eine ganze Insel zu überfluten. Er sprang aus dem SUV und öffnete den Kofferraumdeckel. Entschlossen griff er nach seinem Jagdgewehr, schulterte es und füllte die Taschen seiner Weste mit Munition auf. Nachdem er das Jagdmesser und eine Trinkflasche an seinen Gürtel geschnallt hatte, verschloss er den Wagen und ging mit großen Schritten los. Er ärgerte sich darüber, kurz gezweifelt zu haben. Diese Schlampe würde bekommen, was sie verdiente – und wenn es das Letzte wäre, was er auf dieser Welt tat. Nach wenigen Metern kehrte er um. Womöglich würde ihm die Taschenlampe, die sich noch im Wagen befand, gute Dienste leisten. Er öffnete die Beifahrertür und zog sie aus dem Handschuhfach, darauf schlug er den eben unterbrochenen Weg erneut ein.

Nicht sehr lange und Edgar hatte den Waldabschnitt durchkämmt, der zwischen seinem Wagen und dem kleinen Massiv lag. Jetzt stand er am Fuß der Felswand, die sich ihm im fahlen Mondlicht grau und abweisend in den Weg stellte. Es handelte sich dabei um einen der vielen, kleinen Ausläufer der Rocky Mountains, die Edgar von unzähligen Jagdausflügen aus früheren Zeiten mit seinem Vater und später mit seinem eigenen Sohn kannte. Pete, sein Sohn! Bei dem Gedanken an ihn, der dieses Flittchen mit in sein Haus gebracht hatte, stieg erneut der Hass hoch.

Edgar schüttelte sich, als ob er dadurch seine tief verwurzelten Emotionen einfach abwerfen könnte – was natürlich nicht funktionierte. Und das machte ihn noch wütender. Er setzte seinen Weg unbeirrt entlang der Felswand fort. Es könnte nur eine Frage der Zeit sein, bis er auf die Flüchtenden träfe.

Es war weit nach Mitternacht, als Edgar auf die Uhr schaute. Die erfolglose Suche dauerte bereits viele Stunden an. In Kürze würde er auf das Ufer des Flusses stoßen, der in dieser Gegend durch Stromschnellen durchzogen war und somit nur ein Wahnsinniger versuchen würde, ihn zu überqueren. Durch die Anstrengungen der Flucht würde sie es niemals über den Kootenay schaffen, dessen war er sicher. Also sind sie entweder flussaufwärts weitergegangen oder sie versuchten tatsächlich, über den Kamm zu kommen. Kerry stammte aus Sandpoint, einer Kleinstadt etwa 30 Meilen südlich von hier, und soweit er wusste, kannte sie sich in dieser Gegend nicht aus. Auch ihr neuer Gefährte schien ortsfremd zu sein, kam er laut seines Kennzeichens doch aus Colorado.

Edgar überlegte genau: Er war allein, hatte Proviant dabei, war fit und sein Hass trieb ihn zu Höchstleistungen. Die beiden waren wahrscheinlich ohne Nahrung und Wasser unterwegs, zumindest Kerry war nur mit einem Sommerkleid – oder dem, was nach ihrem Kampf davon übrig war – bekleidet und sie waren wahrscheinlich orientierungslos. Edgar entschied sich dafür, die Suche für ein paar Stunden zu unterbrechen. Im Morgengrauen könnte er ihre Spuren verfolgen.

Edgar suchte nicht lange, bis er eine geeignete Spalte zwischen dem Gestein fand. Gerade so breit, dass er hindurchschlüpfen und sich hinlegen konnte, aber nicht so breit, dass ein Braun- oder Schwarzbär hindurchpasste, um sich mit ihm anzulegen. Ein kleines Feuer würde zusätzlich dafür sorgen, dass er keinen unangemeldeten Besuch bekäme. Er schaute sich am Rand des Waldes um und klaubte geeignetes Brennholz auf. Ein tiefhängender, daumendicker Ast hatte es ihm angetan und mit einem kräftigen Ruck brach er ihn unter lautem Krachen nah am Stamm des Nadelbaumes ab.

Kapitel 5

 

 

Jonathan hörte nur noch das Rauschen des Blutes durch seinen Kopf, sein Puls war binnen Sekunden in Höhen geschnellt, die er selbst beim Sport nur selten erreichte.

»Was war das?«, flüsterte Kerry.

