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Weltenbrand: Der Zorn der Brüder

von Danara DeVries (Autor:in)
420 Seiten
Reihe: Weltenbrand, Band 2

Zusammenfassung

Wer beschützt hier eigentlich wen? Während Elko noch glaubt, Claire nach dem Kampf gegen das Gift in seinem Körper vor den Auswirkungen schützen zu müssen, ringt sie gegen einen neuen, völlig unbekannten Gegner. Ihre Fähigkeiten kippen - aus Segen wird Fluch! In »Das Erbe des Blutadels« rettete sie Elko dank ihrer Kraft, doch nun verlangt ihr Körper immer mehr! Sie kann ihre Gier nach dem Kraftgürtel kaum beherrschen. Zudem glaubt Sigrid, dass Loke Claire manipuliert hat und sie eine Gefahr für das Team darstellt. Zu ihrem eigenen Schutz drängt Elko sie aus seinem Leben und versucht, Loke ohne Claires Hilfe zur Vernunft zu bringen. Dass er selbst nicht unverwundbar und ein leichtes Ziel ohne Claires Fähigkeiten ist, begreift er erst, als es schon zu spät ist. Können Claire und Elko sich zusammenraufen und gemeinsam den Sieg erringen? Bekommt Claire ihr Verlangen in den Griff? Band 1: Weltenbrand: Das Erbe des Blutadels Band 2: Weltenbrand: Der Zorn der Brüder Band 3: Weltenbrand: Der Weg des Kriegers Band 4: Revelation

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Weltenbrand

- Der Zorn der Brüder -

 

Von Danara DeVries

 

 

 

Kapitel 1

Sie schwebte. Suchend tastete ihre Hand über das frische Bettlaken. Der Geruch nach Eiter und Blut war fort, klare und kühle Nachtluft drang ihr in die Nase, gemischt mit Elkos herbem Duft nach Ozon. Sie konnte sich noch vage daran erinnern, dass er duschen wollte. Anscheinend hatte er das auch getan, denn der Gestank nach Krankheit war fort. Ihre Hand wanderte weiter über das Laken und tastete nach ihm. Vorsichtig drehte sie sich um, sich nicht bewusst, ob sie noch immer schlief oder schon wieder wach war. Eigentlich war es Claire auch vollkommen egal.

Als ihre Finger über Elkos straffe Muskeln wanderten, zuckte ein Lächeln um ihre Mundwinkel. Allein ihn hier zu haben, gesund und munter, erfüllte sie mit Glücksgefühlen. Zärtlich glitt ihre Hand seinen Arm hinauf, umrundete den kräftigen Bizeps und kam auf seiner Brust zur Ruhe. Bei Gott, er war jeden einzelnen schmerzhaften Atemzug wert.

Claire seufzte ergeben und erschauerte, als er sich unter ihrer Berührung regte und zu ihr umdrehte. Elkos Hand berührte ihr Handgelenk und strich behutsam über die wulstige Narbe – das einzige Überbleibsel des tödlichen Gifts, das durch seine Venen gejagt war – und liebkoste sie hingebungsvoll. »Darf ich?«

Wohlige Schauer begleiteten das leichte Ziehen, das seine Berührungen auslöste. Der Schmerz war allgegenwärtig, doch dank der kühlenden Salbe, die Sigrid vor ein paar Stunden aufgetragen hatte, war er zu einem erträglichen Pulsieren abgeklungen. Elkos Finger allerdings setzten die empfindliche Haut erneut in Brand. Dennoch wollte sie keine Liebkosung missen, zu sehr gierte sie nach ihm. Wo er sie noch vor wenigen Stunden nicht einmal hatte ansehen können! Wie könnte sie sich ihm da jetzt entziehen und ihn bitten, lieber zu schlafen?

»Nichts lieber als das«, seufzte sie und schloss die Augen. Seine Finger strichen ehrfürchtig über die Narben, wanderten begleitet von lustvollem Schmerz und einem sehnsuchtsvollen Ziehen über die empfindliche Haut. Jede noch so sanfte Berührung löste eine Kaskade genüsslicher Wellen aus und sie hieß sie willkommen. Seufzend schmiegte sie sich an ihn und genoss den Geruch nach Erde und Ozon. Elko roch immer leicht nach Sommergewitter, daran änderte auch das blumige Duschgel nichts.

Seine Hand glitt über ihren Arm und fuhr zärtlich die Narbe nach, bis ihn der Saum ihres T-Shirts abrupt stoppte. Neckend schob er seine Finger unter den weichen Stoff. »Ich möchte mir alles ansehen.«

Claires Herz machte einen schockierten Aussetzer. Sie konnte sich nicht vor ihm entblättern. Die Narbe wand sich über ihren Körper, schlängelte sich ihren Arm hinauf, umrundete ihre Schulter, versank zwischen ihren Brüsten ... Claire keuchte auf. Nein, auf gar keinen Fall! Und überhaupt, es war dunkel, wie konnte er da ...

Elkos Arm langte über sie hinweg und berührte die Nachttischlampe. Irritiert kniff sie ob der diffusen Helligkeit die Augen zusammen.

»Zeig sie mir!«, forderte er mit Nachdruck und schob erneut seine Finger unter den Saum ihres Shirts.

»Ich kann nicht«, protestierte sie und wollte sich abwenden, doch Elko hielt ihren Arm fest und zwang sie, ihn anzusehen.

»Claire«, hauchte er und beugte sich über sie. »Du hast diese unaussprechlichen Qualen für mich auf dich genommen. Jetzt lass mich sehen, was dieses grässliche Untier mit dir angestellt hat. Lass mich jede einzelne Narbe mit tausend Küssen vergelten ...«

Noch ehe sie sich ihm entziehen konnte, drückte er seine Lippen verheißungsvoll auf ihr Handgelenk und leckte zärtlich über den Wulst. Seine freie Hand schlüpfte unter ihr Schlafshirt und schob es sanft nach oben, während seine Augen sie hypnotisierten. Claire schluckte trocken, sein Blick bannte sie in die Laken und sie gab dem Drang nach, sich ihm entgegen zu wölben. Spöttisch funkelte er sie über ihr Handgelenk gebeugt an.

»Du kannst nicht?«, stichelte er und leckte sich Stück für Stück ihren Arm hinauf. »Das sieht mir aber ganz anders aus.« Als seine Hand behutsam die volle Wölbung ihre Brust umrundete und dabei ganz zufällig die Narbe streifte, gab Claire auf. Der bittersüße Schmerz und Elkos Nähe versetzten sie in einen Strudel köstlicher Empfindungen, denen sie sich nicht entziehen konnte – wollte. Er gehörte ihr und er war hier und tat genau das, was sie immer wollte. Könnte sie ihn da abweisen?

Als er ihr Shirt sanft nach oben schob, folgte sie gespannt seinem Blick. Seine Züge verhärteten sich, als er die Narbe in Augenschein nahm, wie sie sich über ihren Bauch nach oben wand.
»Claire ...«, keuchte er entsetzt und folgte der roten Spur. »Wo ...?« Fragend sah er sie an, der Schmerz in seinem Blick war unerträglich. Am liebsten hätte sie sich sofort die Decke über den Kopf gezogen und verkrochen. Sie wollte sich ihm nicht so zeigen, doch hier lagen sie jetzt und für einen schamvollen Rückzug war es zu spät.

Entschuldigend hob sie die Schultern und lächelte schüchtern. »Überall«, flüsterte sie und nestelte nervös am Saum ihres Shirts, knüllte ihn unter ihrem Busen zusammen. Elko verzog das Gesicht und griff energisch nach ihren Händen. Langsam zog er sie zu sich und streifte mit seinen Lippen ihre Handflächen. Sein Blick jagte ihr Schauer über den Rücken. »Dann werde ich dich überall küssen.«

Vergessen waren Scham und Schuldgefühl. Dieser Blick war dafür geschaffen, sie über die Klippe zu stoßen und genau das tat er jetzt.

Zielstrebig hob er ihre Hände nach oben und zog ihr das Shirt ruckartig über den Kopf. Achtlos warf er es hinter sich und ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen. Sein Blick ruhte zwischen ihren Brüsten und er leckte sich gierig die Lippen. Claire fixierte ihn gebannt. Während sie sich langsam in die Kissen gleiten ließ, folgte er ihren Bewegungen.

»Diese Stelle ...«, keuchte er und beugte sich vor. Seine Worte gingen in ein tiefes Raunen über. Sanft berührte er mit den Lippen die empfindliche Narbe zwischen ihren Brüsten. Hingebungsvoll schmiegte sich seine Hand unter die volle Rundung. Genüsslich schloss Claire die Augen und gab sich dem bittersüßen Schmerz hin, dem jede vorsichtige Berührung seiner Lippen folgte. Elkos Zungenspitze fuhr neckend über die heiße Narbe und entlockte ihr ein schmerzvolles Keuchen. Doch seine Küsse ließen den Schmerz in lustvolles Ziehen übergehen. Claire schwebte und gab sich diesem köstlichen Spiel hin.

Stück für Stück arbeitete er sich tiefer, leckte über ihre Narben und besänftigte den Schmerz mit liebevollen Küssen. Sie wand sich unter seinen Händen, wölbte sich ihm entgegen, ohne auch nur einen Gedanken an Scham oder gar Zurückhaltung zu verschwenden. Als er die Stelle erreichte, wo die Narbe ihre Hüfte umrundete, drehte er sie sanft auf den Bauch und streichelte ihre Seiten, sodass sie erschauerte.

»Mmh«, machte er und die feinen Härchen auf ihrem Rücken wogten unter seinem heißen Atem. »Die Narbe verschwindet hier unter lästigem Stoff«, beschwerte er sich. Vorsichtig fuhr er mit der Zungenspitze unter den Bund ihres Höschens. »Ich für meinen Teil würde die Behandlung gerne fortführen, aber dazu müsstest du dich ausziehen.«

Claire kicherte und gab dem Drang nach, ihm ihren Po entgegenzustrecken. Die spöttische Anspielung auf ihre Forderung in Tommys Hütte entging ihr nicht.

»Tu, was du nicht lassen kannst.« Sie wackelte herausfordernd mit dem Hintern und spürte kurz darauf seine Hand unter den Saum ihres Slips gleiten. Zwischen ihren Schenkeln flammte es gierig auf, als er mit spitzen Fingern den Bund des Höschens über ihren Po schob. Sanft küsste er sie auf die empfindliche Stelle, dort, wo die Rötung ihren Rücken verließ und über ihre Hüfte zurückwanderte. Die kühle Nachtluft verschaffte ihr Linderung und Elkos Küsse vertrieben jeden Gedanken an Schmerz. Sie wollte sich gerade wieder umdrehen, als er zärtlich ihre Hüfte packte. »Bleib so«, raunte er und der Klang seiner Stimme ließ sie innehalten. Sie spürte seine Lippen über ihre Haut streifen, doch ohne sie zu berühren. Sein Atem jagte ihr Schauer über den Rücken und sie konnte sich nur mit größter Mühe beherrschen, sich ihm nicht lüstern entgegen zu recken. Sie wollte ihn spüren, ihn fühlen, wollte, dass er den Brand auf ihrer Haut löschte. Doch nicht nur ihre Narbe stand in Flammen, zwischen ihren Beinen pulsierte es schmerzhaft. Ihr Innerstes sehnte sich nach ihm und er quälte sie mit hauchzarten Berührungen, die eher den Brand anheizten, als ihn zu löschen.

Als sie glaubte, seine Folterungen nicht mehr länger aushalten zu können, stieß sie ein flehendes Wimmern aus. Elko lachte leise. Dieses Geräusch brachte sie fast um den Verstand. Er genoss es, oh, dieser Mistkerl genoss es.

»Bitte«, setzte sie hinzu, nur für den Fall, dass er ihr Wimmern missverstanden hatte. Seine Hand strich zärtlich über ihren Po.

»Gleich, mein Herz«, murmelte er sanft. »Ich möchte nur noch einen Moment diesen verführerischen Anblick genießen.« Oh Gott, der Kerl brachte sie um! Claire stöhnte frustriert auf und reckte ihren Po noch ein wenig höher. Elko lachte und biss sie zärtlich in die Hüfte, ohne ihre Narbe auch nur zu streifen. Claire quiekte erschrocken auf. Doch noch ehe sie sich über diese Behandlung beschweren konnte, drehte er sie schwungvoll herum.

Hastig sah sie sich um und wollte sich bedecken, doch Elko hatte die Decke aus ihrer Reichweite geschoben. »Keine Scham, und keine Scheu«, murmelte er über ihren Lippen und küsste sie flüchtig. Seine Küsse vertrieben jegliches Schamgefühl. Immerhin trug auch er nur noch Boxershorts und – Claire reckte sich ein wenig, als er tiefer glitt und sich wieder der Narbe widmete – die verhüllten so gut wie nichts. Ihre Mundwinkel zuckten und sie genoss den Anblick, als er sich erneut über ihre Hüfte beugte und dabei den Hintern ein wenig in die Höhe streckte.

Doch was er dann tat, raubte ihr schier den Atem. Gerade noch genoss sie die Aussicht und wollte vorschlagen, doch auf engere Unterhosen umzusteigen oder sie gänzlich wegzulassen, und im nächsten Augenblick rutschte er noch tiefer, schob ihre Schenkel auseinander und versenkte den Kopf zwischen ihren Beinen. Bei der ersten zarten Berührung warf sich Claire stöhnend in die Kissen. Hastig schlug sie sich die Hände vor den Mund und keuchte gequält auf. Oh Gott! Wo immer er das her hatte, er war tatsächlich nicht von dieser Welt. Sie hatte immer geglaubt, mit Steve eine sexuell sehr ausgelastete Beziehung geführt zu haben, aber Elko stellte ihn mühelos in den Schatten.

Jede seiner Bewegungen feuerte den Brand erneut an und sie stand bereits so sehr in Flammen, dass es nur noch ein paar gekonnte Berührungen brauchte, um sie über die Klippe springen zu lassen.

Die ersten Wellen rollten langsam und genüsslich auf sie zu, fanden ihr Zentrum dort, wo er sie liebkoste. Sie wollte sich schon erleichtert in die Brandung werfen, als die nächste, viel größere Welle anbrandete. Ein paar Mal hatte sie die zweite Welle mit Steve erreicht, aber nicht so. Claire spürte, dass da noch etwas viel Größeres auf sie zu kam. Wenn Steve eine Zehnmeter-Welle war, so rollte da gerade ein Tsunami heran. Und er hörte nicht auf, sie befand sich im Zentrum dieser Welle. Sie brach auch nicht einfach über ihr zusammen, sie hielt stand. Claire konnte weder atmen noch denken, sie bestand nur noch aus Nerven, die er in Brand gesetzt hatte. Entfernt hörte sie sich selbst stöhnen und keuchen und schreien? Sie wusste es nicht, denn diese Stimme hatte sie noch nie zuvor gehört. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass Elko Jörd diese ausgelöst hatte.

Ganz allmählich verlor die Riesenwelle ihre Kraft und hinterließ eine zitternde und in ihrem Schweiß gebadete Claire. Glücklich seufzend drehte sie sich auf die Seite und lächelte selig. Das war der bei Weitem beste und gewaltigste Orgasmus, den sie je erlebt hatte. Sinnlich schloss sie die Augen und genoss das Gefühl der Freiheit. Zufrieden seufzte sie auf.

 

Die Wellen des Orgasmus ebbten langsam ab und Claire starrte an die Decke ihres Schlafzimmers. Ihr Atem ging stoßweise und sie kämpfte immer noch mit den letzten Auswirkungen. Hastig fuhr sie sich über den Bauch und fühlte die verwaschene Baumwolle ihres Schlafshirts. Moment mal, hatte Elko ihr das Shirt nicht ausgezogen, damit er die Narbe einer genauen Begutachtung unterziehen konnte? Vor wenigen Minuten hatte sie nackt hier gelegen. Sie konnte sich nicht erinnern, in den letzten Augenblicken genug Zeit gehabt zu haben, um sich wieder anzuziehen. Immer noch mit der Verwirrung kämpfend, drehte sie sich zur Seite und begegnete Elkos verstörtem Blick.

»Schlecht geträumt?«, keuchte er atemlos. Nicht wirklich, wollte Claire erwidern, doch der weiche Stoff auf ihrer Haut ließ sie innehalten. Suchend tastete sie über ihren Bauch und knüllte die schweißdurchtränkte Baumwolle unter ihrer Brust zusammen. Ihre Hand fuhr tiefer, berührte den spitzenbesetzen Saum ihres Höschens. Sollte sie tatsächlich nur geträumt haben? Dann war dieser Traum das Realistisches, was sie je im Schlaf erlebt hatte. Noch immer fühlte sie die wohlige Hitze zwischen ihren Schenkel. Von der heißen Feuchtigkeit ganz zu schweigen. Nur mit größter Anstrengung widerstand sie dem Drang, sich dort zu berühren und sich erneut zu vergewissern, dass die letzten Minuten real gewesen waren.

