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Das Verblassen der Kerns

von Torben Stamm (Autor:in)
273 Seiten
Reihe: Armin-Kern-Tetralogie, Band 4

Zusammenfassung

Im letzten Teil der erfolgreichen Urban Fantasy-Reihe muss sich Armin Kern seinem Schicksal stellen. Die Zahl seiner Verbündeten nimmt stetig ab und es ist nicht sicher, dass er Dahl davon abhalten kann, die magische Gemeinschaft endgültig zu zerstören.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Copyright © by Torben Stamm

Im Sundern 47

48431 Rheine

torben.stamm@posteo.de

Covergestaltung: Tim Rybus

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Die Welt ist anders.

Nicht fremd, ich erkenne jedes Gesicht, das sich in mein Zimmer verirrt, und ich verstehe jedes Wort, das die Lippen dieser Gesichter formen.

Leider.

Meistens sind es keine schönen Worte. Es sind Worte der Trauer, Worte, die so klingen, als wäre ich tot.

Vielleicht bin ich das.

Oder vielmehr: Vielleicht wäre ich besser tot.

„Leben“ kann man das, was ich führe, nicht nennen.

Die Welt liegt zersplittert vor mir, ich sehe durch meine gesprungene Seele alles tausendfach: Tränen, Trauer – und Wut. Die Wut der Menschen, die es mir übel nehmen, was ich getan habe.

Sie glauben, ich wäre egoistisch gewesen und dieser Egoismus sei meiner Seele zum Verhängnis geworden.

Aber die Dinge liegen anders.

Ich habe keinen Fehler gemacht. Ich hatte eine Schwachstelle. Unser Feind vergibt keine Schwächen, er führt alles gegen uns ins Feld, was er kriegen kann.

Unsere Ängste.

Unsere Wünsche.

Und auch das schwache Abbild dessen, was wir als Familie bezeichnen.

***

Europa schloss die Tür hinter sich und zögerte einen Moment, bevor er den Blick dem Bett und damit dem Mann, der in diesem ruhte, zuwandte.

Seit er seinem damaligen Vorsitzenden, Antarktika oder mit welchem Namen er ihn auch immer bezeichnete, den Vorschlag unterbreitet hatte, seine Seele willentlich zu zersplittern, plagten ihn Schuldgefühle. Natürlich wusste er, dass er damals rational gehandelt hatte: Es war der einzige Ausweg! Und es hat funktioniert! Sie hatten sich Zeit im Kampf gegen Vilgot erkauft und eine seiner stärksten Waffen zerstört – nur waren diese Waffen eben dieser Mann.

Zögerlich wandte sich Europa dem Bett zu: Kissen stützten den Kopf des Vorsitzenden, dessen Augen geschlossen waren. Die Ärzte wussten nicht, wie viel er wirklich mitbekam.

Wie sollten sie auch? Niemand, der an einer Zersplitterung litt, war in der Lage, über seinen Zustand zu sprechen, und eine Heilung unmöglich: Wie beim Tod… keine Rückkehr, keine Heilung, keine Berichte… Für viele Magier waren Menschen, die an einer Zersplitterung litten, genau das: tot. Und es gab nicht wenige, die sich dafür aussprachen, diese Menschen zu töten oder „endlich gehen zu lassen.“

Europa hatte sich nie darüber Gedanken gemacht. Er fand die bestehende Regelung gut: Die Menschen wurden gepflegt. Für die Armen gab es ein gesetzliches Mindestmaß, für alle, die sich mehr leisten konnten… Es war wie im wahren Leben auch.

Der Raum war hell. Sonnenlicht fiel durch das Fenster, auch wenn es draußen in Strömen regnete. Die Einrichtung glich der eines teuren Hotelzimmers: Ein Tischchen mit Stühlen, eine Kaffeemaschine, eine Minibar… Sogar einen Nebenraum mit Dusche gab es, die wohl niemals benutzt wurde. Alles erweckte den Eindruck von Normalität, als wäre der Bewohner des Zimmers im Urlaub.

Dabei hat er wahrscheinlich schon ausgecheckt und diese Welt verlassen, dachte Europa traurig und blieb neben dem Kopfende des Bettes stehen.

Die Haut des Präsidenten war fahl und kraterartige Falten durchzogen sein früher so lebendiges Gesicht. Erinnerungen kamen in Europa auf.

Erinnerungen an Antarktika, den Ratsherrn.

Dann, wie er die Gemeinschaft geführt hatte, nachdem der Präsident ermordet worden war.

Sein Kampf gegen Silent, um diesen auf Kurs zu bringen.

Und natürlich das Gespräch in Italien.

Das Gespräch.

Nicht nur mit Antarktika.

Auch mit Vilgot oder Dahl…

Der Moment, in dem Europa erkannte, dass sein Vorsitzender seinen Rat befolgt und sich selbst in einen Zustand versetzt hatte, der ihn in dieses Zimmer gebracht hatte.

Europa seufzte und wandte sich vom Bett ab, um einen Stuhl zu holen. Er stellte diesen neben Antarktika und ließ sich nieder.

Kurz zögerte er, dann griff er nach der Hand des Mannes, dem er vertraut hatte wie kaum einem anderen Menschen.

Für den er alles gegeben hätte, einschließlich seines Lebens.

Die Hand war kalt, schlaff und rau. Europa zuckte bei der ersten Berührung kurz zusammen, dann schloss er die Augen und zwang sich, seine Hand nicht sofort wieder zurückzuziehen.

Daher verpasste er den Moment, als Antarktika seine Augen aufschlug.

***

Sein Gesicht sieht älter aus. Ich kann erkennen, dass ihn Schuldgefühle plagen. Schuldgefühle…

Gefühle, die er nicht haben muss. Zumindest nicht meinetwegen. Er ist schon alt und ich bin mir sicher, er hat in diesem langen Leben sehr viele Dinge getan, auf die er nicht stolz ist. Keiner von uns hat eine reine Weste. Wer sich nicht die Hände schmutzig macht, kommt nicht in unsere Position. Die Kunst besteht darin, so viel Gutes zu tun, dass die Vergangenheit nicht mehr ins Gewicht fällt und verblasst.

***

Europa wusste nicht, wie lange er am Bett seines Vorsitzenden gesessen hatte. Als er die Augen aber aufschlug, hatte sich das Sonnenlicht verflüchtigt und war einem silbrigen, freundlichen Mondschein gewichen. Jemand hatte das Fenster geöffnet und warme, frische Luft strömte in den Raum und vertrieb den unterschwelligen Geruch nach Krankenhaus.

Europa rieb sich die Augen, erinnerte sich daran, wo er war, und sein Blick fiel auf Antarktika: Er hatte seine Augen aufgeschlagen und musterte Europa mit einem intensiven, abwesenden Blick. Feine Risse zogen sich über seine Netzhaut und Europa lief ein Schauer den Rücken hinunter.

„Hallo?“, flüsterte Europa mit der Stimme eines Kindes. „Sind Sie… Bist du da? Kannst du mich hören?“

***

Natürlich kann ich dich hören.

Ich kann euch alle hören.

Das Problem ist nicht das Hören, sondern das Sprechen.

Das Antworten.

Verdammt!

Was würde ich nur dafür geben, wenn ich antworten könnte?

***

Europa ließ den Kopf sinken. Mit hängenden Schultern saß er am Krankenbett und atmete tief durch. Für einen Augenblick hatte er geglaubt, etwas zu erkennen.

Eine Art der Kontaktaufnahme zu spüren.

Aber… Natürlich… Ich meine, was habe ich erwartet?

Er stand auf. Sein Blick suchte in der grauen Dunkelheit die Augen des Vorsitzenden, aber sie waren geschlossen.

„Auf Wiedersehen, alter Freund“, sagte Europa in die Stille und seine Stimme klang wie die eines Fremden.

1

Friedhelm Arnulf betrat das Hotel und durchquerte die Lobby.

An der Rezeption saß eine gelangweilte Frau, die auf das Display ihres Handys starrte und ihrem Kaugummi aggressiv zusetzte: Wahrscheinlich Studentin. Die halten sich alle für was Besseres. Eigentlich sind die der Meinung, alle Welt müsse SIE bedienen. Dabei landen die meisten von denen später auf der Straße oder in der Schule!

Arnulf setzte trotzdem sein Ates-erprobtes Lächeln auf und legte beide Hände auf den Tresen, eine Geste, die Unbeholfenheit suggerieren sollte. „Guten Tag“, sagte er.

Die junge Frau sah von ihrem Smartphone auf und versuchte nicht einmal, ihre Verärgerung wegen der Störung zu verbergen. „Ja?“, fragte sie.

„Ich suche jemanden, der hier arbeitet. Einen alten Freund“, sagte Arnulf.

„Mhmm“, machte die Frau und ihre Augen wanderten verstohlen wieder zu ihrem Handy. Arnulf konnte ihre Finger förmlich zucken sehen: Kaum nimmt man ihnen ihr Spielzeug mal für zwei Sekunden weg, sind sie auf Entzug.

„Ich suche Ivan.“

„Ivan? Kenn ich nicht.“
„Entschuldigung, mein Fehler“, lachte Arnulf. „Er heißt Ivan Popov. So ein großer Kerl mit Lederjacke.“

Der Kiefer der Frau verharrte in seinen Bemühungen, einen Muskelkrampf durch Überanstrengung zu erzeugen: „Kenn ich nicht.“

Arnulf war die Reaktion nicht entgangen: Bingo! Und du kennst ihn doch! Auf jeden Fall!

„Sind Sie sicher? Ich meine, können Sie mal in Ihrem Computer nachgucken? Es arbeiten so viele Menschen hier und er hat mir gesagt, ich solle einfach zur Rezeption kommen. Da würden die freundlichen Damen mir weiterhelfen!“

Die Frau verzog das Gesicht: „Ich kenne den Namen nicht. Außerdem darf ich nicht einfach irgendwelche Namen rausgeben. Datenschutz…“

Arnulf nickte und klopfte mit der rechten Hand auf den Tresen: „Alles klar. Ich möchte Ihnen auch keine Unannehmlichkeiten machen! Nicht, dass Sie wegen mir noch Ärger bekommen.“

2

Er sah hinab auf den Mann, der auf einem steinernen Altar lag. Die langen, blonden Haare umwaberten sein Gesicht, das selbst im Tod nicht friedlich aussah, sondern eine Stärke ausdrückte, vor der der Rat einst erzitterte.

Und noch immer erzittert, dachte Vilgot mit grimmiger Genugtuung.

Bald ist es so weit. Bald sind wir wieder vereint.

3

Lioba Seidel machte pünktlich um 13 Uhr Feierabend. Ihr Kollege, dessen Name sie nicht kannte, weil er sie nicht interessierte, versuchte sie noch in ein Gespräch zu verwickeln, aber darauf hatte sie keine Lust: Schnell nach Hause, duschen, umziehen. Eine Runde in die Bücher gucken und dann in die Uni.

Das Leben als Studentin hatte sie sich anders vorgestellt.

Freier.

Spannender.

In der Realität sah es weniger spektakulär aus: Die Seminare und Vorlesungen waren überfüllt, die Dozenten schlecht und die Mieten so hoch, dass sie ständig arbeiten musste. Der Job im Hotel war ein Glücksgriff und sie nahm sich jeden Tag vor, freundlicher zu den Gästen zu sein, um ihn zu behalten – sie würde so schnell nichts Besseres finden.

Aber das war gar nicht so einfach, bei dem, was von ihr verlangt wurde: Wissenschaftlich arbeiten, Eigeninitiative zeigen und wirtschaftlich unabhängig sein.