»Pst!« Jonathan legte seine Hand auf ihren Mund. »Warte, ich seh nach.« Es gelang ihm, lautlos aufzustehen. Langsam pirschte er sich zum Rand des Plateaus und schaute hinunter in die Richtung, aus der er das Geräusch vermutete. Er kniff seine Augen zusammen. Der Mond spendete im Augenblick nur sehr wenig Licht und trotzdem konnte er es sehen – ihn sehen. Sein Puls stieg weiter an, was er vor wenigen Sekunden noch für undenkbar gehalten hatte. Etwa zehn Meter unter ihm und vielleicht zehn bis zwanzig Meter entlang des Waldrandes sah er die Umrisse eines Mannes. Das konnte nur ER sein. Jonathan drehte sich zu Kerry, legte den Finger auf seine Lippen und winkte sie anschließend zu sich. Sie schlich zu ihm und wagte sich mit dem Gesicht vorsichtig über den Felsvorsprung, um sehen zu können, was Jonathan ihr zeigen wollte. Sie nickte knapp, aber energisch. Wer hätte das auch sonst sein sollen? Aber die Bestätigung gab ihm Gewissheit und ließ seine Aufmerksamkeit auf ein Höchstmaß ansteigen. Er beugte sich zur Seite und flüsterte in ihr Ohr:

»Wir müssen weg! Am besten versuchen wir es in diese Richtung.« Er zeigte hinter sich nach oben.

»Noch weiter hoch? Bist du verrückt? Dort erfrieren wir mit Sicherheit oder stürzen ab«, raunte sie ihm zu. Jonathan dachte angestrengt nach, fand seine Idee aber alternativlos.

»Hast du einen besseren Vorschlag?« Sie fixierte weiter grimmig den kaum erkennbaren Mann unter ihnen.

»Ja, wir warten ab, dann schleichen wir uns hinunter und bringen ihn um.« Die Vorstellung, aber auch der kalte Ton in ihrer Stimme ließen ihn erschaudern.

»Du spinnst wohl!«, zischte er. »Zum einen ist er mit Sicherheit bewaffnet und zum anderen töte ich doch nicht einfach einen Menschen!«

»Menschen? Du vergisst, was er getan hat. Und auch das, was er mit uns machen wird, wenn er uns erwischt. Er ist ein durchgeknalltes Monster.«

»Das mag sein, daher sorgen wir dafür, dass er uns nicht erwischt.«

»Okay«, flüsterte Kerry, »ich hoffe, dein Plan geht auf. War ja auch nur eine Idee.« Er schaute sie an und sah, wie sie mit den Schultern zuckte.

»Ich habe dir versprochen, dass dir nichts passiert. Wenn wir da runter gehen«, er zeigte in die Richtung des Mannes, »dann kann alles Mögliche passieren und ich habe noch ein wenig vor in meinem Leben. Ich vermute, bei dir sieht das nicht anders aus.«

»Ja, natürlich, du hast recht. Ich war nur gerade etwas neben mir, weil mir die Bilder von dem Gemetzel durch den Kopf geschossen sind. Sorry.« Kleine Tränen kullerten über ihre Wange. Aber er schien sie überzeugt zu haben, denn sie zog sich leise zurück. Dann griff sie nach der Flasche und kippte etwas Wasser über das Feuer, welches mit einem lauten Zischen reagierte. Jonathan riss die Augen auf und musste sich beherrschen, sie nicht anzuschreien.

»Was tust du da? Lass es doch weiterbrennen!«

»Ich wollte nur, dass er es nicht bemerkt«, sagte sie entschuldigend.

»Wenn er es gesehen hätte, wäre er sicher schon auf dem Weg nach oben«, sagte Jonathan und schüttelte den Kopf. Wie hat die nur die Sache in der Hütte überlebt, so naiv, wie sie sich teilweise aufführt?, schoss es ihm durch den Sinn. Doch dadurch wurde sein Beschützerinstinkt nur noch mehr geweckt.

»Das klingt schlüssig«, sagte sie und sah zu Boden. »Dann sollten wir jetzt schleunigst verschwinden. Du meinst also, wir sollten es dort entlang probieren?« Sie deutete mit dem Kopf zur gegenüberliegenden Seite, wo ein schmaler Weg weiter nach oben zu führen schien. Jonathan nickte und strich ihr sanft über die Wange, bevor er schnell die Sachen in den Rucksack packte. Sie setzten ihren Marsch fort und bemühten sich, so leise wie möglich zu sein.

Der Anstieg gestaltete sich deutlich anstrengender als der zum Plateau, auf dem sie übernachten wollten. Sie kamen wegen der schlechten Sicht nur sehr langsam voran. Mehrmals befürchtete Jonathan, sie wären in eine Sackgasse geraten, wenn der Weg plötzlich endete. Einmal mussten sie ihren Mut zusammennehmen und über einen etwa halben Meter breiten Spalt springen. Wie tief er hinabging, konnten sie nicht erkennen. Jonathan hatte einen kleinen Stein hineinfallen lassen und es dauerte über eine Sekunde, bis sie seinen klackenden Aufprall hörten. Ein paar Meter tief war er demnach auf jeden Fall. Auf einer anderen Passage erschwerten etliche kleinere und größere Steine ihren Weg, sodass sie sich bei jedem Schritt vorantasten mussten. Dennoch trieb Jonathan sie unermüdlich an, bis ein spitzer Schrei ihn zusammenfahren ließ. Er drehte sich abrupt um und sah Kerry hinter sich auf dem Boden liegen. Nicht schon wieder, dachte er, schämte sich jedoch sofort dafür.

