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Weltenbrand: Revelation

von Danara DeVries (Autor:in)
335 Seiten
Reihe: Weltenbrand, Band 4

Zusammenfassung

Die wahre Charakterstärke eines Mannes zeigt sich erst dann, wenn er sein Schicksal annimmt und ihm unerschrocken entgegentritt. Das große Finale der Weltenbrand-Reihe! Asgard liegt in Trümmern. Eine riesige Schlange bedroht die Menschheit und Claires Mutter weiß Bescheid! Als ob das nicht alles schon genug wäre, klebt Elkos Blut an ihren Händen. Die Lage entspannt sich, scheinbar. Bis es erste Opfer gibt. Öltanker, Kreuzfahrtschiffe, niemand ist sicher. Ein Kampf ums Überleben beginnt, sowohl auf der politischen Bühne als auch gegen die Bedrohung in Form einer mörderischen Riesenschlange, die alles niederwälzt, was sich ihr in den Weg stellt. Nur eines ist sicher: Diesmal endet es, endgültig.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

Von Danara DeVries

 

 

Kapitel 1

Die kalte Nachtluft strömte stetig in Claires Lungen. Nur durch die Regelmäßigkeit tiefer Atemzüge beruhigte sich ihr Herzschlag und sie genoss für ein paar Augenblicke die Stille. Das Adrenalin, das die letzten Stunden durch ihre Adern gerauscht war, löste sich langsam auf. Dennoch fühlte sie sich hellwach. Sie war die ganze Nacht auf gewesen und verspürte nicht den Hauch von Müdigkeit, obwohl ihre Muskeln schmerzten und sie eigentlich nur noch schlafen wollte. Aber die Ruhe stellte sich nicht ein. Stattdessen kam sie sich vor wie ein Rennpferd kurz vor dem Start. Das Blut raste durch ihre Adern, die Angst saß ihr im Genick und dann war es plötzlich vorbei gewesen. Doch die Anspannung blieb. Die Nackenhaare zuckten noch immer, aber es gab niemanden mehr, gegen den sie kämpfen musste.

Die kühle Nachtluft, der Sonnenaufgang, der sich am Horizont abzeichnete, und die Gewissheit, überhaupt einen weiteren Morgen erleben zu dürfen, setzten sich ganz langsam in ihrem Denken fest. Allmählich kehrte die Ruhe zurück.

Wärme durchströmte sie, ausgehend von der Teetasse, die beruhigend und schwer in ihren Händen lag. Sie waren erst vor gut einer Stunde aus Asgard zurückgekehrt. Claire glaubte, in ihrer Wohnung Zuflucht zu finden, Elkos Wunden heilen zu können und wenigstens für ein paar Stunden ausruhen zu können. Aber der Albtraum verfolgte sie. Ihr Rückzugsort steckte bereits mittendrin und sie wusste nicht, wie sie wieder zur Normalität zurückfinden sollte. Allein die Bilder im Fernsehen jagten ihr heiße und kalte Schauer über den Rücken. Da half auch der Tee ihrer Mutter nicht. Sigrids Mischung, wie Claire lächelnd festgestellt hatte. Die Asin hatte einen riesigen Beutel Tee in ihrer Küche platziert und ihre Mutter hatte nicht schlecht gestaunt, als sie die Nase in die Tüte gesteckt hatte. »Perfekt«, war ihr einziger Kommentar gewesen.

Am Horizont zeichnete sich der erste Streifen eines neuen Tages ab. In Asgard … und der Ukraine hatte er bereits begonnen. Claire atmete tief durch und nahm einen weiteren, beruhigenden Schluck. Sie würden handeln müssen, irgendetwas unternehmen müssen. Elko wollte gerne nach Asgard und sich am liebsten direkt auf die Landzunge stellen. Aber so einfach war das nicht. Nicht in ihrer Welt.

»Wie geht es dir?« Astrid Esterbrooks trat auf den Balkon und legte ihrer Tochter eine wärmende Decke um die Schultern. Claire atmete tief durch und maß ihre Mutter mit einem langen, nachdenklichen Blick. Die Lügen und deren Ausmaß breitete sich erst nach und nach vor Claires innerem Auge aus. Astrid hatte sie ihr Leben lang über ihre Herkunft im Unklaren gelassen. Ihre Mutter hatte gehofft, in der Welt der Menschen Ruhe und Frieden zu finden, fernab von Asgards Intrigen. Auf der einen Seite verstand Claire ihre Mutter, aber auf der anderen Seite fühlte sie sich belogen und betrogen. Und schmerzlich daran erinnert, dass auch Elko sie mit seinen Halbwahrheiten nur beschützen wollte. Sie alle wollten sie beschützen und dabei war sie es doch, die beschützte.

»Besser«, antwortete sie leise und ließ ihren Blick wieder zum Horizont schweifen. »Ich kann verstehen, warum du mir nichts gesagt hast. Wirklich. Dennoch fühle ich mich … hintergangen und ausgeschlossen.«

Astrid lehnte sich auf die Brüstung und folgte Claires Blick, aber sie sah den Horizont nicht, ihre Augen trugen sie in die Vergangenheit. »Es tut mir unsäglich leid. Ich wollte dich beschützen, vor meiner Welt, vor dem Verrat und dem Betrug an den Menschen. Und es gelang mir tatsächlich für ein paar Jahre. Nur dein Vater …«

Claire drehte sich um und sah ihre Mutter durchdringend an. »War es deshalb? Weil er wusste, dass ich nicht seine Tochter bin?«

Astrid zuckte zusammen und nickte. »Ich mache ihm keinen Vorwurf, er hat es versucht und wir sind beide daran gescheitert. Erst flüchtete er sich in die Arbeit, dann in den Alkohol. Es tut mir so schrecklich leid.« Sie stieß sich seufzend von der Brüstung ab und ließ sich in einen großen Korbsessel fallen. »Wie hast du ihn nur getroffen?«

Claire löste sich ebenfalls von der Brüstung und breitete die Decke über ihrer Mutter aus. Dabei glitt ihr Blick ins Innere ihrer Wohnung, wo Hannah hektisch gestikulierend mit einem Telefon am Ohr und einer Tasse Kaffee in der Hand herumlief. Loke hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt und lauschte gespannt den Nachrichten, während Elko schlief. Wieder einmal in ihrem Bett, verletzt und wieder einmal gerade so dem Tod entronnen. Claire lächelte. Es schien fast so, als würden seine Besuche in ihrem Bett immer mit einer Nahtoderfahrung einhergehen. Das Lächeln gefror und sie schluckte die erneut aufflammende Angst hinunter. Er durfte nicht andauernd in Gefahr geraten, dieses Auf und Ab musste endlich ein Ende haben.

»Das habe ich dir doch schon erzählt, Mama.« Claires Augen trafen sich kurz mit Hannahs, die ihr über das Telefongespräch hinweg aufmunternd zunickte. Die Agentin teilte Elkos Auffassung, dass sie etwas unternehmen müssten. Aber das »wie« stellte sich Hannah etwas anders vor. »Wir sind hier in unserer Welt, also musst du dich auch an unsere Regeln halten und die sehen nicht vor, dass du jeden, der Fragen nach Asgard stellt, mit dem Hammer wegfegst.« Und dann hatte sie ihn lächelnd ins Bett geschickt. Astrid hatte nach Luft geschnappt und Elko hatte sich widerwillig gefügt und Loke hatte sein Zähneknirschen mit lautem Gelächter kommentiert. Seitdem drückte sich Claire auf dem Balkon herum und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Schläft er?«, fragte sie schließlich und streckte die Beine müde von sich.

»Ja«, antwortete ihre Mutter und griff nach ihrer Hand. »Das du das alles durchmachen musstest, tut mir wahnsinnig leid. Aber Seine Hoheit wird sich erholen und …«

»Sprich nicht so von ihm«, murmelte Claire. »Er hat einen Namen und er mag es, wenn man ihn damit anspricht. Dieser ganze Quatsch geht ihm gehörig auf die Nerven.«

Astrid lächelte verbittert. »Verzeih, dieser Quatsch hat für viele Jahre mein Leben bestimmt und ich kann einfach nicht anders, als in ihm das zu sehen, was er ist. Er ist für mich, für diese ganze Kultur eine Art gottgleiche Figur. Als Asgard noch im Verborgenen existiert hat, war diese Weltanschauung in Ordnung. Hier in dieser Welt hast du recht, sein Volk muss sich anpassen. Er muss sich anpassen.« Astrid seufzte tief und strich versonnen über Claires Armreifen. »Vielleicht ist es gut, das gerade er der Hammerträger ist. Er ist jung und hat vielleicht genau die richtige Einstellung für ein Leben außerhalb des Schildes.«

»Ich habe Angst, dass die Mächtigen dieser Welt aus ihm einen Spielball machen könnten«, murmelte Claire und folgte dem Blick ihrer Mutter.

»Dafür hat er dich und diese Hannah. Ihr müsst für ihn die politischen Verstrickungen lösen.«

Claire lachte heiser. »Als ob ich jemals gut in Politik war …«

»Du warst immer eine gute Schülerin mit einer schnellen Auffassungsgabe und er vertraut dir.« Astrid atmete tief durch und senkte den Blick erneut auf Claires Handgelenke. »Diese Armreifen binden deine Kraft?«

Claire nickte. »Meland hat sie geschaffen und Elko angelegt, um seine Fähigkeiten zu kontrollieren. Wir konnten ihn davon befreien und für mich anpassen. Sie bändigen mein Verlangen.«

»Wie fühlt es sich an?« Ihre Mutter betrachtete sie stirnrunzelnd, so als wüsste sie, dass Claire sich nicht wohl mit diesen Dingern fühlte.

»Es schmerzt, als würden sie mich betäuben und unfähig machen, irgendetwas zu empfinden. Ich fühle mich bedrückt, entrückt … als würde ich neben mir stehen und …« Sie seufzte melancholisch und schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. »Es ist so schwer. Aber wenn ich bei ihm bin, geht es. Dann fühle ich mich weniger … depressiv.«

»Oh mein liebes Kind«, murmelte Astrid und schloss sie in die Arme. Die Tränen drängten erneut an die Oberfläche und sie gestattete sich einen Moment der Schwäche. In den Armen ihrer Mutter fand sie Trost und genug Kraft, weiterzumachen, was immer noch auf sie zukommen sollte.

Claire atmete tief durch und sog den beruhigenden Duft ihrer Mutter in sich auf. Sie ließ sich von ihr halten und trösten und irgendwie wurde ihr dabei etwas leichter ums Herz. Die bleierne Last fühlte sich nicht mehr so schwer an und die Freude, die sie immer am Leben empfunden hatte, kehrte ein wenig zurück.

Als sie sich genug getröstet fühlte, löste sie sich von ihrer Mutter und schniefte laut. Astrid lächelte, kramte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und reichte es Claire. »Alles wird gut«, murmelte Astrid und nahm erneut Claires Handgelenke.

»Ich habe schon damals, als du noch ein kleines Mädchen warst, von deiner Gabe gewusst und sie hinter einem mächtigen Siegel verborgen.« Claire ließ abrupt das Taschentuch fallen und starrte ihre Mutter entsetzt an.

»Du hast was?«, keuchte sie atemlos.

Astrid verlor sich absichtlich in der Betrachtung der eingeprägten Verzierungen auf den Lederarmbändern. »Dieses Siegel sollte dich schützen, aber ich konnte ja nicht ahnen, dass der Hammerträger auftaucht und du dich zu ihm hingezogen fühlst. Und das er so stark sein würde.« Astrids Blick wanderte durch die Glasscheibe hindurch in den Flur und blieb an Claires Schlafzimmertür hängen. »Ich habe bereits einige Träger gesehen, aber nie einen, der so stark war. Gegen diesen Kraftgürtel kann ich kein Siegel erschaffen, du wirst ihn immer und überall spüren und jetzt, da du deine Fähigkeiten erst einmal kennst, kannst du meine Siegel mühelos durchbrechen.«

»Loke hat meine Fähigkeiten benutzt, um uns alle zu retten. Nur durch ihn konnte ich einen so mächtigen Schild erzeugen, der uns mehrfach das Leben gerettet hat. Dadurch wurden deine Siegel zerstört.«

Astrid nickte. Claire erinnerte sich noch lebhaft an den Sog, an die Quelle der Kraft und wie Elkos Energie sie umfangen hatte. Aber sie erinnerte sich auch an die Last, als die Kraft sie hinfortriss und sie die Kontrolle verloren hatte. Fröstelnd schüttelte sie sich. Astrid sah auf und nahm die Decke von ihrem Schoss, um ihre Tochter behutsam darin einzuwickeln.

»Ich kann keine neuen Siegel erschaffen, das würde zu lange dauern und es wäre fraglich, ob sie halten würden«, fuhr sie fort, als sie wieder Platz genommen hatte. »Aber ich kann dir zeigen, wie du deine Fähigkeiten beherrschen kannst.«

Claire sah abrupt auf. »Das kannst du?«

Astrid strich ihr lächelnd über die Wange. »Claire, ich bin mit dieser Fähigkeit geboren worden. Ich habe zwar nicht deine gewaltige Ausprägung, aber ich weiß, wie du sie kontrollieren kannst. Dein Vater …« Astrid hielt eilig inne und verstummte.

»Mein Vater …«, nahm Claire den Faden auf. »Ich dachte immer, Papa wäre mein Vater, aber wenn du schon schwanger warst, als du aus Asgard fortgegangen bist, wer ist dann mein Vater?«

Astrids Augen füllten sich mit Tränen und sie schüttelte stumm den Kopf. »Jemand sehr, sehr Mächtiges. Bitte, ich kann und will dazu nichts sagen. Ich weiß, du hast jedes Anrecht darauf, zu erfahren, wer er ist und ich werde es dir irgendwann sagen. Aber bitte zwing mich nicht dazu.« Ihre Mutter ließ ihre Handgelenke frei und drehte sich schluchzend fort, eine Hand vor den Mund gepresst, weinte sie schweigend in ihre Faust.

»Mama?« Claires Innerstes zog sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte ihre Mutter so oft weinen sehen, aber das hier war anders. Als würde ein lang verborgener Schmerz an die Oberfläche drängen und sie überrollen. Hastig erhob sie sich, nahm die Hände ihrer Mutter und ging vor ihr in die Knie.

»Was immer damals passiert ist, du musst es mir nicht sagen, wenn es zu schlimm ist. Ich bin dir auch überhaupt nicht böse. Wie könnte ich? Du hast versucht, mich zu beschützen, und hast dafür so viel aufgegeben.« Sie legte die Hand ihrer Mutter an ihrer Wange und atmete tief durch. »Alles wird gut, ja?« Ihre Augen trafen sich, als Claire aufsah und ihre Mutter erwiderte vorsichtig ihr Lächeln.

»Ja, alles wird gut«, seufzte Astrid. »Niemand wusste, dass ich schwanger war, als ich Asgard verließ. Nicht einmal ich selbst.« Ihr Blick richtete sich erneut in die Vergangenheit. »Und ich wusste, als ich dich das erste Mal spürte, dass niemand jemals von dir erfahren durfte. Am wenigsten dein Vater. Er würde dich mir wegnehmen und das konnte ich nicht zu lassen.«

Gespannt lauschte Claire den Worten ihrer Mutter. Sie würde sie nicht drängen, aber jedes Wort, was sie über ihre Vergangenheit preisgab, würde sie in sich aufnehmen. Doch mehr als diese wenigen Bemerkungen konnte sie nicht sagen. Der Schmerz flammte erneut in ihrem Blick auf und sie schluchzte erstickt. Claire streichelte beruhigend ihre Hand, so lange, bis Astrid wieder normal atmete und lächelnd auf sie herabblickte. Zärtlich legte sie ihre Hand auf Claires dunkles Haar. »Wir waren nicht einer Meinung über mein Handeln. Er war dagegen, dass ich meine Fähigkeiten den Schwachen zur Verfügung stellte. Er war …« Astrid atmete tief durch, bevor sie fortfuhr. »Er war eine der treibenden Kräfte, die für meine Verbannung stimmten. Nichtsdestotrotz habe ich ihn sehr geliebt.« Sie wickelte eine Strähne von Claires dunklen Locken um ihren Finger und befühlte sie nachdenklich. »Du hast seine Haarfarbe, seine Nase und seine Augen.«

Claire erwiderte ihr Lächeln. »Danke, Mama.«

Astrid nickte. »Ich bin so froh, dass du Bescheid weißt und dass ich dir jetzt alles beibringen kann. Also lass uns etwas gegen dein Verlangen unternehmen.«

»Nein, er kann nicht zu Ihnen kommen, bei Gott, Goldblum, er wurde schwer verletzt und ich … bin nicht gerade in bester Verfassung!« Hannah Lindner ließ sich unvermittelt in die Polster sinken, so dass Loke gerade noch genug Zeit hatte, seine langen Beine vor ihrem Hintern in Sicherheit zu bringen. Die Agentin fuhr sich genervt durchs Haar und starrte auf den Fernseher, der jetzt eine Silhouette Asgards im frühmorgendlichen Nebel zeigte. Die Konturen verschwommen in den Wolken. Aber dort, wo noch gestern das offene Meer zu sehen war, offenbarte sich unter den ersten Sonnenstrahlen eine goldene Stadt mit glänzenden Türmen, die durch die Entfernung verschwammen, sich aber durchaus gut erkennbar vor dem Nebel abhoben.

Hannah stöhnte ins Telefon. »Ich habe ihn gefunden.« Sie machte eine dramatische Pause und wartete zweifelsohne auf die Reaktion ihres Gesprächspartners. »Den Spender unserer radioaktiv verseuchten Blutprobe«, erklärte sie weiter und lächelte zufrieden. Wie die Katze, die gerade den Kanarienvogel festgesetzt hatte. »Und nicht nur das. Ich war dort, Goldblum, und bin vor gut einer Stunde zurückgekommen. Und fragen Sie mich jetzt nicht, wie ich die 3000 Kilometer innerhalb eines Wimpernschlages überwunden habe. Erstens, kann ich es nicht erklären und, zweitens, würden Sie mir ja doch nicht glauben! Aber denken Sie an diese Stadt! Sie war gestern auch noch nicht da.«

Loke grunzte und stellte den Fernseher leiser. »Und sie sollte nicht da sein! Das ist alles Elkos Schuld! Wenn er einmal zuhören würde … aber Feuer den beschissenen Hammer nicht in geschlossenen Räumen! ab, ist offensichtlich nicht deutlich genug.«

Hannah warf ihm einen warnenenden Blick zu. »Nein, das war sein Bruder. Hören Sie, Tristan. Diese Stadt ist unglaublich und war seit Jahrtausenden verborgen und ich war in Begleitung ihres Oberhauptes, der … ein wenig besonders ist. Was ich damit sagen will, Asgards … und jetzt unterbrechen Sie mich nicht, das dort im Asowschen Meer ist ASGARD, verdammt noch mal!« Hannah verstummte und Loke hörte nur die wütende Stimme ihres Kollegen aus dem Handy tönen.

»Ja, gehen Sie doch hin und fragen nach!« Hannah lachte hysterisch auf. Loke hätte jetzt eine Bemerkung bezüglich der Riesenschlange in den Raum werfen können, aber ihr Blick wechselte schlagartig von hysterisch zu professionell. »Hören Sie, Asgards Oberhaupt liegt im Bett einer kleinen Zwei-Raum-Wohnung in Stuttgart. Ich brauche mindestens fünf Agenten mit entsprechender Ausrüstung und drei Fahrzeuge hier vor Ort, die die Wohnung überwachen. Und Kleidung.«

Am anderen Ende der Leitung wurde es verdächtig still, während Goldblum offenbar Hannahs Anweisungen notierte. »Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass er der ist, für den ich ihn halte. Ich habe es gesehen, Tristan. Und ich werde alles zu Protokoll geben, was vorgefallen ist. Aber Elko Jörd kann unmöglich ungeschützt bleiben. Er wird erst in ein paar Stunden transportfähig sein.«

Hannah lauschte angestrengt ins Telefon und rieb sich müde die Nasenwurzel. »Schauen Sie einfach die Nachrichten, Tristan. Und schicken Sie mir mit den Männern Waffen und Kleidung. … Ja, Kleidung, für einen 90kg schweren 1,90m großen Klotz.« Lokes Mundwinkel zuckten und Hannah warf ihm einen giftigen Blick zu.