Irritiert wanderte ihr Blick zu Elko, der sie noch immer perplex anstarrte. Dieses Erlebnis konnte kein Traum gewesen sein. Ihr Körper fühlte sich genau so an, wie er sich nach einem Hammer-Orgasmus anfühlen sollte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie vermutlich auch einen Höhepunkt gehabt, nur war er nur indirekt daran beteiligt gewesen. Sozusagen als Zuschauer. Er konnte ja wohl nicht direkt an ihrem Traum teilhaben oder gar ... in ihrem Traum aktiv werden! Die Logik ließ nur einen Schluss zu: Er hatte sie während ihres Hammer-Orgasmus beobachtet!

Entsetzt schlug sich Claire die Hand vor den Mund. Oh Gott, sie hatte hier gelegen und gestöhnt, während er sie dabei angesehen hatte! Gott, war das peinlich!

»Ja«, keuchte sie erstickt. »Ich habe wohl nur geträumt.«

Elko schluckte trocken und betrachtete sie mit fest zusammen gepressten Lippen. »Dann sollten wir jetzt wohl schlafen.« Er langte über sie hinweg nach der Nachttischlampe und löschte ohne ein weiteres Wort das Licht.

Claire sendete ein Stoßgebet des Dankes gen Himmel, denn viel länger hätte sie seinen Blick nicht ertragen. Die Röte stieg ihr ins Gesicht und sie wollte sich nur noch verkriechen. Während die Matratze unter Elkos Drehung knarzte, zog sie sich die Decke bis zur Nasenspitze und versank in ihrem Scham. Sie würde ihm nie wieder in die Augen blicken können! NIE WIEDER!

 

Elko drehte sich schwungvoll um und biss frustriert ins Kissen. Doch die Daunen schluckten sein gedämpftes Stöhnen nur unzureichend. Tränen der Wut und der Frustration traten in seine Augenwinkel. Er glaubte nicht, dass Claire ihm seine aufgesetzte Gleichgültigkeit abnahm. Ihr »Traum« war ganz und gar nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Krampfhaft grub er die Finger ins Kissen. Die Glut brannte in ihm. Die Unterhose schien zu eng und überhaupt, selbst wenn er nicht Teil ihres »Traums« gewesen war, hätte ihr Anblick schon ausgereicht, um ihn in ungeahnte Höhen zu katapultieren. Zu seinem Leidwesen hatte er nicht nur beobachtet, wie sie sich sinnlich windend die Laken zerwühlt hatte, oh nein! Er war mittendrin gewesen. Sprichwörtlich!

Mühsam beherrscht fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Bei Odin! Er hatte sogar noch ihren Geschmack auf den Lippen! Wie war das möglich? Konnte er in ihrem Traum sein? Gab es so etwas? Nun ja, der Geschmack auf seiner Zunge sollte ihm als Antwort genügen.

Die Hitze schoss ihm erneut in die Lenden und setzte alles in Brand, was nicht schon vorher in Flammen gestanden hatte. Er hätte einfach weitermachen sollen! Claire hatte sich sinnlich nach ihm ausgestreckt und es hatte nur ein Quäntchen Mut seinerseits gefehlt und er wäre hemmungslos über sie hergefallen. Doch dann war die Erinnerung erneut über ihm zusammengebrochen und er konnte sich nicht zu mehr durchringen, als sie nach ihrem »Traum« zu fragen. Bei Odin! Er wusste verdammt noch mal ganz genau, was sie geträumt hatte! Und er war Teil davon gewesen. Nicht als Zuschauer! Nicht als stiller Beobachter. Der Geschmack auf seinen Lippen erinnerte ihn an alles, was er getan – mit ihr getan! – hatte.

In ihrem Traum waren für Lokes Taten kein Platz gewesen. Die Erinnerungen an den Angriff war gar nicht erst aufgekommen. Er hatte einfach getan, was er eigentlich schon die ganze Zeit mit ihr tun wollte. Ja, bei Odin, er wollte sich in ihr vergraben, mit allem, was er hatte, mit seiner Zunge, mit seinen Händen und mit seinen Schwanz! Sie sollte ihm gehören und nicht seinem Bruder und es war verdammt noch mal an der Zeit, dass er endlich sein Revier markierte.

Elko schluckte schwer. Aber er konnte nicht! So sehr er es auch wollte, er konnte nicht! Zu mehr als einer flüchtigen Berührung, einem zärtlichen Kuss oder ein paar liebevollen Worten war er nicht fähig. Nicht mehr! Und daran war nur dieser verdammte Bastard von einem Bruder Schuld! Er hatte ihm seine Selbstsicherheit genommen. Er hatte ihn zu einem Spielball widersprüchlicher Gefühle gemacht und er hasste jede Sekunde, die er nicht mehr der Mann war, der er vor diesem Angriff gewesen war.

Mühsam beherrscht presste er die Lider zusammen und grub seine Zähne noch fester in das Kissen. Er wollte schreien. Seine Wut brauchte dringend ein Ventil!

Aber er durfte nicht! Claire würde wissen wollen, wie es ihm ging, warum er sich so aufführte, wo er doch angeblich nichts von ihrem »Traum« mitbekommen hatte! Oh, er war ein so erbärmlicher Lügner. Sie würde sofort erraten, warum er frustriert war! Nein, nein, nein. Er konnte es ihr unmöglich sagen.

Wenigstens hatte er eine kleine Kostprobe von ihr bekommen. Der Schmerz wallte erneut auf und ließ ihn frustriert aufstöhnen. Der »Traum« hatte ihm nur gezeigt, was er nicht haben durfte! Verdammt noch mal!

Aber er hatte ihm auch gezeigt, wie es sein könnte. Dort hatte er weder Angst noch Zurückhaltung gefühlt, er war er selbst gewesen, durch und durch. Und es hatte ihr gefallen ... und ihm auch.

 

Lehmann war erst vor ein paar Stunden gegangen, hatte aber inzwischen drei Mal angerufen. Genervt legte Tommy erneut auf und spielte kurzzeitig mit dem Gedanken, das Telefon überhaupt nicht mehr anzurühren oder es sogar auszuschalten. Zumindest für die nächsten sechs Stunden. Eigentlich sollte er schlafen, doch er hatte beschlossen, die Nacht lieber in Lauerstellung zu verbringen. Mit einiger Mühe hatte er Claires Ohrensessel in den Flur gezerrt, sodass er es sich bequem machen und dabei die Wohnungstür im Auge behalten konnte.

Da sein Chef ein umsichtiger und von Natur aus misstrauischer Mensch war und stets mit dem Super-GAU rechnete, hatte er – kurz nachdem er sich von ihnen verabschiedet hatte – noch einmal geklingelt. Wortlos hatte er Tommy ein Sturmgewehr in die Hand gedrückt. »Falls die Bruderliebe doch zu groß wird«, hatte er mit leicht verzogenem Gesicht gebrummt und war wieder abgerückt.

Nun machte es sich Tommy in dem hübsch geblümten Sesselmonstrum bequem und legte sich das Sturmgewehr über die Oberschenkel. Seine Handfeuerwaffe platzierte er in der Ritze zwischen Armlehne und Sitzpolster und legte müde den Kopf an eines der Ohren. Insgeheim hoffte er natürlich, dass sich Elkos Bruder auch eine Nacht Schlaf gönnen würde, aber er ging lieber auf Nummer sicher. Er hatte keine Lust, mitten in der Nacht von Magiegetöse und dem Geschrei von Lokes Gorillas geweckt zu werden. Für Tommys Geschmack war eine Begegnung dieser Art mehr als ausreichend.

Lehmanns zweiter Anruf galt dem künftigen Trainingsgelände, er habe da so etwas im Auge, würde aber noch ein wenig rumtelefonieren und sich gegebenenfalls noch mal melden. Das tat er dann auch, wie Tommy säuerlich anmerkte. Er hatte ein paar Jungs zu Kettlers Lagerhaus geschickt und sie mit dessen Observation betraut.

Tommy empfand seinen Chef als etwas übereifrig, doch es fühlte sich gut an, dass jemand die Fäden in die Hand nahm und für ihn mitdachte. Dank seiner Müdigkeit war er kaum noch in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen. So positioniert würde er zwar nicht schlafen können, aber er konnte wenigstens Claires und Elkos Nachtruhe sichern.

Grinsend rutschte er in eine bequemere Position. Nicht, dass die beiden schlafen im Sinn hatten. Er würde sich jetzt garantiert nicht vor Claires Schlafzimmertür herumdrücken. Seine Fantasie malte farbenfrohe Bilder, was dort drin vor sich ging.

Hinter Tommy raschelte es leise und lenkte seine Aufmerksamkeit von Claires Schlafzimmer ab. Sigrid drehte sich zum wiederholten Male auf der Couch um.

»Du musst das nicht tun«, murmelte sie und er hörte, wie sie sich unter protestierenden Quietschen der Polster aufrichtete. Dann erhellte die kleine Lampe, die Claire auf dem Tischchen neben dem Sofa platziert hatte, das Wohnzimmer. »Ich habe einen Bannkreis gezogen, das wird ihn aufhalten.«

Tommy seufzte. »Und wenn dein Bannkreis nichts taugt? Nein, nein, ich traue deiner Magie nicht und ich fühle mich sicherer, wenn ich hier sitze und die Tür im Auge behalte.«

Dem leisen Rascheln folgte das Geräusch nackter Füße auf blankem Holzboden. Sigrid trat neben ihn, legte ihm eine Hand auf die Schulter und fuhr ihm mit der anderen über den Nacken. Mit angehaltenem Atem hob er den Kopf und blickte ihr gebannt in die Augen. Er spürte ihre zärtlichen Finger auf seiner Haut, wie sie mit dem leicht gekräuselten Haar spielte und sich vorsichtig zu ihm beugte. Ihre andere Hand wanderte über seinen Hals, nestelte am Kragen seines Shirts herum. Tommy bekam eine Gänsehaut, als Sigrids warmer Atem sanft über sein Ohr strich.

»Mein Bannkreis ist perfekt«, flüsterte sie so leise, dass es Tommy einen Schauer über den Rücken jagte. Selbst wenn sie ihm ein Kochrezept ins Ohr gehaucht hätte, allein die Art, wie sie es sagte, faszinierte ihn. Tommy nahm nur noch ihre Stimme wahr, verfing sich darin und dämmerte beinahe weg.

»Sag mal, hypnotisierst du mich?!« Alarmiert sprang er auf und stieß unsanft mit Sigrid zusammen, sodass sie zu Boden geworfen wurde und ihm das Sturmgewehr aus der Hand glitt. Stöhnend rieb sich Sigrid den Kiefermuskel.

»Nein! So etwas würde ich nie tun!«, wehrte sie sich heftig und verschränkte auf dem Boden sitzend die Arme vor der Brust. »Du brauchst den Schlaf genauso dringend wie wir. Es war nur ein kleiner Beruhigungszauber.« Schmollend schob sie die Unterlippe vor und brachte Tommy mit ihrem Anblick zum Lächeln. »Warum glaubt eigentlich jeder, dass ich euch, sobald ihr mir den Rücken zuwendet, hintergehe?« Der Vorwurf in ihrer Stimme war unüberhörbar.

Tommy knirschte mit den Zähnen. Ihr einen nachdenklichen Blick zuwerfend griff er nach dem Sturmgewehr und prüfte den Sicherungshebel. Alles in Ordnung. Geladene Waffen erforderten doppelte Aufmerksamkeit, besonders wenn sie mit Schlägen und Stößen traktiert wurden. »Liegt vielleicht daran, dass du Loke den Standort meiner Hütte verraten hast. Und bitte keine Zauberei bei mir!«, brummte Tommy mit zusammengebissenen Zähnen und setzte sich wieder in den Sessel.

»Entschuldige ... Wird nicht wieder vorkommen. Ich dachte, das hätten wir geklärt ...«, wehrte sich Sigrid nüchtern. Tommy glaubte zwar, dass sie zu keinerlei Reue fähig war, aber er hörte durchaus eine gewisse Enttäuschung mitschwingen. Seufzend drehte er sich um und beugte sich über die Armlehne, sodass er Sigrid ansehen konnte. »Du hast es vielleicht mit Elko geklärt, aber nicht mit mir. Dank dir wurde meine beste Freundin in Lebensgefahr gebracht. Ich bin mitten in einen mörderischen Bruderkrieg geraden und mein Chef plant mittlerweile voller Begeisterung einen Kleinkrieg«, zischte Tommy aufbrausend. »Was hast du dir nur dabei gedacht?!«

»Er hätte sowieso früher oder später herausgefunden, wo sie sich verstecken«, flüsterte Sigrid und starrte Tommy wütend an. »Wenn ich geahnt hätte, was er vorhat ... hätte ich ihn nie angerufen. Ich war immer nur an Elkos Wohl interessiert ... Ich dachte, wenn er sich erst mit seinem Bruder aussöhnt, könnten wir zurückkehren, er würde sein Amt ausfüllen, wie es von ihm verlangt wird und alles wäre wieder in Ordnung. Loke hat mich belogen und benutzt ... dabei waren wir mal so etwas wie Freunde ...« Ihr Zorn verrauchte und sie zog erschöpft die Beine an, legte ihren Kopf auf die Knie und seufzte müde. Als er sie so zitternd und frierend auf dem kalten Holzboden sitzen sah, verblasste seine Wut.

Tommy war sich nicht sicher, ob der Gefühlsausbruch echt war oder sie ihn einfach nur aus der Reserve locken wollte, doch irgendetwas regte sich in ihm. Er lehnte das Sturmgewehr gegen die Wand, erhob sich und setzte sich zu ihr auf den Fußboden. Wortlos nahm er sie in die Arme und bettete ihren Kopf an seine Schulter. In den letzten Tagen hatte er sie bereits unzählige Male im Arm gehalten und getröstet, und es hatte sich immer gut angefühlt. Auch ihr Atem auf seiner Haut hatte sich gut angefühlt und ließ ihn keineswegs kalt. Dennoch empfand er in ihrer Gegenwart ein rätselhaftes Unwohlsein.

Sigrid war in Dingen bewandert, die er sich nicht einmal im Traum vorstellen konnte und das ließ ihn immer wieder zurückschrecken. Er fürchtete, sie könne irgendwann einmal die gesamte Bandbreite ihrer Fähigkeiten bei ihm einsetzen. Er war ihr gegenüber keineswegs abgeneigt und sie würde überrascht sein, wie viel sie in ihm auslöste - ganz ohne Magie. Aber da war immer noch ihr Verrat, der ihn bestimmt noch eine ganze Weile auf Abstand halten würde.

Lächelnd strich er über ihr blondes Haar und setzte einen sanften Kuss auf ihren Scheitel. Eine wirklich begehrenswert schöne Frau .... Irgendwann, dachte er seufzend, aber jetzt ist es noch zu früh.

»Hast du sonst noch etwas getan, was ich wissen sollte?«, flüsterte er und glitt mit der Hand über ihren Rücken, zog sie an der Taille noch enger an sich und genoss den Moment inniger Nähe.

Schniefend wischte sie sich die Tränen von den Wangen und sah ihn mit rot geweinten Augen an, schüttelte sacht den Kopf. »Nein, nichts«, murmelte sie mit verletzter Stimme. Tommy zuckte zusammen und wusste, er hätte diese Frage nicht stellen dürfen. Mit seinem ständigen Misstrauen - gerechtfertigt oder nicht - hatte er sie verletzt. Wenn er sich ihrer doch nur sicher sein könnte.

»Es tut mir leid, Sigrid, aber es wird noch eine Weile dauern, bis ich ... wir alle ... dir absolut vertrauen können.« Ihre enttäuschte Miene versetzte ihm einen Stich, aber nur die Zeit würde die Wunde, die ihr winziges Telefonat gerissen hatte, wieder heilen.

»Kann ich etwas tun?«, wisperte sie stockend. Nachdenklich legte Tommy die Stirn in Falten. Selbstverständlich konnte sie etwas tun.