Und dann auch noch der Typ, der nach Popov gefragt hatte! Natürlich kannte sie Popov nicht. Also nicht persönlich. Vielmehr war er Teil ihrer Einarbeitung gewesen.

Helena, eine ältere Kollegin, hatte auf einen großen, groben Mann in Lederjacke gewiesen, der nicht so aussah wie die übrigen Gäste.

„Das ist Ivan Popov. Er arbeitet hier im Haus, gehört aber nicht zum Hotel. Er benutzt lediglich den Eingang.“ Sie verdrehte die Augen. „Ich habe gehört, dass er eigentlich einen anderen Eingang benutzen soll... Aber naja… Guck ihn dir mal an…“

„Was macht er denn hier?“

„Keine Ahnung“, hatte Helena geflüstert. „Ich weiß es nicht. Aber… Ich habe mich mal erkundigt, da hat man mir schnell zu verstehen gegeben, dass mich das nichts angeht. Also habe ich nicht weiter nachgefragt.“

Lioba hatte Popov häufig beobachtet, wie er zu den Fahrstühlen ging und stets mit dem gleichen in den Keller fuhr. Zuerst war er immer alleine gekommen, bis vor ein paar Monaten erst ein junger Mann und dann auch noch eine junge Frau bei ihm waren. Zuletzt hatte sie keinen von ihnen mehr gesehen und sich schon gefragt, ob etwas passiert war.

Sie blieb an einer roten Ampel stehen und nutzte die Pause, um sich eine Zigarette zwischen die Lippen zu klemmen.

„Ich dachte, heute raucht keiner mehr“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Sie ignorierte den Kerl: Noch eine Sache, die zur Uni gehört! Typen, die Scheiße reden und glauben, dass du es dann mit ihnen treibst…

„Entschuldigen Sie… Frau Seidel?“

Lioba wandte sich dem Kerl zu – und zuckte zusammen. „Was wollen Sie von mir?“, fragte sie wütend und erschrocken zugleich. Neben ihr stand, dümmlich grinsend, der Kerl, der sich heute Morgen nach Popov erkundigt hatte. War er ihr gefolgt?

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken!“, sagte der Kerl und hob beschwichtigend die Hände.

Lioba schielte zur Ampel, die leider immer noch auf Rot stand. Der Verkehr war zu dieser Zeit so dicht, dass sie nicht einfach losmarschieren konnte, auch wenn das in Köln eigentlich jeder tat: Erstsemester und Touristen erkennt man daran, dass sie an roten Ampeln stehen bleiben…

„Bitte! Wirklich! Ich weiß, dass ich Sie in eine unangenehme Situation gebracht habe.“

„Habe? Angenehm ist es jetzt auch nicht gerade! Oder wie würden Sie es finden, wenn ich Sie verfolgen würde?“ Wahrscheinlich stehst du drauf, krankes Schwein!

„Ich habe Sie nicht verfolgt.“

„Dann ist das Zufall?“

„Nein. Ich habe auf Sie gewartet.“

Liobas Augen weiteten sich: „Ich habe da echt keinen Bock drauf. Ich rufe die Polizei.“ Sie griff in ihre Handtasche und tastete nach dem Handy, als der Kerl sagte: „Ich gebe Ihnen 100 Euro, wenn Sie drei Minuten mit mir sprechen.“ Er hielt zwei Geldscheine hoch.

Sie hielt in der Bewegung inne. „Was?“, fragte sie.

„Ich habe gemerkt, dass Sie meinen Freund kennen. Popov. Aber natürlich dürfen Sie auf der Arbeit nicht einfach was über ihn sagen. Verstehe ich. Deswegen dachte ich, wir unterhalten uns außerhalb der Arbeit über einen hypothetischen Mann mit breiten Schultern, sehr kurzen Haaren – und ob Sie so einem mal begegnet sind.“

Lioba starrte den Mann an. Der seufzte und zog zwei weitere Fünfziger hervor. Er hielt sie ihr hin: „Drei Minuten. Und am Ende noch mal 100, wenn Sie mir wirklich helfen konnten.“

***

Arnulf saß in der Straßenbahn und fuhr in Richtung Innenstadt. Während er aus dem Fenster starrte, versuchte er herauszufinden, ob er mit den Informationen, die er sich teuer erkauft hatte, zufrieden sein konnte.

Die Studentin hatte zugegeben, dass sie Popov kannte, dass er regelmäßig das Foyer des Hotels durchschritten und den Aufzug benutzt hatte, aber ansonsten absolut nichts – NICHTS – was mit dem Hotel zu tun hatte. Er benutzte verbotenerweise nur den Eingang.

Und jetzt kommt er nicht mehr. Natürlich nicht. Weil er zwei Menschen umgebracht hat, muss er untertauchen. Aber warum? Wenn Europa und Huker hinter ihm stehen, muss er sich doch eigentlich keine Sorgen machen, oder? Dann wird er von oberster Stelle gedeckt! Ist sein Verschwinden nicht eher etwas, das Fragen aufwirft?

Außer natürlich, er erträgt den Gedanken nicht mehr, Kern zu unterrichten – weil er dessen besten Freund umgebracht hat.

Das wiederum ist natürlich interessant, sinnierte er. Dann stecken Popov und Kern nicht unter einer Decke, denn sonst wäre es für Popov kein Problem, den jungen Kern zu unterrichten…

Arnulf war klar, dass er nicht in die Räumlichkeiten von Popov gelangen würde: Er wird das alles magisch abgesichert haben. Keine Chance, da reinzukommen, auf keinen Fall! Und wenn ich mich zu oft beim Hotel rumtreibe, holen die die Polizei! Zumindest, wenn sie ihren Job gut und richtig machen, und davon muss ich erst mal ausgehen – leider.

Er seufzte und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe: Er wusste, was zu tun war.

Nur die Reihenfolge stand noch nicht fest.

4

Armin freute sich darauf, nach Hause zu kommen - eine gänzlich neue Erfahrung. Zuhause, das war die letzten Jahre meist ein Ort gewesen, an dem er sich vergrub oder mit Yusuf traf.

Yusuf.

Es tat noch immer weh. Armin ertrug den Gedanken an seinen besten Freund nicht und schob ihn schnell beiseite. Um sich abzulenken, holte er sein Handy aus der Hosentasche und überprüfte seine Mails.

Natürlich hatte er keine bekommen, abgesehen von Spamnachrichten und Hinweisen auf neue Lieferdienste in seiner Umgebung.

Er stopfte das Handy zurück in die Hosentasche und dachte über seine derzeitige Arbeit nach: Offiziell war er noch immer damit beschäftigt, die Trägerin des Manifestes zu finden. Europa hatte darauf verzichtet, ihn mit anderen Aufgaben zu betrauen, worüber Armin zu Beginn sehr froh gewesen war. Nach Yusufs Tod fühlte er sich oft leer und erschöpft. Der Gedanke, Leistung zu bringen oder Bestandteil eines Teams zu sein, das sich auf ihn verließ, löste Stress in ihm aus. Inzwischen allerdings machte er sich ernsthafte Sorgen, wie lange er noch erfolgreich vorspielen konnte, wirklich zu arbeiten.

Ich mache den ganzen Tag nichts anderes als Däumchen drehen.

Morgens fuhr er meist ins Büro und surfte ein wenig im Internet. Mittags aß er alleine etwas in der Kantine und fuhr anschließend in die Bibliothek, um ein wenig zu recherchieren.

Dabei musste er immer aufpassen, Nehir nicht über den Weg zu laufen.

Nehir.

Yusufs Schwester, in die er eigentlich ein bisschen verknallt gewesen war. Aber das kurze Aufflackern von Gefühlen war schnell vorbei gewesen, denn Armin sah sich außerstande, Nehir in die Augen zu blicken, geschweige denn mit ihr zu reden: Ich darf ihr nicht die Wahrheit darüber sagen, was in der Heide passiert ist. Was genau dort geschehen war, wusste er natürlich auch nicht. Aber zumindest wusste er sicher, dass Yusuf kein Verräter war, der einen treuen Ratsherrn erschlagen hatte, wie alle Welt glaubte.

Zwischenzeitlich hatte er die Kantine und Bibliothek sogar komplett gemieden, aus Angst, Nehir zu begegnen. Dann aber hatte ihn die schlichte Langeweile dazu getrieben, diese Orte wieder aufzusuchen.

Inzwischen würde er sich sogar darüber freuen, wieder bei Popov im Unterricht zu sitzen, doch den hatte Europa zunächst auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. „Sie müssen sich erholen“, hatte er gesagt und Armin war – zunächst – froh gewesen, den Freak los zu sein.

Aber jetzt?

Jetzt würde er gerne vor dem riesigen Kerl im Keller auf einer Wiese sitzen und atmen.

5

Koki Ito betrat das kleine Büro, in das Scarlett Taylor ihn bestellt hatte. In ihrer eigenen, reizenden Art, dachte er ohne ironischen Unterton. Er stand auf die schöne, seltsame Frau, allerdings war er sich nicht sicher, ob sie ihn ebenfalls attraktiv fand.

Oder ob sie überhaupt auf Männer steht. Oder generell Menschen. Sie ist schon relativ abweisend. Wobei relativ abweisend ein echter Fortschritt wäre…

Taylor saß hinter ihrem Schreibtisch und starrte konzentriert auf den Bildschirm. Als es an der Tür klopfte, rief sie automatisch „Herein!“, erhob gleichzeitig aber auch drohend den Zeigefinger, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Es entzog sich ihrer Kenntnis, warum sie ihre Arbeit unterbrechen sollte, nur weil jemand in ihr Büro kam. Sie fand es unhöflich, dass so was von ihr erwartet wurde.

Ito betrachtete den Finger, der in die Luft piekste, unterdrückte ein Lächeln und nahm schon mal auf dem Besucherstuhl Platz.

„So“, sagte Taylor schließlich und wandte sich ihrem Besucher zu. „Wir müssen unsere Strategie koordinieren.“

„Ich glaube, die Strategie ist nicht das Problem.“ Ito verkniff sich die Begrüßungsfloskeln. Er kannte Taylor inzwischen so gut, dass er wusste, wie wenig sie davon hielt.

„Ist es nicht?“ Taylor lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Was ist denn unsere Strategie?“
„Die Leiche finden, sie zerstören und Dahl ordentlich in den Arsch treten.“

Taylor verzog das Gesicht: „Das ist das Ziel.“

„Nein. Das Ziel ist es, Dahl in den Arsch zu treten. Die Leiche zu finden und zu zerstören, das ist die Strategie, um dieses Ziel zu erreichen.“

Taylor dachte darüber nach, dann nickte sie: „Allerdings sehr grob formuliert. Wie sollen wir die Leiche finden?“

Ito nickte: „Das ist ein Problem, da stimme ich Ihnen zu.“

Taylor lächelte und Ito spürte, wie ihm warm ums Herz wurde: Auch wenn er ein harter Kerl war – er war auch Romantiker. Diese weiche Seite versteckte er sorgfältig.

Natürlich.

„Ich habe mir ein paar Gedanken gemacht, die über Suchen, Finden und Zerstören hinausgehen“, erklärte Taylor den Grund für ihr Lächeln. Sie freute sich tatsächlich über ihren Einfall, würde sie doch auf diese Weise direkt mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen – und sie liebte Effizienz.

„Dann bin ich mal gespannt. Was machen wir als Erstes?“, fragte Ito und beugte sich vor.