»Verdammt!«, rief sie und setzte sich auf.

»Was ist passiert?« Sofort war er bei ihr.

»Ich bin umgeknickt. Dieses bescheuerte Geröll hier!« Jonathan tastete ihren Knöchel ab und stellte fest, dass dieser schon dabei war, mächtig anzuschwellen. Das fehlte ihnen noch zu ihrem Glück, dachte er verbittert. Verfolgt von einem irren Killer und nun ein verstauchter Knöchel, der sie in dem ohnehin unwegsamen Gelände weiter bremsen würde. Er griff nach ihrem Unterarm und half ihr hoch.

»Versuch mal, aufzutreten.« Vorsichtig belastete Kerry ihr Bein. Jonathan bemerkte aus dem Augenwinkel, dass sie sich auf die Lippen beißen musste. »Geht es?«

»Muss ja«, sagte sie und humpelte ihm langsam hinterher.

Trotz ihrer Verletzungen konnte Kerry mit seinem Tempo Schritt halten und nachdem sie die Geröllpiste hinter sich gelassen hatten, ging es zügiger voran.

»Bleib mal stehen«, sagte er plötzlich und Kerry schien dankbar für die Pause. »Hörst du das auch?« Sie drehte ihren Kopf langsam nach links und rechts.

»Was meinst du? Den Wind? Der pfeift doch schon seit Stunden.«

»Nein«, erwiderte Jonathan. »Das ist etwas anderes.« Sie zuckte mit den Schultern. Hatte er sich verhört? Die wechselnden Winde in den Bergen konnten einem so manchen Streich spielen. Er grummelte etwas Unverständliches vor sich hin und sie marschierten weiter. Der Wind blies den beiden nach wie vor kühle Nachtluft entgegen und jagte ihnen eine Gänsehaut nach der anderen über den Körper. Jonathan hörte erneut das Geräusch, aber deutlicher als vorhin. Es wurde immer lauter und etwas später endete ihr Pfad.

»Jetzt weiß ich, was du vorhin meintest. Du hast das Rauschen des Wassers gehört.« Kurz darauf schauten sie vom Rand nach unten auf einen mehrere Meter breiten Fluss, der ein Weitergehen unmöglich machte.

»Danke für die Aufklärung, das weiß ich jetzt auch«, erwiderte er schnippisch und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Na super.« Kerry trat neben ihn und gemeinsam blickten sie auf die Wasseroberfläche, die im Mondlicht funkelte wie die Glitzerschuppen des Regenbogenfisches.

»Schön«, sagte sie. Und er nahm an, dass sie es auch so meinte. »Aber was machen wir nun?« Jonathan seufzte.

»Das sind sicher zwei bis drei Meter nach unten und ob wir dann zur anderen Seite kommen, bezweifle ich stark«, sagte er. »Wir werden wohl oder übel umkehren und einen anderen Weg finden müssen.« Wäre er allein, würde er es riskieren. Schließlich war er ein guter Schwimmer und wenn er sich beim Sprung nicht verletzen würde, sollte es machbar sein. Aber er glaubte nicht, dass Kerry es schaffen könnte. Sie war enorm geschwächt von ihrer Flucht, die schon wesentlich länger andauerte, als ihre gemeinsame. Und der verletzte Fuß verkomplizierte es zusätzlich. Unvermittelt spürte er Kerrys Fingernägel, die sich in seine Taille bohrten.

 

***

 

Edgar hatte sich mit seinem ganzen Gewicht, und das waren gute achtzig Kilogramm, in die Bewegung geworfen. Als der Ast dann plötzlich krachend nachgab, konnte er sich gerade noch auf den Beinen halten. Um ihn herum raschelte es, er hatte wohl einige Kleintiere aufgescheucht und ein paar Vögel krächzten wütend wegen der Störung, während sie davonflogen. Er registrierte es, aber es war ihm egal – alles war ihm egal. Edgar hatte nur noch ein Ziel: die Schlampe umzubringen. Und er würde alles dafür tun, um dieses Ziel zu erreichen.