»Warum? Nun, weil er unmöglich in einer goldenen Rüstung und einem roten Umhang hier rumstolzieren kann? Was meinen Sie, wie lange die Presse braucht, bis sie davon Wind kriegt?«

Und dann hängte sie abrupt auf. Loke konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Die kleine Brünette war eine willenstarke Persönlichkeit, aber die Nahtoderfahrung mit der Riesenschlange und dem explodierenden Schildgenerator Asgards hatte an ihrer Selbstbeherrschung gekratzt. Sie atmete tief durch und wandte sich zu ihm. »Jetzt lach bloß nicht, ich bin nicht in Stimmung.«

Loke beschränkte sich auf ein zufriedenes Grinsen. »Ich könnte jetzt behaupten, dass dieser Schlamassel allein auf Melands Konto geht, aber Elko trägt eine gehörige Mitschuld daran. Er hätte sich nicht darauf einlassen dürfen, sondern …« Loke verstummte und wagte nicht, die Entführung seiner Mutter als Kollateralschaden abzutun.

»Dein Ernst?«

Loke schüttelte betroffen den Kopf. »Nein, ich hätte es genauso wenig gekonnt. Der Schild, Claires Schild und der Angriff auf Meland waren die einzige Möglichkeit. Niemand konnte ahnen, wie der Generator darauf reagieren würde.« Sein Blick glitt zu Asgards flackernder Silhouette und der stumm geschalteten Nachrichtensendung. »Vielleicht ist es nicht das Schlechteste, uns endlich der Welt zu offenbaren.«

Hannah folgte seinem Blick und nickte. »Goldblum glaubt mir zwar nicht, dass wir hier Asgards König zusammengeflickt haben, aber er schickt Männer, Ausrüstung und …«, ihr Blick glitt zu den Überresten von Elkos Rüstung, eingewickelt in den prächtigen roten Umhang, »… Kleidung. Ich denke, das Häufchen da und seine Fähigkeiten werden den Rest der Welt überzeugen.«

Loke seufzte. »Seine Fähigkeiten. Darüber wollte ich sowieso mit der sprechen, bevor hier das Chaos losbricht.«

Hannah richtete sich auf und erwiderte Lokes drängenden Blick. »Ich möchte, dass du dich darüber ausschweigst. Niemand soll davon erfahren.«

»Warum denn nicht? Er kann das Wetter beeinflussen und Blitze heraufbeschwören. Er ist der Nachfolger Thors! Das ist so unglaublich. Die Wissenschaft wird begeistert sein. Sein Erscheinen, Asgards Erscheinen, rückt die Sagen der nordischen oder griechischen, ach was, JEDER Mythologie in ein neues Licht. Was ist mit Atlantis? Troja? Wenn es Asgard tatsächlich gibt, liegen diese Städte vielleicht auch noch irgendwo verborgen?«

Loke lächelte über Hannahs Enthusiasmus. »Genau das möchte ich vermeiden. Elko ist ein Strahler, er sonnt sich gerne in der Anerkennung anderer. Wenn der Richtige kommt und ihm entsprechend schmeichelt, kann er sich diesem Charme kaum widersetzen. Und, was glaubst du, wird passieren, wenn seine Fähigkeiten in die falschen Hände geraten oder jemand ihn erpresst? Etwa um irgendwelche riesigen Generatoren in die Luft zu jagen?«

Hannah wollte gerade etwas Entsprechendes erwidern, aber als sie die Bedeutung von Lokes Worten begriff, schloss sie den Mund. »Das …«, raunte sie und sank in die weichen Polster. Loke schnalzte mit der Zunge und folgte ihrem Beispiel.

»Genau das möchte ich vermeiden. Wir können ihn und die, die ihn erpressbar machen, gar nicht alle schützen. Also wäre es doch das Einfachste, seine Fähigkeiten vor der Welt geheim zu halten, oder?«

Hannah grinste. »So wie Supermann?«

Loke erwiderte ihr Grinsen. »So in etwa. Der rote Umhang müsste zwar gewaschen werden, aber alles in allem glaube ich, dass mein Bruder Supermann ungespitzt in den Boden rammen kann, wenn er das ganze Potenzial seiner Kräfte ausschöpft.«

Hannah lachte leise. »Das ließe sich bewerkstelligen. Er braucht nur noch eine Brille.«

 

 

Kapitel 2

Die Sonne stand schon weit über den Dächern, als Astrid endlich mit ihrer Arbeit zufrieden war. Lächelnd ließ sie sich in den großen Korbsessel fallen und atmete tief durch. Zärtlich ließ sie ihre Hand durch CLaires dunkle Locken gleiten. »Geh zu ihm und ruh dich aus. Er braucht dich jetzt und du brauchst ihn.«

»Ist es denn ungefährlich?« Claire fühlte sich ohne die Manschetten befreit, als hätte das, was ihre Mutter getan hatte, die Fesseln um ihre Lungen gesprengt. Ungehindert inhalierte sie die frische Morgenluft und genoss die warmen Strahlen der gerade aufgehenden Septembersonne. Der Sog war verschwunden und mit ihm der bohrende Hunger. Als hätte sie mit den Manschetten auch das Verlangen abgestreift. Doch das schmerzhafte Ziehen in ihrer Magengegend war geblieben. Sehnsucht nach Elko, nach seiner Nähe und seinen Berührungen.

»Was fühlst du?«

»Nur noch Sehnsucht. Ich will zu ihm gehen und ihn fühlen.« Astrid lächelte.

»Der Hunger?«

»Ist fort, als wäre eine große Last von meinen Schultern genommen. Ich kann atmen und lachen.«

»Keine Melancholie?«

»Das weiß ich noch nicht, vielleicht ein dumpfer Nachhall, aber ich fühle mich auf jeden Fall besser und ich empfinde keine Schuldgefühle.«

Ihre Mutter beugte sich vor und nahm ihre Hände in die ihren. »Dann hat es auch funktioniert. Deine Energieaufnahme war gestört. Deine Zellen waren wie im Rausch und haben ihre eigenen Grenzen nicht gekannt. Ich habe lediglich eine Obergrenze festgelegt. Du kannst nach wie vor Energie aufnehmen, aber dein Körper kennt jetzt sein Maß. Du wirst also dabei nicht mehr in Lebensgefahr geraten. Wenn dein Speicher voll ist, war‘s das.«

Claire erwiderte den sanften Druck der Hände ihrer Mutter. »Und wenn ich wie ein Transformator arbeiten muss? In den letzten Tagen habe ich Elkos Energie aufgenommen und gleichzeitig in einen Schild geleitet?«

»Das sollte weiterhin möglich sein. Claire, du bist ganz erstaunlich. Deine Fähigkeiten arbeiten intuitiv und …«

»Loke hat mir gesagt, ich kann sogar meine Muskelkraft mit meiner Energie erhöhen?«, unterbrach sie neugierig die Ausführungen ihrer Mutter. Astrid verzog leicht das Gesicht und warf einen kurzen Blick über die Schulter in das Wohnzimmer, wo sich Hannah auf der Couch ausgestreckt und Loke es sich auf dem Boden bequem gemacht hatte.

»Dieser Loke, sein Bruder, ist ein wirklich einfallsreicher Magier. Er beherrscht die Elemente, formt die Atome nach seinem Willen. Denn das ist es, was Magie wirklich ist. Wir unterwerfen die kleinsten Teilchen unserem Willen.« Astrid verzog säuerlich das Gesicht. »Aber ich halte nichts davon, sich selbst zu beeinflussen. Die Auswirkungen sind unerforscht. Letzte Nacht war eine Ausnahme und ich möchte dich bitten, nicht selbst an dir herumzuexperimentieren.«

Claire stockte. »Aber ich habe meine Schlagkraft mit meiner Energie erhöht, indem ich um meine Fäuste eine Art Kissen aus Energie gelegt habe.«

Claires Mutter lächelte beruhigend. »Das ist etwas anderes. Du hast nicht direkt in deinen Körper eingegriffen, sondern von außen etwas hinzugefügt. Gestern Nacht hast du deine Muskeln beeinflusst. Wenn du zu viel Energie verwendest, können deine Muskeln und inneren Organe starke Schäden nehmen.« Nachdenklich runzelte sie die Stirn und versank in ihren Überlegungen. »Du hast sehr viel Energie. Vermutlich warst du einfach zu erschöpft, um deinem Körper mit zu viel Energie zu schaden.«

»Aber …«, wollte Claire widersprechen, doch Astrid schüttelte den Kopf.

»Nicht, Claire. Nur in absoluten Notfällen. Hast du mich verstanden?«

Claire verstand. Gestern Nacht hatte ihr Leben davon abgehangen, wie stark sie war, wie viel sie tragen konnte. Aber diese Technik war den absoluten Extremsituationen vorbehalten. Wenn ihre Muskeln der Belastung nicht standgehalten hätten … Claire schüttelte sich. Daran wollte sie überhaupt nicht denken. Zum Glück war alles gut gegangen, aber das war nicht Lokes Verdienst. Er hätte sie warnen müssen. Leider war für ausführliche Erklärungen keine Zeit geblieben, nicht mit einer monströsen Schlange im Nacken.

»Denk nicht drüber nach, Claire«, versuchte ihre Mutter sie aufzuheitern. Zärtlich strich sie über ihre Wange und lächelte. »Geh jetzt zu Seiner Hoheit …«, Astrid unterbrach sich und schluckte den Rest des Satzes herunter.

»Elko, Mama, sein Name ist Elko. Versuch es einmal, ohne vor Ehrfurcht in Ohnmacht zu fallen.« Claire erhob sich grinsend und wandte sich Richtung Balkontür.

»Elko«, murmelte ihre Mutter nachdenklich und verlor sich in der Betrachtung des Sonnenaufgangs. »Jörd … Elko Jörd.«

Die Balkontür quietschte verräterisch, aber weder Hannah noch Loke regten sich. Die Agentin hatte sich auf der Couch zu einer bequemen Kugel zusammengerollt und starrte gebannt auf den Fernseher. Ihre Hand ruhte neben ihrem Kopf, direkt auf ihrem Revolver. Das alte Ungetüm hatte es ihr angetan und Hannah hatte beteuert, dass sie es nie wieder hergeben würde. Aber ob sie heute Morgen eine aufmerksame Leibwächterin sein konnte, war zu bezweifeln. Während der Nachrichten waren ihr die Augen zugefallen und sie schnarchte leise.

Loke war es nicht besser ergangen. Er hatte sich auf dem Teppich ausgestreckt, auf die Seite gerollt und die Hand auf der Fernbedienung. Aber seine Aufmerksamkeit galt nicht den Nachrichten. Als die Anspannung langsam von ihm abfiel und der Tee ihrer Mutter seine Wirkung entfaltete, hatte auch ihn die Erschöpfung übermannt – wie leise Schnarchgeräusche bewiesen.

Claire konnte sich leider nicht positiv über die Wirkung des Tees auslassen. Sie war hellwach und würde nicht eher Ruhe finden, bis sie die Wirkung von Astrids Behandlung auf die Probe gestellt hatte.

Leise schlich sie durch das Wohnzimmer und zögerte nur kurz. Ihre Hand ruhte einen winzigen Moment auf der Türklinke. Sie ließ die andere Hand in ihre Jackentasche gleiten und tastete suchend nach den Armreifen. Nur für alle Fälle, falls ihre Mutter etwas übersehen hatte. Weitere Probleme - wie etwa einen Anfall von Energie-Vampirismus - wollte sie nicht gerade heute Morgen ausfechten.

Ihr Schlafzimmer lag im Halbdunkel. Die kleine Nachttischlampe war mit einem durchsichtigen Schal bedeckt, sodass sie nicht zu viel Helligkeit spendete, aber immer noch genug Licht, um nicht völlig im Dunkeln zu tappen. Der massige Körper zeichnete sich als dunkle Silhouette vor der diffusen Helligkeit ab. Seine Brust hob und senkte sich in sanften Atemzügen. Claire atmete tief ein und lächelte. Kein Geruch nach Eiter oder Krankheit. Dieses Bild - Elko verletzt in ihrem Bett - war irgendwie zur Gewohnheit geworden und erinnerte sie immer wieder an den Augenblick, als sie von Loke frei gelassen worden war und ihn das erste Mal seit der Messerattacke wiedergesehen hatte. Dieser befremdliche Geruch nach Eiter und Krankheit hatte sich ihr in die Nasenschleimhäute gebrannt und es war ihr zu einer Gewohnheit geworden, einfach den Geruch zu überprüfen.

Das Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus, als er tief seufzte und leise weiter schnarchte. Claire schälte sich aus ihrer Jacke, streifte die dreckige und Blut verschmierte Jeans ab und schlüpfte aus dem nicht weniger verschmutzten Shirt. Der Kleiderhaufen roch entsetzlich nach Metall. Überall Elkos Blut und doch lag er hier und schnarchte. Claire schob den Haufen beiseite und entledigte sich auch noch ihrer Unterwäsche. Der blütenweiße Stoff war nicht mehr zu gebrauchen, vielleicht konnte sie ihn schwarz färben, aber mit Blutflecken, die sie an Elkos Verwundung erinnerten, würde sie sie nicht mehr tragen. Nie wieder.

Claire überlegte kurz, ob sie noch schnell unter die Dusche springen sollte, aber das leise Schnarchen aus ihrem Bett war so verführerisch, dass sie sich nur schnell saubere Unterwäsche organisierte und in ihr weites Schlafshirt schlüpfte. Bevor sie jedoch zu Elko in die Kissen kroch, bückte sie sich noch einmal nach ihrer Jacke und kramte die Armenreifen hervor. Nur für alle Fälle.

Langsam ließ sie das geprägte Leder durch ihre Finger gleiten und platzierte die beiden halb offenen Reifen auf ihren Nachttisch. Selbst wenn sie sie nicht mehr brauchen würde, sie würde die Schmuckstücke auf jeden Fall behalten.

Vielleicht sollte sie die »Obergrenze« ihrer Zellen erst einmal vorsichtig testen, ehe sie aufs Ganze ging. Claire lächelte und streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus, während sie einen Lederreifen in der anderen Hand hielt. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Sog, versuchte, ihn in ihrem Inneren zu finden. Doch da war nichts, nur der unwiderstehliche Drang, Elko anzufassen, seine festen Muskeln unter ihren Finger zu fühlen.

Seine Haut war kühl, was bestimmt nicht nur daran lag, dass er kein Fieber hatte, sondern auch wie immer ohne Decke schlief. Als Zugeständnis an ihre Mutter hatte er sich die Decke bis zu Hüfte hochgezogen, also genug Freigelände zum Testen. Claire schmunzelte und ließ ihre Hand genüsslich über seinen Arm nach oben wandern. Da war kein Sog, kein Verlangen, keine Gier. Vorsichtig sank sie tiefer und konzentrierte sich auf den Kraftgürtel. Und da war er, drehte sich in Elkos Innerem. Neugierig legte sie den Kopf zur Seite und glitt tiefer. Der Sog fehlte vollständig. Sie sah den Fluss, nur mit dem Unterschied, dass sie nicht mehr unkontrolliert mitgerissen wurde. Sie beherrschte ihn auch nicht, sie war eher wie ein unbeteiligter Beobachter. Der Fluss war wunderschön, er strahlte in den verschiedensten Blautönen und drehte sich um ein nicht erkennbares Zentrum. Claire lächelte und drängte vorwärts. Sie wollte schon immer wissen, was sich dort im Zentrum befand.

Kurz bevor sie in den Fluss eintauchte, hielt sie inne und streckte vorsichtig einen Finger aus. Sanft ließ sie ihn in die Wogen reinster Energie eintauchen. Gespannt hielt sie den Atem an und erwartete eigentlich, mitgerissen zu werden. Aber nichts dergleichen geschah. Nun, nichts war in etwa so viel wie die Untertreibung des Jahrhunderts. Elkos Energie überschwemmte sie mit einer Woge reinsten Glücks. Ihre Zellen begrüßten den Strom voll Freude und ihr ganzer Körper jubelte begeistert auf. Ein Pandämonium leuchtender Farben explodierte vor ihrem inneren Auge und ließ sie laut auflachen. Gerüche nahm sie plötzlich viel intensiver wahr und dann ließ sie sich einer Eingebung folgend in den Strom fallen. Er riss sie nicht mit, sondern sie ließ sich treiben. Sie bestimmte, wohin er sie führte und der Wunsch, endlich das Zentrum von Elkos Kraft zu erkunden, führte sie durch den Gürtel, immer tiefer, immer weiter. Er schien unendlich zu sein, viel breiter, als es von außen her wirkte, und die Energie war so erfrischend, so belebend und unglaublich schön.

Claire hatte fast sogar das verzehrende Verlangen vergessen, das sie bereits beim ersten Mal an diesem Ort heimgesucht hatte. Damals, in Tommys Hütte, hatte sie nur eine kleine Kostprobe seiner Macht genommen und war dem Verlangen nur mit äußerster Willensanstrengung entkommen. Diesmal steckte sie mittendrin, wortwörtlich, und das einzige Gefühl, was sie diesmal heimsuchte, war unendliches Glück. Selten hatte sie sich so ausgefüllt, so belebt und so energetisch gefühlt, wie in diesem Augenblick.

Als Claire das Zentrum des sich stetig drehenden Stroms erreichte, lächelte sie zufrieden. Beseelt vom Glück fand sie dort eine schlafende Gestalt. Langsam ließ sie sich zu Boden gleiten und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Nur ein einziges Mal hatte sie in Elkos Innerem festen Boden unter den Füßen gehabt und diese Erfahrung war mit dem Kampf gegen die Schlange einhergegangen. Jetzt spürte sie stabilen Fels. Vorsichtig ging sie zu der Gestalt und ließ sich langsam neben ihm nieder. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und schlief, doch anhand seiner langen, zu einem Pferdeschwanz gebunden Haare, den kräftigen Schultern und dem breiten Rücken wusste sie genau, wen sie hier vor sich liegen sah.

Ob er tatsächlich real war? Claire streckte die Hand aus und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Die Gestalt regte sich und drehte sich um. Claire lächelte, sie fühlte eine Woge des Glücks und freute sich auf Elkos Gesicht, doch als der Mann sich umgedreht hatte und sie mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte, schrak sie zurück.

Das blaue Licht hatte es ihr schwer gemacht, seine Haarfarbe zu erkennen. Obwohl es exakt Elkos entsprach, hatte es eine andere Farbe. Seine Augen waren so viel älter und verhärmter als Elkos. Außerdem trug er statt Elkos blondem Flaum, einen roten Bart. Seine Wangenknochen standen markant hervor und verliehen ihm einen zornigen Gesichtsausdruck. Dazu noch die grimmig zusammengezogen Augenbrauen, die wütende Stirnfalte und das herausfordernde Kinn. Das war nicht Elko!

»Wer bist du, Kind?«, fragte der Mann mit tiefem Bariton. »Und was machst du hier?«

»Ich …«, stotterte Claire und wich angstvoll ein paar Zentimeter zurück. »Ich …«

Die Züge des Mannes entspannten sich und er schmunzelte. »Vielleicht sollten wir einfach mit deinem Namen anfangen.«

Claires Herz schlug ihr bis zum Hals, als seine tiefblauen Augen sich stechend in ihre Pupillen bohrten. »Claire«, hauchte sie angstvoll. Die Mundwinkel des Mannes zuckten und er setzte sich ihr gegenüber in einem bequemen Schneidersitz.

»Nun, Claire, mein Name ist Thor.«

Hastig schlug Claire die Augen auf und starrte an die Zimmerdecke in ihrem Schlafzimmer. Das konnte doch nicht möglich sein! Aber andererseits: Warum eigentlich auch nicht? Elko war sozusagen sein Erbe und warum sollte sich in Thors Kraftgürtel nicht auch ein Teil des Gottes selbst verbergen. Ob Elko davon wusste? Oh! Als sie in Tommys Hütte in seinen - Thors - Kraftgürtel eingetaucht war, hatte er alles mitbekommen.