»Du könntest mir dein Handy geben, damit ich deine Anrufe durchsehen kann.« Auf ihren entsetzten Blick fügte er lächelnd hinzu: »Vertrauen schenken wird mit Vertrauen belohnt.« Sigrid erwiderte sein Lächeln und nickte zögerlich. »In Ordnung.«

Als sie nach ihrem Handy kramte, ließ sich Tommy wieder in den Sessel sinken. »Woher hast du eigentlich Lokes Nummer gehabt? Ich bin etwas erstaunt, dass ihr Handys nutzt. Habt ihr dort oben etwa auch so etwas wie Mobiltelefone?«

Während sie Tommy ihr entsperrtes Telefon reichte und sich auf der Armlehne des Sessels niederließ, beantwortete sie seine Fragen. »Du würdest dich wundern, wo sich Asgard befindet. Dort oben«, sie deutete lächelnd gen Zimmerdecke, »ist es allerdings nicht. Wir sind weder Außerirdische noch kommen wir aus einer anderen Dimension. Ich würde dir gerne mehr erzählen, aber der Ort ist gut versteckt und äußerst geheim. Mir steht es nicht zu, etwas zu sagen. Nur so viel: Hätten wir Sendemasten in Asgard, hätten wir sogar Empfang.« Verträumt strich sie über seine Schultern. »Loke und ich sind schon ein paar Mal im Zuge unserer Studien hier gewesen. Die Akademie rüstet jeden mit Handys aus. Wir haben sogar einen Kurs belegt, der sich mit Reisen nach Midgard befasst.«

»Etwa eine Studienreise?«, stieß er neugierig hervor und sah fragend von ihrem Handy auf. Sigrid lachte. »Natürlich! Das macht doch jeder! Außerdem ist Asgard sehr klein, wir sind sogar gezwungen, eure Welt aufzusuchen. Viele Pflanzen, die wir als Ingredienzien benötigen, wachsen bei uns gar nicht. Außerdem gehört es zur Ausbildung. Wir reisen allerdings nur kontrolliert. Regenbogensteine sind knapp. Der theoretische Teil meiner Ausbildung war zwar ermüdend, aber dafür war die praktische Erfahrung hier mehr als ausgleichend.«

Tommy nickte und widmete sich wieder ihrem Handy. »Wie funktioniert das mit den Regenbogensteinen?« Sigrid lächelte und beugte sich flüsternd zu ihm. »Wir zermahlen die Steine zu Staub, und streuen diesen an Asgards Zugängen aus. Ihre besondere Beschaffenheit öffnet den Weg.« Erstaunt sah Tommy auf.

»Es ist also hier? Hier auf der Erde?« Sigrid lächelte vielsagend und nickte unmerklich. Sachte legte sie ihm einen Zeigefinger auf die Lippen.

»Kein Wort darüber«, murmelte sie leise. Tommy nickte paralysiert. »Doch kein Königreich im Nahen Osten?« Sigrid lächelte.

»Möglicherweise, aber verborgen vor den Augen der Menschen.« Tommy schüttelte entsetzt den Kopf und wandte sich wieder dem Handy zu. Nicht möglich, man konnte kein ganzes Land einfach verstecken ... Aber Sigrid meinte, Asgard sei nicht sonderlich groß. Wenn es nur eine Stadt war? Eine Kleinstadt? Aber eine bekannte Stadt konnte es unmöglich sein. Sie sagte, es sei gut versteckt. Verwirrt rieb sich Tommy die Schläfen und versuchte, sich erneut auf ihre Anrufliste zu konzentrieren. Das Handy war real, Asgards Standort konnte er so nicht herausfinden, indem er sich den Kopf zermarterte.

»Du hast immer mal mit Loke telefoniert, mehr als einmal ... Mal hat er dich angerufen, mal du ihn.«

Sigrid seufzte und nickte. »Ja, ich habe versucht, ihn zu einem Treffen mit seinem Bruder zu überreden. Elko wusste davon. Und sonst ist ja auch nichts passiert, er hat uns in Ruhe gelassen, wir ihn. Wir wollten ihn finden, um mit ihm zu reden, aber er hat jeden Vorschlag für ein persönliches Treffen abgeblockt.«

»Erst als ihr auf Claire getroffen seid, ist es außer Kontrolle geraten.« Tommy war zwar nach wie vor misstrauisch, doch er glaubte ihr. Als er durch ihre Kurznachrichten scrollte, fand er ebenfalls nichts Verdächtiges. Das letzte Telefonat mit Loke fand kurz vor seinem Erscheinen mit Claire in ihrer Wohnung statt. »Du hast ihn nochmals angerufen, als Elko bereits verletzt war?«

»Ja ... ich war wütend, ich wollte ihn zur Rede stellen, von ihm wissen, womit er ihn vergiftet hat. Letztlich hat er mir durch seine Eitelkeit einen Tipp gegeben. Er konnte es nicht lassen.«

Tommy nickte. Auf den ersten Blick fand er keine weiteren Gespräche mit Loke. Er traute Sigrid zwar viel zu, aber nicht in Sachen Technik. Sie war viel zu beschäftigt gewesen, um ihr Handy zu manipulieren. Immerhin hatte sie Claire geholfen, Elko zu retten. Ob ihre Bemühungen vor Claires Eingreifen aufrichtig waren, konnte er nicht beurteilen, dafür verstand er zu wenig. Ihre Gefühlsausbrüche könnten ebenfalls reine Show gewesen sein, aber Tommy glaubte nicht daran. Dafür hatten sie sich zu echt angefühlt. Entweder das, oder sie würden ihr alle auf den Leim gehen. Nun gut, das Handy war jedenfalls sauber.

Zufrieden für den Moment gab Tommy ihr das Mobiltelefon zurück und Sigrid nahm es mit einem dankbaren Lächeln entgegen. Und wenn Elkos Überleben zu Lokes Plan gehörte? Würde Sigrid ihn dann darüber informieren? Tommy schwirrte der Kopf. Sie brauchten dringend mehr Informationen.

Für den Augenblick musste er sich damit begnügen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Augen und Ohren offen zu halten, sie zu beobachten. Vielleicht könnte eine gezielte Falschinformation sie enttarnen, wenn sie sie tatsächlich belog. Tommy wusste zwar noch nicht, wie er das anstellen sollte, aber er behielt es im Hinterkopf. Als sich Sigrid erhob, um ihr Handy wieder in ihrer Tasche zu verstauen und mit wippenden Hüften Richtung Küche verschwand, glitt sein Blick über ihren Rücken. Mühelos konnte er die sanften Rundungen unter dem fast durchsichtigen Stoff ihres kurzen Nachthemdes erkennen. Sie trug nichts weiter als diesen Hauch von Seide und ein Höschen. Schwer seufzend wandte er sich wieder um und griff nach dem Sturmgewehr. So verlockend ihr Angebot auch war, er würde nicht darauf eingehen, nicht so lange er sich ihrer Loyalität nicht absolut sicher sein konnte.

 

Das sanfte Pulsieren in ihrem Inneren war schließlich doch – wider Erwarten – abgeklungen. Elkos kühle Distanziertheit trug ausschlaggebend dazu bei. Aber an Schlaf war dennoch nicht zu denken. Claire wälzte sich unruhig hin und her und setzte sich schließlich frustriert auf. Der Traum war einfach zu realistisch gewesen, als dass sie jetzt auch nur an Schlaf denken konnte. Ihre Gedanken rasten und sie kämpfte gegen aufwühlende Unruhe. Zudem spürte sie deutlich, dass Elko nicht ganz ehrlich zu ihr gewesen war. Sein gedämpftes und nur unzureichend verborgenes Stöhnen ins Kissen reichten aus, um sie nachträglich noch mehr aus der Fassung zu bringen. Er hatte an ihrem Traum teilgenommen, wenn schon nicht als aktiver Bestandteil, dann zumindest als Beobachter. Und die dortige Erfahrung ließ ihn keineswegs kalt. So viel stand fest.

Zudem brauchte Claire kein Telepath zu sein, um zu erkennen, wie schwer es ihm gefallen war, sich zurückzuhalten. Seine verkrampfte Haltung war selbst ohne direkten Körperkontakt deutlich spürbar. Aber wie sollte sie jetzt ein Gespräch beginnen? Gott, noch vor wenigen Minuten wollte sie ihm nie wieder in die Augen sehen. Die Scham überlagerte alles Denken. Aber er lag in ihrem Bett und war heiß wie die Sünde. Zudem hatte er sie geküsst und gestreichelt und sie in seinen Armen gehalten. Sie wollte mehr, so viel mehr! Ihn so nah bei sich zu fühlen und nicht berühren zu können, zerriss sie innerlich. Sie sehnte sich nach so viel mehr als nur Küsschen hier, Küsschen da!

Im Traum jedenfalls hatten sie perfekt miteinander harmoniert. Wenn sie jetzt einfach einschlief, könnte sie vielleicht eine Fortsetzung erleben ... Frustriert seufzte Claire auf. Unmöglich! Sie wollte keinen Traum! Sie wollte ihn, mit Haut und Haaren! Gott, dieser verdammte Mistkerl Loke Jörd hatte sie in diese vertrackte Situation gebracht. Jetzt lag sie hier, durfte Elko nicht anfassen und einschlafen konnte sie auch nicht. Verdammt!

Allein der Gedanke, dass Elko den Traum miterlebt hatte, brachte sie um den Schlaf. Wenn sie morgen halbwegs normal mit ihm umgehen wollte, musste sie zunächst mit ihm reden. Aber wie?! Wie sollte sie ihm nach ihrem Beinahe-Sex in die Augen sehen? Jetzt konnte sie auf gar keinen Fall mit ihm reden! Ihre Gefühle waren noch viel zu aufgewühlt und er brauchte dringend Schlaf. Das Fieber, die Verletzung und die Austreibung des Gifts forderten ihren Tribut und den konnte er nur in Form von Schlaf zollen.

Noch während Claire mit sich rang, wie sie am Morgen ein Gespräch beginnen und ihn auf den Traum ansprechen sollte, kam ihr ein Gedanke. Warum tat sie eigentlich nicht das, was sie in so einer Situation immer tat? Sie würde sich Rat suchend an ihre Freundinnen wenden. Erschreckt stellte sie fest, dass sie sich seit Tagen nicht um ihr soziales Umfeld gekümmert hatte. Okay, sie war mindestens vierundzwanzig Stunden in der Gewalt eines Irren gewesen, Elko wurde niedergestochen, vergiftet und ist dem sicheren Tod nur ganz knapp entkommen. Da konnte sie sich ein wenig Verständnis erhoffen. Nur zu blöd, dass sie ihren Freundinnen die Geschichte nicht in ihrer ungeschönten Wahrheit erzählen konnte. Claire seufzte ergeben und starrte an die Decke. Elko lag neben ihr, sein Atem ging ruhig. Ganz allmählich spürte sie, wie seine Anspannung nachließ und sein Atem flacher wurde, bis er endlich in ein tiefes Grunzen überging.

Claire lächelte verträumt. Wie gerne hätte sie sich jetzt an ihn gekuschelt und seine Nähe genossen. Aber die Ereignisse der letzten Tage hatten ihre Beziehung über die Maßen strapaziert. Er brauchte Zeit und sie brauchte dringend jemanden, mit dem sie reden konnte. Aber weder mit Tommy, noch mit Sigrid konnte sie sich beraten, wie sie sich Elko gegenüber in Zukunft verhalten sollte. Sigrid war Elkos Ex und Tommy ein Mann! Für solche Gespräche hatte sie Freundinnen ... die sie in den letzten Tagen sträflich außer Acht gelassen hatte. Claire wurde heiß und kalt auf einmal. Sie hatte sich die letzten Tage weder bei ihren Freundinnen noch bei ihrer Mutter gemeldet. Oh Gott, ihr Handy würde unter dem Trommelfeuer sorgenvoller Anrufe glühen. Wo war es überhaupt?

Sie schaltete das Licht an und zog die oberste Schublade ihres Nachttisches auf. Und da lag es, tatsächlich. Sie konnte sich nicht erinnern, es dorthin getan zu haben und sie wusste auch nicht, wie es überhaupt zurück in ihre Wohnung gekommen war. Aber da lag es, der Akku leer war zwar leer, aber es war hier. Tommy, das konnte nur Tommy gewesen sein. Sie nahm es aus der Schublade und stöpselte es ein. Sie müsste sich nur noch wenige Minuten gedulden, dann würde es so weit aufgeladen sein, dass es automatisch startete und sie die gefühlten 25 Millionen Sorgenanrufe und Nachrichten entgegennehmen konnte. Derweil konnte sie sich ja passende Entschuldigungen zurechtlegen, warum sie sich fast eine Woche nicht gemeldet hatte.

Eigentlich wollte sich Claire nicht rechtfertigen, vielleicht bei ihrer Mutter, aber ihre Freundinnen würden ihr wohl kaum Vorwürfe machen. Claire schielte zu Elko, der sich gerade mit einem lautstarken Schnarcher in Erinnerung brachte. Er war die eigentliche Ursache ihrer Vernachlässigung. Mit ihm hatte sie Dinge erlebt, die so unglaublich waren, dass sie sie selbst nicht einmal glauben würde – wenn sie nicht live dabei gewesen wäre oder die Auswirkungen am eigenen Leib erfahren hätte. Nein, sie würde sich nicht rechtfertigen, dafür fehlte ihr schlicht die Kraft.

Steph und Chrissy würden ihre Abwesenheit ohne Wenn und Aber akzeptieren, hoffte sie. Beschuldigungen, warum sich der eine oder die andere eine Woche lang nicht gemeldet hatte, gehörten nicht zu ihrer Beziehung.

Ungeduldig starrte Claire auf das Display und beobachtete den nervenzehrenden Startvorgang. Erleichtert und zugleich aufgeregt, tippte sie ihren Code ein und wartete auf die Freischaltung. Noch ehe sie sich überhaupt den eingehenden Nachrichten zuwenden konnte, startete das erwartete Leuchtfeuer verpasster Anrufe. Claire hatte nun die Wahl zwischen diversen SMS, nicht entgegengenommene Anrufen, WhatsApp-Nachrichten und Emails. Ihr soziales Leben lief Amok und das nur, weil sie sich ein paar Tage nicht gemeldet hatte. Zugegeben, sie hatte in diesen Tagen mehr Ängste ausgestanden als zu Steves Mount Everest-Tour, aber trotzdem hatte sie nicht mit so vielen Nachrichten gerechnet.

Claire wollte sich aktuell nicht mit dem ganzen Datenmüll beschäftigen und verschob die Begutachtung der Nachrichten auf später. Jetzt wollte sie sich nur ihren psychischen Ballast von der Seele reden. Zielgerichtet suchte sie die letzten verpassten Anrufe heraus. Der letzte Anruf von Steph war gerade mal eine halbe Stunde her. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihr zudem, dass es erst kurz nach Mitternacht war. Steph ging nie vor ein Uhr ins Bett. Wenn ihre Freundin nicht gerade total neben der Spur lief, hatte sie gute Chancen, sie noch zu erreichen. Sie klickte auf die Rückruf-Taste und lehnte sich dann zurück. Erleichterung und Aufregung beherrschten sie vom ersten Klingelzeichen an, obwohl sie wusste, dass Steph ihr keinerlei Vorwürfe machen würde. Wären die Ereignisse der letzten Tage nicht dermaßen drastisch und weltverändernd gewesen, wäre Claire höchstwahrscheinlich auch nicht aufgeregter als sonst ... Ihr Blick glitt erneut zu Elko. Wenn sie beispielsweise NUR von einer neuen Liebelei berichteten würde. Aber er war mehr, so viel mehr.

»Gott, Claire!«, keuchte die Freundin bereits nach wenigen Wahltönen erleichtert ins Handy. »Wo hast du gesteckt! Ist alles okay?! Deine Mom hat mich mindestens zehn Mal angerufen! Was ich mir alles anhören durfte! Ich war zudem dreimal bei dir! Nie hat jemand aufgemacht! Wo warst du nur?«

»Hey«, machte Claire und ging nicht weiter auf Stephs Vorwürfe ein. Sie war bei ihr gewesen? Oh, ihre Mom musste sie mit ihren Anrufen schier verrückt gemacht haben, wenn Steph dreimal bei ihr gewesen war. Aber wenn sich ihre Mutter so große Sorgen gemacht hatte, dass sie bereits Steph zu ihr geschickt hatte, hätte sie doch auch selbst die dreistündige Fahrt auf sich nehmen können. Na, anscheinend waren die Sorgen noch nicht groß genug.

Stephs Stimme bescherte ihr ein so starkes Gefühl von Normalität, dass sie nur mit Mühe ein Schluchzen unterdrücken konnte. Sie hatte gar nicht gewusst, wie sehr sie sich nach der Langeweile ihres bisherigen Lebens sehnte. Die Verzweiflung, die Angst und die Sorgen der letzten Tage wurden ihr umso bewusster und drängten mit einem heftigen Aufschluchzen nach außen. Sie wollten endlich gehört und verarbeitet werden.

»Claire?« Die Verunsicherung in Stephs Stimme verleitete Claire zu einem noch herzerweichenderen Aufheulen. Hastig hielt sie sich den Mund zu und schielte argwöhnisch zu Elko. Sie wollte ihn auf gar keinen Fall wecken.

»Alles okay, Süße?«, fragte Steph, als sie sich etwas gesammelt hatte. Claire schüttelte mechanisch den Kopf.

»Nein, überhaupt nicht.« Sie presste die Lider so fest zusammen, dass es weh tat, aber die Tränen brannten in ihren Augen und ließen sich auf diese Weise nicht stoppen.