„Als Erstes“, begann Taylor, „werden wir uns trennen.“

Ito stutzte: „Also, das kommt jetzt etwas unerwartet. Ich dachte, wir würden in diesem Fall zusammenarbeiten. Europas Anweisungen waren doch eindeutig: Wir sollen die Leiche finden! Wir!“

„Ja. Das hat Europa gesagt. Aber eigentlich war das nur die Hälfte des Auftrags.“

„Und sie dann zerstören, ich weiß!“ Ito konnte nicht verhindern, etwas genervt zu klingen. Worauf wollte Taylor hinaus?

„Also eigentlich sollen wir die Leiche nicht zerstören. Das werden Europa und Huker wahrscheinlich persönlich erledigen.“

Ito seufzte: „Taylor, worauf wollen Sie hinaus? Bitte, spuken Sie es einfach aus!“

„Ich fand dieses Sprichwort schon immer eklig, Sie nicht?“

Ito starrte sie an: Da fällt dir doch nichts drauf ein!

„Anscheinend nicht“, stellte Taylor überrascht fest. „Naja, macht auch nichts. Worauf ich hinaus will, ohne hier irgendwas auszuspucken, ist, dass Europa sagte, wir sollen die Leiche finden, sofern es eine Leiche gibt, die sich finden lassen würde.“

Ito warf die Hände in die Luft: „Das habe ich doch gesagt!“

„Nein! Sie haben einen wichtigen Aspekt vergessen: Falls es eine Leiche überhaupt gibt!

„Wir drehen uns im Kreis.“
„Wieder so ein Sprichwort!“

„Taylor!“

Taylor lupfte irritiert die Augenbrauen: „Also, mein Plan ist folgender: Sie versuchen zu beweisen, dass es keine Leiche gibt, und ich, dass es eine gibt.“

Ito starrte sie an: „Jetzt wirklich?“

„Natürlich: Wenn Ihre Untersuchungen erfolgreich sind, kann ich meine einstellen. Umgekehrt natürlich auch. Ich denke, auf diese Weise nähern wir uns dem Gegenstand, also der Leiche, von zwei Seiten. Und wir nehmen Europas Auftrag ganzheitlich wahr.“

Ito seufzte: Taylors Plan war logisch. Er war gut. Es gab kein Argument, das er vorbringen konnte.

„Also geht jeder seiner Wege?“

„Das ist wieder so ein Sprichwort. Sie haben ein Faible dafür, oder?“ Taylor sah, dass Ito sich aufregte, und sie musste sich eingestehen, dass es ihr gefiel, ihn wütend zu machen. Es bereitete ihr eine diebische Freude und machte ihr ein gutes Gefühl. Naiv fuhr sie fort: „Allerdings ist dieses Sprichwort passender als die anderen, wenn auch etwas irreführend.“

„Inwiefern?“, fragte Ito resigniert.

„Naja: Wir werden wohl den gleichen Weg gehen, aber auf unterschiedlichen Straßenseiten.“

„Was?“

„Der erste Schritt für Sie und für mich wird es sein, mehr über die Verschwörungstheorien herauszubekommen. Außerdem müssen wir natürlich auch mit der Witwe nochmal sprechen und uns die Heide ansehen. Sie werden das alles unter der Maßgabe gestalten, beweisen zu wollen, dass an diesen Theorien nichts dran ist – und ich das genaue Gegenteil. Der gleiche Weg, nur unterschiedliche Straßenseiten.“ Taylor verdrehte die Augen. „Sie stehen doch auf Bilder und Metaphern.“

Ein Lächeln breitete sich auf Itos Gesicht aus, als er verstand, worauf das hinauslief: Gemeinsame Zeit mit Taylor.

Diese wunderte sich indes nur, warum Ito sich so über das Bild mit den Straßenseiten freuen konnte: Männer…

6

Der erste gemeinsame Schritt auf unterschiedlichen Straßenseiten führte Taylor und Ito zu Gertrud Frigus, der Witwe des ermordeten Linhart Frigus. Sein Mörder hatte ihm den Kopf von den Schultern getrennt und anschließend den Körper in einen matschigen Klumpen verwandelt. Inzwischen wussten Ito und Taylor, dass es sich bei dem Mörder um Nordamerika handelte, der wiederum kurze Zeit später von Yusuf Ates an der gleichen Stelle in der Heide erschlagen worden war. Ates hatte sich anschließend selbst mit einem Schwert umgebracht. Taylor konnte es noch immer nicht fassen, dass Ates dergleichen getan hatte, andererseits waren die offiziellen Untersuchungen genau zu diesem Schluss gekommen und sie vertraute Huker, weil Europa es tat.

Ito hatte ihren Besuch telefonisch angekündigt und so war im Wohnzimmer der Tisch mit Kaffee und Plätzchen gedeckt. Frigus wirkte etwas gefasster als bei ihrem ersten Besuch, wie Taylor fand, allerdings war sie sich sicher, dass es unter der Oberfläche in Wahrheit anders aussah: Die Menschen wenden sehr viel Energie und Mühe auf, um ihre Gefühle zu verbergen.

Während der Autofahrt hatte sie sich mit Ito darauf verständigt, dass er die Befragung durchführen sollte, da er einen guten Draht zu der Witwe hatte.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte Ito, während Frau Frigus ihnen Kaffee einschenkte.

„Naja. Wie soll es mir gehen?“ Frigus lächelte schwach. „Die Zeit heilt alle Wunden. So sagt man doch, oder?“
„Ich finde manche Sprichwörter ehrlich gesagt ziemlich unpassend und bescheuert“, erwiderte Ito und warf Taylor einen kurzen Blick zu, der dieser nicht entging.

„Ja…“, sagte Frigus und schüttete sich ebenfalls Kaffee ein.

„Der Tod eines geliebten Menschen ist nichts, was sich einfach gibt. Ich glaube… Ich glaube, Zeit heilt keine Wunden, sondern wir lernen einfach jeden Tag mehr, mit der neuen Situation besser umzugehen. Dieses besser bedeutet aber nicht, dass es uns damit wirklich besser geht.“

Frigus sah Ito an: „Haben Sie auch jemanden verloren?“

Ito trank einen Schluck Kaffee, zögerte kurz, dann sagte er: „In meinem Beruf habe ich viel mit dem Tod zu tun. Die meisten Menschen sind mit diesem Thema überfordert. Emotional, aber auch rein pragmatisch: Die gesamte Lebensroutine wird auf den Kopf gestellt, Gewohnheiten brechen weg und dadurch entstehen Löcher. Dabei spielt es noch nicht mal eine Rolle, ob es gute oder schlechte Gewohnheiten waren – sie fehlen einfach! Deswegen glaube ich, wir kriegen diese pragmatische Ebene mit der Zeit immer besser hin: Wir lernen kochen, Wäsche waschen, so was halt. Aber emotional?“ Er legte sich eine Hand aufs Herz. „Das ist etwas anderes. Etwas vollkommen anderes.“

Taylor betrachtete Ito. Er hat die eigentliche Frage nicht wirklich beantwortet, dachte sie. Er hat die Frage auf seinen Beruf bezogen, aber eigentlich war es eine private Frage…

„Ich glaube, Sie haben Recht…“, sagte Frigus. Ihre Augen wurden glasig. „Er fehlt mir… Noch immer.“

Ito nickte, schwieg aber.

Frigus starrte auf ihre Tasse, atmete tief durch und fragte schließlich: „Also, was kann ich für Sie tun?“

„Wir würden uns gerne nochmal im Arbeitszimmer Ihres Mannes umsehen, wenn das geht“, antwortete Ito. Natürlich war das nur ein Vorwand.

„Das haben Sie doch schon“, entgegnete Frigus überrascht.

„Das stimmt. Wir verfolgen aber eine neue Ermittlungslinie und in diesem Zusammenhang müssen wir alle Fakten nochmal prüfen.“

Frigus Augen weiteten sich: „Haben Sie einen Verdacht?“

„Verdacht ist zu viel“, sagte Ito. „Meine Kollegin hier ist der Meinung, der Mord an Ihrem Mann könnte mit seinen Nachforschungen zu tun haben.“
Frigus wandte sich an Taylor: „Ist das Ihr Ernst? Was haben diese blöden Verschwörungstheorien denn mit dem Tod meines Mannes zu tun? Reicht es nicht, dass mir die Gerüchte schon die Söhne genommen haben?“

Eigentlich sind die nur ausgewandert und nicht gestorben, dachte Taylor, entgegnete aber: „Wir müssen jede Spur verfolgen. Ich hoffe sehr, wir dürfen die Sachen Ihres Mannes noch mal durchsehen.“

„Sie haben Glück“, murmelte Frigus. „Ich wollte die Sachen alle schon wegschmeißen. Ich will sie nicht mehr sehen. Aber mein Sohn… Er kommt nächste Woche und ich dachte, vielleicht möchte er etwas davon haben.“

„Nächste Woche? Entschuldigen Sie bitte die Frage, aber die Beerdigung Ihres Mannes war bereits, oder?“

„Ja…“ seufzte Frigus niedergeschlagen. „Seine Firma… Die haben darauf bestanden, dass er ein Geschäft abschließt. Ist das nicht furchtbar? Die zwingen einen jungen Mann, der Beerdigung seines Vaters fernzubleiben!“

Ito kniff kurz die Augen zusammen. Das ist interessant, dachte er und nahm sich vor, diesen Faden zu späterer Zeit aufzunehmen. Er warf Taylor einen Blick zu – auch sie hatte sich eine innere Notiz gemacht.

7

Arnulf stellte den Wagen unweit von Popovs Haus ab: Er war in den vergangenen Tagen oft an dem alten, freistehenden Gebäude vorbeigefahren und hatte sich jedes Mal über den verwilderten Garten geärgert.

Sein Unmut über die fehlende Gartenpflege hatte Arnulf nicht daran gehindert festzustellen, dass Popov seinen Briefkasten seit geraumer Zeit nicht mehr geleert hatte, denn er quoll inzwischen über.

Arnulf warf einen Blick auf seine Uhr – es war kurz nach 4. Die Menschen kamen langsam von der Arbeit nach Hause. Er zögerte kurz, dann stieg er aus dem Wagen und ging zum Kofferraum.

Während er sich der Haustür zu Popovs Domizil näherte, versuchte er sich zu beruhigen: Er ist bestimmt nicht zuhause.

Zumindest hoffte er das inständig.

Alles sprach dafür, dass Popov untergetaucht war und sich nicht in seinem Haus versteckte, ohne mal den Briefkasten zu leeren.

Aber trotzdem – was, wenn doch?

Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Kerns ehemaliger Lehrer doch zuhause war, würde er ihm das Paket in die Hand drücken, dass er extra für diesen Zweck gekauft, mit Erde befüllt und beschriftet hatte. Sogar einen entsprechenden Poststempel hatte er sich im Internet besorgt: Und dann muss ich zusehen, dass ich so schnell wie möglich abhaue. Und ich sollte Popov dann nicht mehr unter die Augen kommen. Außer natürlich, wenn ich ihn verhafte. Für den Mord an Yusuf Ates und Nordamerika!

Obwohl er sich mit solch grimmigen Gedanken versuchte aufzupeitschen, fühlte er sich überhaupt nicht mutig, als er vor der Haustür stand und auf den Klingelknopf drückte.

Überhaupt nicht mutig.

Also so gar nicht.

Der Klang der Klingel ließ ihn zusammenzucken. Es war das abgehackte, scharfkantige Geräusch, das man aus alten Filmen oder aktuellen Satiren kannte: Passt zu einem Mann wie Popov…

Arnulf warf erneut einen Blick auf seine Uhr und wartete.