Vorsichtig drehte sie sich zur Seite und starrte in seine tiefblauen Augen. Ihr Herz machte einen erschrockenen Seufzer, aber das Zucken seiner Mundwinkel beruhigte sie. »Bist du böse?«, fragte sie leise und legte ihre Hand an seine Wange.

Elko schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe dich nur beobachtet und abgewartet, ob du von selbst wieder auftauchst.« Er seufzte leise. »Ich war noch nie im Zentrum des Gürtels. So wie du kann ich nicht abtauchen, aber ich kann dir folgen.«

»Also hast du ihn gesehen?«

Elko zuckte mit den Schultern und schmiegte sich genüsslich in ihre Handfläche. »Ich habe nur dich gesehen? Wen soll ich gesehen haben?«

»Mich?« Claire runzelte nachdenklich die Stirn. »Was hast du gesehen?«

»Claire? Müssen wir das besprechen? Ich würde viel lieber etwas schlafen oder …« Seine Augen funkelten verheißungsvoll, als er leicht den Kopf drehte und zärtlich an ihrer Handfläche knabberte. Er hatte ihn also nicht gesehen. Vielleicht hat er durch Thors Augen geblickt? Total widersprüchlich, aber man konnte diesen Kraftgürtel nicht mit Logik erklären. Was immer dort passiert war, Elko schien nicht zu wissen, dass der Gott selbst in seinem Inneren steckte. Claire schluckte und versuchte krampfhaft, sich nicht von seinen Küssen ablenken zu lassen. Aber was würde passieren, wenn er herauskam? Könnte so etwas überhaupt passieren?

Claire verlor den Faden, als Elko ihr zärtlich in die Handfläche biss. »Hey!«, protestierte sie und wollte sich ihm entziehen. »Du bist gerade erst von meiner Mutter geheilt worden. Was ich übrigens total befremdlich finde … und hast eine Menge Blut verloren. Und du denkst nur an das eine?«

Elko lachte leise und schob seine Hand zielsicher unter ihr T-Shirt. »Du hättest eben nicht herkommen dürfen. Und dann dieser Aufzug!«

Claire sah an sich herunter und wollte sich gerade dem Gedanken zuwenden, wie sie eigentlich auf die andere Seite des Bettes gekommen war, als seine Hand sich zärtlich um ihre Brust schloss und dabei neckend die Narbe streichelte. Claire atmete scharf ein. »Das ist nur ein T-Shirt! Keine heißen Dessous und keine Strapse. Nur ein T-Shirt und ein Höschen.«

Elko schnurrte und schob ihr Shirt so weit hoch, dass er ihre Hello-Kitty-Panty mit der aufgedruckten rosa Katze begutachten konnte. »Aber was für eines«, murmelte er genüsslich und drehte sich, sodass er die Nase in der kleinen Katze vergraben konnte. Claire schnappte entsetzt nach Luft, als der Nase ein beherzter Finger folgte und unter das Höschen schlüpfte. »Du hast viel zu viel Blut verloren!«, wehrte sie sich energisch und presste die Schenkel aneinander. »Im Übrigen wollte ich dir etwas zeigen.«

»Ich hab schon alles gefunden, was ich brauche«, schnurrte er und steckte seine Nase unter den feinen Stoff. Claire keuchte erregt auf und drehte sich leicht weg, sodass er nicht mehr an sie herankam. Elko schnaubte enttäuscht.

»Und damit meine ich nicht mein Höschen!« Sie hielt ihm demonstrativ ihre Handgelenke unter die Nase, erst das eine und dann das andere. Elkos Augen weiteten sich und er vergaß Claires Unterwäsche augenblicklich. Er zog seinen Finger aus ihrer Mitte und hinterließ eine brennende Spur unerfüllten Verlangens. Claire seufzte. Okay, das war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt für eine weitschweifige Orgie, aber sie würde nicht auf ihn verzichten. Er musste dringend beenden, was er da gerade angefangen hatte, egal wie. Nachdem sie ihm von den Armreifen und der »Behandlung« ihrer Mutter erzählt hatte.

»Wo sind deine Armreifen?«, keuchte er und griff nach ihrem Handgelenk. »Du bist vollkommen ungeschützt. Wenn dich der Sog erfasst …« Claire beugte sich lächelnd vor und hinderte ihn mit einem forschen Kuss an weiteren Spekulationen. Sanft drückte sie ihn in die Kissen und kostete jede Sekunde seines Schocks genüsslich aus. Elkos Augen zuckten immer wieder zu ihren Handgelenken, doch ihre Küsse lenkten ihn ab und schließlich gab er die Betrachtung ihrer Handgelenke auf, schloss sie in seine Arme und ließ sich mit ihr zurückfallen.

»Wie ist das möglich?«, keuchte er atemlos, als sie sich schließlich voneinander lösten. Claire rutschte von ihm runter und legte ihren Oberschenkel über seine pochende Mitte. Elko sog scharf die Luft ein und verharrte bewegungslos unter ihrem Knie. Claire kicherte und weidete sich an seiner Anspannung. Ihr Knie bewegte sich noch ein wenig mehr und Elko keuchte erneut auf. Als hätte er Schmerzen. Claire kommentierte seine Reaktion mit leisen Lachen.

»Oh, wie ich das liebe«, murmelte sie und ließ ihre Finger über seine nackte Brust wandern. Elko hingegen betrachtete angespannt die Zimmerdecke und konzentrierte sich nur auf seine Atmung, abgehackte kleine Stöße. »Meine Mutter hat mein Verlangen irgendwie eingedämmt«, fuhr Claire sinnierend fort und spielte beiläufig mit dem Bündchen seiner Shorts. Selbst die waren blutverschmiert, aber in Ermangelung irgendwelchen Ersatzes musste Elko mit den Blutflecken zurechtkommen, wenn er nicht gerade nackt schlafen wollte. Claire hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, aber der Rest ihrer Reisebegleitung, einschließlich ihrer Mutter, sprachen sich entschieden dagegen aus. Elkos Atmung beschleunigte sich. »Sie hat irgendetwas von einer Obergrenze gefaselt und das mein Körper dann keine weitere Energie aufnehmen würde, was auch immer. Ich konnte ihr kaum zuhören«, murmelte Claire und ließ ihre Hand unter dem blutverschmierten Stoff gleiten, streichelte zärtlich Elkos Seite. Sie hatten das Blut nur notdürftig abgewaschen. Eine Dusche wäre angebracht gewesen, aber Elko hatte kaum genug Kraft gehabt, um mit Hilfe in Claires Schlafzimmer zu wanken. Wenn er hätte duschen wollen, hätte irgendjemand mit ihm in die Kabine klettern und ihn aufrecht halten müssen.

»Ich war nur damit beschäftigt, an dich zu denken und wie du dich anfühlen würdest, wenn dieses Verlangen nach dem Kraftgürtel endlich fort ist. Ob ich noch genauso für dich empfinde …« Claire seufzte und spielte verträumt mit den Haaransatz unter seiner Unterhose. Elko schnappte heftig nach Luft und bereitete ihren Folterungen jäh ein Ende. Hastig drehte er sich zur Seite und schob sie damit etwas von sich.

»Und?«, fragte er atemlos. »Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?« Sein Puls raste, seine Augen bohrten sich in ihre und er kaute konzentriert auf irgendetwas herum.

Claire lächelte und legte ihre Hand in seinen Rücken. »Es ist noch viel schöner, viel intensiver und ich will dich fühlen. Ohne dieses gierige Verlangen, ohne ein wehrloser Spielball dieser Kräfte zu sein.«

Sie verstärkte den Druck in seinem Rücken und zog ihn an sich. Elko öffnete leicht die Lippen und schloss zitternd die Augen, als Claire auch noch die andere Hand in seinen Nacken schob und ihn auf sich zog. »Ich bin meine Gier los und du atmest noch. Wir sind am Leben und ich will dich spüren, so lange, bis ich nicht mehr laufen kann.«

Elko stöhnte leise und ließ sich gründlich von ihr küssen. Als sie sich wieder voneinander gelöst hatten, glitt er erschöpft in die Kissen. »Ich weiß nicht, ob ich schon genug Kraft aufbringen kann, um dir zu Diensten zu sein«, murmelte er und raufte sich frustriert die Haare. »So gern ich auch würde, aber ich kann nicht einmal aufstehen.«

Claire lächelte leise und ließ ihre Hand erneut in seiner Unterhose verschwinden. Diesmal grub sie tiefer und entlockte ihm ein heiseres Stöhnen. »Das, mein Lieber, sollte kein Problem darstellen.«

 

 

Kapitel 3

Loke stellte Claires Fernseher so ein, dass er neben der sich stündlich wiederholenden Nachrichtensendung eines reinen Informationskanals auch die Uhr einsehen konnte. In Asgard war es später Vormittag und die Sonne stand bereits hoch am Himmel, während hier im kalten Deutschland gerade mal die letzten Dunstwolken von der Sonne dahingeschmolzen wurden. Die Nachrichtensprecherin erzählte mittlerweile davon, wie sich ein paar Hubschrauber dem »Phänomen« näherten und es untersuchen wollten. Einer der Hubschrauber gehörte wohl einem TV-Sender, denn in einem kleinen Fenster rechts über der Nachrichtensprecherin sah man verwackelte Aufnahmen aus einem jener Hubschrauber.

Loke holte tief Luft und rieb sich den Nacken. Das Schlafen auf dem Teppich hatte ihm nicht wirklich gutgetan, aber zumindest hatte er ein paar Stunden geruht. Hannah lag auf dem Sofa in seinem Rücken und schnarchte leise vor sich hin. Die Agentin war nach dem Telefonat mit ihren Kollegen vollkommen fertig gewesen. Claires Mutter werkelte in der Küche und bereitete ein Frühstück vor. Niemand wusste so genau, wann Elko einigermaßen fit war, aber Claires Mutter hatte darauf bestanden, dass zumindest die anderen etwas essen sollten. Der Wasserkocher blubberte im Hintergrund und kündigte eine weitere Runde Tee für alle an. Loke verzog das Gesicht. Sigrid schwörte zwar auf den Tee, aber der würde die Situation in Asgard auch nicht wieder richten.

Der Hubschrauber des TV-Senders überflog gerade das offene Meer und näherte sich einer Felswand. Asgard lag im Kessel eines riesigen, erloschenen Vulkans. Die Kraterränder bildeten einen natürlichen Wall, dem sich der Hubschrauber jetzt langsam näherte und an Höhe gewann. Loke betete, dass noch niemand auf der Insel bemerkt hatte, wie sie für die Außenwelt sichtbar geworden waren. Aber spätestens, wenn die ersten »Besucher« mit ihren fliegenden Quirlen auf der großen Ebene vor der Stadt landeten, würden die Bewohner der Stadt wissen, was passiert war.

Loke seufzte und zappte auf einen anderen Nachrichtenkanal. Gleiches Bild. Der Hubschrauber hob über die Felswand und erreichte den grünen Talkessel, begleitet von den Ausführungen der Reporterin. Staunendes AHHH und OHHH und der Ausruf, dass sich dort eine Stadt befand. Loke verdrehte die Augen. Natürlich befand sich dort eine Stadt. Man konnte die goldenen Türme ja bereits vom Festland aus über der Felsenwand aufragen sehen. Loke stöhnte und folgte gebannt den Ausführungen. Er suchte eine ganz bestimmte Stelle und hoffte insgeheim, dass sich die Hubschrauber bis zur Stadt vorwagen würden. Dann könnte er vielleicht einen Blick auf das Ratsgebäude werfen.

Aber eigentlich reichte ihm schon ein kleiner Blick auf die Stadt und er schloss die Augen in der Gewissheit, dass das, was er vermutete, eingetroffen war. Eine Schneise der Verwüstung dort, wo eigentlich goldene Türme stehen sollten, deutete darauf hin, dass die Bestie ausgebrochen war. Wenn der Hubschrauber nur eine weitere Runde fliegen würde … dann könnte er vielleicht ermitteln, ob sie sich noch im Talkessel befand oder … Loke kaute ungeduldig auf der Unterlippe herum und griff automatisch nach dem grässlichen Beruhigungstee. Er musste sich einfach gedulden.

Leider setzte der Hubschrauber nicht zu einem Rundflug an, sondern zog sich zurück. Loke fluchte, als auch die Nachrichtensprecherin bestätigte, was er bereits sah: Die ukrainische und russische Regierung hatten beschlossen, es bei diesem ersten Rundflug zu belassen und wollten sich vorsichtig über die Landzunge der Stadt nähern. Der Hubschrauber schwenkte um und die Kamera zeigte eine Lücke in der massiven Kraterwand und eine schmale Landbrücke, die Richtung Festland führte. Der Hubschrauber folgte der Richtung und dann wiederholte die Dame im Bildschirm die bisherigen Erkenntnisse.

Loke wollte die Ereignisse ebenfalls resümieren, aber er kam nicht mehr dazu. Heftiges Klingeln an der Wohnungstür riss ihn aus seinen Gedanken. Hannah stob erschrocken aus dem Schlaf und hechtete mit der Waffe in der Hand über die Lehne der Couch Richtung Wohnungstür. Loke grinste. Die junge Frau war trotz der Anstrengung der letzten Stunden noch nicht komplett eingerostet, während er nur mühsam auf die Beine kam und das Gefühl hatte, jeder Knochen würde lautstark protestieren.

»Hey, schön das ihr da seid«, begrüßte Hannah zwei Männer, gekleidet in schwarze Maßanzüge und dunkle Mäntel. Der eine Mann trug einen dunklen Kleidersack über der Schulter, während der andere eine große Tasche in den Flur stellte. »Goldblum, Suckow«, begrüßte sie die beiden nickend. »Es wäre nicht nötig gewesen, dass Sie persönlich kommen.«

»Wir hatten ja wohl keine Wahl, nach Ihrem Anruf, Lindner«, begrüßte sie der Ältere der beiden Männer. Sein dunkler Kurzhaarschnitt wies an den Schläfen bereits einen grauen Ansatz auf, aber sein kräftiger Körperbau und seine aufrechte Haltung widersprachen dem offensichtlichen Alter. Seine elegante Körperhaltung, die breiten Schultern und die schlanken Hüften offenbarten den Jäger. Der Mann strahlte mit jeder Bewegung eine katzengleiche Eleganz aus. Dieser Mann war gefährlich.

Der andere Mann, deutlich jünger als der Kleidersack-Träger, maß Loke mit einem abschätzenden Blick. Irritiert sah er an sich hinunter und lächelte spöttisch. Er trug noch immer seine schwarze Robe, die ihn als Mitglied der Magischen Akademie auswies, das einzige Amt, das er je innehatte. Als sie in Thrymheim aufgebrochen waren, erschien ihm die Robe perfekt als Verkörperung seines Zwiespalts und seiner offensichtlichen Auflehnung gegen Meland. Er trug die Robe mit Stolz, aber noch viel mehr folgte er seinem Bruder. Sein äußeres Erscheinungsbild zeigte Meland, wie wenig er von dessen Machtergreifung hielt und wie sehr er den Missbrauch der Akademie für diesen Zweck verachtete. Loke liebte die Akademie und Meland missbrauchte ihre Stellung. Und natürlich hatte die Robe mit den vielen versteckten Taschen genug Möglichkeiten, Waffen zu transportieren. Für die Männer Midgards musste sein Erscheinungsbild durchaus befremdlich wirken.

»Ist er das?«, blaffte der Jungspund und deutete herablassend auf Loke. Für die Neuankömmlinge hatte er nur eine amüsiert hochgezogene Augenbraue übrig.

Lindner platzierte sich neben ihm und maß ihn mit einem geringschätzigen Blick. »Nein, das ist nur sein Bruder.«

Loke deutete eine leichte Verbeugung mit dem Kopf an und lächelte süffisant. »Nur der geschätzte Bruder.«

»Ich dachte, Lindner, Sie hätten hier irgendwo einen hochrangigen Diplomaten dieser … Stadt?« Der ältere Agent ließ den Kleidersack auf die Couch fallen und sah sich suchend im Wohnzimmer um. »Wenn er nicht Ihr Diplomat ist, wo ist er dann?«

Hannah nickte Richtung Schlafzimmer. »Ruht sich aus. Diplomat? Von einem Diplomaten sagte ich nichts. Ich erklärte Ihnen, dass ich den Spender der Blutprobe ausfindig gemacht habe und er zudem in Verbindung mit dieser Insel im Asowschen Meer steht. Ich betonte ebenfalls, dass er verletzt ist und noch nicht transportfähig sei.«

Der Jüngere ließ sich auf die Lehne der Couch gleiten und rückte seine Anzugjacke zurecht. Loke maß den Burschen mit hochgezogener Augenbraue. Zweifelsohne trug er unter dem Jackett eine Pistole und unter dem Hemd eine Schutzweste. Hoffentlich konnte er wenigstens mit der Waffe umgehen, wenn er schon keine Umgangsformen besaß. »Sollten wir dann nicht lieber einen Krankenwagen rufen?«

Lindner schüttelte verneinend den Kopf und nickte Richtung Tür. »Frau Esterbrooks ist Ärztin und hat sich bereits um die Verletzungen gekümmert. Herr Jörd wurde bestens versorgt.« Claires Mutter steckte ihren Kopf aus der Küche und warf den beiden Männern einen irritierten Blick zu. Vorsichtig kam sie näher und verschränkte stirnrunzelnd die Arme vor der Brust. Hannah beschwor sie mit einem eindringlichen Blick, die kleine Scharade mitzuspielen. Nun, so ganz unrecht hatte die Agentin nicht. Claires Mutter war eine begnadete Heilerin und so ziemlich das, was man in Asgard als Ärztin bezeichnen würde. Ärztin mit erweitertem Bewusstseinsspektrum zur kompletten Beeinflussung des humanitären Organismus. Loke verzog das Gesicht. Und mit vielleicht noch ein paar weiteren Spezialfähigkeiten.

»Mein Bruder ist weder ein Diplomat, noch sonderlich schwer verletzt. Lindner hat wie immer übertrieben. Und Sie«, dabei setzte er dem jüngeren Agenten den spitzen Zeigefinger auf die Brust, »sollten dringend an Ihren Umgangsformen arbeiten. Es geziemt sich nicht, ihm gegenüber dermaßen lapidar aufzutreten. Wo sind Ihre Manieren?«

Hannah lächelte verkniffen und warf ihrem Kollegen einen grimmigen Blick zu. »Verzeih ihre etwas ruppige Art, Loke. Aber weder Goldblum noch Suckow wissen um Elkos Status. Muss wohl an der Uhrzeit liegen, dass Goldblum seine Ausbildung vergisst.«

Goldblum wollte gerade etwas erwidern, als sich Suckow schlichtend einschaltete. »Werte Kollegen, ich bitte Sie. Lindner hatte einen anstrengenden Einsatz und Goldblum Nachtschicht. Also mäßigen Sie sich.« An Loke gewandt fuhr er in ausgewähltem Tonfall fort: »Also wir haben einige Fragen, die uns Lindner nicht am Telefon beantworten wollte. Setzen wir uns doch.« Lächelnd deutete er auf die Couch und Loke nahm widerwillig Platz.

Suckow folgte seinem Beispiel und schlug elegant die Beine übereinander. »Lindner sagte, Sie kommen von dort?« Dabei deutete er auf den Fernseher. Ohne Zweifel meinte er Asgard.

Loke folgte seinem Blick und nickte seufzend. »Mein geschätzter Bruder ist das gewählte Oberhaupt Asgards und Sie sollten ihn mit Königliche Hoheit ansprechen.«

Suckow hob interessiert eine Augenbraue. »Asgard wie in der nordischen Mythologie oder handelt es sich um reine Namensgleichheit?«

Loke maß Suckow mit einem geringschätzigen Blick. »Wollen Sie mich veralbern? Natürlich Asgard wie in der nordischen Mythologie. Wir SIND die nordische Mythologie!«, fuhr er leidenschaftlich fort. »Mein Bruder und ich stammen in direkter Linie von Odin ab und sind damit blutsverwandt mit den Göttern. Also verarschen Sie mich nicht.«

»Götter?« Suckow spitzte die Lippen.