»Was ist passiert?« Steph strahlte wie immer eine so unerschütterliche Ruhe aus, dass sie selbst durch die Leitung auf Claire überging und sie sich schneller als erwartet beruhigte.

»Viel, viel zu viel. Aber ich kann dir kaum etwas erzählen. Kannst du mir nicht irgendwas erzählen? Irgendwas Belangloses? Wie gehts Kitty?« Kitty war Stephs Siamkatze und ständig krank. Über die Katze konnte Steph stundenlang lamentieren.

»Verstehe, Lehmannsche Geheimsache, oder?«, mutmaßte Steph. Sie wartete gar nicht erst auf Claires Antwort, sondern ging nahtlos zu ihrer Katze über. »Och, Kitty gehts ganz gut«, und begann ihr atemloses Lamento. »Die hat gestern auf den Teppich gekotzt, weil meine Mitbewohnerin ihr das falsche Futter hingestellt hat. Ihre Katze kriegt ganz normales Fressen und Kitty kriegt das Spezialfutter und Veronika hat vergessen, das Spezialfutter für Kitty auf den Katzenbaum zu legen, wo nur sie hinkommt. Also hat sich Veronikas fetter Kater an dem Spezialfutter bedient und für Kitty blieb nur dieser Supermarkt-Fraß ...« Und so ging es eine ganze Weile. Claire ließ sich von Stephs Katzengeschichten einlullen und ertappte sich sogar dabei, wie sie hin und wieder über den fetten Kater schmunzelte.

Als Steph die Puste ausging, platzte Claire einfach mit der Wahrheit heraus, ohne sich lange in Grübeleien zu ergehen, was sie Steph eigentlich erzählen konnte. »Neben mir liegt ein total heißer Kerl und schnarcht.«

»Ohhhh«, machte Steph. Sie verstand das Signal, auch ohne, dass Claire einleitende Worte hinzugefügt hätte. Dafür hatte man eben beste Freundinnen. Die Belanglosigkeiten beruhigten Claires Gefühle und als sie endlich bereit war, über den eigentlich Grund ihres Anrufes zu reden, schaltete Steph innerhalb einer Sekunde um und wurde ernst.

»Der Kerl aus dem Top10? Oder doch eine Lehmannsche Geheimoperation? Das würde zumindest erklären, warum du nicht Zuhause warst«, grübelte Steph, nicht ohne eine vielsagende Pause am Ende einzufügen. Claire seufzte. Sie war davon ausgegangen, dass beide Freundinnen an besagtem Abend anderweitig beschäftigt gewesen waren und ihr kleines Intermezzo mit Daniel – damals kannte sie seinen wahren Namen noch nicht – vollkommen unbemerkt geblieben war. Da hatte sie sich wohl getäuscht. Zum Glück, wie ihr schien. Damit erübrigten sich lange Erklärungen, wer der Kerl neben ihr überhaupt wahr, wo sie ihn kennengelernt und wie er in ihr Bett gekommen war. Okay, darüber sollte sie vielleicht noch einmal genauer nachdenken, denn so richtig wusste sie nicht, wie sie Steph diese Tatsache erklären sollte. Fakt war jedenfalls, dass Elko unmöglich in seinem Zustand auf dem Fußboden nächtigen konnte. Und selbst wenn er es gewollt hätte, wäre eher Claire auf die Isomatte umgezogen, statt ihn aus ihrem Bett zu werfen.

»Also wer ist er?«, lachte Steph. »Der Kerl aus dem Top10 oder eine Lehmann-Operation? Der besagte Typ ist wohl auch der Grund, warum du keinen Anruf beantwortet hast und nicht an der Tür warst?«

Claire schluckte. »Irgendwie beides. Und das klingt jetzt vielleicht abgedroschen, aber es ist nicht so, wie du denkst.«

Steph gähnte herzhaft. »Was denke ich denn?« Langweilte sich Steph oder war dieses Gähnen vorgespielt, damit Claire sich gezwungen sah, sie mit einer turbulenten Geschichte wachzuhalten?

»Du denkst, er hat was mit Lehmann zu tun und ich hab die letzte Woche mit ihm durchgevögelt«, brummte Claire unzufrieden. Wenn sie das doch nur getan hätte!

»Ach komm«, entgegnete Steph, »es ist grundsätzlich nie so wie die anderen denken. Also hast du nun die letzte Woche vögelnd im Bett verbracht?«

Claire lachte ausgiebig über Stephs Sensationslust. Sie arbeitete in der Pressestelle einer großen Tageszeitung – eher Boulevard-Zeitung – und machte den ganzen Tag nichts anderes, als Pressemeldungen auf Sensationswert zu prüfen und ihrem Redakteur vorzulegen. Dass sie da ein gewisses Maß an Gier nach dramatischen Geschichten in ihr Privatleben übertrug, verwunderte Claire nicht.

Die Wahrheit war allerdings so aufregend, dass Claire kurz zögerte, ob sie einer angehenden Sensationsreporterin wirklich von ihrer letzten Woche erzählen sollte. Doch es handelte sich bei besagter Journalistin um ihre beste Freundin. Steph würde Elkos Geschichte niemals in ihrer Zeitung verwerten, niemals! Claire seufzte und entschied dennoch, die Wahrheit ein wenig zu beschneiden. Sie wollte nicht lügen, aber ihre Fähigkeiten, Elkos Herkunft und wer oder was er war, sollte sie lieber aussparen. »Schlimmer«, murmelte Claire einsilbig.

»Oh.« Stephs Staunen ging in puren Unglauben über. »Heißt das, du hast ihn gleich Hals über Kopf in Vegas geheiratet?«

»Nein«, grummelte Claire und sank etwas tiefer in die Kissen. Wenn sie sich nicht länger gegen Stephs fruchtlose Rateversuche erwehren wollte, musste sie ihr allmählich eine Geschichte auftischen, die ihren Sensationshunger genügend stillen würde. Alledings würde sie die Geschichte Stephs Weltbild anpassen müssen. Claires Blick glitt über Elkos schlafende Gestalt und ihre Züge wurden weicher. Lügen hatten schon längst keinen Platz mehr in ihrem Leben.

»Ich habe eine ziemlich unglaubliche Woche hinter mir. Und ich wäre äußerst dankbar gewesen, wenn ich die letzte Woche nur im Bett verbracht hätte.« Claire seufzte und ließ ihre Hand wie zufällig durch Elkos wirres Haar gleiten.

»Oh. Also doch eine lehmannsche Geheimoperation«, machte Steph erfreut.

»Sein Name ist Elko.«

»Wow«, entfuhr es Steph atemlos. Sie würde keine weiteren Fragen nach Claires Woche stellen. Steph wusste, wo sie arbeitete und das man in ihrer Branche zuweilen nicht über die Aufträge reden durfte. Claire hätte zwar Stephs Annahmen korrigieren können, aber dann hätte sie über den konkreten Verlauf ihrer letzten Woche berichten müssen. Besser, wenn Steph glaubte, sie wäre in geheimer Mission unterwegs gewesen und nicht weiter nachfragte. In gewisser Weise war sie das ja auch. Und Lehmann war ja selbst beteiligt. Das machte Lokes Angriff nicht zwangsläufig zu einer Operation ihrer Firma, aber da der Angriff im Rahmen ihres Jobs geschah, sah sich Claire nicht dazu genötigt, Stephs Annahme zu korrigieren.

»Ja, wow«, murmelte Claire. Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie, dass sie endlich mit jemandem reden musste. »Ich kann dir nicht viel sagen, aber Elko steckt mittendrin und sein Bruder spielt eine gewaltige Rolle«, begann sie gedehnt und erzählte Steph in groben Zügen von dem Angriff im Lagerhaus. »Ich bin mit Elkos Bruder aneinandergeraten und Elko ging ein ums andere Mal dazwischen.«

»Oh«, machte Steph gedehnt.

»Ich bin wohl zwischen die Fronten geraten. Und meine Firma steckt auch tief drin, da Elkos Bruder eine Reihe von Objekten von uns überwachen lässt.«

»Und warum ist der Kerl jetzt bei dir? So heiß oder wie? Oder fühlst du dich zur Dankbarkeit verpflichtet?« Claire überging Stephs bissigen Unterton einfach. Für Uneingeweihte konnte tatsächlich dieser Eindruck entstehen.

Claire seufzte. »Du hast ihn ja gesehen, oder? Nein, ich kann ihn nicht so einfach vor die Tür setzen. Wir wollten uns in Tommys Hütte verkriechen, erst mal von der Bildfläche verschwinden, aber Elkos Bruder ist uns dorthin gefolgt. Da ist die Situation dann eskaliert.« Die Geschichte mit ihrer Entführung sparte sie lieber aus. Wenn Steph davon erführe, würde sie innerhalb der nächsten zwanzig Minuten bei ihr vor der Tür stehen und sie so lange schütteln, bis sie sich endlich bereit erklärte, die Polizei hinzuzuziehen. Und das kam nicht in Frage. Elko und Sigrid hatten weder gültige Papiere noch eine plausible Geschichte. Auf die Einmischung der Behörden konnten sie gut und gerne verzichten. Mit Lehmann und Tommy an ihrer Seite hatte Claire schon genug tatkräftige Unterstützung. Mehr als die Polizei konnten sie auch nicht tun und ihre Freunde – und Kollegen – würden wenigstens keine unangenehmen Fragen bezüglich Elkos Identität stellen.

»Elko wurde verletzt. Aber er erholt sich«, beeilte sie sich, hinzuzufügen. »Und jetzt will ich nur noch auf ihn aufpassen, verstehst du? Sein Bruder hat zudem ein paar sehr unschöne Dinge getan.« Claire seufzte und fuhr sich verzweifelt durchs wirre Haar. Jetzt war es raus! Wenn Steph nun doch beschloss, herzukommen und sie zu schütteln, konnte sie es auch nicht mehr ändern.

»Gott, Süße«, keuchte Steph entsetzt. »Ihr müsst die Polizei einschalten! Wenn der Kerl handgreiflich wurde, können sie ihn einsperren und dann habt ihr Ruhe! Egal, ob Lehmann mit drin hängt oder nicht!«

»Das geht nicht«, murmelte Claire ausweichend. »Elko möchte nicht, dass sich die Behörden einmischen. Er besteht darauf, diese Familienangelegenheit privat zu klären.«

»Ist es denn noch eine Familienangelegenheit, wenn dieser Typ dich angreift ...« Steph hatte verdammt noch mal recht! Aber sie würden auf gar keinen Fall zur Polizei gehen. »Und was gedenkt er zu tun?«, hakte Steph schließlich nach, als Claire nicht fortfuhr.

Claire lachte verstört auf. »Im Augenblick schläft er und denkt überhaupt nicht. Hör zu, ich regele das, irgendwie ... aber die Dinge, die Elko so zugesetzt haben, können nicht so einfach weggeredet werden. Ihm geht es zwar körperlich wieder einigermaßen, aber ich fürchte, er hat einen ganz schönen psychischen Knacks weg.«

»Kein Wunder«, brummte Steph. »Hat er dir auch wehgetan? Sein Bruder?«

Gott, ja! Claire wollte verneinen, wollte Steph beruhigen, aber genau deshalb hatte sie doch angerufen. Sie wollte mit jemandem über ihre Schmerzen reden! Statt einer Antwort schwieg sie und kämpfte erfolglos gegen die Tränen.

Ein tiefes Seufzen am anderen Ende der Leitung machte ihr zudem klar, das Steph auch ohne ihre Antwort verstand. »Gott, Claire! Und er beharrt weiterhin darauf, keine Polizei einzuschalten?«

»Ja«, schluchzte Claire und schniefte.

»Und wenn du einfach zur Polizei gehst?«

»Kann ich nicht«, murmelte Claire und wischte sich die Nase mit dem Ärmel ihres Shirts ab. »Ich werde nicht gegen seine Wünsche handeln.«

»Okay. Na dann muss er ja ziemlich heiß sein, wenn du in dem Punkt nachgibst. Du bist doch sonst so vernünftig und überdenkst jede Entscheidung tausendmal, bevor du dich wirklich festlegst.«

Claire lachte. »Wenn du wüsstest. Jedenfalls mache ich mir ernsthaft Sorgen um ihn. Er lässt sich zumindest wieder von mir berühren ...« Gott, hatte sie das wirklich gesagt? Sie wollte doch auf gar keinen Fall zu viel sagen. Doch sie war so froh, endlich mit jemandem über Elko reden zu können, dass sie sich ihre Worte nicht sorgfältig zurechtgelegt hatte.

Die vielsagende Pause am anderen Ende der Leitung ließ ihr Herz kräftig gegen die Innenseite ihres Brustkorbs schlagen. Wie würde Steph auf diese Offenbarung reagieren?

»Gott, Claire! Was ist passiert? Hast du ihn etwa zusammengeschlagen und missbraucht?«

»Nicht ganz, aber das kommt der Wahrheit schon ziemlich nahe. Ich kann es dir wirklich nicht sagen.« Müde rieb sich Claire über die Augen und bereute für den Bruchteil einer Sekunde, dass sie Steph überhaupt angerufen hatte. Nein, eigentlich bereute sie es nicht, sie bereute nur, es nicht schon viel früher getan zu haben. Das Gespräch tat ihr gut. Auch wenn es unglaublich schmerzte, die Ereignisse der letzten Tage noch einmal zu erleben, war diese Erfahrung heilsam und sie spürte, wie sie allmählich ruhiger wurde.

»Okay, okay«, machte Steph ausweichend. »Ich verstehe, dass du mir nicht mehr sagen kannst. Und ich verstehe auch langsam, warum du dich nicht mit deinem heißen Lover durch die Laken wälzt und ihm lieber beim Schlafen zuschaust. Wie geht‘s ihm denn und wie geht‘s dir?«

Danke, danke, danke! Endlich fragte jemand auch mal, wie es ihr ging! Tränen der Erleichterung lösten sich aus Claires Augenwinkeln und sie schluchzte ein letztes Mal auf. »Gut, mir geht es erstaunlich gut. Ich bin müde und abgekämpft, und erschöpft. Aber ich bin auch unglaublich froh, ihn hier zu haben.« Zu den Tränen, die sich schweigend ihren Weg über ihre Wangen suchten, gesellte sich ein süffisantes Zucken der Mundwinkel. »Allerdings habe ich mich tatsächlich mit ihm durch die Laken gewälzt.«

Ungläubiges Keuchen entlockte Claire ein schüchternes Lachen. »Nun ja, ich hatte einen ziemlich feuchten Traum.«

»Pah! Du Luder!«, lachte Steph und die Anspannung in Claires Brust löste sich in Wohlgefallen auf. Der eisige Knoten schmolz unter Stephs gelöstem Lachen und Claire fühlte, wie die enge Freundschaft ihr das Herz wärmte. Nein, es war goldrichtig, Steph angerufen zu haben.

»Und wie war er?«

»Traumhaft gut«, gluckste Claire und krallte sich ein Kissen. Entweder das, oder sie würde ihre Finger erneut in Elkos wirrer Mähne vergraben. »Und ich glaube, ich war nicht wirklich leise. Als ich aufgewacht bin, hat er mich ziemlich irritiert angestarrt.«

»Claire Esterbrooks! Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass die einen feuchten Traum hattest und dabei auch noch laut warst?«

Claire rutschte etwas tiefer in die Kissen. »Doch«, murmelte sie kleinlaut. Steph lachte herzlich auf, so laut, dass Claire das Telefon auf Abstand halten musste, sonst wäre ihr das Trommelfell unter Stephs Ausbruch geplatzt.

»Zu geil!«, keuchte die Freundin, als sie sich schließlich wieder beruhigt hatte. »Wie hat er darauf reagiert?«

»Hat mich nur gefragt, ob ich schlecht geträumt habe!«

»Pah, der ist gut! Den muss ich unbedingt einmal kennenlernen!« Claire lächelte.

»Wirst du, wenn das alles hier vorbei ist.« Schlagartig verpuffte Stephs Gelächter.