Nach einer Minute klingelte er wieder.

Nach weiteren drei Minuten nochmal, diesmal schon sehr viel mutiger.

Er sah sich um, ob er einen neugierigen Nachbarn entdecken konnte, der ihn beobachtete, dann widmete er sich dem Türschloss.

Es war überraschend modern, aber kein Problem. Arnulf war sehr stolz auf seine Fähigkeiten, was das Knacken von Türschlössern betraf, und hielt sich fit, indem er gezielte Übungen durchführte, von denen sein Chef besser nichts erfuhr.

Es dauerte folglich nicht lange und er ließ sich selbst in Popovs Haus ein.

***

Ein Piepen erklang in Hukers Ohr und er schaltete es aus, indem er sich auf dasselbige drückte. Er schloss die Augen und betrachtete die Szenerie, die sich vor seinem Inneren abspielte.

***

Arnulf betrat den Flur und schloss eilig die Tür hinter sich. Erst nachdem er sich sicher war, dass er nicht mehr von der Straße aus beobachtet werden konnte, widmete er seine Aufmerksamkeit dem Raum, der vor ihm lag – und zuckte erneut zusammen.

Der Flur war leer.

Oder besser: Er war verlassen.

Es gab keine Möbel, keine Schuhe oder Garderobe.

Nichts: Absolut ausgeweidet…

***

Huker beobachtete, wie der Mann, den er inzwischen als Friedhelm Arnulf identifiziert hatte, langsam durch das Haus ging, in dem früher Popov gelebt hatte.

Was willst du da?, fragte sich Huker und war froh, dass Europa so weitsichtig gewesen war, ihn anzuweisen, Popovs Haus unauffällig räumen zu lassen.

Tatsächlich haben wir das erst vergangene Nacht erledigt. Gut, dass wir nicht noch einen Tag länger gewartet haben.

Europa war zu Huker ins Büro gekommen und hatte ihm erklärt, Popov habe das Land verlassen. Huker hatte das nicht gewundert, ging es hier doch immerhin um zweifachen Mord – von der Kleinigkeit abgesehen, dass einer der Toten Nordamerika war, den die Öffentlichkeit für den loyalen Stellvertreter des Präsidenten hielt, der allerdings in Wahrheit ein treuer Gefolgsmann von Vilgot war, der auf diese Weise die Kontrolle über den Präsidenten erlangt hatte.

Wenn rauskommt, dass Popov Nordamerika umgebracht hat… Eigentlich gibt es keine Todesstrafe mehr, aber in dem Fall würden alle seinen Kopf fordern!

Für Huker war Popov ein Held, wenn auch ein tragischer. Er hatte Nordamerika erschlagen und damit ihrer gemeinsamen Sache einen großen Dienst erwiesen, ohne auf sein eigenes Ansehen oder Schicksal Rücksicht zu nehmen. Tragisch aber war, dass er Ates ebenfalls umgebracht hatte, wenn auch nicht absichtlich, sondern weil der ihn angegriffen hatte.

Das passiert… Warum war Ates überhaupt da?

Diese Frage stellte Huker sich dauernd, fand aber keine Antwort.

„Du musst sein Haus räumen“, hatte Europa Huker damals angewiesen und er hatte genickt. Die Auflösung des Hauses war eine sensible Angelegenheit gewesen und sie hatten vorsichtig vorgehen müssen.

Und jetzt ist da unser menschlicher Kontakt, der in das Haus eines unserer Männer einbricht und durchwühlt – wenn er was zum Durchwühlen finden würde. Ich muss mit Europa darüber sprechen. Und zwar dringend.

8

Huker betrat das Büro, das im obersten Geschoss eines schicken Gebäudes lag.

„Herr Huker, schön, Sie zu sehen“, begrüßte Edgar Port seinen Gast.

Die beiden Männer schüttelten einander die Hände, dann setzten sie sich in schwere Ledersessel. Auf dem Tischchen aus schwarzem Holz, das zwischen ihnen stand, wartete bereits eine Kanne Kaffee und zwei Tassen.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte Port. Er war Mitte Fünfzig, rasierte sich die Reste seiner grauen Haare jeden Morgen ordentlich ab und achtete auch bei seiner Kleidung sehr darauf, gepflegt und korrekt aufzutreten. Huker mochte ihn, auch wenn er nur an wenigen Stellen mit ihm zu tun hatte. Freundlich antwortete er: „Es geht um Popovs Geschäftsräume.“

„Ja. Was ist mit denen?“ Port verwaltete die Räumlichkeiten der magischen Gemeinschaft in Köln.

„Ich hatte ja bereits angedeutet, dass Herr Popov uns vielleicht verlassen und sich verändern wird.“ Huker zuckte mit den Schultern. „Offensichtlich ging nun alles sehr viel schneller, als gedacht.“

„Das ist wirklich sehr schade. Herr Popov war ein freundlicher und umgänglicher Mensch.“

Huker runzelte kurz die Stirn: Er bezweifelte sehr, dass ein Mann wie Edgar Port sich mit jemandem wie Ivan Popov abgab. Trotzdem sagte er: „Ja, das stimmt… Naja. Ich würde Sie bitten, die Büroräume so schnell wie möglich räumen zu lassen. Wir werden über die alternative Nutzung zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden.“
Ports Augenbrauen trotzten der Schwerkraft und wanderten erstaunt nach oben: „Räumen? Gibt es vielleicht nicht jemanden, der seine Arbeit fortführen könnte?“ Er räusperte sich entschuldigend: „Ich möchte mich nicht in Angelegenheiten einmischen, die außerhalb meiner Zuständigkeit liegen, aber das Arrangement für Herrn Popov war recht aufwendig. Und die Installation teuer.“

„Ebenso wie der Unterhalt. Wir alle müssen sparen und wir hoffen, dass Herr Popovs Nachfolger, so wir einen gefunden haben, bescheidenere Ansprüche stellen wird als sein Vorgänger.“

Port wollte etwas erwidern, aber Huker schnitt ihm das Wort ab, bevor er es ergreifen konnte: „Mehr möchte ich dazu nicht mehr sagen.“

Port schluckte die Formulierung runter, die fast seinen Mund verlassen hätte und nickte.

„Dann wäre da noch was“, fuhr Huker fort. „Es ist eine etwas… Es ist etwas schwierig und ich möchte Sie bitten, das, wonach ich Sie nun fragen werde, absolut diskret zu behandeln. Am liebsten wäre es mir, Sie würden meine Frage vergessen, nachdem wir die Angelegenheit besprochen haben.“

Port nickte.

„Also“, setzte Huker an. „Hat sich in den vergangenen Tagen oder Wochen jemand im Hotel nach Herrn Popov erkundigt?“

Port zuckte mit den Schultern: „Ich… Ich weiß nicht.“

Huker sah den Mann durchdringend an.

„Ich kann Ihnen das nicht beantworten. Ich bin ja nicht die ganze Zeit vor Ort!“ Jeder andere wäre von Hukers Frage genervt gewesen. Nicht Port. Deswegen hatte Huker sie überhaupt gestellt. Er konnte dem Mann ansehen, dass ihm die Tatsache, seinem Vorgesetzten gegenüber eine zufriedenstellende Antwort schuldig bleiben zu müssen, körperlich unangenehm war.

„Ich…“, haspelte Port. Dann schloss er die Augen und dachte nach. Schließlich nickte er. „Ich könnte das überprüfen. Ich müsste dafür natürlich mit jemandem sprechen. Jemandem von der Sicherheit. Was soll ich sagen, warum ich mich nach Popov erkundige?“

„Sagen Sie, jemand habe sich anonym über Popov beschwert. In einer Art und Weise, die wir nicht gutheißen können.“ Huker lächelte schwach. „Ihr Mann wird denken, Sie wären ein Chef, der sich um seine Leute kümmert. Und gleichzeitig kann sich jeder vorstellen, dass Popov jemanden auf die Füße getreten ist und es dabei Ärger gegeben hat.“

9

Huker klopfte an Europas Bürotür und wartete.

„Komm ruhig rein, Lothar!“, rief der von innen.

Huker lächelte, dann betrat er Europas Büro.

Sein Freund saß hinterm Schreibtisch und las gerade eine dicke Akte, die er mit einem Gesichtsausdruck beiseiteschob, den man nur erleichtert nennen konnte.

„Schön, dich zu sehen“, sagte Europa und deutete auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch.

„Ebenso.“ Huker nahm Platz. Die beiden Männer schwiegen kurz, dann fragte Europa: „Und wie kann ich dir helfen?“

„Ich habe dir doch gesagt, dass der menschliche Kontakt, dieser Friedhelm Arnulf, in Popovs Haus war, oder?“

„Ja, ich erinnere mich.“

„Ich habe Port angewiesen, Popovs Geschäftsräume aufzulösen.“ Huker grinste. „Das fand er nicht so toll, aber ich denke, dieser Schritt war unumgänglich. Nicht, dass Arnulf sich auch noch da unten hin verirrt.“

Europa nickte, schwieg aber.

„Ich habe Port gefragt, ob sich jemand nach Popov erkundigt hat. Er wusste es natürlich nicht, hat aber alle Hebel in Bewegung gesetzt, um etwas rauszufinden.“

„Das war klar“, sagte Europa.

„Ja… Die Eingangshalle wird magisch überwacht. Port hat das Material dahingehend filtern lassen, ob irgendwo das Wort Popov ausgesprochen wurde. Und dabei gab es einen Treffer.“

Europas Miene verdüsterte sich: „Sag mir jetzt bitte nicht, Arnulf war im Hotel.“

„Doch“, sagte Huker ebenso düster. „War er. Er hat mit einer Angestellten gesprochen, die sich aber geweigert hat, etwas zu sagen.“ Er seufzte: „Port hat mir ihren Namen gegeben und ich habe das Mädchen aufgesucht: Eine Studentin.“ Er schüttelte den Kopf. „Es hat etwas gedauert, aber schließlich hat sie zugegeben, Arnulf erzählt zu haben, dass Popov im Keller unter dem Hotel arbeitet. Und, dass er schon eine ganze Weile nicht mehr dort aufgetaucht ist.“

Europa schloss kurz die Augen und massierte seine Schläfen: „Das ist nicht gut.“

„Nein. Ist es nicht.“

Europa überlegte, wie alles für Arnulf aussehen musste: Er wusste, dass Popov aus seinem Haus verschwunden war und nicht mehr zur Arbeit ging. Er wusste aber nicht, warum! Oder, dass er tot war.

Das wusste noch nicht einmal Lothar und dabei musste es bleiben, solange es ging. Europa hatte einen Mord begangen. Es tat ihm leid um Popov, aber sein Tod war unvermeidlich gewesen. Er hatte seinen Frieden damit gemacht, wollte aber nicht seinen besten Freund mit in die Sache hineinziehen.

„Warum ist der Kerl hinter Popov her? Was will er von ihm?“, fragte Huker.

„Das ist die zentrale Frage, auf die ich aber leider keine Antwort habe“, sagte Europa ruhig. „Wir müssen sie aber möglichst schnell beantworten. Ansonsten könnte er sich zu einem echten Problem entwickeln.“

Huker nickte: „Wenn Arnulf rausfindet, was Popov getan hat…“

„Ganz genau. Er ist ein Mensch. Er untersteht nicht unserem Kommando.“ Europa lachte bitter: „Wenn er rausfindet, was Popov getan hat, wird er zwei und zwei zusammenzählen und zu dem Schluss kommen, dass wir mit ihm zusammengearbeitet haben.“

Huker nickte.