Loke holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Die selbstgefällige Art des Mannes ging ihm gehörig gegen den Strich. Und wenn er sich weiter so aufführte, konnte er für nichts mehr garantieren. Aber er musste sich beherrschen. Liebend gerne würde er ihm eine Kostprobe seiner Fähigkeiten geben oder - noch viel besser - Elkos Fähigkeiten. Aber damit wäre sein Plan, die Macht des Hammerträgers vor den Menschen Midgards geheim zu halten, dahin. Also zwang er sich zu kühler Distanziertheit, als er fortfuhr. »Der Legende nach«, lenkte er seufzend ein. »Natürlich gibt es keine Götter.«

»Natürlich«, bestätigte Suckow. »Ihre Stadt war lange verborgen. Warum sind Sie jetzt hier und sie sichtbar?« Wieder warf er einen nervösen Blick Richtung Fernseher. »Das ist alles schon ziemlich unglaublich. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir arbeiten in unserer Abteilung durchaus mit solchen Phänomenen. Aber so etwas ist uns noch nicht untergekommen.«

Loke empfand das erste Mal Sympathie für Suckow. Ihm stand der Schock über Asgards Auftauchen regelrecht ins Gesicht geschrieben, so wie vermutlich auch dem Rest der Welt. »Nun, es gab einen Unfall. Asgard existierte seit jeher nur in der Fantasie der Menschen und so sollte es auch bleiben. Aber der Schildgenerator, der unsere Stadt vor den Augen aller über die Jahrtausende verborgen hielt, wurde zerstört.« Loke seufzte aufrichtig. »Und dabei wurde mein Bruder schwer verletzt. Wir konnten uns vor der Explosion nur durch eine experimentelle Technologie retten. Ich selbst arbeite seit Jahren an Portalen nach Midgard und ein solches Portal hat uns hier her gebracht.«

Suckow runzelte zweifelnd die Stirn. »In eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Stuttgart?«

Loke lachte laut auf. »Ja, natürlich. Mein Bruder hat eine Vorliebe für die Besitzerin dieser Wohnung entwickelt. Und in genau deren Bett befindet er sich jetzt.«

Suckow erwiderte Lokes Grinsen. »Verstehe.«

Das Rauschen in seinen Ohren wurde immer intensiver. Je mehr er versuchte, sich nicht zu bewegen, desto stärker wurde es. Das gedimmte Licht der Nachttischlampe stach ihm schmerzhaft in die Pupillen und Claires Atem hallte in seinen Ohren. Wäre da nicht seine pochende Mitte und das, was sie gerade mit ihm tat, Elko würde zum Klo stürzen. Aber für sprunghafte Bewegungen fehlten ihm die Kräfte. Erst recht, nachdem Claire sich um seine »Problemzone« gekümmert hatte. Elko verzog das Gesicht und holte tief Luft. Claire beugte sich über ihn und küsste ihn zärtlich.

»Alles okay?« Ihr Atem streichelte liebevoll über seine Wangen und sie sah ihm forschend in die Augen. »Du sahst aus, als wolltest du davonrennen.«

Elko seufzte. »Ich glaube, ich werde ohnmächtig.« Claires Lachen jagte ihm einen freudigen Schauer über den Rücken.

»War ich so schlecht?«

Elko schüttelte den Kopf und zwang sich, die Augen offen zu halten. »Nein, du bist … absolut unglaublich.« Er verstärkte den Griff um ihre Hüften und richtete sich leicht auf, sodass er ihren Kuss erwidern konnte. Als er sich wieder kraftlos in die Kissen sinken ließ, entwich ihm ein schmerzhaftes Stöhnen und er griff automatisch zu der Stelle, wo die Glasröhre seinen Körper durchbohrt hatte. »Aber ich bin nicht gerade in Topform.«

Stöhnend ließ er den Kopf nach hinten fallen und schloss die Augen. Geduldig wartete er, bis das Karussell seine Fahrt endlich beendet hatte. »Sorry«, murmelte Claire über ihm und er spürte, wie sie neben ihn glitt. »Wenn ich gewusst hätte, dass du so geschwächt bist …«

Elko unterbrach sie mit heißerem Gelächter. »Süße, du wusstest genau, in welchen Zustand ich mich befinde. Du hast doch das Blut gesehen.« Ächzend drehte er sich auf die Seite und gab ihr einen neckenden Stupser auf die Nase. »Aber du konntest nicht warten, oder?«

Claire biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Nicht eine Sekunde länger.« Sie beugte sich vor und streifte sacht seine Lippen mit den ihren.

»War es wenigstens so, wie du dir es vorgestellt hast?« Claire lächelte vielsagend und leckte über ihre Unterlippe.

Elko lachte herzlich auf. »Du kleines, unersättliches Luder. Warte nur, bis ich wieder einigermaßen aufrecht gehen kann, dann werde ich dir so den Hintern versohlen, dass du nicht mehr …«

»Erspare mir dein widerliches Bettgeflüster, Bruder!« Elko seufzte auf. Wären nur ein paar Milliliter mehr Blut in seinem Kreislauf, hätte er sich umgedreht und auf Loke gestürzt. Aber so musste seine Reaktion weitaus weniger heftig ausfallen. Claires Mundwinkel zuckten, während er noch gegen den Drang kämpfte, auf die Konsequenzen einer heftigen Gegenwehr zu pfeifen und sich trotzdem auf Loke zu stürzen.

»Du störst«, knurrte Elko und ließ Claire dabei keine Sekunde aus den Augen. Das Funkeln in ihrem Blick, die spöttisch verzogenen Lippen und die gekräuselte Nase besänftigten ihn und retteten ihn höchstwahrscheinlich vor der drohenden Ohmacht. Ohne Zweifel genau die Konsequenz, die einer Überbeanspruchung seines Körpers haben würde.

»So etwas würde mir nicht im Traum einfallen.« Elko fühlte mehr, als das er sah, wie Loke näher kam und sich neugierig über seinen Rücken beugte. »Ich hätte an eurer Stelle ja auf derartige Aktivitäten verzichtet, aber zumindest hat sich deine Wunde nicht wieder geöffnet.«

Elko pfiff auf die Konsequenzen und fuhr heftig herum. »Was fällt dir eigentlich ein!«, zischte er und warf sich schützend vor Claire. Nun, sie war nicht gänzlich unbekleidet. Sie war so ausgehungert über ihn hergefallen, dass ihnen keine Zeit geblieben war, sich zu entkleiden. Aber das T-Shirt bedeckte sie in seinen Augen nur unzureichend.

Loke fing seine Faust mühelos ab und hielt sie mitten in der Bewegung fest. Elko spürte, wie sein Gehirn mit dem Gedanken spielte, eine Notabschaltung durchzuführen. Das Rauschen in seinen Ohren nahm eine bedrohliche Lautstärke an und seine Lider flatterten. Das bemerkte er vor allem daran, dass es trotz eingeschalteter Nachttischlampe bedrohlich dunkel wurde.

»Hey, hey!«, empörte sich Loke. »Werd mir jetzt nicht ohnmächtig!« Ein heftiges Klatschen ins Gesicht holte ihn zurück ins Bewusstsein. Statt sich noch immer halb aufgerichtet auf Loke stürzen zu wollen, befand er sich plötzlich auf der Matratze ausgestreckt wieder mit einem sorgenvollen Loke und einer noch besorgteren Claire über sich.

»Du solltest dich wirklich ausruhen«, murmelte Loke. Die Matratze zu Elkos Linken gab unter seinem Gewicht nach und er spürte, wie Loke am Wundverband herumnestelte. »Die Blutung ist gestillt, die Wundränder beginnen sich zu schließen. Sieht gut aus.« Elko öffnete irritiert die Augen, als er eine Hand auf seiner Stirn fühlte. »Fieber ist ebenfalls nicht im Anmarsch.«

Die Berührung dauerte länger, als für die Feststellung seiner Körpertemperatur nötig gewesen wäre. »Aber höre, Bruder, ich plädiere eindeutig dafür, dass ihr die Feier unseres Sieges mit weitschweifigen Orgien vertragt.« Elko lachte leise. Der tadelnde Unterton in der Stimme seines Bruders gefiel ihm, denn Loke war eindeutig angepisst.

»Was ist? Du bist doch nicht so angefressen, weil Claire und ich …« Und dann ging Elko ein Licht auf. Loke war neidisch! »Bist du etwa eifersüchtig?« Elko beeilte sich, die Lider zu öffnen, auch wenn es ihm noch so viel Kraft kosten würde, Lokes Reaktion würde er sich nicht entgehen lassen.

Und sie war es wert! Lokes Gesichtszüge entgleisten und er ließ für einen Moment die allgegenwärtige Arroganz fallen. Sichtbar wurde eine Verletztheit, die Elko seine Bemerkung bereuen ließ. »Mach dich nicht lächerlich«, ätzte er zurück, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte. »Ich habe sexuelle Betätigungen nicht mehr nötig. Wenn man erst einmal meine Genialität erreicht hat, nehmen körperliche Bedürfnisse keinen hohen Stellenwert mehr ein. Ganz im Gegenteil. Alles, was meinen Genius beeinträchtigen könnte, vermeide ich.« Seine Mundwinkel zogen sich angriffslustig nach oben und er fletschte grimmig die Zähne. »Solltest du auch einmal probieren, dann hättest du im entscheidenden Moment nach Abwägung aller Optionen die richtige Entscheidung treffen können, anstatt dich von deinen Gefühlen und Eingebungen leiten zu lassen.«

Elko biss grimmig die Zähne aufeinander. »Ich habe dir schon gesagt, dass ich nicht wusste, wie der Generator auf die Energie reagieren würde. Es war ein Schuss ins Blaue …«

»… der dir beinahe das Leben gekostet hätte und der eine Riesenschlange befreit hat. Sie war unter dem Generator eingesperrt und jetzt, wo sie frei ist …«

»Bitte!«, schaltete sich Claire ein und legte den Brüdern jeweils eine Hand auf den Arm. »Beruhigt euch. Mit Schuldzuweisungen ist keinem geholfen. Wir sind alle mit dem Leben davon gekommen.«

Loke knurrte ungehalten. »Was nicht der Verdienst meines ach so intelligenten Bruders war.«

»Loke!«, schimpfte Elko und handelte sich damit eine neue Welle Übelkeit ein. Stöhnend sank er in die Kissen und schloss die Augen. Wenn er die Helligkeit des Zimmers und seinen penetranten Bruder einfach ausblendete, würde die Achterbahnfahrt in seinem Kopf möglicherweise schneller stoppen. Elko hatte falsch gedacht, denn Loke ließ sich nicht so einfach ausblenden.

»Was denn? Ich wollte dir nur nochmals verdeutlichen, wie wenig Grips sich hinter deiner Stirn befindet.«

Elko lachte leise. Auch wenn er Loke gerade am liebsten vierteilen würde, liebte er seine Sticheleien. Sie waren gerade das, was ihm zeigte, wie sehr er seinen Bruder brauchte. »Du hast recht, aber das ändert nichts an der Situation«, seufzte er leise und öffnete die Augen. »Deswegen muss ich so schnell wie möglich zurück nach Asgard. Wir müssen uns dieser Schlange stellen und sie vernichten. Außerdem erwartet die Welt dort draußen, dass irgendjemand ihnen das Auftauchen unserer Stadt erklärt.«

Ein Stöhnen ließ Elko auffahren. Er musste nach seiner kleinen Ansprache die Augen geschlossen und eingedöst sein. »Du hast recht, Bruder«, begann Loke und hievte seine langen Beine auf die Matratze. Er ließ sich gegen die Lehne von Claires Bett sinken und starrte ins Leere. »Aber du bist nicht in der Verfassung, dich der Midgardschlange zu stellen.«

Elko wandte den Kopf. »Midgardschlange?«

Loke lachte leise. »Natürlich, du Dummkopf. Hast du nicht gesehen, wie sie sich an deinem Blut gelabt hat.« Loke tippte ihm sacht auf die Brust. »Dieses Biest kennt deinen Geruch und ist voll und ganz auf dich eingestellt. Sie will dich fressen.«

Elko kroch ein eisiger Schauer über den Rücken, als er an die züngelnde Schlangenzunge dachte, die über seinen blutigen Handabdruck auf dem Querbalken vor dem Generatorraum leckte. Loke hatte recht, sie hatte es auf ihn abgesehen und er konnte kaum die Augen offenhalten vor lauter Erschöpfung.

»Was schlägst du also vor?«

Loke seufzte. »Sie ist noch nicht ausgewachsen. Mit etwas Glück gräbt sie sich im Meeresboden ein und verhält sich ruhig. In der Edda wird berichtet, dass sie Jahrhunderte lang im Ozean lebte.«

»Wir können sie doch nicht einfach …«, schaltete sich Claire entsetzt ein.

Elko wandte sich lächelnd zu ihr. »Das ist das, was die Götter getan haben. So lange sie sich ruhig verhält, sehe ich keine Veranlassung, gegen sie vorzugehen.«

»Wir haben im Übrigen Dringenderes zu erledigen. Auch wenn ich nicht gerade begeistert bin, sind wir den Menschen Midgards eine Erklärung schuldig. Und wir sollten uns etwas halbwegs Vernünftiges ausdenken.« Loke schwang hastig die Beine von der Matratze und stützte sich auf. »Hannah hat ein paar ihrer Kollegen angerufen und von deiner …«, Lokes Blick glitt über seine dahingestreckte, kraftlose Gestalt, » … Person unterrichtet.«

Elko erbleichte, wenn überhaupt möglich, noch ein kleines Bisschen mehr. »Sie hat was? Warum hat sie das gemacht?«

Loke holte tief Luft. »Weil sie mehr von Politik versteht als du. Erstens arbeitet sie für die Regierung und kennt die offiziellen Stellen. Zweitens, arbeitet sie für eine Geheimorganisation. Wenn sie erklärt, dass du echt bist …«, Loke deutete ins Wohnzimmer und wies auf den imaginären Punkt, wo der Fernseher stand, »das dieser Felsbrocken dort echt ist und sich dort eine Stadt befindet, wird man ihr eher Gehör schenken als dir. Zumal weder du noch ich auch nur den Hauch einer Ahnung haben, wie wir unsere nächsten Schritte planen sollten.«

Elko schloss zittern die Augen. Diese ganze Angelegenheit nahm viel zu schnell Fahrt auf. »Im Übrigen wird sie dafür sorgen, dass du mit den richtigen Leuten redest und nicht als Spinner abgetan wirst. Außerdem haben sie deine Blutprobe als Beweis, dass du nicht so ganz menschlich bist.«

»Du hättest sie aufhalten müssen«, brummte Elko. »Wir können den Menschen nicht einfach erzählen, von wo wir kommen, wer wir sind …«

»Wir müssen aber. Asgard kann nicht wieder verschwinden. Also wird es das Beste sein, Hannahs Vorstoß zu folgen«, schaltete sich Claire ein und fuhr beruhigend über seine Brust. »Ihre Bestätigung, dass du der bist, der du vorgibst zu sein, wird dir Gehör verschaffen. Wer sagt dir denn, dass nicht ein Dutzend Panzer morgen Vormittag nach Asgard fahren?«

Elko öffnete hastig die Augen und starrte Claire panisch an. »Das würden sie tun? Panzer?«

Loke lachte leise. »Damit kämen wir noch gut weg. Nein, nur ein nervöser Finger am Abzug.« Er ließ seine Worte ausklingen und weidete sich in Elkos Schock. »Keine Sorge, Bruder, Ich glaube nicht, dass auch nur ein Staatsoberhaupt Asgard beschießen wird, wenn von ihm keine Bedrohung ausgeht.« Elko schluckte und brachte die Riesenschlange bewusst nicht zur Sprache. »Hannah wird dafür sorgen, dass sie wissen, dass du der holde Prinz Asgards bist und dir die richtigen Gesprächspartner verschaffen.« Lokes Gesicht verzog sich angriffslustig. »Du solltest also mit ihnen reden. Im Übrigen planen sie, dich möglichst bald hier fortzuschaffen. Und dich wichtigen Leuten vorzustellen.«

Langsam begriff er die Bedeutung von Hannahs Anrufen. Doch die anfängliche Panik wollte sich nicht legen. Er sollte mit Entscheidungsträgern reden? Er? Er war ja nicht einmal in der Lage, das Regierungsgeflecht Asgards zu entwirren. Elkos Augenbrauen wanderten nach oben und er sank, wenn überhaupt möglich, noch weiter in die Kissen. »Das klingt sehr vernünftig, aber vielleicht sollten wir die Sache mit der Schlange noch einmal überdenken. Ich würde mich viel lieber diesem Biest stellen, als mit irgendwelchen Politikern zu reden.«

Loke setzte ein überhebliches Grinsen auf. »Die Bürde der Macht. Sieh es als deinen neuen Kampf an. Du verteidigst Asgard nur nicht mehr mit dem Hammer, sondern mit deinen Worten. Aber zunächst einmal solltest du mit Lindners Leuten reden.«

Elko seufzte und fuhr sich erschöpft durch die Haare. »Ich will nicht mit denen reden. Was soll uns das überhaupt bringen? Ich muss zurück und sehen, was in der Stadt vor sich geht. Was soll ich denen überhaupt erzählen?«

Loke grinste. »Na die Wahrheit. Aber bitte lass deine Fähigkeiten aus dem Spiel. Und die Riesenschlange würde ich verzugsweise auch nicht erwähnen. Monster haben die Angewohnheit, bei den Menschen dieser Welt eine zerstörerische Angriffslust zu wecken. Und was wir gerade gar nicht gebrauchen können, ist eine gereizte Riesenschlange. Also lass sie lieber unerwähnt.«

Elko nickte. »In Ordnung. Da gibt es nur ein winziges Problem.« Claire und Loke wandten den Kopf und sahen ihn fragend an. Elko lächelte entwaffnend. »Ich glaube nicht, dass ich es bis in den Flur schaffe, ohne vorher ohnmächtig zu werden.«

 

Kapitel 4

»Das wird er niemals anziehen!« Claire hob den Anzug aus dem schweren Kleidersack und schüttelte den Kopf.

»Ach komm, er wird darin eine ziemlich gute Figur machen.« Hannah hatte ihr dabei geholfen, den Sack zu öffnen und einen der drei dunklen Anzüge aus der Plastikfolie zu schälen. »Immerhin wird es eine deutliche Verbesserung sein. Diesmal kann er deine Wohnung auf zwei Beinen verlassen und muss sich dafür nicht totstellen.«

Claire lachte leise. Sie hatte Hannah von ihrem Täuschungsmanöver berichtet, wie Sigrid Elko in einen todesähnlichen Zustand versetzt hatte und sie dann zu viert Elkos 90kg die Treppe hinunter gewuchtet hatten. »Nur mit dem winzigen Unterschied, dass er wohl kaum laufen kann.«

Hannahs Lächeln gefror. »So schlimm?«

Claire zuckte die Schultern. »Mehr oder weniger. Flausen hat er genug im Kopf, allen voran die Tatsache ignorieren, dass Asgard für die ganze Welt sichtbar ist. Sein einziger Gedanke ist es, in die Stadt zurückzukehren.«

»Was will er dort?«, widersprach Hannah. »Politik wird hier gemacht, hier und in Strasbourg, Berlin und Brüssel. Dort muss er sein. Nicht in seinem Kuschelschloss.« Claire lachte leise über Hannahs flapsige Bemerkung, als sich mit einem Räuspern der ältere ihrer Kollegen einschaltete. Claire wandte sich um und ergriff die ihr dargebotene Hand.

»Eckardt Suckow, Abteilungsleiter MAD9. Sie sind dann wohl die besagte Freundin?« Claire nickte einsilbig und warf Hannah einen fragenden Blick zu.

»Loke hat Suckow von deiner Beziehung zu Seiner Hoheit«, Hannah grinste vielsagend, »… erzählt. Er ist mein Vorgesetzter und hat meinen Einsatz autorisiert und Lehmann und Tommy gestattet, unsere Sicherheitsverwahrung zu verlassen. Außerdem hat er für unsere Flüge nach Russland gesorgt.« Claire nickte Suckow dankbar zu. Nur so war es ihnen überhaupt möglich gewesen, schnell und unkompliziert in die Ukraine zu gelangen.