»Ja, wenn das alles vorbei ist. Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Nein«, entgegnete Claire. »Nicht dabei. Aber du könntest mir verraten, wie ich mit ihm umgehen soll. Erst die Ereignisse der letzten Tage und dann dieser Traum. Er, ich – wir – sind reichlich verwirrt und ich habe keine Ahnung, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll! Es ist zum Haare raufen! Auf der einen Seite will ich über ihn herfallen, auf der anderen Seite will ich ihn aber auf gar keinen Fall bedrängen ... Und dann der Traum! Ich glaube, er weiß ganz genau, was ich geträumt habe!«

»Oh, natürlich weiß er, was du geträumt hast. Er scheint ja nicht dämlich zu sein«, lachte Steph und schien endlich die ganze Tragweite von Claires Gefühlen begriffen zu haben. »Das ist ja ne vertrackte Situation.«

»Ja.« Claire nickte zustimmend. »Und was mach ich nun?«

»Tja. Also den Traum würde ich ja überhaupt nicht erwähnen. Du musst dich auf jeden Fall zurückhalten und darfst ihn nicht bedrängen. Aber wieso schläft er bei dir im Bett? Hat er keine Wohnung? Nichts, wo er hin kann? Ihr solltet doch wohl lieber getrennt schlafen und erholen und dann einen Neustart wagen, als gleich in die Vollen zu gehen und das Bett zu teilen. Das kann doch nur nach hinten losgehen, oder?«

Claire seufzte. »Ich weiß auch nicht. Wir haben seine Verletzungen hier behandelt und dann ist er einfach hier in meinem Bett liegen geblieben. Später habe ich mich einfach dazu gelegt und er hat auch nicht darauf bestanden, dass er woanders schläft. Und jetzt liegt er hier.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung räusperte sich gemächlich. »Nun, ich würde ihn auch nicht rauswerfen. Aber sei es drum. Wie viel liegt dir denn an ihm?«

Claires Blick glitt über Elko. Er lag auf dem Bauch und hatte ihr den Kopf zugewandt. Seine Schulter hob sich unter leichten Atemzügen. Sanft legte sie ihre Hand auf seinen Rücken und genoss die leichten Vibrationen, die durch das Schnarchen über seine Muskeln liefen. Sie könnte ihm stundenlang dabei zusehen und die gesunde Wärme seines Körpers genießen.

»Claire?«

»Alles, er bedeutet mir alles«, beeilte sie sich zu sagen. Steph lachte.

»Dein Schweigen war mir schon Antwort genug. Ich fürchte, dann musst du dich zurückhalten und warten, bis er von selbst kommt. Du darfst ihn nicht drängen oder an ihm ziehen.«

Claires Mund kräuselte sich, als Elko eine Strähne seines wirren Haares ins Gesicht fiel und von jedem seiner Atemzüge leicht emporgehoben wurde. »Ich weiß, aber es tut gut, es noch mal aus deinem Mund zu hören.«

»You’re welcome«, murmelte Steph und gähnte. »Soll ich dir noch ein wenig belanglosen Pressetratsch erzählen?«

»Gerne«, lächelte Claire und kuschelte sich tiefer in die Kissen, beobachtete Elkos Gesicht und lauschte Stephs einlullender Stimme, die ihr eine Sensation nach der anderen berichtete.

 

»Claire?«

Sie wusste nicht, wie lange oder ob sie überhaupt schon geschlafen hatte. Allein der Klang ihres Namens aus seinem Mund jagte ihr wohlige Schauer über den Rücken und sie war sofort hell wach. Der ernste Unterton entging ihr trotzdem nicht. Wo er die wenigen Buchstaben in ihrem Traum noch verheißungsvoll gehaucht hatte, zog sich ihr Magen in Erwartung schlechter Nachrichten nervös zusammen. »Ich muss dir was erzählen«, murmelte er leise und sie spürte, dass er nicht von ihrem gemeinsamen Traum sprach.

 

»Verdammt! Dieses Miststück!« Claire schnaubte wütend und setzte sich abrupt auf. »Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wie Loke uns gefunden hat!«

»Eigentlich ist es meine Schuld, ich hätte nie mit ihren Gefühlen spielen dürfen. Erst mache ich ihr fadenscheinige Hoffnungen und dann schiebe ich sie brutal an den Rand. Sie war so von Eifersucht zerfressen ...« Elko zuckte mit den Schultern, glaubte, Sigrids Verhalten so einfach rechtfertigen zu können.

»Das ist noch lange keine Entschuldigung. Sie wollte mich aus dem Weg räumen!« Wütend schüttelte Claire den Kopf, starrte die Wand an und knetete das Bettlaken so lange, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

»Hey«, murmelte Elko und richtete sich auf. Doch statt ihr beruhigend den Rücken zu streicheln und ihr einen Kuss auf den Hinterkopf zu geben, hielt er in seiner Bewegung inne und ließ die Hand unverrichteter Dinge wieder sinken.

»Sie hat dir nicht schaden wollen«, wich er hastig aus, ehe sie sein Zögern bemerkte. »Ich habe ihr bereits vergeben und ich wünsche, dass du ihr auch vergibst.«

Entrüstet fuhr Claire herum und sah ihn ärgerlich an. »Du wünschst? Ihr kleiner Telefonanruf hat dich beinahe umgebracht und sie hat mich Loke auf dem silbernen Tablett präsentiert! Das kannst du nicht so einfach verzeihen! Wie kannst du so etwas von mir verlangen?«

»Ich weiß«, murmelte Elko seufzend und ließ seine Hände sinken.

»Wie kannst du ihr gegenüber so viel Verständnis aufbringen?«

Gequält schloss er die Augen und lehnte sich an die Kopfseite des Bettes. »Nun, weil ich nicht ganz unschuldig an ihrem Verhalten bin. Weil ich sie und ihre Fähigkeiten brauche. Sie weiß mehr über den Hammer als ich. Ich wurde nie an der Akademie ausgebildet. Jüngere Brüder kamen von jeher niemals in Frage, also widmeten sich die Ältesten ausschließlich der Ausbildung der Erstgeborenen aus dem Geschlecht Thors.« Elko schloss müde die Augen und gähnte herzhaft. »Sigrid hat ebenfalls die Akademie besucht, wurde als Magierin und Heilerin ausgebildet. Ich habe keine Ausbildung genossen, ich war einfach nicht wichtig genug. Ich war nur dafür bestimmt, in der Garde zu dienen und meinem Vater auf dem Landgut zu helfen. Was ich auch sehr, sehr gerne getan habe.« Elko seufzte, schwieg einen Moment und schwelgte in Erinnerungen. Claire knirschte wütend mit den Zähnen und zwang sich in Geduld, begierig, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren.

»Sigrid hingegen ist in der Geschichte des Hammers bewandert, kennt seine Kräfte besser als ich. Geplant war, mich unter der Anleitung der Ältesten mit den Fähigkeiten vertraut zu machen, während ich in einem Schnelldurchlauf alle wichtigen Informationen über den Hammer lerne. Aber da ich lieber meinem Bruder nachjage, statt meine Pflichten zu erfüllen, sind wir nun nicht mehr in Asgard und ich kann nur auf Sigrid oder Loke als Absolventen der Akademie zurückgreifen, wenn ich den Umgang mit dem Hammer lernen will. Und da mein Bruder mir nicht helfen wird, bleibt nur Sigrid.« Er seufzte. »Du siehst, wir sind auf sie angewiesen.«

»Vertraust du ihr?«, fragte Claire schließlich. Es fiel ihr schwer, die Wut zu zügeln, aber Elkos Einwände ergaben durchaus Sinn. »Loke und sie waren Freunde. Sehr gute Freunde, wenn du verstehst, was ich meine.«

Claire zuckte zusammen und verzog das Gesicht. »Heißt dass, sie hat mit ihm und mit dir ...?« Diese Frau war ja noch schlimmer, als sie sich vorstellen konnte. Wie konnte man den einen Bruder abservieren, um dann mit dem anderen ...? Claire schüttelte sich. Vielleicht hatte man in Elkos Kulturkreis eine etwas andere Einstellung zum Thema Partnerschaft. Sigrid allerdings büßte ein paar weitere Sympathiepunkte bei ihr ein. Die wenigen, die sie sich bei Elkos Rettung erarbeitet hatte, waren schon wieder aufgebraucht.

Elko versuchte ein entschuldigendes Lächeln. »Ich weiß, wie das klingt. Aber ich war jung und ... sie wirkte so erfahren und ich wollte das, was er hatte. Und außerdem waren sie schon nicht mehr zusammen ... Sigrid sagte, dass zwischen ihnen schon seit Jahren nichts mehr passiert war und ...«

Claire wandte sich von ihm ab und starrte betrübt an die Wand. Sie wusste nicht, ob sie auf Sigrid und Elko wütend sein sollte. Zugegeben, die Szene in der Küche ließ eigentlich keine Vermutungen zu und hatte deutlich gemacht, dass zwischen Elko und Sigrid mehr war als Freundschaft. Diese unterschwellige Spannung war greifbar. Jede Geste, jedes Wort zeigte deutlich, wie sehr sie ihn begehrte. Elkos Geständnis war längst überfällig, und sie hatte es ja gewusst. Aber dieses Ereignis jetzt so direkt von ihm zu hören, machte sie kolossal eifersüchtig. Das Biest hatte mit beiden Brüdern geschlafen ... wozu? Warum tat man so etwas? Sigrid hatte Elko als den Bruder ihres Freundes aufwachsen sehen, so viel hatte Claire mitbekommen. Er muss wie ein Bruder für sie gewesen sein. Wie konnte sie da auch nur einen Moment daran denken, mit ihm zu schlafen!

Zornig ballte Claire die Hand und hätte sich am liebsten mit einen kräftigen Hieb Erleichterung verschafft. Eigentlich sollte sie beruhigt sein, denn Elko war bei ihr und nicht bei Sigrid. Aber ihre Wut vertrieb diese Erkenntnis nicht.

»Hey ... Vorsicht«, murmelte Elko beruhigend hinter ihr und deutete auf ihre geballte Hand. Der bläuliche Schein weitete sich kontinuierlich aus und pulsierte im Klang ihres Herzens. »Du musst aufpassen.« Er fuhr sacht über ihren Arm und löste mit seinen Berührungen einen wohligen Schauer aus. Das bläuliche Leuchten verstärkte sich noch etwas, wurde massiver, dehnte sich aus. War das seine Energie, die sie da als Kribbeln wahrnahm oder war das seine Nähe, die sie reagieren ließ? Gott, sie sollten das dringend herausfinden.

»Du hast eine Menge Energie aufgenommen«, murmelte Elko direkt neben ihrem Ohr. »Und tust es immer noch, bei jeder Berührung.« Seine Atmung ging ruhiger als noch vor einigen Minuten und er wirkte nicht mehr ganz so angespannt. Ihr Gespräch hatte ihn zur Ruhe kommen lassen.

Claire folgte fasziniert seiner Hand und schloss sehnsüchtig die Augen, als seine Lippen völlig unerwartet den äußeren Rand ihrer Ohrmuschel streiften.

»Das tut so gut«, seufzte sie, fühlte erneut das sanfte Pulsieren in ihrem Inneren, begleitet von einem tiefen Verlangen, sich in seine Arme zu stürzen und ihn nie wieder loszulassen. Doch Claire zwang sich, diesen Drang niederzukämpfen, rief sich seine Angst in Erinnerung. Allein der Gedanke an die Qualen, die er durch Loke - und sie – erlitten hatte, erleichterten ihr diese Entscheidung. Das Telefonat tat sein Übriges.

Wenn er von sich aus kam, würde sie ihn willkommen heißen und ihm geben, wonach er verlangte. Aber sie würde sich nicht vorwagen. Auf gar keinen Fall wollte sie ihn überrumpeln. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem flüchtigen Lächeln. In ihrem Traum war er jedenfalls sehr schnell zum Zentrum seiner Wünsche gelangt. Hastig löste sie sich aus ihren Wunschvorstellungen und öffnete die Augen, fokussierte ihre Gedanken auf ihre leuchtende Hand und versuchte, nicht zu sehr in seinen Berührungen zu schwelgen. Der immer stärker werdende Sog machte es ihr nicht leicht. Das Verlangen klebte wie zäher Kaugummi an ihr und lockte sie. Es schien, als würde ihr Körper genau wissen, was ihr fehlte, nur ihr Verstand weigerte sich standhaft, dem Drängen nachzugeben. Gott, es war so schwer! Claire seufzte tief und konzentrierte sich auf ihre Hand.

»So viel Energie habe ich bei deiner Heilung gar nicht aufgenommen«, widersprach sie wenig überzeugend und beobachtete ihre Hand voller Faszination. Das ihr Zorn auf Sigrid und ihre Gefühle direkt in ihre Hand übergingen, überraschte sie. Vorsichtig hob sie auch ihre Linke und hielt sie neben die Rechte. Sie drehte und wendete beide Hände, betrachtete sie von allen Seiten. Doch nur die Rechte wies den typischen blauen Schein auf, bereit, zuzuschlagen und den Getroffenen bis zum Mond zu prügeln.

»Unbewusst natürlich. Wir hatten so viel … intensiven Körperkontakt«, murmelte er hinter ihr. »Damit wissen wir also, was passiert, wenn du mich berührst.« Erstaunt drehte sich Claire um und begegnete Elkos Grinsen. »Du kannst unbewusst geringe Mengen Energie aufnehmen.«

Sie ließ beide Hände wieder sinken. »Ich fühle mich ziemlich gut, es ist also nicht zu viel gewesen.« Wenn die wenigen Streicheleinheiten, die er ihr gerade zukommen ließ, schon einen solche Sog auslösten, wie viel musste sie erst aushalten, wenn er sich ihr noch weiter nähern sollte? Ungewollt schreckte Claire vor dieser Erkenntnis zurück. War das Verlangen, das sie tief in ihrem Inneren verspürte, eine Sehnsucht nach ihm oder gierten ihre Zellen nach seiner Energie? Sie hatte durch Loke einmal davon gekostet und wollte mehr! Ihr Körper war auf den Geschmack gekommen. Wie sollte sie dem Drängen standhalten? Sie konnte Elko doch unmöglich zurückweisen, weil sie Angst vor den Folgen hatte! Claire wurde übel.

»Meinst du, du kannst Sigrid verzeihen?« Elko ließ nicht locker. Sie verstand seine Beweggründe. Wenn er Sigrid verzeihen konnte, sollte sie es zumindest in Betracht ziehen.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Vertraust du ihr?« Sie schob die Unterlippe vor und starrte ihn grimmig an. Elko seufzte und ließ sich zurück in die Kissen fallen.

»Sie ist schon so lange da, dass ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen kann. Ihre Tat ist unverzeihlich, aber jeder verdient doch eine zweite Chance, oder? Und sollte nicht gerade ich als Hammerträger nachsichtig sein? Ich bin jetzt für so viele Menschen verantwortlich ... ich kann doch nicht jeden, der einen Fehler begangen hat, köpfen lassen!« Elko raufte sich die Haare und sah eine Weile schweigend an die Zimmerdecke. »Sie hat mir Loyalität geschworen.«

Claire wollte ihm eigentlich zustimmen, aber seine Worte brachten sie zu einem hysterischen Lachen. »Loyalität?«, fragte Claire spöttisch. Sie glaubte nicht daran, dass Sigrid je loyal zu jemandem sein könnte, noch dass sie sich an Schwüre halten würde. Als Elko schwieg, drehte sie sich um. Sie suchte seinen Blick und erschrak über die Ernsthaftigkeit, mit der er sie musterte.

»Du vergisst, wer ich bin. Die Loyalität mir gegenüber ist eine Grundfeste unserer Ordnung.« Das hatte sie in der Tat. Sie sah in ihm immer noch den Mann, dem sie in der Bar begegnet war. Der sie im Park vor Lokes Dunkelheit gerettet hatte, hektische Küsse auf der Straße, freundschaftliches Gekabbel, Waldspaziergänge. Claire schluckte und Erinnerungsfetzen an die schrecklichen Stunden huschten an ihrem inneren Auge vorbei. Er hatte seine Fähigkeiten mit dem Erscheinen des Hammers deutlich genug unter Beweis gestellt, doch für Claire war er nicht derjenige, den die ... Asen in ihm sahen.

Claire fühlte sich plötzlich schäbig. Selbst in Shirt und Unterhose in ihrem Bett lümmelnd, wirkte er majestätischer als Prinz Charles. Er strahlte eine solche Erhabenheit und Würde aus, dass sie zutiefst bereute, Sigrids Schwur ins Lächerliche gezogen zu haben. Aber ob sie ihn jemals als Prinz oder König sehen würde, konnte sie sich jetzt noch nicht vorstellen. Nein, wohl eher nicht. Schon gar nicht, wenn er sie spitzbübisch angrinste.

»Tut mir leid«, murmelte sie stattdessen reuig und senkte automatisch die Lider.

»Schon gut«, entgegnete er nachsichtig und lud Claire mit einer Handbewegung ein, sich an ihn zu kuscheln. Sie zögerte nur kurz.

Als sie die kribbelnde Woge seiner Energie sanft umhüllte und ihr wohlige Schauer über den Rücken liefen, rief sie sich noch einmal in Erinnerung, dass sie seine Nähe nur in so weit genießen durfte, wie sie sich wieder trennen konnte. Die Gier pochte wie ein stetig lauernder Feind unter ihrer Haut und sie fürchtete, sie nicht kontrollieren zu können, wenn sie dem Drängen nach Mehr nachgab.