Gerade hatte er es sich, mehr schlecht als recht, in der Felsspalte gemütlich gemacht und das Feuerzeug aus seiner Tasche gezogen, da dachte er, sein Gehirn würde ihm einen Streich spielen. Er meinte, Rauch zu riechen. Verwirrt schaute er auf den Boden vor sich, wo sich Zweige, Äste und Gras befanden und auf das Feuerzeug in seiner Hand. Er hatte sein Feuer noch gar nicht entfacht, warum roch er Rauch? Langsam dämmerte es ihm. Er wuchtete sich hoch und zwängte sich durch die Spalte nach draußen. Tief sog er die Nachtluft ein. Kein Zweifel, irgendwo in der Nähe brannte es. Einen Waldbrand schloss er allein wegen der Witterung aus, denn es hatte sehr viel geregnet in den letzten Tagen, sodass die Gräser und andere Pflanzen sich nicht so schnell entzünden würden. Zumal es tagsüber nicht sonderlich heiß gewesen war.

»Danke für das Signal«, folgerte er grimmig. Edgar war sicher, dass dieses Feuer ihn direkt zu den beiden Flüchtenden führen würde. Er bewegte sich langsam zum Rand des Waldes, weg von den Felsen. Mit etwas Spucke befeuchtete er zwei Finger und hielt sie nach oben. Der Wind kam von Nordosten. »Wo versteckt ihr euch?« Edgar nahm seine Ausrüstung auf und schritt den Waldrand ab, dabei behielt er ständig das Massiv im Auge. Entweder würde er die beiden entdecken oder eine Möglichkeit finden, die Anhöhe zu nehmen.

Die sich immer wieder vor den Mond schiebenden Wolken erschwerten die Sicht. Die Taschenlampe erwies sich für diesen Zweck als wenig hilfreich, der Lichtkegel war zu kurz und zu schwach, um große Abschnitte der Felswand auszuleuchten. Gerade überlegte er, umzukehren, um etwas weiter südwestlich einen Pfad zu finden, da entdeckte er den schmalen Durchgang. Erleichtert stieß er die Luft aus.

In der engen, verschlungenen Gasse, die stetig nach oben führte, leistete die Stabtaschenlampe im Gegensatz zur Panoramausleuchtung vorhin einen hervorragenden Dienst, sodass Edgar schnell vorankam.

Minuten später hatte er das Plateau erreicht und sofort fiel sein Blick auf die schwach glimmende Restglut.

»Jetzt hab ich dich!«, sagte er. Sie mussten ihn gesehen oder gehört haben, anders konnte er sich nicht erklären, warum sie diesen an sich gut geeigneten Rastplatz vor Tagesanbruch verlassen hatten. Es ratterte in seinem Gehirn, er versuchte angestrengt, aus seiner Erinnerung abzurufen, wie die Pfade hier verliefen. Zwei Möglichkeiten schienen sich anzubieten und auf dem felsigen Untergrund konnte er trotz der Taschenlampe keine eindeutigen Spuren ausmachen. »Wohin seid ihr gegangen?«, grübelte er und rieb sich das Kinn, welches mittlerweile von harten Bartstoppeln übersät war.

Edgar entschied sich und musste wenige Minuten später verbittert feststellen, dass er die falsche Wahl getroffen hatte. Der Weg verlief in etwa eben und endete vor einer steil aufragenden Wand. Weder rechts noch links konnte er eine Möglichkeit entdecken, ohne Steigwerkzeuge weiterzukommen. Edgar stieß einen Fluch aus, kehrte um und lief in leichtem Laufschritt bis zum Plateau zurück, um die zweite Alternative einzuschlagen. »Das sieht schon besser aus«, sagte er, als er nach einigen Minuten auf dem Boden vor sich Fragmente von Schuhprofilen im Schein der Lampe erkannte. »Lauft ruhig, lauft um euer Leben.«

Trotz des Lichts seiner Taschenlampe übersah er einen spitzen Vorsprung an der Felswand und stieß mit dem Schienbein dagegen. Er sog zischend die Luft ein, fluchte abermals, trat zweimal fest auf und stellte beruhigt fest, dass mit seinem Bein alles in Ordnung schien. Keine Zeit verlierend lief er weiter. Er lächelte zufrieden, als er registrierte, dass seine Zielobjekte offensichtlich in eine Sackgasse geraten waren. Sie waren ihm ausgeliefert. Er erkannte die Silhouetten der beiden am Ende seines Sichtfeldes. Er stutzte kurz, denn sie machten keine Anstalten, fortzulaufen. Sie präsentierten sich ihm nebeneinander wie Zielscheiben auf dem Schießstand. Rechts stand der Typ, den er nicht kannte und dessen Schicksal ihm völlig gleichgültig war – was konnte er dafür, dass sich der junge Mann in schlechte Gesellschaft begeben hatte: Mitgehangen – mitgefangen, so hieß es doch. Links daneben erkannte er zweifelsfrei die Konturen des kleinen Flittchens, deutlich kleiner als die ihres Begleiters. Edgar verlangsamte seinen Schritt und nahm das geschulterte Jagdgewehr in beide Hände. Jetzt würde er es zu Ende bringen. Er atmete bewusst ruhig tief ein und aus, sein Puls verlangsamte sich. Edgar war ein hervorragender Schütze und selbst die schlechten Lichtverhältnisse sollten nicht verhindern können, dass er sie treffen würde. Er blieb stehen und legte an. So gut es ihm bei diesen Lichtverhältnissen möglich war, visierte er das Miststück an. Er spannte den Hahn und atmete erneut tief ein. Den Fehler, den viele Anfänger machten, nämlich einzuatmen, die Luft anzuhalten und dann abzudrücken, beging er natürlich nicht. Er wartete bis zu seiner Ausatmung, zog den Zeigefinger langsam bis zum Druckpunkt und vermied dadurch, dass er das Gewehr verriss, bevor die Kugel den Lauf verlassen hatte und sie sonst wo, aber nicht in ihrem Ziel einschlug. Der Schuss peitschte auf, gefolgt von einem kurzen, schrillen Schrei, der sofort wieder erstarb. Für einen Moment schien selbst der Wind den Atem anzuhalten. Es herrschte Stille.