»Lindner hat mir damals zwar nicht gesagt, wofür sie die Männer und die Flüge braucht, aber sie hat mir glaubhaft versichert, dass sie mir eine Erklärung zukommen lassen wird. Unbürokratische Unterstützung war noch nie mein Problem, wenn sich dadurch Fälle aufklären lassen. Und die fragliche Blutprobe gab mir Anlass genug, Lindner alle Anfragen zu genehmigen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Suckow.« Claire ließ Suckows Hand los und setzte sich erschöpft auf die Lehne der Couch. Sie war nur hastig in eine neue Jeans geschlüpft und hatte sich ein lässiges T-Shirt übergestreift, während Loke sich um Elko kümmerte. Er wollte ihn irgendwie unter die Dusche stellen.

»Dafür möchte ich gerne Ihre Beteiligung ausloten, Frau Esterbrooks. Wo und wann haben Sie ihn kennengelernt?«

Claire seufzte erschöpft. »In einer Bar vor rund zwei Wochen«, murmelte sie und ließ sich auf die Couch gleiten. »Die Brüder hatten ein paar Differenzen, blutige Differenzen, in deren Verlauf ich zwischen die Fronten geraten bin. Aber wie Sie sehen, befindet sich Loke hier. Die Unstimmigkeiten sind also ausgestanden und die Brüder haben sich auf den Weg nach Asgard gemacht. Um einen Verräter seiner gerechten Strafe zuzuführen.«

»Diese brüderlichen Differenzen …«, Suckow hob eine Augenbraue und maß Claire mit durchdringendem Blick, » … haben nicht zufällig etwas mit dem Lagerhaus am Pier zu tun? Das halb zerstörte Lagerhaus, wo jemand den Betonboden umgegraben hat?«

Claire weitete entsetzt die Augen und sah Hannah fragend an. Die Agentin lächelte entschuldigend. »Ja, hat es. Aber dabei ist nur …«

»Wir haben die Leiche gesichert. Wer war das? Seinem Aufzug nach zu urteilen ist er gerade einem Wikingerfilm entsprungen?«

Claire lachte, aber als sie an Kjartan dachte, verflüchtigte sich ihr Lächeln schlagartig. »Kjartan. Ein Mitglied der Königsgarde, die eigentlich Elko als Leibwache dienen sollten. Er hat sich dem Verräter zugewandt.«

Suckow nickte und machte sich Notizen. »Was genau ist dann in Asgard passiert? Wie kam es zu diesem Generatorunfall, den Herr Jörd geschildert hat?«

Claire zuckte nichtssagend die Schultern. »Das muss Ihnen Loke erklären. Er faselte etwas von Überlastung. Ich kenne mich damit wirklich nicht aus.« Ihre Mutter kam aus der Küche und reichte ihr eine Tasse Tee. Ihre Fingerspitzen berührten sich flüchtig und Claire sah irritiert auf. Der eindringliche Blick ihrer Mutter versetzte sie in Alarmbereitschaft, als würde sie ihr eine stumme Botschaft zukommen lassen. Sie sollte auf der Hut sein, so viel verstand Claire aber auch ohne die Warnung ihrer Mutter.

»Frau Esterbrooks, nehme ich an?« Ihre Mutter sah auf und lächelte Suckow gewinnbringend an. Es war die Art von Lächeln, die sie für unliebsame Patienten übrig hatte. Solche, die man besonders zuvorkommend behandelt … nur um sie schnell wieder loszuwerden.

»Richtig. Möchten Sie auch eine Tasse Tee?« Astrid setzte noch einen drauf. Claire schmunzelte und inhalierte den köstlichen Dampf von Sigrids Spezialmischung.

»Nein, danke«, erwiderte Suckow und leckte seinen Bleistift an. »Sagen Sie, in welchen Zustand befindet sich …« Suckow deutete irritiert Richtung Schlafzimmer.

»Seine Hoheit, das wäre die korrekte Anrede«, korrigierte ihn Astrid und handelte sich damit einen vorwurfsvollen Blick von Claire ein. Aber sie schwieg und erinnerte ihre Mutter nicht an Elkos Wunsch. Egal, wie unwohl sich Elko mit dem Titel fühlte, für Suckow und seine Kollegen war er nun einmal ein … Prinz oder König oder wie auch immer man ihn in Asgard sah. Und dem gebührte die korrekte Ansprache, einfach, damit er auch den Respekt erhielt, den er verdiente. Claire fröstelte und dagegen half auch Sigrids Spezialmischung nicht.

Suckow runzelte nachdenklich die Stirn, aber er nahm die Information gewissenhaft zu Kenntnis. »Und wie geht es Seiner Hoheit? Was ist Ihre fachliche Meinung? Agent Lindner hat in Anbetracht der Situation auf Dringlichkeit gepocht und ein paar wichtige Gespräche sollten heute noch geführt werden.« Suckow nickte Richtung Fernseher und schloss damit das vorherrschende Chaos um Asgards Erscheinung mit einer einzigen Geste vollständig ein. »Ist er überhaupt in der Lage, Gespräche zu führen, die über die Zukunft dieser … Insel entscheiden?«

Astrid schüttelte vehement den Kopf. »Mutter!«, schimpfte Claire, aber sie brachte ihre Tochter mit einer Geste zum Schweigen. »Claire, er hat sich bei dem Versuch, dein Leben zu retten, schwer verletzt. Seine Hoheit hat eine Menge Blut verloren und es gibt keine Möglichkeit, seinen Verlust mit einer Transfusion auszugleichen.« Sie nickte Suckow zu. »Meine Tochter hat mir von der Besonderheit seines Blutes erzählt. Zweifelsohne ist das auf ein Leben in diesem Schild zurückzuführen.«

»Sein Bruder könnte doch spenden?«, warf Goldblum blauäugig ein.

Astrid lächelte. »Könnte er, aber bevor man eine solche Transfusion überhaupt durchführt, werden Kompatibilitätstests gemacht. Und ich glaube, Seine Hoheit wird sich in der Zwischenzeit erholt haben.«

Ein Rumpeln aus Richtung Badezimmer erregte die allgemeine Aufmerksamkeit. Das und schmerzhaftes Stöhnen gefolgt von unterdrücktem Fluchen.

Claire war als erste auf den Beinen und hechtete Richtung Badezimmer. »Ich wusste, dass das eine blöde Idee ist«, schimpfte sie und schob Goldblum aus dem Weg.

»Was für eine Idee?«, fragte Hannah und setzte ihr, gefolgt von Suckow und Goldblum, nach.

Claire drehte sich kurz um und lächelte entschuldigend. »Duschen. Elko hat es sich in den Kopf gesetzt, zu duschen.«

»Du kannst mich nicht zu dieser aberwitzigen Idee überreden und dich dann auf und davon machen«, zischte Loke und hievte ihn wieder auf die Beine. »Im Übrigen bist du sauschwer. Also wäre ich dir sehr verbunden, wenn du deinen königlichen Arsch endlich hochkriegen würdest!«

Elko unterdrückte ein Lachen und presste die Beine in die Duschkabine. »Mein königlicher Arsch wird dir gleich was erzählen, wenn …« Elko verstummte und stemmte die Arme links und rechts der kleinen Kabine in die geflieste Wand. Allein diese Geste half, dass das Karussell vor seinen Augen endlich langsamer wurde. »So, alles klar. Bin bereit. Wasser marsch!«

Loke lachte schallend in seinem Rücken, als die Badezimmertür vorsichtig aufgeschoben wurde. »Bei euch alles in Ordnung?« Claire steckte ihre Nase in den heißen Wasserdampf.

»Alles in Ordnung, wir hatten nur einen kleinen Disput, ob Seine Hoheit den Hintern zuerst in die Dusche schiebt oder ob der königliche Arsch später folgt.« Loke amüsierte sich offensichtlich prächtig, während Elko damit zu kämpfen hatte, nicht augenblicklich in Ohnmacht zu fallen.

»Hi, Claire«, krächzte er über die Schulter hinweg Richtung Tür. Unsicher schob sie sich ins Badezimmer.

»Und ihr seid sicher, dass ihr keine Hilfe braucht?«

»Null problemo!«, machte Loke und lockerte langsam den Griff um seinen Brustkorb. »Bist du bereit, Bruderherz? Dann würde ich dich jetzt loslassen und wir können uns dem eigentlichen … Drama widmen?«

Elko nickte gepresst und spürte, wie seine Knie bedrohlich zitterten. Aber noch stand er und das Karussell hatte ebenfalls aufgehört. Außerdem fühlte er sich viel besser. Mit etwas Unterstützung könnte er es sogar in die Küche schaffen. Er war am Verhungern. »Vielleicht könntest du etwas zu Essen auftreiben, ja? Nach dieser Tortur brauche ich etwas Handfestes.«

Claire berührte ihn vorsichtig an der Schulter und er hob irritiert das Kinn, nur um auf ihren sorgenvollen Blick zu treffen. »Sei vorsichtig, ja?«

Für den Bruchteil einer Sekunde genoss er die Sanftheit ihrer braunen Augen, bevor er aufmunternd nickte. »Ja, bin ich.«

»So«, drängte Loke. »Wenn die Dame dann zur Seite treten würde, können wir die Raubtiersäuberung beginnen«, gluckste er und schaltete das Wasser ein. Das Prasseln des heißen Wasserstrahls ließ ihn förmlich in die Knie gehen, aber er hielt stand und genoss die köstliche Hitze und das Gefühl des Wassers auf seiner Haut. Einfach herrlich. Elko hätte Loke liebend gerne den Hals für seine spitze Bemerkung herumgedreht, aber er war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht in der Dusche zusammenzubrechen. Schon gar nicht vor Claire oder Loke. Diese Blöße würde er sich nicht geben. Auch wenn seine Beine zitterten und seine Knie nachzugeben drohten, schaffte er es sogar, sich selbst einzuseifen und die Haare zu waschen. Gott, diese Mähne war ihm heute mehr als lästig. Das Heben der Arme fiel ihm noch besonders schwer. Aber alles in allem schaffte er es sogar alleine aus der Dusche.

Erschöpft ließ er sich in ein Handtuch gewickelt auf dem Klodeckel nieder und beschränkte sich für die nächste fünf Minuten auf die rudimentärsten Körperfunktionen. Die da wären: Atmen und nicht sterben.

Loke kam schließlich mit einem Arm voller frischer Kleidung zurück. Wo sie die allerdings aufgetrieben hatten, wollte Elko lieber nicht wissen. Boxershorts und Unterhemd waren ja noch ganz brauchbar, aber diese Hose …?

»Keine Jeans?«, presste er keuchend hervor. Die Anstrengung, sich lediglich in Unterhose und Hemd zu zwängen, trieb ihm bereits wieder den Schweiß auf die Stirn. Loke schüttelte den Kopf.

»Nur dieser feine Zwirn.« Er grinste schadenfroh und reichte Elko eine schwarze Stoffhose.

»Bei den Göttern, da komm ich nie rein.«

Loke verzog das Gesicht. »In eine Jeans wärst du noch weniger reingekommen. Was du brauchst, sind diese bequemen Jogginghosen, die hier alle tragen. Aber für dich gilt das leider nicht mehr. Hannahs Leute sind hier und du musst dementsprechend auftreten. Schluss mit dem Lotterleben.«

Elko seufzte und streckte die Hand nach der Hose aus. »Na dann, auf zum Schafott.«

Fasziniert beobachtete sie Elko, wie er eine Portion Rührei mit Speck nach der nächsten in sich hineinschaufelte. Zwischendurch schüttete er noch eine ganze Menge Kaffee hinterher und spülte mit Orangensaft nach. Der Blick, den er ihrer Mutter zugeworfen hatte, als sie ihm den Kaffee weggenommen und stattdessen ein Glas Saft vor ihm platziert hatte, war umwerfend. Claire grinste in sich hinein. Erst hatte er sie böse angefunkelt und bereits den Mund für eine passende Bemerkung geöffnet. Ihre Mutter war unwillkürlich zusammengezuckt. Normalerweise war Astrid Esterbrooks kein Hasenfuß, aber Asgards Prinz machte sie sehr nervös. Daraufhin glätteten sich Elkos Züge in Sekundenschnelle und er bedankte sich mit seinem Lausbubengrinsen bei ihr für das Frühstück. Claire gluckste noch immer, wenn sie an seine Miene und Lokes Reaktion dachte.

Der hatte nämlich einen spannenden Wortwechsel erwartet und Claire war sich absolut nicht sicher gewesen, warum Elko gegenüber ihrer Mutter nachgegeben hatte. Zu erschöpft? Wohl kaum. Zu hungrig? Nicht nach drei Pfannen Rührei mit Speck und Toast. Claire konnte sich aber vorstellen, dass er Astrid ihretwegen besonders freundlich behandelte. Er wollte höflich und zuvorkommend erscheinen und einen guten Eindruck hinterlassen. Ihretwegen. Dieser Gedanke erwärmte ihr das Herz dort, wo sich im Augenblick bohrende Angst festgesetzt hatte. Angst vor dem, was Elko bevorstand. Zugegeben, jeder Kampf gegen eine Riesenschlange mit den Genen der für ihn tödlichen Jörmundgandr barg ein gewisses Risiko, aber die Ungewissheit vor dem, was Asgard bevorstand und wie viel von ihm abhing, machte sie wahnsinnig. Claire fröstelte und atmete tief durch.

Der Rest des Frühstücks verlief in angespanntem Schweigen. Hannah und ihre Kollegen hatten es sich im Wohnzimmer mit Kaffee und Toast gemütlich gemacht. Sie wären auch auswärtig frühstücken gegangen, was Claire sogar recht gewesen wäre. Aber Suckow, Hannahs Vorgesetzter, hatte darauf bestanden, in Elkos unmittelbarer Nähe zu bleiben.

»Da ist ein Cafè direkt gegenüber dem Hauseingang«, ätzte Loke und warf seinem Bruder ein fieses Grinsen zu. »Dort gibts scheußlichen Espresso, trockene Croissants und Tageszeitungen von vorgestern. Das wäre doch perfekt für Sie.«

Elko hob den Kopf und funkelte Loke giftig an. Loke klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und deutete auf seine Eier. »Iss, bevor es kalt wird.« Elko grunzte unzufrieden und schaufelte weiter in sich hinein. Er selbst hatte noch kein einziges Wort mit den Agenten gewechselt. Sein herablassender Blick, als er mit Lokes Hilfe aus dem Badezimmer gewankt war, hatte Claire einen nervösen Schauer über den Rücken gejagt. Wo war sein sonst so zuvorkommendes Verhalten?

Hunger, es konnte nur daran liegen, dass er Hunger hatte. Also hatten sie ihn hastig mit etwas Essbarem versorgt. Und ihre Mutter hatte gezaubert. Nicht richtig gezaubert, Claire wusste nicht einmal, ob so etwas überhaupt möglich war. Also Zauberei im Harry-Potter-Stil. Nein, ihre Mutter hatte wahre Schätze aus ihrem Kühlschrank befördert. Auf Claires verständnislosem Blick hatte sie erklärt: »Ich war einkaufen.«

Und nun ließ Elko endlich die Gabel sinken, lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück und schloss genüsslich die Augen. »Jetzt können wir reden.« Aha, Claire lächelte ihn über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg an. Es war tatsächlich der Hunger gewesen, der ihn zum unfreundlichen Kotzbrocken gemacht hatte.

Elko warf ihr einen mitleidigen Blick zu. »Wärst du so freundlich, die Männer herzuholen.«

Fragend blickte sie ihn an. »Im Wohnzimmer wäre es aber viel bequemer.«

Elko seufzte. »Ja, aber ich fürchte, mein Anblick, wenn ich versuche, auf die Couch zu kommen, wird nicht sehr würdig sein.«

Claires Augenbrauen wanderten irritiert nach oben, bevor sie verstand. Er machte zwar einen ganz brauchbaren Eindruck, aber wenn man genau hinsah, hatte seine Hand bei jeder Bewegung gezittert. Er riss sich zusammen, ihnen einen zumindest halbwegs funktionstüchtigen Eindruck vorzugaukeln. Claire seufzte und stellte nachsichtig die Kaffeetasse ab. »Okay«, murmelte sie und drückte ihm im Vorbeigehen einen Kuss auf den Kopf. »Du machst das prima!«

»Wir müssen diese Gespräche führen.« Elko streckte die Hand nach ihr aus und hielt sie kurz zurück. »Egal, wie es mir geht, wir müssen dafür sorgen, dass Asgard sicher ist. Sicher vor der … Schlange und sicher vor den Bedrohungen dieser Welt. Und wenn ich dafür bis in die Hauptstädte dieser Welt kriechen müsste …« Claire nickte und drückte ihm aufmunternd die Schultern.

»Wie gesagt, du machst das prima und zusammen schaffen wir das.«

 

 

 

Suckow musterte Elko prüfend. Er trug nur eines der ärmellosen Unterhemden und hatte sich mit Lokes Hilfe in eine schwarze Stoffhose gequält. Sie passte wie angegossen, auch wenn die Tortur, überhaupt in dieses modische Teil zu kommen, den Anblick absolut nicht rechtfertigte. Es war nur eine Hose, verdammt. Obwohl er seinen Aufzug als Hammerträger genauso wenig mochte, verstand er, warum er sich in den vergoldeten Brustpanzer mit den zehntausend Schnallen zwängen musste. Warum er den Umhang tragen musste und wozu die Stiefel gut waren. Diese Kleidung erfüllte einen Zweck. Aber dieser scheußliche Anzug?

»Weil man das in dieser Welt von dir erwartet«, hatte Loke ihm zugeraunt und hilfreich die Hose hingehalten. Elko hatte sie ihm harsch abgenommen und ihn angefunkelt.

»Ich bin keine fünf mehr«, brummte er ungehalten und wäre beinahe ohnmächtig geworden, als der Schmerz ihn beim Heben des Beines rüde an seine Verletzung erinnert hatte. Verdammt noch mal. Loke hatte ihm grinsend die Hose abgenommen und ihm hineingeholfen.

»Das nicht, aber ich wär dir sehr verbunden, wenn du jegliche körperliche Belastung bleiben lässt, so lange dein Körper noch mit der Wiederherstellung deines Blutbestandes beschäftigt ist.«

Also ließ er sich von ihm ankleiden. Wie es einem Prinzen gebührte. Elko würgte. Es würde noch eine sehr lange Zeit dauern, biss er seine neue Rolle akzeptierte.

»Erklären Sie mir mal, wieso Sie bei Bewusstsein sind und nicht halb tot in einem Krankenhaus liegen?« Suckow unterstrich seine Ausführungen heftig gestikulierend.

»Seine Hoheit«, fügte Loke bissig hinzu und trat einen Schritt vor. »Sie reden meinen Bruder entsprechend seines Titels an, oder …«

»Lass gut sein, Loke«, entgegnete Elko und hob müde die Hand. »Der Mann hat jedes Recht, meinen Zustand anzuzweifeln.«

Suckows Kopf zuckte herum. »Da haben Sie verdammt noch mal recht.« Sein Blick wanderte zu Hannah, die gerade Luft holte. »Und Sie, Lindner, halten sich zurück. Ich vertraue Ihnen und Ihrem Bericht, aber ich möchte diesen Herrn bitten, mir noch einmal seine Verletzung zu erläutern. Ich habe mir Ihre … Kleidung angesehen und nach dem Loch in diesem …« Elko starrte Suckow schockiert an. Der Kerl hatte sich an seiner Kleidung zu schaffen gemacht? Bei Odin! Vermutlich hielt er ihn für einen Schauspieler oder im besten Fall für einen Scherz.

»Brustpanzer. Mein Bruder trägt normalerweise in seiner Funktion als Asgards Oberhaupt die traditionelle Rüstung«, mischte sich Loke ein und erntete dafür von Elko einen bösen Blick.

»Sie meinen das Loch.« Elko ignorierte Loke und konzentrierte sich ganz auf Suckow.

»Genau, das Loch. Junge, ich habe schon viele Verletzungen gesehen und die wäre mit Sicherheit tödlich innerhalb der ersten fünf Minuten gewesen.«

»Sie haben doch die Blutprobe Seiner Hoheit, oder?«, warf Loke erneut hilfreich ein, woraufhin Suckow nickte. »Das sollte Ihnen als Erklärung genügen. Wir Asen, besonders die aus dem Geschlecht Thors, sind ein wenig widerstandsfähiger.«

Suckow starrte Loke durchdringend an und versuchte, hinter die Fassade seines freundlichen, aber falschen, Lächelns zu blicken. Elko wusste auch so, dass der Mann bald herausfinden würde, dass er sich verbale Schlagabtäusche mit Loke sparen konnte. Loke spielte bereits mit ihm und genoss es.