„Und er wird noch etwas glauben“, sagte Europa leise. „Er wird glauben, wir würden zu Vilgot gehören, weil wir erst für den Tod von Nordamerika und dann für das Ausscheiden des Präsidenten gesorgt haben! Er wird glauben, wir würden uns an die Macht putschen und dafür auch mit Vilgot paktieren!“

Huker riss entsetzt die Augen auf – so weit hatte er noch nicht gedacht: „Das müssen wir verhindern! Aber… Wie?“

„Als Erstes überwachen wir ihn. Sorg dafür, dass immer jemand an ihm dran ist.“

„Kann das nicht Ito machen?“

„Nein. Der ist zu schlau. Er wird wittern, dass was faul an der Sache ist, und ich kann nicht einschätzen, was Ito macht, wenn er von Popovs… Verwicklungen in Ates Tod erfährt.“

„Gut. Ich werde jemanden aus der dritten Reihe damit beauftragen.“

Europa nickte. Dann fiel ihm etwas anderes ein: „Hast du Kern und Ates informiert?“

Huker schüttelte den Kopf: „Das mache ich gleich.“

Europa wusste, wie wenig Lust Lothar auf Kern hatte: „Gib dem Jungen eine Chance. Wir brauchen ihn.“

Huker seufzte: „Genau das ist mein Problem mit ihm: Wir sind abhängig von einem impulsiven Burschen ohne Plan…“

***

In seinem Büro zögerte Huker noch einen Augenblick, ehe er auf „Senden“ klickte. Die Mail hatte er schon seit geraumer Zeit vorbereitet, es aber immer aufgeschoben, sie abzuschicken.

Naja… Man kann es nicht ewig rauszögern…

Seine Gedanken kehrten zu dem Menschen zurück. Konnte es wirklich so weit kommen, dass jemand glaubte, Europa und er hätten etwas mit Vilgot zu tun? Huker hätte gerne gesagt, dass das Blödsinn wäre, aber die Zeiten waren nicht normal. Alle hatten Angst, alle waren verunsichert…

Nein, es kann durchaus passieren, dass Leute das missverstehen. Und dann… Dann sind wir tot.

***

Als Armin die Mail las, wusste er, dass er schnell handeln musste: Das ertrage ich nicht, dachte er und wählte eilig eine Nummer.

„Ja? Entschuldigung wegen der Störung. Ich muss dringend mit Ihnen sprechen.“

10

Armin saß Huker gegenüber und musterte den Mann, von dem er wusste, dass er wohl nie sein Fan werden würde.

Hukers Miene war finster – es war also alles wie immer.

„Also?“, fragte Huker nur.

Armin rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er wusste nicht, wie er das Thema am geschicktesten anschneiden sollte, denn ehrlich gesagt gab es keine elegante Variante. Andererseits konnte er in Hukers Ansehen kaum noch weiter sinken. Worum machte er sich also Gedanken?
„Es geht um den Unterricht.“

„Was ist damit? Die erste Stunde ist erst morgen. Zumindest soweit ich informiert bin und als Ihr Lehrer habe ich wohl den besten Überblick.“

Armin nickte eifrig: „Ja, genau! Morgen!“

Der Unterricht war ein riesiges Problem für Armin. Aber nicht, weil Huker sein Lehrer war. Nach Popov und der ganzen Atmerei erhoffte er sich endlich etwas Handfestes. Es war vielmehr die Tatsache, dass er nicht der einzige Schüler sein würde. „Es geht nicht um den Termin“, sagte er daher vorsichtig.

„Worum dann?“ Huker runzelte verärgert die Stirn. „Herr Kern. Sie wissen, wir haben im Moment sehr viel zu tun. Durch den Tod Nordamerikas und die tragischen Ereignisse rund um den Präsidenten ist Europa in seiner Rolle als Ratsherr überregional stark gefordert – und ich muss hier die Stellung halten. Also bitte, tun Sie uns beiden einen Gefallen und kommen endlich zum Punkt. Wenn Sie nicht in der Lage sind, Ihr Anliegen zu formulieren, empfehle ich Ihnen zwei Dinge: Schreiben Sie einen Brief und besuchen Sie einen Deutschkurs. Am besten fangen Sie mit dem Kurs an.“

Armin schluckte: „Ich möchte nicht zusammen mit Nehir Ates unterrichtet werden.“

Jetzt ist die Katze aus dem Sack.

Huker lupfte die rechte Augenbraue: „Und darf ich fragen, warum Sie sich das so sehr wünschen, dass Sie mich damit persönlich zu behelligen wagen?“

Wagen – das ist nicht gut. Armin riss sich zusammen: „Nehir und ich verstehen uns eigentlich gut. Zumindest in letzter Zeit.“

„Das ist doch was ganz Wundervolles.“

Purer Sarkasmus.

„Ja, natürlich. Aber… Sie möchte immer über Yusufs Tod reden und ich… Sehen Sie…“ Armin fiel es schwer, über sein Anliegen mit diesem feindseligen Mann zu sprechen. Unsicher fuhr er fort: „Nehir weiß nicht alles, was passiert ist. Sie weiß nicht, was mit Nordamerika los war. Natürlich glaubt sie nicht, dass Yusuf zu Vilgot gehört hat und…“

„Und?“
„Sie stellt dauernd Fragen und bedrängt mich. Will, dass wir… Spuren suchen, den Namen ihres Bruders wieder reinwaschen.“ In Armins Ohren klangen diese Worte lächerlich, aber genau so hatte Nehir es formuliert.

„Ich verstehe noch nicht, wo jetzt der Unterricht ins Spiel kommt.“

Armin seufzte: „Ich versuche Nehir aus dem Weg zu gehen. So gut es irgendwie geht. Aber es ist nicht leicht. Wenn ich aber zweimal die Woche mit ihr zu Ihnen komme… Ich…“ Armin schloss die Augen, kämpfte mit seinen Gefühlen und Tränen. „Es macht mich selbst fertig, wenn ich daran denke, dass wir nicht die Wahrheit über Yusuf sagen dürfen. Dass wir so tun müssen, als wäre er ein Verräter. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Nehir auf Dauer standhalte.“

„Sie trauen sich selbst nicht?“

„Nein!“ Darüber musste Armin nicht lange nachdenken.

Lothar Huker betrachtete den jungen Mann, der wie ein Häufchen Elend vor ihm saß. Ihm war klar, dass dieses Gespräch für Kern ein Angang war – und das war gut so. Er konnte den Kerl nicht wirklich leiden, er hielt sich nicht an Befehle, machte dauernd sein eigenes Ding und…

Aber jetzt handelte er, so absurd es vielleicht klang, das erste Mal wirklich vernünftig: Kern nahm ein unangenehmes Gespräch auf sich, um das Richtige zu tun – Nehir Ates die Wahrheit über ihren Bruder vorzuenthalten. Oder vielmehr das, was wir allen Eingeweihten als Wahrheit verkaufen. Das, was wirklich geschehen ist, darf niemand erfahren. Niemals!

„Ich werde darüber nachdenken“, sagte er und schaute eine Spur weniger aggressiv, was Armin aber gar nicht auffiel. „Ich schreibe Ihnen eine Mail. Ich denke, bis spätestens 19 Uhr sollten Sie Bescheid wissen.“

„Danke.“
„Bedanken Sie sich nicht zu früh. Nur weil ich darüber nachdenke, heißt das nicht, dass sich Ihr Wunsch auch erfüllt. Deswegen heißt es ja auch Wunsch. Klar?“
„Absolut. Trotzdem. Danke.“

„Mhmm.“

11

Taylor war froh, dass sie Nora Wolf nicht wieder in ihrem privaten Haus besuchen mussten. Ihr missfiel die Intimität, die damit einherging, den Ort zu besuchen, an dem sie lebte. Hier, in einem heruntergekommenen Büro unweit des Hauptgebäudes der Universität, fühlte sie sich wohler.

„Frau Taylor! Wo haben Sie denn Herrn Kern gelassen?“ Sie warf Ito einen belustigten Blick zu. „Aber Sie sind ja nicht alleine!“ Dann wurde ihre Miene schlagartig traurig. „Wie geht es denn dem Ärmsten? Das ist ja schrecklich mit seinem Freund!“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Herr Ates so was getan haben soll!“

Taylor zuckte mit den Achseln: „Anscheinend haben wir uns alle geirrt.“ Wolf sah sie erwartungsvoll an, also fügte sie hinzu: „Herrn Kern geht es den Umständen entsprechend.“

Wolf nickte, als hätte ihr diese Phrase irgendwelche Informationen enthüllt. „Ich verstehe“, sagte sie und Taylor war sich nicht sicher, was Wolf zu verstehen glaubte. „Ja… Wir müssen alle weitermachen! Aber gut… Was führt Sie denn zu mir?“

„Wir sind hier, weil wir mehr Informationen zu den Gerüchten brauchen, die Familie Frigus hätte Dahls Leiche nicht vernichtet.“

„Sie meinen die Verschwörungstheorien? Gehen Sie denen nach?“

Ito entgegnete: „Wir versuchen zu überprüfen, ob es sich um ernstzunehmende Berichte oder wage Verschwörungstheorien handelt. Wir wollen wirklich sicher sein, nichts zu übersehen. Die Konsequenzen bei einem Irrtum wären entsetzlich.“

„Das können Sie laut sagen!“, pflichtete ihm Wolf bei. „Also, was wollen Sie wissen?“

Ito forderte Taylor auf fortzufahren. Diese nickte: „Es würde uns helfen, wenn Sie uns diese Theorien nochmal erläutern würden.“

„Sie können die auch nachlesen. Das Internet ist voll davon. Besonders, wenn man auf die Seiten geht, wo sich die Bekloppten rumtreiben.“

Ito grinste. Ihm gefiel die Frau, die sichtlich Spaß an ihrem Job und keine Angst vor Taylor hatte.

„Das stimmt“, gab Taylor zu. „Aber viele Sachen ergeben sich ja im Gespräch.“ Vor allem, wenn der Gesprächspartner kompetenter ist als eine ganze Bibliothek. Da kann man sich sehr viel Zeit sparen.

„Mhmm“, machte Wolf. „Ich verstehe. Dann lassen Sie uns mal anfangen.“ Sie unterbrach sich selbst: „Möchten Sie etwas trinken? Ich habe leider nichts zu essen hier im Büro, aber ich kann meine Sekretärin losschicken, einen Kaffee zu holen!“
„Das ist nicht nötig“, lehnte Taylor ab.

„Das wäre super! Mit Sojamilch, bitte“, sagte Ito und Wolf lachte. Sie stand auf und verließ, ohne etwas zu sagen, das Zimmer.

„Was soll das?“, zischte Taylor. „Wir haben keine Zeit für Kaffeekränzchen. Das ist eine verdammt wichtige Ermittlung und Europa erwartet Ergebnisse.“

„Bleiben Sie doch mal locker. Sie geht nach nebenan zu ihrer Sekretärin, nicht nach Kolumbien, um Kaffee anzubauen!“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe schon gemerkt, dass Europa Ihnen wichtig ist, aber ob er etwas fünf Minuten später erfährt, macht wohl kaum einen Unterschied, oder? Vor allem wenn man bedenkt, wie lange diese Leiche, wenn es sie denn gibt, schon verschwunden ist…“

Taylor wollte etwas Schnippisches erwidern, da kam Wolf zurück und frohlockte: „Sehr schön. Meine Sekretärin ist unterwegs.“ Sie zwinkerte Ito zu. „Sie bringt auch noch ein bisschen Kuchen mit.“

Sie nahm auf ihrem Stuhl Platz, dann legte sie die Fingerspitzen aneinander und schwieg. Ihre Augen verklärten sich und Taylor konnte sehen, wie sie nachdachte.