Kapitel 6

 

 

Sein erster Impuls war, sich aus dem Griff ihrer Finger zu entreißen. Ihre langen Nägel schnitten schmerzhaft in sein Fleisch.

»Spinnst du?«, zischte er sie an, was ihm sofort leidtat, als er ihre aufgerissenen Augen sah, womit sie irgendetwas hinter ihnen fixierte – oder irgendjemanden. Er folgte ihrem Blick und nun war es an ihm, die Luft anzuhalten. Zwar konnte Jonathan es nicht im Detail erfassen, aber das, was er erkannte, reichte aus, um zu wissen, dass ihr Verfolger nur wenige Meter hinter ihnen stand und gerade sein Gewehr auf sie anlegte. »Verdammte Scheiße!«, entfuhr es ihm und sein Herzschlag setzte fast aus. Für einen von ihnen beiden wäre es vorbei, war er sicher, aus der Entfernung würde der Kerl bestimmt nicht vorbeischießen. Das hieße, er hätte vielleicht wenige Sekunden, ihn zu überwältigen, bevor er den zweiten Schuss abgeben könnte. Vorausgesetzt natürlich, er würde erst auf Kerry feuern. Egal, wie er es in seiner Panik durchdachte, die Chancen standen übel. Ohne weiter nachzudenken, packte er Kerrys Arm und machte einen Satz vorwärts. Gleichzeitig peitschte ein Schuss auf, dem ein kurzer Schrei Kerrys folgte. Jonathan hatte nicht den Hauch einer Ahnung, ob sie aus Schreck aufgeschrien hatte, weil er sie mit sich riss, oder ob sie getroffen worden war. Und es war ihm gerade egal. Er wollte überleben und nur darum ging es ihm.

Sein freier Fall dauerte nur eine Sekunde, dann verschlang ihn das kalte Wasser des Flusses. Jonathans Lungenflügel schienen zu implodieren. Sofort wurde er mit der Strömung gerissen, als ob ihn eine unsichtbare Hand unter Wasser an den Füßen gepackt hätte. So müssen sich Leo und Kate gefühlt haben, als sie auf der sinkenden Titanic ins Eiswasser sprangen. Warum zum Teufel geht mir jetzt so ein Scheiß durch den Kopf? Und überhaupt: Leo ist am Ende draufgegangen, das kommt in meinem Fall nicht in Frage!

Er strampelte mit den Beinen und ruderte wild mit den Armen, um schnellstmöglich an die Wasseroberfläche zu kommen, was ihm kurz darauf gelang. Gierig saugte er die Luft in seine Lunge, die brannte wie die Hölle. Er drehte sich um die eigene Achse, während er immer weiter mit der Strömung trieb. Der Fluss hatte wenige Meter nach ihrem Absprungort eine Rechtskurve beschrieben, sodass er guter Hoffnung war, dass er sich erstmal aus dem Sichtfeld des Verfolgers gerettet haben dürfte. Aber wo war Kerry? Hatte er sie getroffen und sie trieb schwer verletzt oder gar tot unter der Oberfläche? Oder war sie auf einen Stein oder Felsen aufgeprallt und nicht wie er in der Mitte des Flusses, wo das Wasser tief genug gewesen war? Vielleicht habe ich sie auch nicht fest genug gezogen und sie ist noch immer da oben bei dem Wahnsinnigen. Einen weiteren Schuss hätte ich unter Wasser sicher nicht gehört. Doch er wollte nicht glauben, dass er Kerry verloren hätte.

»Kerry«, sagte er, erst leise, dann immer lauter werdend, bis er schließlich so laut schrie, wie es seine Kräfte hergaben. Nichts. Er fühlte sich hilflos. Er blickte in alle Richtungen, nicht nur, um Kerry eventuell zu erspähen, sondern auch, um sicherzugehen, dass der Verfolger tatsächlich nicht in Reichweite war. Seine Bewegungen wurden schwerfälliger, als würde ein Anästhetikum langsam zu wirken beginnen. Das kalte Wasser führte zu einer zunehmenden Taubheit seiner Glieder.