»Nun, Hoheit«, Elko zuckte unwillkürlich zusammen und schloss die Augen, sich selbst daran erinnernd, dass er sich ab sofort an diese Anrede gewöhnen musste, »ich frage das nicht ohne Grund. Wir müssen Sie in ein sicheres Gebäude bringen und ich würde Sie gerne noch von einem unserer Ärzte untersuchen lassen.« Suckow drehte sich auf Claires Küchenstuhl um und bedachte Loke mit einem grimmigen Blick. »Ihr Bruder hat uns zwar von der Art des Unfalls berichtet, aber ich fürchte, mir wurde ein Großteil der Wahrheit vorenthalten. Ich vermute, Sie und Ihr Bruder vertrauen uns nicht.«

Suckow wandte sich eindringlich an Elko. »Da haben Sie verdammt noch mal recht«, mischte sich Loke erneut ein. »Außerdem sehen Sie doch, dass es ihm besser geht. Frau Esterbrooks hat ihn behandelt, alles bestens.«

»Verarschen Sie mich nicht.« Suckow lächelte gönnerhaft. »Ihre Hände zittern, Ihre Hautfarbe ist keineswegs normal und Ihre Erschöpfung ist nicht zu übersehen. Ich bin gewillt, Ihre kleine Vorstellung mitzumachen, aber nur, wenn Sie mir die Wahrheit sagen.« Sein Blick wurde ernst. »Die ganze Wahrheit. Und wenn Sie schon mir nicht vertrauen, Hannah haben Sie vertraut.«

Elko erwiderte seinen Blick und nickte in Richtung der Agentin, die sich, einem Häufchen Elend gleich, an den Küchenschrank lehnte und Suckow nicht aus den Augen ließ. Sie machte den Eindruck, viel lieber noch einmal mit der Riesenschlange kämpfen zu wollen, als sich diesem Gespräch zu unterziehen.

»Ich verdanke ihre mein Leben, Suckow«, murmelte er und lächelte sie warmherzig an. Hannahs Mundwinkel zuckten. »Ich beteilige Sie an der Wahrheit, Suckow, aber dafür verlange ich etwas von Ihnen.« Elko fixierte Hannah, während er fortfuhr, ohne auf Suckows Antwort zu warten. »Ich möchte, dass Hannah mich auf jeden Fall begleitet. Hannah, mein Bruder und Claire. Egal, was passieren wird, alle drei werden mich begleiten.« Hannahs Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie wollte den Kopf schütteln, doch Elkos entwaffnendes Lächeln ließ sie erstarren.

»Sie hat mein Vertrauen und wenn Sie für mich persönlichen Schutz vorsehen, wird sie die Rolle übernehmen.«

»Du warst noch vor zwei Tagen nicht begeistert«, krächzte Hannah.

Elko lächelte. »War ich. Ihr regelt die Dinge hier anders als wir in Asgard. Aber ich gehe einfach mal davon aus, dass ich Augen im Hinterkopf brauche.«

»Verdammt richtig«, murmelte Suckow. »Also gut. Agent Lindner begleitet Sie, Hoheit, und dafür erzählen Sie mir, wer Sie wirklich sind.«

Elko fasste einen Entschluss. Irgendwann in den zwei Sekunden, die er brauchte, um seinen Blick von Hannah zu lösen und Suckow erneut anzusehen. Seine Mundwinkel zuckten, aber er schien so voller Tatendrang, dass Claire fast vergessen hatte, dass er noch vor wenigen Stunden um sein Leben gekämpft hatte. Wie sie um ihrer aller Leben gekämpft hatten.

Aber als er die Hand vorstreckte und die ersten Blitze über seinen Unterarm krochen, hoffte sie inständig, dass Suckow noch einen zweiten Anzug mitgebracht hatte. Sie konnte seinen Entschluss, die Agenten einzuweihen, nicht gutheißen. Er würde damit so viel von sich preisgeben, dass er sich Suckow und dem MAD gegenüber angreifbar machte. Andererseits verstand sie seine Beweggründe. Wer sollte ihnen denn glauben, wenn sie nur seine Blutprobe als Beweis hatten? Und um die mit ihm in Verbindung zu bringen, müssten neue Proben genommen werden. Ein Bild auf einer Überwachungskamera in einem schlecht ausgestatteten Krankenhaus reichte vielleicht Hannah, um einen Verdacht gegenüber Tommy zu haben, aber bei Weitem nicht, um Elko zum Herrscher über den Felsbrocken im Asowschen Meer zu machen. Eine neue Blutprobe würde Zeit in Anspruch nehmen, und die hatten sie nicht. Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden mussten sie Asgard der Welt vorstellen, sonst würde noch jemand nervös mit einem roten Knopf spielen.

Für einen winzigen Moment hoffte Claire sogar, dass er genauso beim Rufen des Hammers versagen würde, wie vor ein paar Tagen, als er vom Gift der Schlange geschwächt war. Das würde einiges einfacher, dafür anderes wiederum schwieriger machen. Ihr Kopf zuckte zu Loke, dessen Augen selbst in direkter Konfrontation mit der Midgardschlange nicht mehr Entsetzen ausdrücken konnten. Sie gönnte sich einen Atemzug lang die Genugtuung, Lokes Fassungslosigkeit auszukosten. Aber dann wandte sie sich wieder dem Knistern zu, dass das Erscheinen des mächtigen Hammers begleitete. Für einen winzigen Augenblick hoffte sie, Elko würde sich vielleicht sogar noch umentscheiden, aber seine Entschlossenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hatte mittlerweile sichtlich Übung darin, den Göttlichen erscheinen zu lassen und … den Anzug nicht zu ruinieren. Nun, wenn man mal von einem leichten Geruch nach verbrannter Wäsche absah. Claire atmete erleichtert auf, bevor sie sich den Reaktionen der Agenten zuwandte.

Suckows Blick, als Elko den schweren Hammerkopf direkt vor ihm auf den Küchentisch stellte und sich in seinem schockierten Gesichtsausdruck sonnte, war zehn Maßanzüge wert. Elko lehnte sich grinsend zurück und genoss Suckows Schock in vollen Zügen.

»Bist du denn völlig wahnsinnig?«, fauchte Loke, sprang auf und deutete auf den Hammer. »Willst du jetzt vielleicht der ganzen Welt deine Fähigkeiten demonstrieren?«

Suckow holte langsam Luft. »Ist das ein Trick?«

Elko schüttelte den Kopf. »Kein Trick.« Er streckte den Arm vor und ließ kleine Blitze über seine Handfläche wandern. Suckow wollte den Finger vorstrecken und einen der Blitze berühren, als müsse er sie anfassen, um sich von ihrer Echtheit zu überzeugen. Claire lächelte. Der Stromschlag, den ihr ihre Neugierde eingebracht hatte, steckte ihr noch in den Knochen. Wie der Nachhall eines kräftigen Sommergewitters. Suckow aber schien sich eines Besseren zu besinnen und zog seine Hand rechtzeitig zurück. Selbst wenn man die Blitze nicht berührte, konnte man die Elektrizität in unmittelbarer Nähe spüren.

Fasziniert starrte Suckow auf die knisternde Energie. »Das ist der Grund, warum ich die Explosion überlebt habe.« Elkos Blick wanderte zu Claire und er schüttelte leicht den Kopf. Sie wusste, worauf er hinauswollte. Ihre Fähigkeit, einen Schutzschild zu erzeugen, wollte er anscheinend noch nicht preisgeben. »Außerdem hat mein Umhang einen Großteil der Wucht abgefangen. Meine Erholung ist ebenfalls auf diese Fähigkeiten zurückzuführen. Ich bin stärker, widerstandsfähiger und nicht so leicht umzubringen. Sie haben recht, Suckow, jeder andere wäre innerhalb von Minuten verblutet. Ich nicht.«

»Du bist so ein Idiot. Niemand sollte davon erfahren.« Loke raufte sich stöhnend die Haare. »Du bist der größte Trottel jenseits des Bifröst. Kein Wundern, dass Meland …«

Elko unterbrach ihn mit einer rüden Geste. »Ich glaube nicht, dass wir weiter darauf eingehen müssen«, knurrte er bedrohlich. Loke starrte ihn verblüfft an und nickte langsam, als ob er verstanden hätte, das Elko nicht gewillt war, Meland vor Suckow zu erwähnen. Elko erwiderte sein Nicken und fuhr lächelnd fort, als hätte Lokes Einwurf und die derbe Zurechtweisung nicht stattgefunden. »Ach komm, Bruder. Sie gehören einer Geheimorganisation an. Sie wissen, wie man Geheimnisse bewahrt.«

»Verdammt richtig«, murmelte Suckow. Sein Blick wanderte zwischen den Brüdern hin und her und er versuchte, herauszufinden, was genau da gerade stattgefunden hatte. »Damit erübrigt sich auch die Frage nach der Feststellung Ihrer Identität«, fuhr er fort, als er zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis gelangte. Sein Blick wanderte wieder zu dem Objekt auf dem Küchentisch. »Sind Sie eigentlich …« Suckow holte tief Luft und Elko grinste breit. Obwohl sich Suckow wacker hielt, konnte er seinen Schock nicht verbergen und Elko grinste so breit, dass Claire sich vornahm, ihm einen Vortrag über Bescheidenheit zu halten. Loke war ebenfalls fassungslos. Er stöhnte frustriert und warf seinem Bruder ein genervtes Kopfschütteln zu. »Du bringst uns alle ins Grab.«

»Bin ich was, Agent Suckow?« Elko setzte noch einen drauf, sein Grinsen wurde noch breiter und er beugte sich nach vorne, um Suckow zu einer Antwort zu drängen.

Der Mann wand sich, litt und schloss schließlich die Augen. »Fähig, dieses Gerät einzusetzen? Ein Gott? Ein … was weiß ich!« Frustriert warf er die Hände in die Luft und versenkte schließlich sein Gesicht in den Handflächen.

Elko lächelte. »In vollem Umfang. Mein Bruder behauptet sogar, dass ich vielleicht fliegen könnte …«

»Jetzt halt mal die Luft an, du größenwahnsinniger Spinner! Du kannst kaum aufrecht stehen und ich denke, du überschreitest deine Kompetenzen. Du …« Loke stöhnte genauso gefrustet wie Suckow.

»Loke, es ist die einzige Möglichkeit. Niemand wird uns glauben, wenn wir nicht zumindest ein paar Leuten von meiner - und deiner - Echtheit überzeugen können.«

Suckow öffnete die Finger seiner Hand einen Spalt breit und blinzelte hindurch. Sein Blick ruhte auf dem eisernen Hammerkopf. »Das beweist jedenfalls Ihre Identität, auch wenn Sie mir damit den Schwarzen Peter zugeschoben haben.« Er seufzte leise. »Also gut. Ich glaube Ihnen, dass Sie der sind, der Sie vorgeben zu sein und vor allem, dass dieser Felsbrocken im Asowschen Meer tatsächlich Asgard sein könnte.«

Elko nickte zufrieden. »Sehr schön.«

»Aber wie um Himmels willen sollen wir den Rest der Welt davon überzeugen? Sie können ja schlecht jedem Reporter, jeder Regierung und jedem Staatsoberhaupt das Ding vor die Nase setzen.«

»Warum nicht?«, murmelte Elko und legte seine Finger zärtlich um den Griff des Hammers.

»Du würdest Aufmerksamkeit bekommen.« Claire stieß sich vom Küchenschrank ab und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Aber keineswegs die Aufmerksamkeit, die du möchtest. Sie würden eher erkunden wollen, woher diese Fähigkeiten kommen und wie sie wissenschaftlich zu erklären sind.« Elko sah sie neugierig an und legte seine Hand über die ihre. Gott, es fühlte sich so wundervoll an, ihn zu spüren, ohne von dem Gefühl durch eine Barriere abgeschnitten zu sein. »Nein, du darfst niemanden den Hammer zeigen. Für die Welt da draußen bist du Asgards König.«

»Prinz«, widersprach Elko lächelnd. »Ich müsste ja erst gekrönt werden, um König zu sein.«

Loke stöhnte genervt auf. »Du hast Nerven. Also, Suckow, wie ist Ihr Plan? Jetzt, wo Sie eingeweiht sind, können Sie sich auch nützlich machen.«

Der Agent verzog das Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. Er atmete tief durch und schloss die Augen, verschwand in der Welt seiner Gedanken. Claire war erstaunt, dass weder Elko noch Loke, die Ungeduld in Person, ihn dabei unterbrachen. Suckow strapazierte ihre Nerven auch nicht länger als unbedingt nötig. Nach wenigen Atemzügen öffnete er die Augen und lächelte. »Ich habe da so eine Idee.«

 

 

Kapitel 5

»Damit mein Plan aber funktioniert, müssen Sie vernünftig auftreten können.« Suckow verschränkte die Arme vor der Brust und genoss sichtlich Elkos Anstrengungen, seine breiten Schultern in die enge Anzugjacke zu zwängen.

Loke lehnte lässig am Türrahmen. »Du siehst einfach bezaubernd aus, Prinzessin«, sagte er grinsend.

»Noch ein Wort«, brummte Elko und ließ sich von Claire mit den Ärmeln helfen.

»Schön langsam. Ich will nicht, dass es reißt.« Sorgfältig fädelte sie seine Arme in das edle Futter und zog ihn vorsichtig über seine breiten Schultern. Sie musste sich dazu ein wenig auf die Zehenspitzen stellen. Abschließend strich sie die Falten über seinen Schultern aus und glättete den Stoff. Der Anzug hätte nicht besser passen können. Vielleicht war das Jackett in den Schultern etwas knapp bemessen, aber alles in allem machte Elko eine hervorragende Figur. Und Männer in Anzügen … Claire seufzte, als er sich umdrehte und genervt an der Krawatte herumfummelte.

»Das Ding erwürgt mich«, nörgelte er und schob zwei Finger in seinen Kragen. »Ich kann überhaupt nicht richtig atmen.« Claire kicherte leise. Als er die Bewegungsfreiheit seiner Schultern testete und sich versuchsweise nach links und rechts drehte, hielt sie gespannt den Atem an. »Und wie soll man überhaupt kämpfen? Ich kann ja nicht einmal meine Arme bewegen.«

»Genau darin liegt der Zweck eines Anzugs.« Loke stieß sich von Türrahmen ab und schlenderte auf ihn zu, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. »Man kämpft nicht mit dem Schwert«, fuhr er auf den verwirrten Blick Elkos fort. Loke nahm die Hände aus den Taschen und rückte das Revers an Elkos Anzug zurecht. »Im Anzug kämpft man mit Worten.«

»Genau.« Suckow erhob sich und deutete auf die Tür. »Und genau das werden wir jetzt tun. Zunächst statten wir dem Außenministerium einen Besuch ab. Agent Lindner war so freundlich, einen Termin dort zu vereinbaren. Ein paar Mitarbeiter des BND sind ebenfalls zugegen.«

»BND?« Elko starrte verblüfft von Suckow zu Loke.

»Geheimdienst«, half ihm sein Bruder aus und grinste zufrieden. Loke schien sowieso in den letzten Stunden wunschlos glücklich. Elko brummte und schüttelte seine lästigen Hände ab.

»Was wollen die von mir?«

»Nun ja«, murmelte Loke und trat einen Schritt zurück. »Lass mich mal raten. Dir ein paar Fragen bezüglich des geheimnisvollen Felsbrockens im Meer stellen? Wissen die Deppen eigentlich schon, dass das Asgard ist?«

»Nicht von mir.« Suckow schüttelte den Kopf und deutete auf die Wohnungstür. »Sie, Herr Jörd und die Damen Esterbrooks können alles Weitere gerne im Wagen besprechen.«

»Meine Mutter?«, warf Claire alarmiert ein und blickte nervös Richtung Küche, wo ihre Mutter sich zurückgezogen hatte. Der ganze Aufmarsch an Agenten und die Gespräche war ihr doch ein wenig zu viel geworden. Sie ließ es sich nicht anmerken, aber Claire spürte, dass die Vergangenheit sie einholte und sie lieber nach Hause gegangen wäre, als hier Elkos Ärztin zu mimen.

»Ja, Frau Esterbrooks. Ihre Mutter hat hervorragende Arbeit geleistet, außerdem«, Suckow senkte seine Stimme verschwörerisch, »weiß Sie über seine Physiologie Bescheid?«

Claire nickte seufzend. Nicht nur das. »Nur das Sie eigentlich keine Ärztin ist«, entgegnete Claire und knetete nervös die Hände. »Sie ist eigentlich Physiotherapeutin und …«

»Ich komme mit.« Abrupt wandte sich Claire um und starrte ihre Mutter fassungslos an.

»Mom, du kannst nicht mitkommen, das tut dir nicht gut. Du …« Claires Mutter kam lächelnd auf sie zu und schloss sie in ihre Arme.

»Keine Sorge, Schätzchen. Ich krieg das hin.« Über Claires Locken hinweg sah sie Elko durchdringend an. »Wenn Seine Hoheit mich braucht, bin ich da. So wie sich das für eine treue Untertanin gehört, oder?«

Elko nickte ihr lächelnd zu. »Danke«, formte er tonlos mit den Lippen.

»Gut, wenn das also geklärt wäre, dann würde ich Sie bitten, Sachen für ein paar Tage einzupacken.« Suckow prüfte lässig die Uhrzeit. »Machen Sie die Wagen bereit, Goldblum. Wir fahren direkt zum Flughafen. Unsere Maschine geht in vierzig Minuten.«

»Vierzig Minuten? Flughafen?« Elko griff wankend nach der Sofakante. »Ich wusste nicht, dass wir fliegen werden.«

»Sie werden in drei Stunden ein paar wichtige Gespräche führen. Der Staatsminister hat darauf bestanden, persönlich mit Ihnen zu sprechen. Unser Glück, dass er sich in Bonn aufhält.« Suckow setzte ein Gesicht auf, als könne sich Elko glücklich schätzen, überhaupt von irgendjemanden angehört zu werden. »In Bonn befindet sich im Übrigen eine unserer Zentralen, wo wir Sie sicher unterbringen können. Und ganz nebenbei bemerkt, ist die Stadt so unbedeutend, dass kaum jemand Sie dort vermuten dürfte.« Er machte eine dramatische Pause. »Am Allerwenigsten die gierige Meute von der Presse.«

Claire drängte ihn, sich auf die Couch zu setzen und noch ein paar Minuten auszuruhen. »Keine Sorge. Alles wird gut werden.« Elko ließ sich widerstandslos in die Polster drücken. Bei Odin, das ging ihm alles viel zu schnell. Er sollte sich mit Ministern unterhalten? Wie sollte das Asgard helfen? Niemand verteidigte die Stadt, niemand sorgte dafür, dass die Einwohner geschützt waren und …

Zärtliche Gitarrenklänge rissen ihn aus seinen Grübeleien und er sah sich suchend nach dem Ursprung des seltsamen Geräuschs um. Hannah wühlte hektisch in ihrer Hosentasche und hielt entschuldigend ihr Handy in die Höhe. »Sorry«, murmelte sie und wandte sich ab, während sie das Gespräch entgegennahm. »Lindner.«

Elko beachtete sie nicht weiter. Claire legte ihre Hand auf seine Knie und lächelte ihn aufmunternd an. »Du schaffst das«, sprach sie ihm Mut zu und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Im Übrigen bist du der Wahnsinn. Jede Frau im Umkreis von 100 Kilometern wird ohnmächtig werden, wenn sie dich sieht. Da ist es ganz egal, was du von dir gibst.«

Elko lächelte. »Was ich von mir gebe?«, wiederholte er irritiert Claires Worte. »Was soll ich denn von mir geben?«

»Hat dir Goldblum nichts gesagt?« Verständnislos schüttelte Elko den Kopf. »Sie planen eine Pressekonferenz. Am besten noch heute, aber nur, wenn du fit genug bist. Wenn du vor der Presse umkippst, kommt das nicht gut.«

»Presse …« Elko stöhnte und sank in die Kissen. Wo war noch gleich diese verdammte Schlange?