Ihr Wissen sortierte.

Kategorisierte.

Und dann begann zu sprechen: „Nach Dahls Tod wurde die Leiche nach Hamburg gebracht. Den Transport übernahm die Familie Frigus. Sie war auch für die Verbrennung zuständig, die auf dem Grasbrook stattfinden sollte.“

„Dem was?“, fragte Ito.

„Grasbrook. Da wurden auch einige Piraten und Seeräuber hingerichtet… Jedenfalls: Dahl sollte dort verbrannt werden. Anschließend wurde seine Asche auf zwei Urnen aufgeteilt und diese versiegelt. Die Urnen wiederum brachten Familienmitglieder der Frigus dann nach Lübeck und Cuxhaven. Dort sollten die Überreste dem Meer überantwortet werden.“

„OK. Soweit der Plan“, sagte Ito. Er spürte ein leichtes Kribbeln: Die Story war gut. Er mochte Verschwörungstheorien, Krimis und Thriller.

„Angeblich“, fuhr Wolf fort, „wurde nicht Dahl, sondern ein Unschuldiger verbrannt, dessen Asche dann auch tatsächlich im Meer verstreut wurde.“

„Dann wurde diese… Verstreuung… also begleitet und bezeugt?“, hakte Ito nach. Wolf nickte: „Auch der Transport der Asche! Es waren immer Abgesandte des Rates anwesend.“

„Und wie soll die Leiche dann vor der Verbrennung ausgetauscht worden sein?“, fragte Ito. Er war skeptisch: „Eigentlich… Also dann müsste doch jemand vom Rat geholfen haben, oder?“

„Das sind die Argumente der Fraktion, die die Theorie des vertauschten Körpers ablehnen.“

„Theorie des vertauschten Körpers?“

Wolf nickte.

„Kommt mir unwahrscheinlich vor“, sagte Ito kopfschüttelnd und war froh, dass er bei diesen Ermittlungen beweisen sollte, dass die Verschwörungstheorien Unsinn waren.

„Unwahrscheinlichkeit ist aber kein Gegenbeweis“, entgegnete Taylor wie aufs Stichwort. „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheit zum Mond fliegen würde, war auch sehr gering. Trotzdem hat sie es geschafft.“

„Und auch hier gibt es genügend Leute, die das Gegenteil behaupten. Schlechtes Beispiel“, brummte Ito.

Wolf betrachtete die beiden und grinste vielsagend.

„Und dann?“, fragte Ito, um wieder zum Thema zurückzukommen. „Wie ging es weiter?“

„Naja. Angeblich wurde Dahls Leiche dann nach Zierikzee gebracht, einer Stadt in Holland.“

Ito warf die Hände in die Luft: „Was ist das denn für eine abstruse Geschichte? Warum denn jetzt nach Holland? Und warum genau in dieses…“ Er blinzelte: „Wie heißt dieses Kaff?“

„Das ist kein Kaff“, entgegnete Wolf. „Die Stadt hat heute über 11 000 Einwohner.“

„Beeindruckt mich jetzt nicht sonderlich“, stellte Ito klar.

„OK, mich auch nicht. Aber es geht nicht um die Größe!“ Wolf machte eine Pause und fuhr fort: „Sondern es geht um die Lage: Es ist möglich, über den Wasserweg von Zierikzee nach Köln zu gelangen. Und in Köln war ein Frigus Hafenmeister. Angeblich lief es nämlich so ab: Ein Fremder wurde verbrannt, Dahls Leiche nach Holland geschafft und von dort aus mit dem Schiff nach Köln. Hier sorgte der Hafenmeister dafür, dass die Ladung des Schiffes unbemerkt gelöscht wurde, und die Frigus versteckten Dahls Leiche im Kölner Umland.“

Gespannt musterte Wolf Ito: „Und, was sagen Sie jetzt zu der Geschichte?“

„Mhmm“, machte Ito. „Und wo im Kölner Umland?“

„Keine Ahnung. Wenn wir das wüssten, würden wir die Geschichte nicht als Verschwörungstheorie oder Gerücht einstufen, sondern als historischen Bericht, der mit den Fakten in Einklang steht.“

Die Tür wurde geöffnet und eine junge, attraktive Sekretärin balancierte ein Tablett mit Tellern, Kuchen und Kaffeebechern herein.

„Sehr schön!“, freute sich Wolf und half der jungen Frau, alles auf dem Schreibtisch abzustellen. „Nimm dir auch ein Stück mit!“, nötigte Wolf ihre Mitarbeiterin, bis diese mit zwei Stückchen Kuchen auf dem Teller verschwand.

„Die Geschichte ist interessant“, gab Ito zu, während er ein Stück Apfelkuchen niederkämpfte, „aber leider kaum zu überprüfen. Und es ergeben sich auch keine weiteren Ermittlungsansätze aus ihr.“

Wolf wandte sich an Taylor: „Und was sagen Sie?“

Taylor stellte den Teller auf dem Tisch ab. Sie hatte keinen Hunger und sah keinen Sinn darin etwas zu essen, weil es gesellschaftlich erwünscht war.

„Ich stimme meinem Kollegen zu, dass die Geschichte nicht belegbar ist“, sagte sie und Ito ließ ein „Danke“ vernehmen, das aber in seinen Kaugeräuschen unterging.

„Allerdings gibt es auch keine Belege, dass diese Geschichte nicht stimmt. So wie ich das sehe, sind beide Erzählungen gleich wahrscheinlich. Der einzige Unterschied, den es gibt, ist die Tatsache, dass der Rat als siegreiche Partei natürlich ein Interesse daran hatte, alle Welt glauben zu machen, Dahls Leiche sei vernichtet worden. Angenommen, die Leiche wäre wirklich gestohlen und ausgetauscht worden – und das unter Beteiligung eines Ratsvertreters – wäre das ein herber Rückschlag gewesen und das in einer Phase, wo Dahls Bewegung doch eigentlich hätte tot sein sollen…“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn man es so betrachtet, ist es die klassische Erzählung des Siegers.“

„Oder die Theorie des vertauschten Leichnams die klassische Theorie der schlechten Verlierer“, warf Ito ein.

„Angenommen, die Ermordung von Frigus und die alternative Theorie gehören zusammen…“

„Alternative Theorie? Nennen wir das jetzt so?“, fragte Ito.

„Verschwörungstheorie ist wertend. Wir haben doch gerade festgestellt, dass beide Varianten gleich wahrscheinlich sind. Also sollten wir neutral sein – auch sprachlich.“

Ito schüttelte den Kopf, schwieg aber.

„Weiter“, forderte Wolf Taylor auf. Sie sah die junge Frau erwartungsvoll an und verspeiste mit großem Appetit ihren Kuchen.

„Wenn der Mord und die alternative Theorie zusammengehören, könnte das ein wichtiger Hinweis sein: Dahls Leiche befindet sich in der Heide. Die Frage ist nur, wo.“

„Und deswegen ist Frigus da dauernd rumgelaufen?“ Ito musste zugeben, dass diese Sicht auf die Dinge Sinn machte – auch wenn er es nicht wollte.

„Ja.“

„Aber das ist auch keine neue Erkenntnis. Ich meine, dass die Heide was mit der vielleicht verschwundenen Leiche zu tun haben könnte, haben wir uns doch schon vorher gedacht, oder? Und dass Frigus von der Legende besessen war, ebenfalls…“

***

„Was hat uns dieser Besuch gebracht?“, fragte Ito Taylor im Auto, als sie zurück zur Zentrale fuhren. „Wir haben doch nichts rausgefunden, oder? Das sind alles Dinge, die wir schon wussten.“ Er hob entschuldigend die Arme. „Gut. Nicht wir. Aber Sie wussten die auf jeden Fall!“

Taylor setzte den Blinker und bog rechts ab. „Rein faktisch haben Sie Recht“, sagte sie. „Aber trotzdem war dieser Besuch wichtig.“

„Das müssen Sie mir erklären!“
„Wir suchen eine verschwundene Leiche. Es ist wichtig zu rekonstruieren, wo sie hergekommen ist und wer daran beteiligt war.“

„Die Familie Frigus. Das wussten wir vorher auch schon.“

„Die Familie Frigus und ein Vertreter des Rates!“

Ito stutzte: „Sie meinen…“

„Genau: Wir müssen rauskriegen, wer im Auftrag des Rates für die Überwachung des Leichentransportes zuständig war, sowohl zur Nord- als auch zur Ostsee. Wir haben also einen weiteren Ansatzpunkt. Außerdem ist mir noch was klargeworden.“

Ito schüttelte den Kopf: „Und was? Ich sehe überhaupt nicht klar. Ich glaube, Sie könnten das alles auch alleine machen.“

Taylor unterdrückte ein Lächeln: „Ich bin auch nicht fehlerfrei. Mir ist während des Gesprächs klargeworden, dass meine Idee mit den Ermittlungen von zwei Straßenseiten aus nicht sinnvoll ist.“

„Nein?“

„Nein. Der einzige Beweis, der wirklich zählt, ist die Leiche. Entweder wir finden sie oder nicht. Wir müssen also unser Missionsziel nochmal überarbeiten: Es geht nicht darum zu überprüfen, ob an den Theorien was dran ist oder nicht. Wir müssen einfach die Leiche finden. Wenn das nicht klappt, gibt es keine.“

Ito lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und beobachtete die Passanten auf den Bürgersteigen: „Das ist auch kein großer Fortschritt.“

„Nehmen Sie bitte den Kopf von der Scheibe“, verlangte Taylor unvermittelt.

„Was?“

„Nehmen Sie bitte den Kopf da weg. Ich mag keine Flecken an der Scheibe.“

Ito seufzte: OK… Das ist etwas, das ich hinbekomme.

„Und was jetzt?“, fragte er.

„Jetzt besuchen wir jemanden, der über ein ebenso großes Wissen verfügt wie Nora Wolf.“

12

„Hallo!“, rief Blance überrascht, als Scarlett Taylor mit einem Begleiter sein Reich betrat: Koki Ito. Er bemühte sich um einen guten Eindruck, während er seine Besucher freundlich begrüßte: „Schön, Sie zu sehen.“ Die Männer schüttelten einander die Hände. Taylor sah ihnen dabei zu, ohne selbst Anstalten zu machen, sich an diesem Ritus zu beteiligen. Blance kannte das schon. Ihn irritierte Taylors Verhalten nicht mehr.

„Also, was führt Sie in mein Reich?“, fragte Blance.

„Wir brauchen ein paar Informationen“, antwortete Ito.

„Da sind Sie hier genau richtig. Informationen haben wir in Hülle und Fülle. Das Problem ist nur, die Richtigen zu finden.“
Ito sah den Bücherwurm genervt an: Die Andere war witziger. Und sie hatte Kuchen!

„Wir brauchen zwei Namen“, sagte Taylor. „Es geht um die Ratsvertreter, die damals für die Überwachung von Dahls Leiche zuständig waren.“

Blance riss erstaunt die Augen auf. „Es geht um die Theorie der vertauschten Körper?“, fragte er. Taylor legte den Kopf schief, schwieg aber.

Blance zögerte: „Gut, ich muss nur kurz nachdenken…“ Er eilte zu seinem Computer und begann auf die Tastatur einzuhämmern. „Ja…“, flüsterte er leise. „Das müsste doch…“

Er wandte sich seinen zwei Besuchern zu. Ito wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Also, die Sache ist etwas kompliziert“, begann Blance und knetete seine Hände.