»Versprichst du mir, es wenigstens zu versuchen?«, flüsterte er an ihre Stirn gewandt und zog sie fester an sich. Claire war noch damit beschäftigt, möglichst viel Körperkontakt herzustellen, ohne zu viel von seiner Haut zu berühren, und in seiner Umarmung zu schwelgen, als seine Frage sie ein wenig aus der Fassung brachte. Aber sie würde es versuchen. Nicht weil sie an Sigrids Schwur glaubte oder sie ihr eine zweite Chance geben wollte. Nein, sie würde Sigrid nur deshalb nicht mit Misstrauen strafen, weil Elko sie darum bat.

»Ich werde sie zumindest nicht in Stücke reißen«, murmelte Claire schläfrig und ließ sich von seinem Geruch davon tragen. »Aber nur, weil du mich darum gebeten hast.«

 

Kapitel 2

Der Plan hätte so einfach sein können. Aber wenn man es genau betrachtete, schmuggelte man einen fast zwei Meter großen Mann nicht einfach so aus einem Apartmenthaus in einer belebten Innenstadt mit Cafés und Bars. Theoretisch hätten sie die frühen, sehr frühen Morgenstunden als geeignete Tageszeit wählen müssen. Aber nachdem Lehmann am Abend zuvor noch ein paar aufschlussreiche Beobachtungen gemacht hatte, mussten sie einen anderen Weg einschlagen.

Elko konnte nicht einfach das Haus durch die Eingangstür verlassen, denn Loke überwachte sie. Offensichtlich wollte er das Ableben seines Bruders nicht verpassen und hatte zwei seiner Leute vor dem Haus postiert.

Nachdem Lehmann um sieben Uhr morgens an Claires Wohnungstür Sturm geklingelt und sie damit aus dem Bett gescheucht hatte, war die Laune im Keller. Immerhin hatte er zur Versöhnung frische Brötchen mitgebracht und strahlte eine solche Euphorie aus, dass man ihm eigentlich nur kurzzeitig böse sein konnte. Eigentlich, denn Elko begrüßte Lehmann nicht einmal. Er warf ihm einen vernichtenden Blick zu, schnappte sich Brötchen und die Kaffeetasse, die ihm Sigrid unter die Nase hielt, und widmete sich wortlos dem Frühstück.

»Der Platz ist ideal«, wiederholte Lehmann nun schon zum dritten Mal und genehmigte sich einen großen Schluck Kaffee. Er trank ihn niemals mit Zucker oder Kaffeesahne. »Kaffee muss schwarz wie die Nacht sein«, pflegte er zu seinen Kollegen zu sagen. Claire hingegen hatte ihren Muntermacher mit ordentlich Milch aufgefüllt und löffelte unzählige Ladungen Zucker hinein. Tommy fragte sich auch noch nach Jahren, wie sie diese gesüßte Brühe trinken konnte. Sie lächelte selig, als sie an der Tasse roch und schlürfte hingebungsvoll ihr Lebenselixier. Sie schien den Kaffee auch dringend nötig zu haben, denn obwohl sie gestern Abend zeitig schlafen gegangen waren, hatte sie in Anbetracht ihres Zimmergenossen wohl keine ungestörte Nachtruhe genießen dürfen. Tommy grinste in sich hinein und lauschte Lehmanns Ausführungen über den Steinbruch am Rand der Stadt.

»Am Wochenende treiben sich dort ab und zu ein paar Kids rum, aber unter der Woche sollten wir ungestört dort arbeiten können«, fuhr er mit seinen Erklärungen fort. Der Steinbruch gehörte zu einem verlassenen oberirdischen Bergwerk, das vor ein paar Jahren stillgelegt worden war. Das Gebiet war touristisch ebenfalls vollkommen unbekannt, da man ihn nur über geschlungene Waldwege erreichte. Lehmann hatte dieses Kleinod an Ruhe und Abgeschiedenheit bei einer seiner ausgedehnten Wanderungen entdeckt und für Trainingszwecke im besonderen Gelände vorgemerkt. Eigentlich hatte er es mit seinen Jungs für Abseilübungen aufsuchen wollen, aber der breite Talkessel mit den hohen Felswänden schien perfekt für Elkos und Claires Übungen. Die tiefen Einschnitte in die natürliche Umgebung würden sie vor neugierigen Blicken schützen und zudem dafür sorgen, dass der entstehende Lärm nicht zu hören war. Lehmann war sich absolut sicher. Dieser Ort war perfekt.

»Perfekt«, wiederholte er begeistert und nippte an seinem Kaffee.

»Kann schon sein«, nörgelte Claire. »Aber um diese Uhrzeit?« Lehmann kratzte sich am Kopf und wollte schon enthusiastisch etwas Ähnliches wie Morgenstund‘ hat Gold im Mund erwidern, als ihm Elkos grimmiger Blick das Wort abschnitt. Trotz der sauberen Kleidung sah er zerknittert und unausgeschlafen aus, wirkte aber dennoch nicht mehr halb so krank wie gestern Abend. Seit er und Claire die Küche betreten hatten, kämpfte Tommy ständig den Drang nieder, Elko eine anzügliche Bemerkung an den Kopf zu werfen. Doch dann erinnerte er sich an die kleine Demonstration seiner Fähigkeiten vom Vorabend und widerstand der Versuchung tapfer. Jemanden mit seinen Fähigkeiten reizte man nicht unnötig, schon gar nicht am frühen Morgen.

»Diese Uhrzeit ist ganz und gar nötig«, antwortete Lehmann und gab das Wort grinsend an Tommy ab. »Tommy erklärt euch alles.« Bei seinem Eintreten hatte Lehmann Tommy enthusiastisch erläutert, wie er gedachte, Elko aus dem Haus zu schaffen. Grund dafür war ein verdächtig wirkender SUV. Eine Straße weiter außerhalb der Fußgängerzone parkte das fragliche Fahrzeug. Mit seinen abgedunkelten Scheiben war es ihm bereits am Abend aufgefallen. Als besagter SUV am Morgen immer noch an gleicher Stelle parkte und Lehmann dessen Fahrer heute Morgen bei seiner Ankunft auf der Straße herumlungern sah, hatte er ein paar wohlüberlegte Anrufe getätigt. Selbst wenn sich seine Maßnahmen als völlig überflüssig entpuppen sollten, war Lehmann nicht bereit, unnötige Risiken einzugehen. Im Übrigen überlebte man in seinem Job nur, wenn man seinen Instinkten vertraute. Angeborenes Misstrauen hin oder her, der Wagen wirkte mehr als verdächtig. Und er wäre nicht Cornelius Lehmann, wenn er nicht die perfekte Lösung parat hätte.

»Herr Jörd«, wie er Elko nannte, »kann das Haus nicht durch die Vordertür verlassen, sonst wäre unser Vorteil gegenüber Loke dahin.« Seine Erscheinung war einfach zu auffällig. Selbst wenn er Kapuze und Sonnenbrille trug, würde seine Größe ihn verraten.

»Nun, vielleicht doch die Vordertür«, hatte er auf Tommys Frage hin, wie Elko sonst das Haus verlassen sollte, noch im Flur geantwortet. »Aber mit den Füßen voran!«

Tommy hatte ihn erstaunt angestarrt und mit Verzögerung genickt, als sich die Idee vor seinem inneren Auge entfaltete. Wenn Elkos Bruder eine Leiche erwartete, sollte er sie auch bekommen, gut sichtbar für seine glatzköpfigen Gorillas.

Tommy bedachte seinen Chef mit einem tiefen Seufzen. Die Aufgabe, Elko und Claire den Plan darzulegen, hatte er lächelnd delegiert. Sechs Augenpaare richteten sich erwartungsvoll auf Tommy, der stockend Lehmanns Beobachtungen schilderte. »Und aus diesem Grund wird gegen ...«, Tommy zögerte und warf Lehmann einen fragenden Blick zu. »Sieben Uhr dreißig«, soufflierte Lehmann.

»Genau, danke. Aus diesem Grund wird gegen sieben Uhr dreißig ...« Schrilles Klingeln unterbrach Tommys Ausführungen und er sah unruhig zur Küchenuhr.

»Er ist zu früh ...«, murmelte Lehmann und starrte auf seine Armbanduhr, die die gleiche Zeit wie die Küchenuhr anzeigte. Es war erst kurz nach sieben Uhr. Er hatte gehofft, dass ihnen wenigstens ein paar Minuten für ein hastiges Frühstück und die wichtigsten Absprachen blieben. Verdammt, er war tatsächlich zu früh.

»Er ist niemals zu früh, eher zu spät ... denn die Toten laufen ja nicht weg«, grinste Tommy und erntete von Elko und Claire einen verständnislosen Blick.

»Was habt ihr vor?« Claire beäugte erst ihren Chef, dann Tommy misstrauisch. Tommy konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete und langsam kam sie dahinter, worin genau Lehmanns Plan bestand. »Nein ... das wagt ihr nicht!«, keuchte sie fassungslos.

»Zu spät«, entgegnete Lehmann und sprang auf, um die Tür zu öffnen, denn das Klingeln wurde allmählich penetranter. Er wollte nicht die Aufmerksamkeit von Claires alter Nachbarin von Gegenüber erregen. Frau Schulze hatte mit Sicherheit das wilde Kommen und Gehen bemerkt und war bei jedem verräterischen Geräusch neugierig zur Tür geeilt. Claires schrille Klingel würde sie erneut aufschrecken. Tommy hörte, wie Lehmann den Summer betätigte und leise die Wohnungstür öffnete.

»Hat er schon.« Tommy beugte sich grinsend vor und sah Claire aufmunternd an. »Komm, es ist so offensichtlich und Loke wird sich damit zufriedengeben ...« Claire schüttelte entsetzt den Kopf.

»Dank Lehmanns Plan können wir Loke abschütteln und euer Training im Steinbruch fortsetzen. Wir können Elko überall hinbringen«, erklärte Tommy begeistert, »ohne das Loke Verdacht schöpft. Wenn er eine Leiche erwartet, soll er auch eine bekommen. Die Kerle werden Loke ihre Beobachtungen melden und wir sind die Typen erst einmal los.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?« Claire atmete tief durch und sah unsicher zu Elko, der mittlerweile sein Brötchen vertilgt und den Kaffee ausgetrunken hatte. Misstrauisch sah er von Tommy zu Claire. Ihr Lächeln sollte Elko offenbar beruhigen, doch es misslang kläglich. Misstrauisch beobachtete er sie und arbeitete bereits an einer Frage.

»Bin ich nicht, aber einen Versuch ist es wert. Sollten sie uns folgen, improvisieren wir. Lehmann hat sicher einen Plan B.« Claire nickte und tätschelte Elkos Oberschenkel. Lehmann hatte immer einen Plan B.

Elko wollte gerade den Mund öffnen, um seine sorgfältig zurechtgelegte Frage zu stellen, als Lehmann mit einem gut gekleideten Herrn mittleren Alters die Küche betrat.

»Wer ist denn der Patient?«, fragte der Herr gerade, als sich Elko automatisch erhob, um den Neuankömmling zu begrüßen. Tommy wandte sich um und stand ebenfalls zur Begrüßung des Herrn auf, der ihm besser als Albert Liechtenstein bekannt war, Bestattungsunternehmer und Trauerredner.

»Herr Liechtenstein, wie schön!«, begrüßte ihn Tommy erfreut, denn normalerweise stattete ihnen Liechtenstein zu weniger erfreulichen Anlässen einen Besuch ab. Nicht, dass sie vielen Leichen Personenschutz gaben. Das Gegenteil war eher der Fall. Zuweilen nutzen sie die Dienste des Bestatters für quicklebendige Zielpersonen, die einen wenig Aufsehen erregenden Transport benötigten. Doch Liechtensteins Aufmerksamkeit richtete sich ganz allein auf Elko und er musterte den Hünen von Kopf bis Fuß, vermaß mit geübten Blick dessen Größe und schüttelte den Kopf.

»Sie haben zwar gesagt, dass er groß ist, aber nicht wie groß. Das funktioniert nicht so wie immer«, murmelte Liechtenstein und wandte sich an Lehmann, der sich freudestrahlend neben Liechtenstein in die Küche schob. Bei Liechtensteins nächsten Worten verblasste Lehmanns gute Laune schlagartig.

»Er ist zu groß, zu breit in den Schultern.« Nachdem Liechtenstein Tommy die Hand geschüttelt hatte, setzte er Elkos Musterung unbeeindruckt fort. »Seine Größe haben Sie nicht erwähnt ... für ihn habe ich nichts Passendes. Er braucht eine Maßanfertigung.«

Lehmanns Gesichtszüge entgleisten noch ein wenig mehr und er musterte Elko ebenfalls von Kopf bis Fuß. Der Hüne hatte jetzt die Arme vor der Brust verschränkt und lehnte abwartend an der Fensterbank.

»Maßanfertigung?«, schaltete er sich schließlich mit tiefer Stimme in die Erörterung seiner Körpergröße ein. Langsam wurde er ungeduldig, dass man so offen über ihn sprach, ohne ihn direkt in das Gespräch mit einzubeziehen. »Der Sarg«, beantwortete Liechtenstein seine Frage.

Elkos Miene versteinerte und Tommy stellte belustigt fest, wie sich Unglauben mit beginnender Wut in seinem Ausdruck abwechselten.

»Ich bin quicklebendig! Haben Sie etwa geglaubt, ich würde heute Morgen bereits kalt sein oder warum haben Sie einen Sarg bestellt?«, fuhr er Lehmann zornig an. Mit jedem ausgesprochenen Wort wurde er lauter und wütender. Tommys Belustigung verrauchte alarmiert, als ein kleiner Blitz über seine ausgebreiteten Hände zuckte. Den Hammer trug er zwar wieder verborgen, doch seit er ihn hatte erscheinen lassen, schien sein Körper statisch aufgeladen zu sein. Rasch sah Tommy zu Claire und bat sie stumm, schnell einzugreifen.

»Der Sarg war als Tarnung gedacht, damit hätten wir dich unbemerkt aus dem Haus schaffen können«, besänftigte sie ihn mit ruhiger Stimme und gesellte sich zu ihm auf die Fensterbank. Missgünstig bemerkte Tommy, wie sie vertraut ihre Hand auf seinen Oberschenkel legte. Diese Geste war ganz und gar nicht mehr zurückhaltend, sondern äußerst intim. Obwohl ihm völlig klar war, was die beiden letzte Nacht getan hatten und er sich eigentlich für Claire freuen sollte, versetzte ihm diese einfache Berührung einen eifersüchtigen Stich. Den säuerliche Geschmack, der sich daraufhin in seinem Mund ausbreitete, versuchte er zu ignorieren. Tommy atmete kräftig durch. Er war ja nicht mit Claire zusammen und würde es nie sein. Für ihrer aller Sicherheit war es sowieso besser, wenn sie einen guten Einfluss auf Elko hatte.

Elkos Gesichtszüge entspannten sich allmählich. Als ihm die Idee hinter dem Sarg aufging, zuckten seine Mundwinkel. »Genial«, murmelte er zufrieden.

Liechtenstein nickte. »Ja, ich habe schon öfter einen solchen Coup mit Lehmann durchgezogen. Aber leider funktioniert das bei Ihnen nicht, denn der Sarg, den ich unten im Wagen aufbewahre, ist nicht groß genug.« Albert Liechtenstein legte nachdenklich einen Finger an die Lippen und ging in Claires kleiner Küche auf und ab, dann hielt er kurz inne und fuhr sich schmunzelnd durch das ergraute Haar. Trotz seines hohen Alters hatte er das Grinsen eines kleinen Lausbuben. Seine Augen funkelten amüsiert.

»Nun, Herr Jörd, die Bodybags, die ich dabei habe, sind groß genug. Wenn Ihnen das nicht zu profan erscheint ...«

»Bodybags?« Elkos verständnisloses Gesicht brachte nicht nur Tommy zum Lachen, auch Lehmann konnte nur mühsam ein Grinsen unterdrücken. »Die sind mindestens zwei Meter fünfzig lang«, stimmte Lehmann zu. »Das klappt.«

»Plastiksäcke«, raunte ihm Claire zu. »Für Leichen.« Elkos Gesicht verlor nach und nach jegliche Farbe. »Ihr macht mir Angst«, murmelte er entsetzt und schüttelte den Kopf. »Gibt es keine andere Möglichkeit?«

»Nun, du könntest dich tot stellen und versuchen, absolut bewegungslos liegen zu bleiben ...«, sinnierte Tommy.

»Das Atmen wird sowieso ein Problem werden«, gab Lehmann zu bedenken und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das Plastik knistert bei jedem Atemzug, er kann gar nicht so still liegen, dass es keine Geräusche gibt. Der Sarg wäre perfekt gewesen, aber mit den Bodybags ...«

Sigrid räusperte sich leise und stellte graziös ihre Kaffeetasse ab. Sie hatte dem Gespräch bisher schweigend gelauscht und sich im Hintergrund gehalten. Doch als sie sich zu Wort meldete, gehörte ihr nach wenigen Sekunden die gesamte Aufmerksamkeit. »Vielleicht kann ich helfen, wenn ich darf.«

 

»Ich traue ihr immer noch nicht! Und im Übrigen finde ich es nach wie vor absolut bescheuert, einen Mann von fast 90 Kilo zwei Stockwerke tiefer zu schleppen, wo er genauso gut laufen könnte!«, beschwerte sich Claire nun schon zum dritten Mal und stöhnte unter der Last.