»Tommy? Wieso rufst du mich an? Wieso?« Elko drehte sich um und starrte fassungslos den Rücken der jungen Agentin an, als sie sich leise flüsternd mit seinem Freund unterhielt. Elko konnte nicht hören, worüber sie sprachen, aber das war ihm im Augenblick auch relativ egal. Tommy war in Asgard und er rief Hannah an! Es gab also eine Möglichkeit, mit der Heimat zu kommunizieren!

»Hannah? Ist das Tommy? Gib ihn mir!«, forderte er und beugte sich über die Couch. Sein Rücken protestierte schmerzhaft an der Stelle, wo die Glasröhre ihn durchbohrt hatte, aber das war ihm im Augenblick herzlich egal. Und selbst wenn die Wunde wieder zu bluten anfangen würde. Hannah kam seiner Forderung langsam nach und drehte sich erst nach mehrmaliger Aufforderung um. Sie erklärte ihm gerade, wo sie waren. »Das wirst du mir nicht glauben. Wir sind bei Claire, in Stuttgart, in ihrer Wohnung.« Ihr Blick streifte Elko und so verabschiedete sich knapp von ihm. »Hörst du, Meyer? Elko … Seine Hoheit«, korrigierte sie sich mit einem Seitenblick auf Suckow, »will mit dir sprechen. Ich reiche dich weiter.«

»Seine Hoheit?« Elko verzog das Gesicht, als Tommys höhnisches Gelächter sein Ohr erreicht. »Nennt man dich jetzt so?«

»Ja, wir haben ein paar gravierende Probleme.« Elko seufzte und lehnte sich erschöpft in die Polster. Seine Seite pochte und er konnte sich kaum auf das konzentrieren, was er Tommy sagen wollte. »Du kannst telefonieren?«, lenkte er geschickt das Gespräch in eine andere Richtung. Er hatte keine Lust, Tommys Fragen nach dem Generator oder dem, was sich darunter verborgen hatte, zu beantworten. Elko dämmerte nur langsam, dass Tommy ja überhaupt nicht wusste, WER unter dem Ratsaal geschlummert hatte.

»Ja, ist das nicht cool?«, grölte er voll Freude in sein Telefon. »Ich hab eigentlich nicht damit gerechnet, überhaupt Empfang zu haben. Und das Handy nur angeschaltet, um ein wenig Solitär zu spielen, aber als ich die Balken sah, bin ich fast ausgeflippt.« Seine Stimme überschlug sich vor Freude.

»Ja, wirklich cool«, erwiderte er lächelnd. »Seid ihr ohne Probleme nach Thrymheim gelangt? Geht es meiner Mutter gut?«

Tommy seufzte. »Na ja, gut ist relativ. Sie hat den Ritt überstanden und ruht sich jetzt aus. Dein Vater war außer sich, aber auch sehr erleichtert. Die Gardisten sitzen ratlos herum. Ihnen fehlt ein Anführer.«

»Ja, Einar war ein Handlanger Melands.« Elko schloss müde die Augen. »Mh, vielleicht kann Lehmann sie ein wenig auf Trap halten. Er soll sie dazu auffordern, einen der ihren als seinen Partner zu wählen. Nach Einars Verrat weiß ich nicht, ob ich ihnen trauen kann. Aber genau das dürfen sie nicht bemerken. Lehmann hat mein Vertrauen und der gewählte Vertreter der Gardisten hat ihr Vertrauen, vielleicht klappt so die Zusammenarbeit. Ihr seid in Thrymheim hoffnungslos unterlegen. Ich möchte dort keine Meuterei, weil Lehmann nicht aus ihren Reihen stammt.« Elko seufzte. »Und für dich habe ich eine andere Aufgabe. Du musst für mich noch einmal in die Stadt und von Stetten aufsuchen. Nimm Sigrid mit. Er muss für mich einen neuen Rat aufstellen …«

Loke schnaubte entrüstet. »Von Stetten? Bist du wahnsinnig? Der hat all seine Scherze mitgetragen und …«

Elko bedeutete Loke, den Mund zu halten. »Von Stetten hat mein Vertrauen. Er war weder von meiner Wahl begeistert, noch war er bei dem Tribunal anwesend. Schon vergessen, dass er ihn pensioniert hat?« An Tommy gewandt fuhr er fort. »Reite in die Stadt und bring ihm dieses Telefon und dann ruf wieder an, damit ich mit ihm reden kann. Und nimm ein, zwei Gardisten mit. Kleidet euch wie die Bevölkerung. Ich möchte nicht, dass ihr auf ein paar verirrte Schwarze trefft.«

»Alles klar«, antwortete Tommy. »Hör zu, ich leg auf, mein Akku ist nur noch bei dreißig Prozent. Ich melde mich, wenn wir bei Sigrids Vater sind.« Tommy wartete gar nicht erst auf seine Antwort, sondern unterbrach sofort die Verbindung. Elko hätte gerne noch ein paar Minuten mit ihm gesprochen, aber weder Tommy noch er hatten Zeit. Suckow drängte Claire und ihre Mutter zur Eile, Hannah half den beiden Esterbrooks beim Packen, während Loke ihm auffordernd die Hand reichte und ihn umständlich auf die Beine zog. Elko gab Hannahs Handy an Suckow weiter.

»Ich kann auch Goldblum bitte, Ihnen zu helfen«, sagte er, als er das kleine Gerät entgegennahm. Er beobachtete sie misstrauisch.

»Kein Problem«, wehrte Loke ab. »Mein Bruder kann schon wieder ganz gut stehen, oder?«

Elko spürte seine Knie deutlich. Sie zitterten wie Wackelpudding und er brauchte dringend jemanden, an dem er sich festhalten konnte. Sonst würde er wanken wie eine Laterne ihm Sturm. Loke ließ ihn los und beobachtete ihn prüfend, wie er unsicher stand, aber irgendwie ging es. Elko grinste breit und wankte Richtung Wohnungstür, mit der Couch als Orientierung. Jeder Schritt war eine kleine Herausforderung, aber er schaffte es. Nur die Treppe stellte ein nahezu unüberwindliches Hindernis dar.

Am Absatz blieb er stehen und starrte in die sich windenden Tiefen. Elko würde niemals jemanden um Hilfe bitten, eher würde er auf allen Vieren nach unten kriechen. Stur griff er nach dem Treppengeländer und wollte den Abstieg beginnen, als sich Claire und ihre Mutter mit ein paar Taschen bepackt an ihm vorbeischoben. Die Frauen warfen ihm einen unsicheren Blick zu, doch ihre eigene Ladung ließ es nicht zu, dass sie ihm helfen konnten. Elko würde es auch gar nicht zulassen. Als dann auch noch Hannah und Suckow an ihm vorbeischlenderten und der Agent ihm seine Hilfe anbot, wäre Elko am liebsten im Boden versunken.

»Nein, kein Problem. Ich brauche nur etwas länger«, murmelte er ausweichend und spürte kaum noch das Holz unter seinen Schuhen.

»Sei kein Narr«, brummte Loke schließlich hinter ihm und scheuchte Suckow und Hannah in seiner gewohnt herabwürdigenden Art die Treppe hinunter. »Im Übrigen muss ich mit dir alleine sprechen«, murmelte Loke und legte ihm einen Arm um die Taille.

»Was denn?«. Elko ließ seinen Kopf erschöpft in den Nacken sinken.

»Ich bin absolut nicht damit einverstanden, dass du Suckow eingeweiht hast. Der Kerl könnte sehr gefährlich werden und du gibst deinen größten Trumpf bereits vor dem Spiel ab.«

Elko lachte gedämpft. »Dachte mir schon, dass dich das stört. Aber ich habe meinen größten Trumpf nicht preisgegeben.« Er öffnete die Augen und sah Loke durchdringend an. »Ich habe ihm nur einen Brocken hingeworfen, auf den er sich stürzen kann. Die anderen Joker habe ich für mich behalten.«

Loke erwiderte seinen Blick. »Du meinst: Gib ihm etwas, woran er zu kauen hat, damit du …«

»… Genau, damit Claire und du ihre Geheimnisse behalten könnt. Suckow bohrt nicht weiter nach, weil er erst einmal den Hammer verdauen muss. Und die Schlange bleibt ebenfalls unter uns. Aus den Augen dürfen wir sie dennoch nicht verlieren.«

Loke nickte anerkennend und zog ihn Stufe für Stufe die Treppen runter. Den ersten Absatz hatten sie bereits erreicht. »Der Einfall hätte von mir sein können. Langsam glaube ich, dass da hinter deiner Stirn so etwas wie Gehirn vorhanden ist und du allmählich beginnst, es auch zu benutzen.«

Elko verzog schmerzhaft das Gesicht. Die ersten Stufen waren noch einigermaßen problemlos gegangen, aber er hatte erst ein Viertel des Weges zurückgelegt und die Belastung machte ihm trotz Lokes Hilfe zu schaffen. »Danke, du bist heute ja ein richtiger Sonnenschein«, erwiderte er mit zusammengebissen Zähnen. »Ich versteh überhaupt nicht, warum die Heilung so verdammt lange dauert. Als mich Claire nach Kjartans Angriff geheilt hat, war ich innerhalb von Minuten wiederhergestellt. Und jetzt kämpfe ich immer noch mit den Schmerzen …« Der Schweiß perlte auf seiner Stirn, der Anzug würde halb durchgeschwitzt sein, wenn er im Hausflur ankam.

Loke verfestigte den Griff um seine Taille. »Tja, das, mein Lieber, könnte tatsächlich an der Riesen …«, begann Loke, hielt sich dann aber zurück, als Suckow um den untersten Treppenabsatz bog und sie besorgt musterte. »Alles gut, kein Problem. Wir kommen gleich.«

»Sie sehen nicht gut aus«, rief der Agent von unten herauf und Elko zwang sich zu einem missglückten Lächeln. »Tja, ich möchte Sie mit einer Glasröhre im Bauch sehen«, zischte er gepresst. Suckow stemmte die Hände in die Hüften und wartete geduldig, bis sie den nächsten Treppenabsatz umrundet hatten.

»Warten Sie draußen«, brummte Elko und hielt keuchend an, seine Finger klammerten sich zitternd an das Geländer. »Ich will mit meinem Bruder alleine reden und brauche verdammt noch mal keine Hilfe!« Sein Blick bohrte sich in Suckow, als wolle er ihn mit Hilfe telepathischer Kräfte die Treppe herunterscheuchen. »Bitte!«, schob er nachdrücklich hinterher. Suckow verzog das Gesicht und nickte.

»In Ordnung, aber wenn Sie nicht in den nächsten fünf Minuten unten sind …« Er ließ den Satz unvollendet und wandte sich seufzend zum Gehen.

»Na dem hast du es aber gegeben«, stichelte Loke und lockerte seinen Griff um Elkos Taille. »Die Röhre war womöglich mit dem Gift der Schlange getränkt oder du hast ihre Nähe nicht gut vertragen.« Er zuckte mit den Schultern und schob Elko vorsichtig weiter. »Aber so lange die Wunde verheilt und du kein Fieber hast, wie beim letzten Mal …« Loke seufzte. »… solltest du eigentlich heilen.«

»Du meinst, als du dafür gesorgt hast, dass ich verrecke …«

Loke lachte heiser. »Ja, aber jetzt sorge ich dafür, dass du genau das nicht tust. Und notfalls sind Astrid und Claire für deine Gesundheit absolut förderlich. Wir brauchen dich noch, denn du bist der Einzige, der dafür sorgen kann, dass die Welt dort draußen uns akzeptiert und nicht wegsprengt.«

»Ich?« Elko hielt am untersten Treppenabsatz inne und starrte auf die halb geöffnete Haustür, als würde dort draußen sein Schicksal liegen, als hätte er jetzt noch die Möglichkeit, sich umzudrehen und einfach davonzulaufen.

»Ja, du, Bruder«, fuhr Loke fort und versperrte ihm den Blick nach draußen. »Eine neue Wahl wird so schnell nicht stattfinden können, also musst du unser Volk vertreten.«

Elko atmete tief durch. »Und wenn du den Hammer …?«

Loke verneinte. »Kommt überhaupt nicht in Frage. Du siehst viel besser im Anzug aus als ich.« Loke zupfte an seinem Revers herum und richtete die Krawatte. »Wenn du sie schon nicht mit Worten überzeugen kannst, lächle einfach ein wenig. Das haut sowieso alle um.«

 

 

Kapitel 6

»Wir müssen trotzdem zurück nach Asgard«, murmelte Elko, kurz nachdem ihn Loke auf einem weichen Bett in einem Hotelzimmer irgendwo in Bonn abgeladen hatte. Nach dem einstündigen Flug und der anschließenden Autofahrt war er mehr als erschöpft und dämmerte fast augenblicklich weg. Er öffnete nur noch einmal kurz die Augen, um Loke diese Mitteilung zu machen. »Das Riesenbiest könnte noch in Asgard sein … außerdem der Rat … Tommy hat sich noch nicht gemeldet, oder?«

Loke lächelte nachsichtig, als leise Schnarchgeräusche vom Sieg der Erschöpfung gegen eisernen Willen kündeten. Er löste die Schnürsenkel und streifte ihm die Schuhe ab, hievte seine schweren Beine aufs Bett und zwang ihn mit energischen Worte, sich umzudrehen, damit er ihn aus dem Anzug schälen konnte.

Claire stand in der Tür und beobachtete sein Treiben. Tapfer versuchte sie, ihre Sorgen zu unterdrücken. »Und es geht ihm auch wirklich gut? Die Wunde …«

Loke ächzte unter der Last von Elkos Oberkörper. »Ihm geht‘s gut, und jetzt komm her und zieh ihm die Hose aus. Damit hast du doch Erfahrung, oder?« Sein anzügliches Grinsen zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie stieß sich kraftvoll vom Türrahmen ab, um ihm zu helfen.

»Mach dir keine Sorgen«, erklärte Loke, als sie Elko bis auf die Unterhose ausgezogen und fürsorglich zugedeckt hatten. »Er hat kein Fieber und die Wunde ist verschlossen. Vor ein paar Stunden war sie noch offen. Er heilt, es dauert nur seine Zeit. Diesmal.«

Claire ließ sich erschöpft im Wohnbereich sinken. Die Suite war mit mehreren Schlafzimmern und einem großen Verbindungszimmer ausgestattet. Dort konnten sie sich aufhalten, während Elko sich erholte. Am späten Nachmittag war das Gespräch mit einer Staatsministerin und einigen des Bundesnachrichtendiensts geplant. Glücklicherweise beanspruchte ein Termin der Ministerin mehr Zeit, sodass Elko etwas schlafen konnte. Loke bezweifelte, dass er in seinem jetzigen Zustand überhaupt brauchbare Antworten zustande bringen würde, ganz zu Schweigen von einer kleinen Ansprache vor der Welt.

Suchkow reichte ihnen jeweils einen großen Pott Kaffee und ließ sich ihnen gegenüber nieder. Astrid hatte sich in die kleine, zu der Suite dazugehörige Küche zurückgezogen und braute ihren Zaubertrank, wie Hannah Sigrids Spezialtee in Thrymheim getauft hatte.

»Ich kann auch an seiner Stelle mit der Ministerin reden«, wandte Loke ein und nippte an dem dunklen Gebräu. Er verzog angewidert das Gesicht. Wenn er eines während seiner Zeit in Midgard gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass Hotel-Kaffee immer schlecht war. Da half auch Claires Misshandlung in Form von Milch und Zucker nicht.

Suckow schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Ministerin Voigt verlangt Seine Hoheit. Sie will ihn auf seine Glaubwürdigkeit prüfen. Dazu auch der Geheimdienst.«

»Zeit für Ihren Plan, Suckow«, wandte Claire lächelnd ein und nahm einen großen Schluck von ihrem Gebräu.

»Keine Sorge, mein Plan steht und wird funktionieren. Viel wichtiger ist, dass er sich erholt und nicht mehr ganz so grün im Gesicht aussieht.«

Loke zuckte zusammen und eine Erinnerung an eine grün-beschuppte Wand, die sich vor seinem inneren Auge vorbeischob, durchfuhr ihn. Bei Odin! »Er wird sich erholen«, krächzte er und spülte den widerlichen Geschmack nach Reptil mit bitterem Kaffee hinunter.

»Sie sollten auch etwas schlafen. Der Abend wird anstrengend genug werden. Ministerin Voigt plant im Anschluss ein informelles Abendessen und hat um seine Teilnahme gebeten.« Lokes Gesichtszüge entgleisten. Das würde Elko nicht schaffen!

»Wie stellen Sie sich das vor, Suckow? Wir haben ihn nur dank dem Fahrstuhl hier hochgekriegt. Er schafft kein vollgestopftes Diplomatenprogramm!« Loke pfefferte seinen Kaffee so heftig auf die Glasplatte des Tischchens vor ihm, dass der Kaffee in alle Richtungen davonschwappte.

»Muss er aber! Er muss sich ganz schnell an diese Show gewöhnen, denn sonst wird irgendwer nervös werden. Sie haben hier die einmalige Chance, mit einer Staatsministerin zwanglos über den Felsklotz in der Ukraine zu plaudern. Also sorgen Sie dafür, dass Ihr Bruder auf die Beine kommt.«

Loke schnaubte entrüstet und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich kann ihn ja begleiten und ihn unterstützen«, sagte Claire und legte ihm besänftigend die Hand auf dem Arm.

»Wohl kaum, Esterbrooks«, entgegnete Suckow. »Ich habe Sie und Lindner als seinen Personenschutz eingetragen. Sie können dabei sein, aber nicht als Begleitung, sondern schön still hinter ihm stehend.« Claires Züge entgleisten und Loke kicherte leise.

»Das war doch dein Wunsch, oder?«

»Ja, schon, aber …«

»Ich kann ihn begleiten, oder?«, fragte Loke und sah Suckow durchdringend an.

»Ja, natürlich. Esterbrooks, Sie haben doch Erfahrung im Personenschutz?«

Claires Finger schlossen sich nervös um die Kaffeetasse. »Ja, natürlich. Immerhin arbeite ich für einen Sicherheitsdienst, oder?«

Loke sah sie forschend an und ihm war auch ohne seine perfekte Menschenkenntnis klar, dass Claire log und das nicht mal besonders gut. Sein Blick zu Suckow bestätigte, dass auch der Agent Claires Lüge mühelos enttarnte, aber er sagte nichts, sondern verzog nur wissend das Gesicht.

»Gut, ich habe Sie nämlich bereits angekündigt und Papiere für Sie und Lindner angefordert.« Er griff in seine Anzuginnentasche und förderte einen Ausweis zutage, den er auf die Glasplatte legte. Claires Dienstfoto blickte ihr gefühlskalt entgegen. »Der ist für Sie und der hier …«, Suckow griff in die andere Innentasche seiner Jacke und förderte einen weiteren Ausweis mit einem großen V darauf zutage. »… der hier ist für Sie, Loke.«

»Ohne Foto?«

Suckow zuckte mit den Achseln. »Ich hatte keines von Ihnen. Und im Übrigen haben Sie noch nicht einmal Personalausweise, also keinerlei Dokumente, die Ihre Identität bestätigen. Nehmen Sie also mit dem Besucherausweis vorlieb.«

»Und für meinen Bruder?«

Suckow zuckte die Schultern. »Hochrangiger Diplomat. Er steht außerhalb jeder Behörde. Er könnte sogar einen Mord begehen und nicht einmal dafür belangt werden können.« Suckow grinste. »Nicht, dass er das vorhat.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Loke und griff nach dem Besucherausweis.

Suckow erhob sich und verabschiedete sich knapp, als Hannah und Goldblum die Suite betraten und sich leise unterhielten. »Sie sollten sich etwas ausruhen. Lindner und Goldblum übernehmen die erste Schicht. Und seien Sie nicht überrascht, hier werden ein paar weitere Agenten eingesetzt werden, die Sie noch nicht kennen und die nichts über die … Fähigkeiten Seiner Hoheit wissen. Also halten Sie sich bedeckt und reichen Sie diese Information bitte an ihn weiter.«

Der Duft nach frisch gewaschener Wäsche zauberte ihm ein Lächeln aufs Gesicht. Elko holte tief Luft und nahm den Hauch von Bergwiese tief in sich auf. Als der Schmerz in seinem Bauch ausblieb, holte er noch einmal kräftig Luft und grinste. Schien so, als würden seine Selbstheilungskräfte endlich vernünftig arbeiten. Suchend tastete er über den Verband und unterzog ihm einer oberflächlichen Untersuchung. Nichts, kein Schmerz, kein lästiges Ziehen. Odin sei Dank! Ein Problem weniger, mit dem er sich rumschlagen musste.