„Was ist denn so kompliziert?“, wollte Ito wissen.

„Ich darf die Namen nicht rausgeben.“

„Was soll das heißen?“, fragte Ito und verbesserte sich: „Ich meine, was soll das bedeuten?“

Taylor warf ihm einen Seitenblick zu: Er ist ja doch nicht so dumm!

„Das bedeutet“, erklärte Blance, „dass ich Ihnen die Namen nicht geben darf.“ Und dass ich Meldung machen muss, dass ihr euch nach den Namen erkundigt habt…

***

„Das ist doch eine Unverschämtheit!“, sagte Taylor. Die Formulierung sagte traf die Sache ganz gut, denn sie sprach sehr ruhig. Jeder andere hätte sich aufgeregt, aber was sollte das bringen? Durch eine übersteigerte Zurschaustellung von Emotionen würden sie den geheimnisvollen Namen keinen Schritt näher kommen.

„Wenn die Akte und die Namen unter Verschluss sind, kann das nur eins bedeuten“, sagte Ito nachdenklich. „Jemand im Rat deckt denjenigen, der damals vielleicht an der Austauschaktion beteiligt war.“

„Das würde auf eine Verschwörung hinweisen, die sich bis in die höheren Kreise des Rates erstreckt.“

Ito nickte: „Wir müssen Europa fragen. Vielleicht kann er uns weiterhelfen.“

Taylor stimmte zu: „Ich kümmere mich darum.“

13

Es war 17:59 Uhr, als Nehir eine E-Mail von Huker erhielt, in der ihr mitgeteilt wurde, dass ihr Unterricht nicht wie geplant bei Huker, sondern bei Blance stattfinden würde.

„Scheiße!“, schimpfte sie. „Das ist doch…“

Ian sah sie besorgt an: „Was ist los, Schatz?“

„Ach, nichts.“
„Das hat sich aber nicht so angehört.“

„Schon gut…“

Sie lag auf dem Sofa bei Ian und las ein Buch über das Mittelalter. Sie hatte sich gefreut, ihre Ausbildung morgen endlich fortsetzen zu dürfen und jetzt so was.

Ich hasse Blance!

Blance war ein sehr guter Kollege von Yusuf gewesen. Als der aber in der Heide starb, hatte Blance beschlossen, dem offiziellen Bericht des Rates zu glauben und Yusuf für einen Verräter zu halten.

Das war unfair, aber das konnte Nehir ihm nicht vorwerfen. Natürlich glaubte er das, was Europa und Huker sagten. Aber trotzdem könnte er sich mal melden, einfach mal anrufen… Stattdessen herrschte Funkstille. Blance hatte sich nicht mehr gemeldet. Und er war leider kein Einzelfall: Auf den Fluren im Büro mied man Nehir, niemand aus der magischen Gemeinschaft schien ein Interesse daran zu haben, sie kennenzulernen. Die Einzigen, die sich wirklich um sie gekümmert und ihr Mitgefühl bekundet hatten, waren Huker und Europa gewesen.

Sogar Armin verhält sich komisch. Aber nicht, als würde er Yusuf für einen Verräter halten, sondern als wüsste er mehr. Aber was?

Armin ging ihr aus dem Weg. Noch ein Grund, warum sie sich auf den Unterricht gefreut hatte. In der Mail hieß es jetzt aber, Nehir würde Einzelunterricht erhalten, angeblich, um die Effektivität zu steigern.

Wer es glaubt… Bestimmt ist Armin zu Europa gerannt und hat ihm irgendeinen Schwachsinn erzählt, warum er nicht mit mir reden will!

Aber so leicht würde Armin ihr nicht davonkommen. Wütend griff sie zu ihrem Handy und wählte eine Nummer.

14

Armin warf einen Blick auf das Display seines Handys und stöhnte.

„Was ist?“, fragte die Trägerin, mit der er am Küchentisch saß.

„Nehir ruft an.“ Armin runzelte die Stirn.

„Willst du nicht rangehen?“

„Nein.“

„Das ist aber unhöflich.“
„Ich weiß aber, dass ich nicht mit ihr reden will.“

Die Trägerin sah Armin mit einem Blick an, den er nicht ertrug. Er nahm das Gespräch entgegen. „Ja?“, fragte er und versuchte, locker und freundlich zu klingen.

„Abend Armin“, dröhnte ihm Nehir entgegen. Sie klang genervt. Wahrscheinlich hat sie Hukers Mail ebenfalls bekommen und verstanden, was sie bedeutet. Natürlich… Sie ist viel intelligenter als ich…

„Ich habe Hukers Mail gelesen. Ist ja total ätzend, dass wir getrennten Unterricht bekommen.“

„Auf jeden Fall, habe ich auch gedacht.“
„Sollen wir uns beschweren?“

„Kannst du gerne machen.“
„Machst du nicht mit?“ Armin sah an die Decke: Er wusste genau, was Nehir da tat. Er musste aufpassen. „Ich weiß nicht“, sagte er vorsichtig. „Die Begründung macht Sinn und ehrlich gesagt will ich denen nicht zu sehr auf die Nerven gehen.“

„Europa ist doch ein Fan von dir. Wenn du mit ihm sprichst…“
„Er ist aber gar nicht da, glaube ich. Viel unterwegs…“
„Mhmm. Und Huker?“

Armin lachte, diesmal ehrlich: „Der kann mich nicht leiden, das weißt du genau.“
Nehir schwieg kurz, ehe sie sagte: „Naja… Ich finde es schade, aber wahrscheinlich hast du Recht.“ Wieder machte sie eine kurze Pause, dann: „Sollen wir uns um 12 Uhr zum Mittag treffen? Ich kenne ein kleines Café. Ist nett da. Ich schicke dir die Adresse, OK?“

Armin war froh, dass Nehir ihn nicht sehen konnte. Seine Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.

„Armin? Bist du noch da?“
„Ja, klar. Mittagessen. Hört sich gut an. Schick mir die Adresse.“

„Gut, dann bis morgen. Und Armin?“

„Ja?“
„Wehe, du kommst nicht.“

15

Das Ziel seiner langen Reise lag vor ihm und er wusste noch immer nicht, ob sie eine Ehre oder sein Todesurteil war. Die Antwort spielte keine Rolle, denn niemand hatte ihn gefragt, ob er sie antreten wollte.

Das war ungewöhnlich für einen Mann wie Rosicco, denn normalerweise befolgte er keine Befehle. Seine Dienste stellten ein Privileg dar, für das die Leute hohe Summen zu zahlen hatten: Und sie zahlen gerne. Weil ich immer liefere, niemals versage und keine unnötigen Fragen stelle.

Er blieb stehen und musterte das Ziel seiner Reise, welches zwanzig Gehminuten entfernt auf einer steilen Klippe aufragte. Er hatte schon von diesem Ort sprechen hören.

Früher.

Hinter vorgehaltener Hand, in den dunkelsten und finstersten Winkeln der magischen Welt. Dort, wo niemals ein Spion des Rates hingelangte, fürchtete man das Castra – die Kaserne.

Erbaut war sie angeblich aus den gepressten Knochen jener unglücklichen Seelen, die ihren Meister verraten und zum Rat übergelaufen waren. Rosicco glaubte nicht an diese Geschichten, aber eins spürte er: Dieser Ort war böse.

Und eine Schnittstelle zum Reich der Toten.

Das Castra wirkte grau, trist und düster. Es lag auf dem höchsten Punkt einer Klippe, die Westseite wies zum Meer, die Ostseite stellte sich dem Besucher trotzig in all ihrer brutalen Schönheit in den Weg.

Rosicco kratzte sich die lange, scharfgeschnittene Nase.

Dann ging er langsam weiter.

Er hatte es nicht eilig.

***

Eine blonde Frau stand vor den schweren Toren des Castras.

Sie war schön – und gefährlich.

„Guten Tag“, begrüßte Megan Walsh Rosicco sachlich. Sie verzichteten auf einen formalen Handschlag und Rosicco kam direkt zur Sache: „Ich dachte, ich spreche mit Ihrem Meister?“
„Sie werden wohl mit mir Vorlieb nehmen müssen.“

„Ich spreche nicht mit Lakaien.“

Zorn funkelte in Walshs Augen und Rosicco verspürte ein gehässiges Gefühl der Befriedigung: Ich hasse Verräter.

Er war kein politischer Mann. Ihm war es herzlich egal, ob Dahl, Vilgot, der Rat oder sonst wer die Macht über die magische Gemeinschaft für sich beanspruchte oder errang. Mit seinem Geschäftsmodell stand er ohnehin außerhalb dieser Gemeinschaft. Ihre Gesetze galten nicht für ihn. Angenommen, Dahl würde dem Rat die Macht abnehmen und Gesetze erlassen – sie wären Rosicco scheißegal.

Was ihm aber nicht egal war, waren Ehre und Loyalität. Natürlich hatte jede Loyalität ihre Grenzen und ihren Preis, das war überhaupt keine Frage. Aber was Walsh getan hatte, widersprach Rosiccos Werten, so wie er sie verstand.

„Dann haben wir ein Problem“, stellte Walsh fest.

„Ja?“

„Ja. Ich habe den Auftrag, Ihnen die Modalitäten Ihres Arbeitsvertrages mitzuteilen. Wenn Sie aber nicht mit mir sprechen wollen, kann ich meinen Auftrag nicht erfüllen.“

Rosicco zuckte mit den Schultern: „Das hört sich so an, als hätten Sie ein Problem. Nicht ich.“

„In diesem Fall wird mein Problem zu Ihrem Problem, da Sie derjenige sind, der es lösen kann.“

Rosicco verschränkte die Arme vor der Brust. „Bringen Sie mich zu Ihrem Boss!“, verlangte er ruhig, aber bestimmt.

Walsh seufzte – dann explodierte die Luft um sie herum: Rosicco wurde nach hinten auf den Boden geschleudert. Bevor er reagieren konnte, war sein Körper auf dem Boden fixiert, sein Kopf nach hinten überstreckt: Scheiße, die reißt mir den Kopf ab!, dachte er panisch. Er spürte, wie etwas an seiner Nase zerrte – und wie sie brach! Sterne funkelten vor seinen Augen.

Megan Walsh trat vollkommen entspannt neben ihn, legte den Kopf leicht schief und wartete. Rosicco wollte etwas sagen, aber das ließ der Zauber nicht zu.

„Habe ich jetzt Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit? Oder wollen Sie weiter frech werden?“, fragte Walsh schließlich. Schweiß lief Rosiccos Rücken hinab. Er versuchte zu nicken – zwecklos.

„Gut“, sagte Walsh. „Der erste Aspekt Ihres Arbeitsvertrages betrifft Ihre Bezahlung. Eigentlich hatten wir vorgesehen, Sie für Ihre Dienste finanziell so weit zu entlohnen, dass Sie die kommenden 150 Jahre nicht mehr arbeiten müssten.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aufgrund Ihres Verhaltens sehen wir uns aber gezwungen, die Modalitäten abzuändern. Nennen wir es der Einfachheit halber, Variante B.“ Sie grinste. „Die gefällt mir persönlich sowieso besser.“

Sie kniete neben Rosicco nieder. Ihre Stimme war nur noch ein leises Flüstern: „Wenn Sie Ihren Auftrag erfolgreich zu Ende gebracht haben, werden wir Sie nicht töten. Verstanden? Falls Sie scheitern, schlampig arbeiten oder einfach abhauen, werden wir dafür sorgen, dass Sie sich wünschen, ich hätte Ihnen jetzt den Kopf abgerissen. Ihnen ist klar, dass das kein Scherz ist, oder?“ Sie positionierte ihren Zeigefinger vor Rosiccos Augen und begann, ihn langsam nach hinten zu dehnen. Mit jedem Millimeter spürte Rosicco, wie sein Kopf weiter nach hinten gezogen wurde – lange würde er das nicht mehr durchhalten.