Er konnte Kerry nicht mehr retten, aber sich selbst wollte er noch nicht aufgeben. Er müsste schnellstens aus dem Wasser, natürlich auf der von ihm rechten Uferseite, damit er dem Killer nicht wieder vor die Flinte lief. Und er müsste so schnell wie möglich raus aus seinen Klamotten und ein wärmendes Feuer machen. Er bewegte kurz seine Schultern und stellte erleichtert fest, dass er seinen Rucksack nicht verloren hatte. Jetzt blieb zu hoffen, dass das Feuerzeug nachher noch funktionieren würde, denn er war nie bei den Pfadfindern gewesen und wäre mit Sicherheit nicht im Stande, mit Behelfsmitteln von Mutter Natur eine Flamme zu erzeugen..

Er ließ sich mit der Strömung treiben und schaute immer wieder zur Seite, um die geeignete Stelle, an der er sicher ans Ufer käme, nicht zu verpassen. Damit sollte er sich nicht mehr viel Zeit lassen, wusste er doch, dass in dieser Gegend alle paar hundert Meter die Ausläufer des Kootenay von Stromschnellen und kleinen Wasserfällen unterbrochen wurden. Sollte er in einen davon geraten, wäre er die längste Zeit Jonathan Hunter gewesen.

Gerade hatte er die womöglich rettende Böschung gesichtet und mit Gegenbewegungen dafür gesorgt, dass er auf der Stelle blieb, da spürte er einen Stoß im Rücken, der zum Glück von seinem Rucksack gedämpft wurde. Der treibende Baumstamm hätte ihm sonst durch sein Tempo mehr als einen gehörigen Schrecken zugefügt. Fluchend befreite er sich von einem Ast, der sich zwischen ihm und seinem Rucksack verfangen hatte, und stieß den Stamm von sich fort. Jonathan wurde durch den Aufprall einige Meter von der Strömung mitgezogen und kämpfte sich wieder zurück. Plötzlich sah er aus dem Augenwinkel etwas aufblitzen.

Es war Kerry! Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte es geschafft, sich irgendwie am Ende des Stammes festzuhalten, der vor seiner Nase an ihm vorbeitrieb. Sie reagierte nicht auf ihn, als er ihr hinterherrief. Ohne zu zögern stürzte er sich, obwohl er gerade erst das rettende Flussbett unter seinen Füßen gespürt hatte, wieder in die Fluten und konnte Kerry nach wenigen Sekunden erreichen und sich mit ihr am Stamm halten. »Kerry, hörst du mich?« Keine Reaktion. Auch nach mehreren Versuchen sagte sie nichts, öffnete jedoch schwach die Augen, nur um im nächsten Moment gänzlich in Ohnmacht zu fallen. Das war wohl allerhöchste Eisenbahn!, schoss es Jonathan durch den Kopf. Er packte mit seinem linken Arm um ihre, zum Glück, sehr schlanke Taille und ergriff mit der freien Hand eine Wurzel des Stammes. Mit einem Ruck trennte er sich und Kerry von ihrem provisorischen Floß, welches unbeirrt davon den Fluss weiter hinuntertrieb.

Jonathan war selbst erstaunt darüber, dass er noch die Kraft fand, sich und Kerry in Ufernähe zu bringen. Allerdings reichte sie nicht dafür aus, Kerrys Kopf kontinuierlich über Wasser zu halten.

Nicht weit flussabwärts nahm das Tosen eines Wasserfalls eine bedrohliche Lautstärke an. Also jetzt oder nie. Wenn er sie nicht in den nächsten Sekunden ans Ufer brachte, wären sie beide Geschichte.

Einen knappen Meter vorm Ziel erfasste sie ein Wasserwirbel und riss sie zur Seite. Im nächsten Moment ging es fast im rechten Winkel ab und wenige Zentimeter vom Ufer entfernt änderte der Wirbel erneut seine Richtung. Hätte Jonathan nicht mit einer Blitzreaktion nach dem tiefhängenden Ast einer alten Kiefer gegriffen, der meterweit über den Fluss ragte, wären sie wieder von der Strömung erfasst worden und den Wasserfall hinunter gestürzt. So konnte er sie mit letzter Kraft ans steinige Ufer ziehen und fiel der Länge nach neben sie hin.