»Lass es gut sein, okay?«, brummte Tommy und wuchtete die Trage um den untersten Treppenabsatz. »Du willst doch nicht riskieren, dass ein Nachbar aufdringliche Fragen stellt, warum sich unsere Leiche zu Fuß auf den Weg macht und erst im Hausflur auf die Trage klettert?« Auf der Trage lag ein gut gefüllter schwarzer Leichensack, schwer wie Blei und absolut nicht willens, beim Transport behilflich zu sein. Ob die Nachbarn sich nicht auch über die täuschend echte Leiche wundern würden, fragte dagegen keiner. Claires Vorschlag, den Sack mit Zement zu füllen und Elko beim Transport helfen zu lassen, wurde einstimmig abgelehnt. Selbst wenn er sich eine Skimaske überzog, würde er immer noch durch seine Größe auffallen. Claire war nach wie vor gegen Sigrids Angebot gewesen, doch selbst Elko begrüßte ihre Herangehensweise. Da er als Hauptakteur nichts gegen ihren Plan einzuwenden hatte, fügte sich Claire mit Bauchschmerzen.

»Es ist doch nicht für lange«, hatte er ihr zugeraunt und sich auf der Liege ausgestreckt. »Und du kannst die ganze Zeit in meiner Nähe bleiben.« Mit gefalteten Händen hatte er Sigrid die Erlaubnis gegeben und die Augen geschlossen.

»Keine Sorge, ich weiß, was ich tue.« Sigrid war neben der Liege in die Hocke gegangen, hatte Elko die Hand auf die Stirn gelegt und ein paar unverständliche Worte gemurmelt.

»Genau das befürchte ich ja.« Claire schnürte sich noch immer die Kehle zu, als sie das beklemmende Gefühl erneut überkam, keinen Puls mehr an seiner Halsschlagader zu erkennen. Da war gar nichts gewesen, kein sanftes Pulsieren, nichts. Sie hatte sogar versuchsweise die Fühler nach dem Energiegürtel ausgestreckt, doch Sigrid hatte sie hastig davon abgehalten.

»Nicht! Ich weiß nicht, was dich dort drinnen erwartet, wenn er sich in diesem Zustand befindet. Vertrau mir einfach, bitte.« Der flehende Tonfall beruhigte Claire für den Moment. Auch wenn Sigrids Verrat tief saß, überzeugte sie schlussendlich Elkos Vertrauen.

»Sigrid kann ihn jederzeit aufwecken«, keuchte Tommy und wuchtete die Liege mithilfe von zwei von Liechtensteins Angestellten in den leeren Hausflur. Vorsichtig ließen sie die Trage zu Boden gleiten und schnappten erschöpft nach Luft.

Claire hockte sich neben den leblosen Körper und beobachtete die schwarze Folie, die sich direkt über Elkos Nase und seinem Mund befinden musste. Angestrengt prüfte sie, ob sich verräterische Bewegungen ausmachen ließen. Nichts. Er hatte sogar noch im Tiefschlaf gelächelt, als sie die Folie über ihm geschlossen hatten. Dieses friedliche Lächeln hatte sich Claire in die Seele gebrannt, würde für immer vor ihrem inneren Auge sichtbar werden, sollte er nicht wieder aufwachen. Die wächserne Blässe, die kurz nach Sigrids gemurmeltem Spruch seine Haut überzog, wirkte ebenfalls absolut überzeugend. Würde Claire nicht noch den leichten Abdruck seiner Berührungen auf ihren Wangen spüren, wäre sie überzeugt davon, eine Leiche die Stufen hinunter geschleppt zu haben. Zum Glück hatte Liechtenstein zwei Assistenten mitgebracht. Aber auch die beiden kräftig gebauten Männer atmeten erschöpft auf, als sie endlich das Erdgeschoss erreichten. Nur mit Tommy hätte sie es nie geschafft, Elko die Treppe hinunterzutragen.

Und Lehmann konnte ihnen auch nicht helfen. Er hatte sich bereits wieder verabschiedet und wollte die Lage in Liechtensteins Arbeitsräumen erkunden. Dort sollte ein schneller PKW-Wechsel stattfinden, denn Liechtenstein war alles andere als geneigt, ihnen den Leichenwagen für länger zu überlassen.

»Ich habe noch andere Kunden zu bedienen«, hatte er sich entrüstet geäußert und damit basta. Lehmann hatte seufzend nachgegeben und sich aufgemacht, Ersatzfahrzeuge zu besorgen.

Nach dieser kurzen Atempause lösten Liechtensteins Mitarbeiter die Verriegelungen der Trage und klappten mit geübten Handgriffen die Räder aus. Zu viert hoben sie die Trage nochmals an, die Verstrebungen schnappten auf, die Räder glitten mit leisem Klappern zu Boden und die Trage stand in Hüfthöhe neben ihnen.

»Gott sei Dank«, murmelte einer der Helfer. »Der Kerl wiegt ja eine Tonne!« Claire lächelte über diesen Kommentar und eilte zur Haustür. Mithilfe der Räder und Stützen konnte die Liege aus dem Haus geschoben werden und ihnen blieben weitere Kraftakte erspart. Vor dem Haus befand sich noch eine einzelne Stufe, aber die konnte die Trage problemlos überwinden. Claire atmete erleichtert auf, als sie den lang gestreckten Leichenwagen auf dem Gehsteig stehen sah. Nur noch ein paar Schritte, dann konnten sie Elko von hier fortbringen. Doch plötzlich tauchten links und rechts neben der gerade von ihr geöffneten Haustür ein glatzköpfiger Typ und ein Kerl mit Stiernacken auf. Mit ihren Sonnenbrillen und verschränkten Armen versperrten sie ihr in Gangstermanier den Weg.

»Stopp!«, bellte sie der Stiernacken an und Claire erstarrte mitten in der Bewegung. Noch ehe sie sich bewusst wurde, was passierte, zerrte er sie aus der Tür und forderte Liechtensteins Mitarbeiter mit einer einladenden Handbewegung auf, die Trage auf dem Gehweg abzustellen. Ein eiskalter Schauer kroch ihr über den Rücken, als sie den Typen mit dem Stiernacken musterte. Verdammt noch mal! Das war der Kerl, der Elko im Wald das Messer in die Seite gerammt hatte! Diese bullige und abstoßende Visage würde sie nie wieder vergessen. Instinktiv ballte sie die Hand zur Faust, fühlte den Energiestrom, wie er sich in ihrer Handfläche langsam aufbaute. Die Energie pulsierte pochend im Klang ihres Herzens, das leise Wummern beruhigte sie in dem Bewusstsein, den Kerl mit einem Schlag bis zur nächsten Kreuzung prügeln zu können.

Claire hob unbewusst den Arm und erst, als sie das Pulsieren bewusst wahrnahm, erschrak sie. Wie leicht es ihrem Körper fiel, dem Wunsch nach Rache nachzugeben. Doch dann besann sie sich, atmete tief durch und ließ ihre Faust wieder sinken. Wenn sie ihre Fähigkeiten jetzt einsetzte, könnte sie die beiden Schläger vermutlich außer Gefecht setzen, aber das würde ihren Plan gefährden. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und zwang sich zur Ruhe. Abwartend löste sie die Faust, aber den Energiestrom stoppte sie nicht. Sie sammelte ihn in ihrer Hand und ließ ihn dort verharren, bereit und sofort einsetzbar.

»Wir wollen nur einen Blick auf ihn werfen«, brummte die Glatze sie an. Claire holte tief Luft und zwang sich zur Gelassenheit. Genau für dieses unmögliche Ereignis hatten sie Elko in die Todesstarre versetzt. Wenn sie ihn sich ansehen wollten, würden sie nur eine Leiche vorfinden. Nichts weiter. Claire schluckte schwer und schloss bebend die Augen.

»Halt!« Tommy trat hinter der Liege auf den Gehweg und stellte sich Glatze, der gerade die Hand nach dem Reißverschluss am oberen Ende des Sacks ausstrecke, in den Weg.

»Wenn Sie erlauben, wir haben unsere Befehle!«, bellte der Stiernacken.

Tommy verschränkte die Arme in Abwehrhaltung vor der Brust und Claire beeilte sich, neben ihn zu treten und es ihm gleichzutun. Die Aktion würde an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie sich etwas sträubten.

»Nun, ich kann das aber nicht zulassen!«, erwiderte Tommy und starrte den Stiernacken nieder. Er versuchte es zumindest, doch der Typ musterte Tommy finster. Sein Blick glitt über die müde und ausgezehrte Gestalt, bemerkte das verschmutzte T-Shirt, die zerknitterte Jeans, die Augenringe nach vielen durchwachten Nächten. Nach Abschluss der Musterung verfestigte sich ein überhebliches Lächeln auf dem glatten Gesicht des Stiernackens, zeigte deutlich, wie wenig Respekt er ihm entgegenbrachte. Doch Claire wusste, wie sehr sich der Kerl täuschte. Auch wenn Tommys Anblick nicht gerade viel hermachte, so war er doch ein ernst zu nehmender Gegner. Und außerdem war er ja nicht allein. Die Schläger nahmen sie zwar nicht wirklich ernst, sollte es aber zu einem Handgemenge kommen, würden sie ihr blaues Wunder erleben. Wortwörtlich.

Die Glatze griff gerade in die Innenseite seines dunklen Jacketts, als Arthur Liechtenstein aus dem Hausflur kam. Innerhalb einer Viertelsekunde hatte er die Situation erfasst und machte sofort seine ganze Erfahrung als Bestatter im Umgang mit unangenehmen Personen geltend.

»Meine Herren, ich bitte Sie inständig, den kürzlich Verstorbenen mit dem gebührenden Respekt zu behandeln«, sprach er Lokes Schlager mit befehlsgewohnter Stimme an. Unverbindlich lächelnd drängte er sich zwischen Tommy und die beiden Glatzköpfe. »Worin besteht Ihr Anliegen? Kannten Sie den Verstorbenen?« Liechtenstein richtete sich direkt an den grinsenden Stiernacken.

»Wir würden gerne den Inhalt dieses Sacks überprüfen. Wissen Sie, sein Bruder hat uns geschickt.«

Claire wusste nicht, wie viel Lehmann dem Bestatter erzählt hatte, aber er reagierte absolut professionell und seinem Berufsstand angemessen. Liechtenstein nickte und deutete Tommy mit einer entsprechenden Handbewegung an, beiseitezutreten. Tommy wollte protestieren, doch Claire knuffte ihn sanft in die Seite und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass sie ja genau das wollten. Loke sollte von Elkos Tod erfahren und was konnte ihn besser überzeugen, als wenn seine Männer die Leiche mit eigenen Augen gesehen hatten. Tommy seufzte und gab nach, trat mit Claire zusammen beiseite und überließ Liechtenstein das Feld.

»Selbstverständlich. Aber ich bitte Sie, keinerlei Bemerkungen zu machen und sich gebührlich zu verhalten«, wies Liechtenstein zurecht. Stiernacken und Glatze starrten den Bestatter wie vom Donner gerührt an, nickten aber gehorsam. Ob es jetzt an Liechtensteins würdevoller Erscheinung oder an seinen eindringlichen Worten lag, konnte Claire nicht sagen, aber die beiden Schläger wirkten rundum eingeschüchtert. Der Bestatter öffnete vorsichtig den Sack am oberen Ende, zog den Reißverschluss circa vierzig Zentimeter herunter und legte Elkos wachsweißes Gesicht frei. Claire zuckte unvermittelt zusammen. Obwohl sie ihn bereits so gesehen hatte, stürzte sie sein erneuter Anblick in ein tiefes, dunkles Loch. Stöhnend schloss sie die Augen, damit sie ihn nicht weiter ansehen musste. Stiernacken bemerkte ihre Reaktion und grinste sie schadenfroh an. Ihm lag ein böser Kommentar auf der Zunge, doch Liechtenstein trat in diesem Moment einen Schritt zurück und gab den beiden Schlägern genug Raum, den Toten zu begutachten. Stiernacken warf ihr noch ein ekelhaftes Grinsen zu und sie erwiderte es mit so viel Hass, wie sie in einen einzigen Blick legen konnte. Claire glaubte, ihn entsetzt zusammenzucken zu sehen, bevor er sich Elko zuwandte und ihn einer aufmerksamen Musterung unterzog. Ob er die Täuschung bemerkte, konnte Claire nicht erkennen, da er ihr den Rücken zuwandte. Als er sein Handy zückte und ein Foto machen wollte, schaltete sich Liechtenstein energisch ein.

»Ich bitte Sie, entspricht das Foto eines Toten die Nachricht, die Sie dem Hinterbliebenen überbringen wollen?« Stiernacken zuckte durch Liechtensteins anklagendem Tonfall zusammen und ließ sein Handy unverrichteter Dinge wieder in der Tasche verschwinden.

»In Ordnung«, murmelte er nach diesem kurzen Zwischenfall und trat zurück. Er schien sich ausreichend von der Echtheit der Leiche überzeugt zu haben.

»Machen Sie Ihre Arbeit.« Stiernacken wandte sich ab und brachte noch ein paar weitere Schritte zwischen sich und die Trage. Für den Bruchteil einer Sekunde begegnete er Claires feindseligem Blick und zuckte zurück. Ob es an dem Ausdruck ihrer Augen lag, oder an der Tatsache, dass ihm Leichen nicht behagten, konnte sie nicht sagen. Aber er schien es plötzlich sehr eilig zu haben. Vielleicht lag es auch an dem Moment des Wiedererkennens, den er in ihren Augen sah, an der deutlichen Drohung, die in ihrem Blick mitschwang. Sie würde ihn vernichten! In diesem Moment fühlte sie den unbändigen Hass, den sie ihm – dem Mörder ihres Freundes – entgegenbrachte. Und er schürte einen beängstigenden Hass in ihr, die unmenschliche Taten erst möglich machte. In diesem Moment hätte sie ihn in der Luft zerfetzen können, wortwörtlich. Wäre sie allein mit ihm gewesen, in einem dunklen Keller oder einer Höhle, sie wüsste nicht, ob sie ihm gegenüber noch so viel Menschlichkeit aufbringen konnte, um einen Mord zu verhindern.

»Los, wir gehen«, raunte er seinem Partner zu und packte ihn unsanft am Kragen seines Jacketts. Glatze wollte noch etwas einwenden, aber er bekam keine Gelegenheit mehr dazu.

Claire, Tommy und Liechtenstein sahen den beiden Schlägern noch eine Weile schweigend hinterher. Ihr Blick bohrte sich in Stiernackens Hinterkopf und er wandte sich, kurz bevor sie um die Hausecke verschwanden, um, kreuzte für einen Sekundenbruchteil ihren mörderischen Blick und zuckte erneut zusammen. Ihr Hass loderte ihm buchstäblich hinterher und er schien ihn körperlich zu spüren. Es kam Claire fast so vor, als würde er unter unsichtbaren Schlägen bei jedem Schritt in die Knie gehen. Jedes Mal, wenn er sie angesehen hatte, waren ihm ihre ungeschönten Gefühle begegnet, zeigten ihm, dass sie sich an ihn erinnerte. Und er wusste, dass sie es wusste.

Erleichtert seufzte Claire auf, als Lokes Handlanger die Hausecke umrundeten und aus ihrem Sichtfeld verschwanden. Erschöpft von der Kraft, die die Beherrschung von ihr gefordert hatte und erleichtert darüber, dass sie bei ihren Gefühlen geblieben war.

Erst, als Sigrid mit ein paar Taschen die Treppe hinunter kam, erwachten sie aus ihrer Starre. Zwar hatten sie diese kleine Scharade extra für Loke und seine Jungs arrangiert, aber dass sie förmlich vor der Haustür stehen und sie abfangen würden, hatte niemand erwartet. Claire gab es nicht gerne zu, aber Sigrids Einfall hatte sie gerettet. Wenn sie Elko nicht in diesem todesähnlichen Zustand versetzt hätte, wäre ihr Plan nicht aufgegangen.

Sigrid bemerkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. »Was ist passiert?«, fragte sie alarmiert, nachdem sie die erstarrten Gesichter eine Weile gemustert hatte.

»Wir hatten gerade Besuch von zwei Männern«, stöhnte Tommy und löste sich als erster aus seiner Reglosigkeit. Just in diesem Moment erregte ein mit quietschenden Reifen anfahrender SUV ihre Aufmerksamkeit und brauste an ihnen vorbei. Tommy warf einen nervösen Blick zu dem Fahrzeug. Liechtenstein, Tommy und Claire sahen dem Wagen gemeinsam hinterher und atmeten hörbar aus, als er endlich aus ihrem Blickfeld verschwunden war. »Das waren sie«, raunte Tommy.