Plötzlich konnte er sprechen. „Ja!“, brüllte er. „Verdammt! Ja! Ich mache, was Sie wollen!“

Walsh erhob sich, ohne den Zauber zu lösen. Sie trat drei Schritte zurück, dann hob sie die Fixierung auf. Rosiccos Körper fiel in sich zusammen, als die Magie, die an ihm gezerrt hatte, verschwand. Sein Atem ging stoßweise.

„Die Zielperson…“, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Aber es war nicht die Stimme von Walsh.

Er blickte sich um.

Und seine Atmung setzte aus.

16

Armin hatte mehrfach mit dem Gedanken gespielt, das Treffen mit Nehir platzen zu lassen. Der Gedanke war gekommen, hatte sich aber innerhalb weniger Augenblicke wieder verflüchtigt, weil ihm klar war, dass seine Gesundheit dann ernsthaft gefährdet wäre.

Nehir hatte ihm schon immer Respekt eingeflößt.

Aber die Sache war noch viel komplizierter.

Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er begonnen, sich ein bisschen in die Schwester seines besten Freundes zu verlieben. Das war komisch, denn: Es war Nehir! Schön, stark, selbstbewusst und sprachlich meist im Zerstörungsmodus.

Aber dann hatte sie Armin eine andere Seite von sich gezeigt und sie hatten einander verstanden, auf eine Art und Weise, die Armin nicht für möglich gehalten hätte. Alles war unverkrampft, einfach natürlich gewesen.

Aber Yusufs Tod ändert alles. Armin wusste, dass Yusuf kein Verräter war. Er wusste nicht, was seinen Freund dazu getrieben hatte, Nordamerika zu töten (mit einem Schwert!), aber auf keinen Fall gehörte er zu Vilgot. Europa und Huker bestanden darauf, dass Nehir die Wahrheit nicht erfuhr, um den Kreis der Mitwisser von Nordamerikas Verbrüderung mit Vilgot und ihre Einflussnahme auf den Präsidenten möglichst gering zu halten.

Ich habe Europa angefleht, Nehir etwas sagen zu dürfen! Ohne Erfolg.

Tatsächlich hatte Armin Europa selten so streng und hart erlebt wie in diesen Gesprächen.

Jetzt saß er pflichtschuldig in dem Café, das Nehir ihm gemailt hatte, und wartete auf ein Gespräch, dem er sich nicht entziehen konnte.

***

Nehir sah Armin in dem Moment, als sie das Café betrat – es war ja nicht gerade sonderlich groß!

Ihre Laune war nicht das, was sie als „gut“ bezeichnen würde. Tatsächlich hatte sie eine riesige Wut im Bauch, nicht nur auf Armin.

Die drei Stunden, die sie bei Blance gewesen war, hatten ihr alles an Professionalität abverlangt, was sie besaß. Der Kerl war absolut kalt zu ihr gewesen, hatte sie kurz begrüßt und dann in einem kleinen Lesesaal geparkt, wo sie Bücher durcharbeiten sollte: Reine Schikane! Dafür muss ich nicht dahin kommen! Und kein Wort über Yusuf, nur Seitenblicke, die alles sagen!

Am liebsten hätte sie ihn angebrüllt, hätte ihm all das an den Kopf geworfen, was sie jedem der herzlosen Idioten aus dem Büro so gerne mal sagen würde: Dass ihr Bruder kein Verräter war! Und falls doch: Was kann ich dafür?

Und jetzt Armin, dachte sie grimmig und steuerte seinen Tisch an.

***

Armin rang sich ein Lächeln ab, als er Nehir erblickte. „Hallo“, sagte er, stand auf und nahm sie unsicher in den Arm. Sie wirkte verkrampft und gestresst: Das sind ja gute Vorzeichen.

„Na, wie war dein Unterricht?“, fragte Nehir, während sie die Jacke auszog und ihre Tasche unter den Tisch schob.

Direkt zur Sache, aber was habe ich auch erwartet? „Naja, es war ganz gut.“ Armin hatte überrascht festgestellt, dass Huker ein guter Lehrer war. Er machte zwar keinen Hehl daraus, dass er Armin nicht leiden konnte, aber das spielte keine Rolle: Wir haben nicht geatmet! Tatsächlich war Huker mit ihm in den Keller gefahren. Dort befand sich ein Raum, der dem magischen Panikraum in Armins Wohnung nicht unähnlich war.

„Hier können wir üben, ohne Gefahr zu laufen, etwas kaputt zu machen“, hatte Huker geknurrt. „Erfahrene Magier kommen hierher, um Zauber zu üben, die sehr großen Schaden anrichten können. In Ihrem Fall“, er warf Armin einen abschätzigen Blick zu, „geht es eher darum, Kollateralschäden zu vermeiden.“ Dann hatte er Armin aufgefordert, eine Kampfposition einzunehmen. Armin wollte gerade fragen, was Huker damit meinte, als ihn der Fluch schon in den Magen traf und er zu Boden geworfen wurde.

„Sie müssen schneller werden.“

Armin rappelte sich auf und fragte: „Was soll ich denn genau…“

Da traf ihn Hukers Fluch erneut.

„Und Sie sollten schneller lernen.“ Huker grinste: Offensichtlich hatte er seinen Spaß.

Armin fasste sich unbewusst an den Bauch und zuckte zusammen: „Und bei dir?“

„Naja. Du kennst ja Blance.“

Armin sah sie fragend an.

„Er ist ein Büchertyp“, sagte Nehir.

„Aber du bist doch damals immer mit ihm zurechtgekommen.“ Armin erinnerte sich an das Gespräch, das er damals mit Nehir in einem Sandwich-Laden geführt hatte. Sie war total begeistert von Blance und seinem Unterricht gewesen. Nur Yusuf hatte sie genervt, weil er so eifersüchtig auf sie gewesen war.

Yusuf…

„Ja… Das war früher.“
„Was hat sich geändert?“

Nehir sah ihn finster an und Armin wusste, dass er den ersten Fehler gemacht hatte.

„Was sich geändert hat?“, fragte Nehir drohend. „Die Kleinigkeit, dass mein Bruder tot ist. Dein bester Freund! Vielleicht erinnerst du dich an ihn? So ein unsicherer Streber, der immer am Leiden war, wie schwer er es hätte? Leicht begriffsstutzig? Also total dein Typ!“

„Nein, also… Ich weiß…“

„Wenn du weißt, was ich meine, warum fragst du dann so dämliche Sachen?“ Armin sah sich um. Nehir war lauter geworden, aber noch schien sie keiner zu bemerken: Vielleicht bilde ich mir das ja auch einfach nur ein.

„Alle tun so, als wäre Yusuf ein Mörder!“ Armin beugte sich nach vorne: „Bitte, nicht so laut! Das geht doch niemanden etwas an!“

Nehir schloss kurz die Augen und schien sich zu sammeln. Dann stand sie auf, umrundete den Tisch und setzte sich direkt neben Armin. Sie schob ihr Gesicht so nahe an seins, dass er ihre Haut riechen konnte.

„Alle tun so, als hätte Yusuf diesen scheiß Ratsherrn umgebracht!“ Sie sah Armin eindringlich an. „Aber so war er nicht! Nicht Yusuf! Er hatte dauernd Schiss, vor allem und jedem! Und die wollen uns wirklich erzählen, er besorgt sich ein Schwert und sticht damit einen ab? Und dann sich selbst?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein! Da stimmt was nicht! Das ist nicht wahr!“ Sie machte eine kurze Pause. „Was weißt du darüber, Armin?“

„Ich? Ich weiß gar nichts, habe keine Ahnung.“

„Normalerweise würde ich dir zustimmen, aber ich glaube, in diesem Fall lügst du. Ich glaube, du weißt mehr und deswegen weichst du mir aus!“
„Ich weiche dir nicht aus!“

Sie schob ihr Gesicht noch einen Millimeter näher an seines: „Nein? Und warum ignorierst du meine Anrufe? Verdammt, ich dachte, wir wären Freunde!“
„Sind wir doch auch!“
„Freunde benehme sich nicht so, wie…“

Armin schob seinen Stuhl ein Stückchen zurück: „Wie was?“

„Wie… Alle.“
Nehir sah Armin an, dass er nicht verstand, was sie meinte: „Seit Yusufs Tod… Alle halten ihn für einen Verräter und mich stecken sie in den gleichen Topf! Die Leute weichen mir aus, keiner meldet sich bei mir. Nicht mal Blance.“ Sie rieb sich über die Stirn. „Ich kenne nicht viele Leute in dieser neuen Welt. Eigentlich nur dich, Blance, Europa, Huker und die aus dem Büro neben meinem… Und keiner redet mit mir. Entweder weil sie mich für das verantwortlich machen, was Yusuf getan hat, oder weil sie mir etwas verheimlichen. So wie du!“ Armin wollte etwas sagen, irgendwas, damit Nehir sich besser fühlte, aber ihm fiel nichts ein. Nehir lachte traurig: „Siehst du… Es ist so, wie ich gesagt habe…“ Tränen traten in ihre Augen. „Armin, ich kann mit niemandem reden! Nicht mit meinen Eltern, nicht mit Leuten aus der Gemeinschaft, nicht mit dir! Auch nicht mit meinen alten Freunden, weil die keine Ahnung von dieser Welt haben. Weißt du eigentlich, wie scheiße es ist, wenn man immer nur alleine ist?“

Armin wich ihrem Blick aus.

Die Wahrheit war, dass er sie nur zu gut verstand. Natürlich war ihre Situation eine gänzlich andere, aber sich alleine, isoliert und ausgeliefert zu fühlen – das war genau seine Welt. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, hätte sie an sich gezogen und gehalten. Und für eine Zehntelsekunde glaubte er, Nehir würde genau das wollen.

Aber dann war der Augenblick vorbei. Nehir rückte von ihm ab, lehnte sich zurück und wischte sich die Tränen aus den Augen: „Scheiße. So habe ich mir das eigentlich nicht gedacht. Wenn hier einer heult, solltest eigentlich du das sein.“

Ein Kellner trat an ihren Tisch, räusperte sich und sagte: „Es tut mir wirklich sehr leid, aber dürfte ich Sie bitten, etwas leiser zu sein? Die anderen Gäste möchten in Ruhe essen und naja…“

Nehir funkelte ihn an: „Menschliche Emotionen stören dabei?“

„Nein, nur die Lautstärke.“

Respekt, dachte Armin. Auch wenn du das bestimmt bereuen wirst.

Zu seiner Überraschung nickte Nehir nur: „OK. Ich werde gehen.“ Sie sah Armin an. „Wenn du möchtest, kannst du dich ja melden. Oder du lässt es.“

Damit stand sie auf, nahm ihre Jacke und ihre Tasche und verschwand.

„Möchten Sie etwas bestellen?“, fragte der Kellner Armin.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752130409
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Schlagworte
Urban Fantasy Köln Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Torben Stamm (Autor:in)

Torben Stamm schreibt in seiner Freizeit gerne Krimis, Thriller und Fantasy!
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Titel: Das Verblassen der Kerns