Nur kurz gab er sich Zeit, um Atem ringend neben ihr zu liegen und etwas Energie wiederzugewinnen. Er richtete sich auf, kniete vor Kerry und rüttelte an dem Mädchen, das immer noch bewusstlos war. Oder tot, aber das wollte er nicht glauben, noch nicht. Etwas unbeholfen tastete er an ihrem Hals nach dem Puls. Beim dritten Versuch spürte er ein schwaches Druckgefühl unter seinen Fingern. Da er nicht sicher war, begann er hektisch mit den Wiederbelebungsmaßnahmen, an die er sich aus seinem letzten Erste-Hilfe-Kurs noch dumpf erinnern konnte. Obwohl dieser einige Jahre zurücklag, war ihm zumindest eines in Erinnerung geblieben: Um die Herzmassage bei einem Wiederbelebungsversuch im richtigen Tempo durchzuführen, konnte man sich an den Rhythmus des alten AC/DC-Songs Highway to hell halten. Und das tat er. Er fing erst in Gedanken an mitzusingen, dann mit leiser Stimme, die stetig lauter wurde und es passte auch perfekt zu seiner Situation: »I´m on the highway to hell, on the highway to hell ...«

Nachdem er einige Male ihren Brustkorb zusammengedrückt hatte, fing Kerry plötzlich an zu husten.

»Ja, komm schon!«, rief er erleichtert. Sie drehte sich zu ihm auf die Seite und spuckte Wasser auf seine Oberschenkel. Noch nie war Jonathan so glücklich darüber, von jemanden nassgemacht zu werden.

»Was ist los? Wo bin ich?«, kam dünn aus ihrem Mund. Jonathan lachte befreit auf, obwohl sie immer noch in großer Gefahr waren – völlig unterkühlt, am Ende ihrer Kräfte und nach wie vor Freiwild eines Psychopathen. Aber sie lebten – beide.

»Wir mussten springen, sonst hätte er uns erschossen«, erklärte er. Erst jetzt sah sie ihn an.

»Jonathan?« Noch etwas benommen schüttelte sie vorsichtig den Kopf. »Ach du Scheiße.«

»Damit hast du ja sowas von recht«, bestätigte er zitternd vor Kälte. »Kannst du aufstehen?« Kerry versuchte umständlich, sich aufzurichten, und mit seiner Unterstützung gelang es ihr. Sie entfernten sich ein gutes Stück vom Ufer. Die ersten Meter mussten sie sich über steinigen Untergrund bewegen, doch er wurde zunehmend sandiger und bald hatten sie den Rand des Waldes erreicht. Als er bemerkte, wie ihre Beine immer wieder nachgaben und sie hinzufallen drohte, schnappte er sie und trug sie auf seinen Armen. Nach wenigen Metern wollte sie wieder abgesetzt werden. Sie bestand darauf, dass sie allein gehen könnte. Jonathan wehrte sich nicht dagegen, schließlich konnte er sich kaum noch selbst auf den Beinen halten.

Sie suchten weiter und fanden drei nebeneinandergewachsene, hohe Kiefern, deren Stämme wie zu einer einzigen Holzwand verschmolzen zu sein schienen. Durch die tiefhängenden Äste wirkte es wie ein Unterstand und als genau solchen wollten die beiden ihn nutzen. Eilig suchten sie Gräser und Zweige zusammen und häuften sie vor sich auf.

»Wünsch uns Glück«, sagte er bibbernd zu ihr, als er mit zitternden Händen das Sturmfeuerzeug aufklappte, das er aus einer Seitentasche seines Rucksacks geangelt hatte.

»Jaah«, rief sie, als nach dem dritten Versuch die Grashalme knisternd Feuer fingen.

»Pst.« Er hielt den Zeigefinger vor seinen Mund. »Wir haben keine Ahnung, wo der Irre gerade ist, also lass uns lieber leise sein.« Sie nickte. Zumindest meinte er das. Da beide wegen der Kälte zitterten wie Espenlaub, konnte er es nicht eindeutig sagen.

Sie sorgten dafür, dass das Feuer nicht größer wurde als nötig. Obwohl Jonathan dachte, dass es eigentlich egal wäre, denn wenn sie es nicht schafften, die Klamotten einigermaßen trocken und ihre Körpertemperatur wieder auf Normalmaß zu bekommen, würden sie eh bis zum Morgengrauen wegen Unterkühlung draufgehen. Da wäre die Alternative, eine Kugel durch den Schädel gejagt zu bekommen, nicht die schlimmste Vorstellung.

Auch um in Bewegung zu bleiben, hatten sie mit herumliegenden Ästen eine Art Wall um die Feuerstelle errichtet. Dieser hatte nicht nur den Vorteil, dass er die Sichtbarkeit aus der Ferne einschränkte, sondern auch als Windfang diente und die abstrahlende Wärme etwas an Ort und Stelle hielt.