Elko starrte an die Zimmerdecke und genoss das Gefühl, nichts zu spüren. Noch war sein Gehirn nicht richtig wach und er konnte sich der Illusion hingeben, dass alles in bester Ordnung war. Er brauchte sich nicht einmal nach dem leisen Schnarchen umzudrehen. Claire lag neben ihm. Er spürte ihre Anwesenheit so deutlich, als würde er sie direkt berühren. Trotzdem drehte er sich nach ein paar weiteren Atemzügen um, nur um sich davon zu überzeugen, dass er sich tatsächlich nicht geirrt hatte.

Seine Züge entspannten sich. Claire hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht und sich ausgezogen. Sie lag einfach da und schlief, auf der Bettdecke. Ihre Jeans hatte sie noch in ihrer Wohnung gegen einen schicken Hosenanzug eingetauscht. Der schmale Schnitt betonte ihre Figur und zauberte ein anzügliches Grinsen auf sein Gesicht, wenn er auch nur daran dachte, wie sie darunter aussah. In seinem Hinterkopf gärte die Realität und dann wachte sein Gehirn schlagartig auf.

Hastig schwang er die Beine aus dem Bett und starrte sekundenlang auf seine nackten Waden. Er konnte sich nicht erinnern, dass er sich ausgezogen hatte. Er presste die Fäuste in die Matratze und kämpfte sich auf die Beine. Seine Knie wankten ein wenig, aber kein Vergleich mehr zu seiner erbärmlichen Vorstellung in Claires Wohnung. Seine Hände tasteten über den Verband und er stellte erfreut fest, dass er nicht der Täuschung seiner noch schlafenden Nervenenden erlegen war. Die Wunde war tatsächlich verschwunden.

Er machte ein paar vorsichtige Schritte und grinste breit, als sich keine Anzeichen der Wunde bemerkbar machten. Bei Odin, die Heilung hatte nicht einmal vierundzwanzig Stunden in Anspruch genommen, dennoch zu lange. Viel zu lange. Elko seufzte und ging Richtung Fenster. Er war so erschöpft gewesen, dass er sich nur bruchstückhaft an die Reise hier her erinnern konnte. Noch weniger wusste er, wie viel Zeit vergangen war und wie viel ihm noch bleiben würde, bis …

Er schob die Vorhänge ein Stück zur Seite und blickte auf eine kleine Stadt unter regengrauem Himmel. Die Wolken verdeckten die Sonne. So konnte er die Uhrzeit nur erraten. Vielleicht früher Nachmittag. Unter ihm erstreckten sich vier- oder fünfstöckige Gebäude, nichts Spektakuläres. Er befand sich in den oberen Stockwerken eines richtigen Hochhauses und konnte auf den Feierabendverkehr hinunterblicken. Lärmend schoben sich hunderte Autos an »seinem« Gebäude vorbei. Ein ganz normaler Arbeitstag in einer ganz normalen Stadt.

Elko seufzte. Nur das für ihn nichts mehr »normal« sein würde. Die Ruhe war trügerisch und sie wurde ihm nur deshalb zugestanden, weil er sich verletzt hatte. Er musste sich erholen, aber noch viel mehr brauchte er die Ruhe dringend, um sich zu sammeln, nachzudenken, sich vorzubereiten. Wie sollte er wichtige Entscheidungen für sein Volk treffen, wenn er selbst nicht einmal wusste, was das Beste war. Er konnte unmöglich Gespräche führen, wenn er die Auswirkungen für Asgard nicht abschätzen konnte. Loke konnte innerhalb von Sekunden Situationen erfassen, Szenarien durchspielen, Konsequenzen erfassen. Bei Odin, Loke sollte für ihn sprechen! Er tänzelte spielerisch über die politische Bühne, wo Elko wie ein Trampel von einem Fettnapf zum nächsten stolperte.

»Hey, du bist wach.« Claire. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie aufgestanden und zu ihm gekommen war. Sie legte die Arme um seine Taille und schmiegte sich an seinen Rücken. Elko schloss lächelnd die Augen und genoss ihre Umarmung. »Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?« Sie nestelte an seinem Unterhemd herum, schob es hoch und drückte prüfend auf den Wundverband.

»Die Blutung hat nachgelassen«, murmelte sie und löste vorsichtig den Verband. Er reagierte nicht und starrte weiterhin aus dem Fenster. Die Ampel direkt vor dem Gebäude sprang auf Grün um, aber der Fahrer des vordersten Fahrzeugs reagierte nicht schnell genug und wurde von den hinter ihm Stehenden mit einem lautstarken Hupkonzert geweckt. Elko lächelte und fühlte die gleiche Trägheit wie der träumende Fahrer.

»Mir geht es gut, Claire«, antwortete er ausweichend und hielt ihre Hand fest. Elko schluckte und schloss sehnsüchtig die Augen. »Bitte, bleib einfach stehen und halt mich fest, ja?«

Claire stellte ihre Bemühungen sofort ein und schmiegte sich wieder an ihn. »Was ist los?«, murmelte sie gegen seine Schulter. Er genoss ihren Atem auf seiner Haut, das Gefühl, einfach gehalten zu werden und sich nicht in endlosen Grübeleien zu verlieren … oder in die irrationale Betrachtung des deutschen Straßenverkehrs. Das Gewusel unter ihm half ihm nicht gerade dabei, seine Gedanken zu ordnen.

Elko seufzte. »Ich … mir geht’s gut, wirklich. Aber ich fürchte, dieser ganze politische Kram ist zu viel für mich. Ich kann Schädel einschlagen und Unwetter heraufbeschwören und Blitze aus der Atmosphäre anziehen, aber mich mit Politikern unterhalten, mit Präsidenten und Ministern …« Elko schluckte nervös. »Ich weiß nicht, ob ich der Richtige für diesen Job bin.« Er drehte sich in ihrer Umarmung um, legte seine Handflächen um ihr schmales Gesicht und verlor sich in dem sanften Braun ihrer Augen. »Loke wäre der Richtige …«, seufzte er.

Claire erwiderte seinen Blick und lächelte. »Nein, du bist der Richtige. Deine Aufrichtigkeit, dein Lächeln und dein ganzes Wesen sind genau richtig für diese Aufgabe. Loke kann nichts weiter als Intrigieren und mit doppeldeutigen Bemerkungen um sich werfen. Dir glauben die Leute. Hast du schon vergessen, was im Kerker passiert ist? Dir sind die Gardisten gefolgt, und nicht Loke.«

Elko lachte zynisch. »Das war nicht ich dort unten. Ich war mehr tot als lebendig. Das war Einar. Er war der Funke, der das Feuer entfacht hat und es wurde nur deshalb entfacht, weil Meland die Gardisten aus der Stadt haben wollte. Das war alles eine Farce.«

Claire legte den Kopf schief und musterte ihn. »Meinst du? Einar hat nichts weiter getan, als dein Symbol weiterzutragen. Du bist es, dem die Gardisten folgen, und du wirst es sein, der die Welt davon überzeugt, das Asgard ein Teil von ihr sein kann.«

»Du bist ja sehr von mir überzeugt.« Obwohl er Claires Worte abstritt, gaben sie ihm Zuversicht und er fühlte sich etwas weniger verzweifelt im Angesicht der Dinge, die von ihm verlangt wurden.

»Ja, bin ich.« Sie lächelte aufrichtig und hob das Kinn. »Und jetzt küss mich.«

Ihre Küsse lenkten ihn gänzlich von seinen Grübeleien ab. Die sanfte Berührung ihrer Lippen reichte aus und sämtliche Regierungen der Welt waren vergessen. Minister und Gespräche waren ihm so was von egal. Nur Claire zählte. Sie war sein Mittelpunkt, zumindest in diesem Augenblick.

Zärtlich verschränkte sie ihre Finger in seinem Nacken und dirigierte ihn geschickt auf einen Stuhl. Elko seufzte ungeduldig, aber sie schaffte es irgendwie, ihn zum Hinsetzen zu bewegen, ohne sich von ihm zu lösen. Elko bekam nicht einmal mit, wie sie sich rittlings auf seinem Schoss niederließ. Erst als er sich in ihrer Halsbeuge wiederfand und seine Hände unter ihre hübsche Bluse schlüpften, registrierte er, dass er saß und nicht mehr stand.

Gute Idee, denn obwohl er sich eigentlich erholt fühlte, zitterten seine Knie vor Anstrengung. Sein Körper zeigte ihm deutlich, wie wenig er von dem kleinen Ausflug zum Fenster hielt. Zielsicher wanderten seine Finger über ihre Taille, fanden die Narbe und hangelten sich liebkosend an ihr entlang. Claire seufzte in seinen Mund und vergrub ihre Hände in seinem Haar.

»Du schaffst das, du kannst alles schaffen und schließlich bist du nicht allein«, hauchte sie, als er ihren Lippen eine kleine Pause gestattete. »Du kannst unglaublich sein«, flüsterte sie und streichelte mit ihrem Atem seine Lippen. Ihre Finger verschränkten sich in seinem Nacken, ihre Nase liebkoste seine Wange. »Du bist genau der Richtige für diesen Job, genau richtig«, murmelte sie zärtlich und holte tief Luft. »Bei Loke würde jeder sofort seine intrigante Art wittern, aber du hast die Aufrichtigkeit eines Kleinkindes.«

»Na vielen Dank auch«, kommentierte Elko spöttisch und ließ seine Hände unter den zarten Stoff ihrer Bluse nach oben wandern. Claire zog scharf die Luft ein, als er liebevoll die weiche Rundung ihrer Brüste nachzeichnete.

»Das ist keine schlechte Eigenschaft. Die Leute vertrauen dir, weil man dir die Ehrlichkeit praktisch von der Nase ablesen kann.« Elko stöhnte leise, als ihre Hüfte verführerisch wackelte und sie ihre Mitte über ihm platzierte. Sie ließ ihre Pobacken über ihm kreisen und verhinderte so geschickt, dass er über eine Erwiderung nachdenken konnte. Er war ehrlich, das stimmte, aber das war nicht wirklich eine gute Eigenschaft. Ihm fehlte die politische Verschlagenheit.

»Bist du verrückt«, keuchte er stattdessen und vergrub sich in ihrer Halsbeuge. Sein Stöhnen verklang gedämpft. »Wenn dort draußen nur Hannah und Loke wären, würde ich dich ungeachtet meiner Kräfte sofort für diese Frechheit bestrafen, aber du möchtest doch nicht von Suckow oder diesem Goldblum ertappt werden?«

Claires Lippen verzogen sich zu einem neckischen Grinsen. »Bist du etwa prüde?«

Elko schüttelte panisch den Kopf, als sie sich besonders schwer machte und ihre Pobacken noch etwas fester auf seinen Schoß drückte. »Nein«, keuchte er und schloss bebend die Augen. Wenn er dieses verschmitzte Grinsen noch länger ansah, wüsste er nicht, ob er sich noch lange beherrschen konnte. »Aber ich muss mich schonen und …«

Claire lachte perlend und beugte sich vor, um ihn zu küssen. Elko öffnete automatisch den Mund und ließ sich gründlich von ihrer Zunge erkunden. »Das hat dich vorhin auch nicht gestört«, murmelte sie gegen seine Lippen. »Dieses Zimmer ist traumhaft und ich möchte die Gelegenheit nutzen, um … na du weißt schon. Seit Mom mir gezeigt hat, wie ich mein Verlangen kontrollieren kann, ist ein ganz anderes Verlangen erwacht. Ich kann gar nicht genug von dir bekommen. Du fühlst dich echter und intensiver an und ich will jede Sekunde auskosten, die uns in diesem Wahnsinn geschenkt wird.« Elko starrte sie geschockt an und nickte.

»Ich weiß, was du meinst. Ich durfte ja bereits in Thrymheim auf diese Manschetten verzichten und ich würde sie nur ungern wieder anlegen. Das hier ist wie Sex ohne Kondom.« Claire stimmte ihm lachend zu und deutete mit dem Kinn Richtung Badezimmer.

»Hast du die Dusche gesehen? Die ist riesig und hat diese geniale Massagefunktion. Wir könnten vielleicht …«

Elko lachte leise und küsste sie flüchtig aufs Kinn. »Könnten wir, aber ich habe eine Pflicht zu erfüllen und du ebenfalls.«

Claire zog einen süßen Schmollmund. »Das ist unfair. Jetzt kommst du mit Pflichterfüllung, wo ich dich auf andere Gedanken bringen will.«

Elko lächelte und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als die Zimmertür rüde aufgestoßen wurde und ein ihm unbekannter Mann hereinpolterte. Ihre Köpfe zuckten unisono herum und sie starrten den Eindringling verblüfft an.

»Was fällt Ihnen ein …«, blaffte Elko und verfestigte den Griff um Claires Hüfte, als er bemerkte, wie sie von seinem Schoss hüpfen wollte. »Du bleibst schön hier«, murmelte er grimmig. »Ich habe keine Lust, zum Gespött zu werden, nur weil …« Seine Rakete Richtung Mond zeigte oder so. Claire lachte leise, denn besagtes Objekt bohrte sich genüsslich in ihre Mitte. »Okay«, hauchte sie grinsend und wackelte verführerisch mit den Hüften.

»Sind Sie etwa die Neue, die mir Suckow aufs Auge gedrückt hat?« Claire zuckte unwillkürlich zusammen und wollte gerade den Mund zu einer Erwiderung öffnen. »Die Neue?«

Elko runzelte grimmig die Stirn und wandte sich widerwillig dem Störenfried zu, seine Frage überging er geflissentlich. »Wer gibt Ihnen das Recht, hier unangekündigt einzudringen?« Elkos Augenbrauen zogen sich so wütend zusammen, dass sie einander fast berührten, doch den Neuankömmling beeindruckte das nicht im geringsten.

»Huber, stellvertretender Abteilungsleiter Abteilung 9, MAD. Bin hier um Suckow abzulösen«, murmelte er und starrte Claire zornig an. Sein Blick maß ihren desolaten Aufzug und die Position, in der sie sich befand mit verächtlichem Naserümpfen. Es schien fast, als brauche er mehrere Atemzüge, um überhaupt zu begreifen, was sie hier taten oder vorhatten, zu tun. »Aber das ist doch die Höhe!«, blaffte er zornig und deutete grimmig auf Claire. »Sie sind mir noch nicht einmal fünf Minuten unterstellt und lassen sich schon mit der Zielperson ein! Name und Funktion bitte, aber prompt!«

»Ich bin Claire Esterbrooks«, antwortete Claire verunsichert. Elko starrte sie entsetzt an. Claire war sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, aber der Kerl hatte ihre Fassung gehörig zum Wanken gebracht.

»Das fehlte mir noch! Eine Personenschützerin, die sich bei der erst besten Gelegenheit an den Hals des Zielobjekts wirft! Deswegen arbeite ich nicht mit Frauen!«, blaffte er und baute sich mit verschränkten Armen vor ihnen auf. »Wenn Sie jetzt bitte die Güte hätten, von der Zielperson herunterzuklettern?«

Claire schluckte hart und wandte sich Elko zu. »Sorry«, murmelte sie leise und wollte sich erheben, doch Elko ließ seine Hände schwer auf ihrer Taille liegen. Du gehst nirgendwohin hin, sagte diese Geste eindeutig.

»Ähm«, machte Claire und starrte ihn irritiert an.

»Du hast von diesem Kerl absolut keine Befehle entgegenzunehmen«, erwiderte er und lächelte. »Du legst doch so viel Wert darauf, dass ich der Richtige für den Job bin, oder?« Claire nickte eifrig und seine Mundwinkel zuckten. »Dann lass ihn mich auch richtig machen.« … und seine Vorzüge genießen. Elko wandte sich wieder Huber zu und setzte sein Sonnenaufgangslächeln ein.

»Wissen Sie, wer ich bin, Agent Huber?« Der süße Unterton in seiner Stimme war eigentlich für den weiblichen Hofstaat Asgards bestimmt oder für Claire, wenn er sich ihrem Zorn entziehen wollte, aber bei Huber verfehlte er seine Wirkung genauso wenig.

Irritiert runzelte Huber die Stirn und blickte erst zu Claire und dann wieder zu Elko. »Nein, mir wurde nur gesagt, dass ich Suckow hier ablösen soll und das ich neben Lindner eine weitere Personenschützerin in meinem Team haben werde.« Soso, der Kerl sollte also das Team leiten. Elko verdrehte die Augen, dann sollte er aber auch wissen, wen er vor sich hatte.

»Wärst du so freundlich«, murmelte er widerwillig und schob Claire dann doch von seinem Schoss. Ihm behagte zwar nicht, seine Stellung vor Huber in Unterhosen mit Ständer klarzurücken, aber ihm blieb wohl nichts anderes übrig.

»Claire ist weder eine Ihrer Untergebenen noch gehört sie zu Ihrem Team. Sie ist nur hier, weil sie die Einzige neben Hannah ist, der ich vertraue. Und Sie«, Elko trat einen Schritt auf Huber zu und deutete auf seine Brust, »sollten sich genau informieren, mit wem Sie es zu tun haben.«

»Ähm, ist das wichtig? Diese Person hat ihre Grenzen überschritten und ich werde mich persönlich bei Suckow beschweren, weil …«

»Weil was? Kennen Sie eigentlich Ihre Grenzen? Claire gehört weder zu Ihrem Team noch nimmt sie von Ihnen oder von mir Befehle entgegen.«

»Wenn sie hier ist, untersteht sie meinem Befehl und das macht sie zu meiner Untergebenen und jedes Mitglied meines Teams hat sich an die Spielregeln zu halten. Ich hab’s gleich gewusst. Weibliche Personenschützer machen nur Ärger!«

Elko funkelte Huber grimmig an. »Sie wissen gar nichts, Huber, gar nichts. Claire untersteht Ihnen nur pro forma

Claire trat neben ihm und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Unterarm. »Du solltest dich nicht aufregen.« Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert, als er sich kurz zu ihr wandte. »Du weißt doch, geschlossene Räume und so.« Elko lachte leise und vergaß darüber fast seinen Ärger auf Huber. Der allerdings betrachtete ihr Lächeln als Affront gegen seine Autorität und schnaubte wütend.

»Gehen Sie einfach, Huber!«, zischte Elko und trat einen Schritt auf ihn zu. »Sie wissen überhaupt nichts. Weder über Claire noch über mich. Und kommen Sie erst wieder, wenn Sie wissen, wer ich bin und in welcher Verbindung Frau Esterbrooks zu mir steht. Und dann werden Sie sich entsprechend benehmen.«

Huber trat einen Schritt zurück. »Aber ich sollte Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie in dreißig Minuten abfahrbereit sein müssen, weil der Termin mit der Ministerin ansteht.« Seine Schultern sackten eingeschüchtert zusammen, als sich Elko zu seiner vollen Größe vor ihm aufbaute.

»Gut, dann weiß ich jetzt Bescheid. Und Sie kommen erst wieder, wenn Sie meine Frage beantworten können. Also gehen Sie!« Huber war mittlerweile so weit zurückgewichen, dass er unter dem Türrahmen stand. Elko deutete noch einmal auf ihn und als er einen weiteren Schritt zurückmachte, griff er nach der Tür. »Und klopfen Sie das nächste Mal an!« Damit knallte er sie Huber vor der Nase zu.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752100099
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Thor Urban Fantasy Asgard Liebesroman Loki Bruderstreit Midgard Nordische Mythologie Liebe

Autor

  • Danara DeVries (Autor:in)

Danara DeVries ist das Pseudonym einer nerdigen Mutter von zwei Nachwuchs-Nerds und der Ehefrau eines Ober-Nerds. Zusammen begeistern sie sich in trauter Nerdigkeit für alles, was auch nur im Entferntesten mit Fantasy, Mystik und Science Fiction zu tun hat.
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Titel: Weltenbrand: Revelation