Sie hatten sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen und hockten eng aneinander neben den knisternden Ästen. Ihre Sachen hatten sie locker um das Lagerfeuer verteilt. Unter anderen Umständen hätte Jonathan den Körperkontakt mit diesem wirklich attraktiven Mädchen genossen. Doch im Augenblick regte sich in dieser Richtung nichts bei ihm, nicht einmal, als sie ihr Kleid abstreifte, oder besser, das was davon noch übrig war, und ein Traumkörper mit perfekten Rundungen zum Vorschein kam. Kerry schien es nicht anders zu gehen. Auch sie schien seinen durchtrainierten Körper im Moment ausschließlich als Wärmespender zu betrachten. Natürlich tut sie das, du Idiot, dachte er, sie hat ja auch vor ein paar Stunden erst ihren Freund verloren.

Kapitel 7

 

 

Edgar kannte es aus seiner aktiven Army-Zeit von Einsätzen im Irak und Afghanistan: Wenn Menschen in die Enge gedrängt wurden, reagierten sie nie gleich. Einige fügten sich in ihr Schicksal und ließen es, was auch immer es war, mit sich geschehen. Andere wiederum gingen plötzlich in die Offensive und griffen ihr Gegenüber an, so aussichtslos dieses Unterfangen oft auch war. Und dann gab es die Lemminge, die sich nicht gefangen nehmen lassen wollten – anstelle dessen gingen sie lieber in den vermeintlich sicheren Tod.

Und zu dieser Sorte schien zumindest der männliche Begleiter dieses Miststücks zu gehören. Edgar war sicher, dass er Kerry mit seinem Schuss getroffen hatte, musste aber aus dem Augenwinkel mit ansehen, wie der Typ nach ihr griff und sie mit in den Abgrund riss. Edgar wusste, dass dort unten ein Flussarm vorbeizog, jedoch hatte er ihn viel tiefer vermutet, als er tatsächlich war. Das stellte er mit einem Fluch auf den Lippen fest, nachdem er schnell zu der Stelle gehastet war, auf der sich eben noch seine Zielobjekte befanden. Er verharrte kurz. Denk nach, Edgar, selbst wenn sie sich beim Eintauchen das Genick oder zumindest ein Bein gebrochen hätte, weil sie auf einen Felsen aufprallte oder der Fluss nicht tief genug war – du hast sie verletzt, demnach verlor sie Blut, und das Wasser dürfte so kalt sein, dass es die beiden nicht lange durchhalten dürften. Falls das allein nicht ausreichte, würde die nächste Stromschnelle ihnen den Rest geben.

»Nein«, sagte er laut, »ich will ... ich muss ihre Leiche sehen und ihr ins Gesicht treten!« Er straffte sich, schulterte sein Gewehr und kehrte um. Edgar kannte den Verlauf dieses Arms des Kootenay. Ungefähr zwei Meilen flussabwärts beruhigte sich dessen Strömung, dort würde er ihn ohne große Probleme überqueren und seine Jagd fortsetzen können. Und an dieser Stelle, so mutmaßte er, würden die beiden auch frühestens dem Fluss entkommen, sollten sie dann überhaupt noch leben.

 

***

 

Das Heulen eines Wolfes ließ Jonathan hochschrecken. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er bei seinen Aufenthalten hier nie über Nacht in der Wildnis gewesen war. Auf eine gewisse Weise faszinierte es ihn, da man nun Dinge und vor allem Tiere hörte, die man tagsüber so gut wie nicht wahrnahm.

Das plötzliche Zucken seines Körpers weckte auch Kerry auf. Die Müdigkeit hatte beide übermannt und sie waren engumschlungen am Feuer sitzend eingeschlafen.

Nachdem sie herzhaft gegähnt und sich gestreckt hatte, griff sie nach ein paar Ästen aus dem notdürftig errichteten Wall und legte sie auf die Feuerstelle, in der nur noch kleine Flammen züngelten. Die Kälte ergriff erneut Besitz von ihr. Jonathan tastete die Kleidung ab und reichte Kerry das Kleid.

»Hier, es ist fast trocken.« Sie nahm es ihm ab, befühlte es und zog es rasch über ihren Kopf.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739469140
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Menschenjagd Psychothriller Selbstjustiz Crime Psychopath Kriminalthriller Suspense Krimi Ermittler Noir Roman Abenteuer

Autor

  • Marcus Ehrhardt (Autor:in)

Der Autor, 1970 geboren, lebt im niedersächsischen Vechta. Er ist Vater zweier erwachsener Kinder. Die Idee, Geschichten zu erzählen und Bücher daraus entstehen zu lassen, kam quasi über Nacht. Seinen großen Sympathien den USA gegenüber in all ihren Vielfalten und endlosen Weiten ist es geschuldet, dass einige seiner Titel eben dort verankert sind. Demgegenüber erscheinen immer wieder Titel, die vorrangig in seiner norddeutschen Heimat angesiedelt sind.
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Titel: Von Hass getrieben