»Den einen habe ich schon mal gesehen«, fügte Claire hinzu und rieb sich über die kribbelnden Arme. Die Energie verließ langsam ihre Hand und hinterließ ein wohliges Prickeln auf der Haut. Nachdem die Typen abgezogen und ihre Wut ohne Ventil auskommen musste, fühlte sie sich schrecklich erschöpft und müde.

»Du kanntest sie?«, fragte Sigrid und stellte die Taschen ab. Claire nickte. »Der eine Kerl hat Elko im Wald angegriffen. Diesen Ausdruck in seinen Augen, als er Elko das Messer in die Seite gestoßen hat, werde ich nie vergessen.«

Obwohl es erst kurz nach acht war, lag es nicht an der kühlen Morgenluft, die Claire frösteln ließ. »Er wollte ein Souvenir ...«, murmelte sie zerstreut.

»Na zum Glück haben Sie gerade noch verhindern können, dass er ein Foto macht ... wie pietätlos.« Tommy nickte Liechtenstein zu.

»Widerliche Personen«, stimmte ihm der Bestatter zu.

»Nicht nur das«, schaltete sich Sigrid ein und musterte Elko, dessen wachsweißes Gesicht ihnen noch immer aus dem Leichensack entgegenblickte. Prüfend legte sie ihm zwei Finger unter das Kinn, schloss die Augen und konzentrierte sich. »Alles okay. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Loke seine Schläger zur Überprüfung hier her schickt. Aber wir hatten Glück, richtig viel Glück. Und Sie«, wandte sich Sigrid an Liechtenstein, »haben geistesgegenwärtig gehandelt. Durch ein Foto hätte Loke unsere Scharade erkennen können.«

»In Ordnung.« Liechtenstein klatschte voll Tatendrang in die Hände und öffnete die Hintertür des Leichenwagens. Der Schock ließ ihn völlig kalt und sein vor Geschäftigkeit sprühender Eifer steckte die anderen an. Die Anspannung fiel förmlich von ihnen ab. »Auf geht’s, meine Herren, meine Damen. Wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«

Kapitel 3

Unkontrolliertes Zittern erfasste Lokes Körper und machte ihn für den Moment bewegungsunfähig. Seine Beine wollten ihm plötzlich nicht mehr gehorchen und er musste sich an der Tischkante seines abgenutzten Labortisches festhalten, um nicht komplett den Halt zu verlieren. Kraftlos ließ er sich auf den ihm am nächsten stehenden Stuhl sinken und streckte erschöpft die Beine von sich. Das Mobiltelefon fiel ihm mit einem leisen Klack aus der erschlafften Hand. »Was hab ich nur getan ...?«, flüsterte er tonlos.

Loke Jörd schlug stöhnend die Hände vors Gesicht, sank mit dem Oberkörper nach vorne und versenkte den Kopf zwischen die Knie. Tot. Sein kleiner Bruder war tot. Genau das war sein Ziel, Elko musste sterben, damit der Hammer frei war. Frei für ihn, denn nur er hatte diese Macht verdient. Jahrelanges Studium, unendliche Forschungen, Verzicht, wo es nur ging, um die Aufmerksamkeit Melands zu erlangen. Nur deswegen hatte er sich so den Arsch aufgerissen! Die elendige Ahnenkunde, Hammertechnik und wie all diese langweiligen Fächer hießen! Seine eigene Forschung musste zurückstecken und er konnte die so lieb gewonnene Portaltechnik nur mit halber Kraft erlernen. Das ausgerechnet die Portaltechnik ihn dann in Melands Sonderstudiengang beförderte, war Schicksal gewesen. Nicht sein Erbe hatte ihm die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden eingebracht, nein, es waren seine Fähigkeiten für komplizierte Denkprozesse und die ausgefeilten Forschungstechniken gewesen.

Wenn er seine Interessen mit der Ausbildung der Hammeranwärter nicht vollkommen vernachlässigen wollte, musste er zwei Studien auf einmal bewältigen. Nur er war zu so etwas fähig. Sein Genius brachte Melands Forschung weiter und bewältigte die Anforderungen der Hammeranwärter spielend. Er hatte sich den Platz an der Spitze der Asengesellschaft hart erarbeitet.

Und Meland hatte ihn schlussendlich zu seinem Favoriten für die geheime Auswahl gemacht. Sigrid hatte ihn in vollem Umfang unterstützt, ihre und seine Interessen deckten sich. Sie strebten beide nach Macht. Dazu brachte er noch das entsprechende Erbe mit. Zusammen wollten sie an der Spitze stehen, als das Dreamteam. Sie, die eiskalte Schönheit und er, Genius und Anführer in einem. Das war sein Traum gewesen.

Aber irgendetwas war passiert, auf dem Weg zur Macht hatte er sie verloren. Ob es die Doppelbelastung war oder ob sie sich vernachlässigt fühlte, wusste er nicht mehr. In Elkos Armen jedenfalls fand sie den Trost, den er ihr nicht geben konnte, weil er schlichtweg keine Zeit mehr hatte.

Irgendwann war es ihm egal gewesen. Er hatte sie nur genommen, weil er gehofft hatte, durch ihre Familie - allen voran ihrem Vater - Einfluss auf den Rat nehmen zu können. Damals war er noch nicht mit Meland bekannt gewesen. Meland selbst war ein viel wertvollerer Verbündeter auf dem Weg zur Macht gewesen als Sigrids Vater, damals nur einfaches Ratsmitglied. Als sie sich dann mit Elko vergnügte, hatte er bereits so viel Einfluss, dass er sie nicht mehr brauchte. Wozu? Sie wäre ihm eher ein Klotz am Bein gewesen. Ob Sigrid damals schon gewusst hatte, das Elko der Erbe war und nicht er? Es war ihm egal. Als Hammerträger konnte er jede haben. JEDE!

Doch dann war irgendetwas gewaltig schief gelaufen. Der Hammer hatte ihn abgewiesen. Ein Fehler! Es konnte sich nur um einen Fehler handeln! Und als Elko ihn angehoben hatte, war ihm nichts mehr geblieben. Weder Sigrid, noch der Hammer. Und wer war Schuld? Das musste er noch herausfinden. Fakt war, Elko musste sterben, damit der Hammer wieder frei wurde.

Der Vorschlag Melands schien ihm wie die Lösung all seiner Probleme. Nur Elkos Leben stand seiner Macht im Weg. Er hatte nie besonders viel Zuneigung für seinen Bruder empfunden, hatte er geglaubt. Und jetzt betrog ihn sein Körper mit Schuldgefühlen. Wie von selbst breitete sich das Zittern in ihm aus und machte ihm mit erschütternder Klarheit deutlich, dass ihm sein Bruder nicht egal war. Vor seinem inneren Auge hüpfte ein kleiner Fünfjähriger wie ein Flummi auf und ab und brachte ihn mit seinem johlenden Gelächter zum Schmunzeln. Unzählige Male hatte er ihn beim Lernen gestört, zum Spielen aufgefordert oder irgendeinen Blödsinn ausgeheckt. Die hundertste Schnecke musste observiert werden, jeder Grashalm war eine stundenlange Diskussion wert. Traurig lächelte Loke und holte tief Luft. Er hatte sein Ziel erreicht, Elko war tot und der Hammer damit frei. Er musste ihn nur neu programmieren, dann gehörte er ihm und dieser fatale Fehler, der zum Tod seines Bruders geführt hatte, wäre ausgemerzt.

Der Preis war verdammt hoch gewesen, aber der Lohn war es wert.

Wirklich? Der anklagende Blick seiner Mutter zerriss ihm fast das Herz. Diese Empfindung war so intensiv, dass er sich stöhnend zusammenkrümmte. Nein, verdammt, er war es nicht wert!

Mit schmerzverzerrtem Gesicht sprang er auf und raufte sich immer wieder die Haare. Tot, kalt ... bereits auf dem Weg ins Leichenschauhaus. Das hatten ihm seine Leute berichtet, der Bestatter war schon vor Ort gewesen und sie hatten ihm versichert, dass er bleich, kalt und mehr als tot gewesen sei.

Er hatte diesen Idioten aufgetragen, seinen Kopf zu nehmen. Als Beweis und als unerschütterliche Warnung für all jene, die es wagten, sich ihm in den Weg zu stellen. Aber diese Weicheier hatten nur Schmalz im Hirn und konnten seine Anweisungen nicht ausführen. Wie auch immer, Meland würde wohl ohne Elkos Kopf vor dem Rat auf und ab stolzieren müssen. Ihm war es gleich, denn zu diesem Zeitpunkt würde er schon der neue Träger sein. Vielleicht hatte er bereits seine erste Parade absolviert und die Massen bezirzt. Doch der Geschmack des Triumphes wollte sich nicht so recht einstellen.

Verdammt, Elko ... Warum nur?! Warum hast du dieses verdammte Ding anfassen müssen? Mir, mir hätte es laut Plan gehören sollen! Ich hätte der Hammerträger werden sollen. Stattdessen versagte die Programmierung, verselbstständigte sich. Meland hatte versagt!

Er hatte nicht gewusst, wie er darauf reagieren sollte. Vollkommen überrumpelt hatte er seinen Bruder gesehen, wie er das widerliche Ding in die Höhe gereckt hatte und ihn dabei verstört angesehen hatte. Dann war er von der uralten Kraft überwältigt worden und zusammengebrochen. Loke war mindestens genauso verwirrt gewesen und hatte entsetzt das Weite gesucht. Draußen hatte ihn Meland abgefangen und ihm etwas von Programmierfehlern vorgesäuselt. Das konnte er gut, diese widerliche Schlange. Sich in Ausflüchten ergießen, die Schuld von sich weisen.

Loke hatte sich daraufhin zurückgezogen und immer wieder die Daten geprüft, den Code nach Fehlern durchforstet.

Sei es drum, das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Elko war tot und es war seine eigene Schuld! Es wäre nie so weit gekommen, wenn er den verdammten Hammer nicht berührt hätte. Dann wäre eben niemand Hammerträger geworden und sie hätten einen neuen Wahlgang veranstaltet. Nach Thors Tod war der Hammer auch für ein paar Jahrhunderte ohne Träger gewesen. Doch was dann passierte, war Geschichte. Die Macht durfte nicht ohne Bändiger sein, hieß es. Unwetterkatastrophen waren damals das geringste Problem gewesen. Die Welt - so die Bücher - kippte ins Dunkel, wenn die Macht nicht gebändigt wurde. Würde der Träger die Kraft des Hammers nicht kontrollieren, würden irgendwann die Naturgewalten eskalieren. Hurrikans, Taifune, Tsunamis - gewaltige Stürme, die ihresgleichen suchten, könnten die Erde heimsuchen und nur die Kraft des Trägers verhinderte sie. Aber ein paar Tage mehr oder weniger ohne Träger sollten nicht so drastische Folgen haben. Hier und da ein Unwetter könnte Midgard schon verkraften.

Loke stutzte. Genau wegen dieser Macht suchte der Rat den Träger aus, jemanden, der ihnen gewogen war, der dem Volk einen Gott vorgaukelte und den echten Entscheidern genug Freiheiten einräumte. Genau so war der Plan gewesen. Deshalb sollte er Träger werden. Sie hatten ihn deshalb ausgewählt. Meland hatte ihn ausgewählt.

Er sollte im Palast sitzen und Gott spielen, stattdessen fochten sie diesen wahnwitzigen Bruderkrieg aus.

Grundsätzlich war er dem Vorschlag Melands nicht abgeneigt gewesen. Sein Bruder, der Hammerträger, musste sterben. Das Gift, extrahiert aus den Überresten der Midgardschlange, war ihm als vollendete Lösung erschienen, so heimtückisch und perfekt auf nur ein einziges Lebewesen ausgerichtet.

Die Extraktion hatte ihn mehrere Monate gekostet. Seinen Bruder in der Zeit beschäftigt, aber auf Abstand zu halten, war die zweite Herausforderung gewesen. Er durfte ihn auf keinen Fall zu früh finden. Aber auch das hatte für ihn kein Problem dargestellt. Sein Genie liebte diese doppelte Herausforderung. Als das Toxin endlich bereit war, hatte sein Bruder Claire gefunden! Diesen wunderbaren Schatz, der es ihm erst ermöglicht hatte, ein stabiles Portal, das Raum und Zeit überwand, zu errichten! Sie hatte den verborgenen Kraftgürtel des Hammerträgers gefunden und die für das Wurmloch benötigte Energie geliefert.

Nun konnte er endlich mit dem Rat kommunizieren. Wenn sie erst von seinem Erfolg erfuhren, würden sie ihm den Code übermitteln. Ein Jammer, dass der Hammer nur mit dem Tod des Trägers wieder frei war. Elkos unerschöpfliche Kraftreserven hätte er gut einzusetzen gewusst.

 

Voller Tatendrang sprang Loke auf. Zeit, dass er sich diesem heimtückischen Relikt widmete und ihn umprogrammierte. Der Hammer musste sich dort befinden, wo Elko gestorben war.

Wer auch immer an die Göttlichkeit glaubte, würde jäh enttäuscht werden, wenn die eigentliche Wahrheit über den Hammer enthüllt wurde. Nicht etwa eine überirdische Macht bestimmte anhand der Würdigkeit, wer die Macht des Hammers beherrschen sollte. Nein, eine simple antike Recheneinheit erkannte die vorher mit Blut implementierte DNA und aktivierte die sogenannte Würdigkeit bei der ersten Berührung. Nur der Rat allein bestimmte, wer der nächste Träger wurde. So war es seit Jahrhunderten, Jahrtausenden. Das Elko aus Versehen der Träger wurde, war ein Fehler gewesen! Nur wie war es zu diesem Fehler gekommen?

Loke hielt in seinem unsteten Auf und Ab inne. Er hatte diese Frage schon so oft durchgewälzt und war nie zu einem schlüssigen Ergebnis gekommen. Bei der Tragweite dieser Entscheidung durfte man sich kein Malheur erlauben. Und es war womöglich gar kein Fehler gewesen. Irgendwer wollte womöglich nicht, dass er Hammerträger wurde. Loke beschloss, diesen quälenden Gedanken endlich mit Meland zu besprechen. Zusammen könnten sie dem Problem auf den Grund gehen. Damals hatte er keine Zeit für ein ausführliches Gespräch gehabt. Aber wenn der Hammer erst neu programmiert war, hätten sie alle Zeit der Welt.

Das Portal arbeitete bereits und bald kam es zur Kontaktaufnahme. In der Zwischenzeit konnte er sich um den Hammer kümmern und ihn hier her bringen. Die Sicherheitstechnik wurde ebenfalls bald geliefert. Die Technik war nötig, damit sich niemand diesem hochsensiblen Gebilde und dem Hammer unbemerkt näherte. Es in einer maroden, unauffälligen Lagerhalle zu verbergen, war die erste Sicherheitsmaßnahme, dennoch wollte er sich nicht auf die Täuschung verlassen und lieber auf Nummer sicher gehen.

Dass er ausgerechnet Claires Firma mit der Installation dieser Technik betraute, lag einzig und allein an seiner Bequemlichkeit. Er hätte vielleicht nach einer Alternative suchen sollen, nachdem er sie entführt hatte, aber da Lehmann Security den Vertrag mit ihm einhielt, ging er schlicht davon aus, dass die Leute dort noch nicht einmal etwas von Claires Verschwinden bemerkt hatten. Cornelius Lehmann höchstpersönlich hatte ihm nur über einen Vorfall mit einem Mitarbeiter in einem seiner Lagerhäuser unterrichtet. Der Mann war nicht müde geworden, ihm allerhand Geschichten aufzutischen. Loke schmunzelte bei dem Gedanken an dessen aalglattes Winden. Der Chef war sehr kreativ gewesen und Loke hatte so getan, als würde er sich kaum um den Vorfall scheren.

Claire ... Loke griff sich an die Stirn und lächelte boshaft. Sigrid würde noch ihr blaues Wunder mit ihr erleben. Wenn sie sich erst einmal richtig in der Gedankenwelt der Kleinen austobte, würde sie schon sehen, was er in den letzten Monaten gelernt hatte. Geschäftig löste er sich aus seinen Gedanken und straffte die Schultern. Er hatte zu tun. Bald würde es zur Kontaktaufnahme kommen. Dann würde er erfahren, ob sich seine Vermutungen bewahrheiteten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739499772
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Thor Epische Schlacht Asgard Liebesroman Bruder Streit Urban Fantasy Romance Fantasy

Autor

  • Danara DeVries (Autor:in)

Danara DeVries ist das Pseudonym einer nerdigen Mutter von zwei Nachwuchs-Nerds und der Ehefrau eines Ober-Nerds. Zusammen begeistern sie sich in trauter Nerdigkeit für alles, was auch nur im Entferntesten mit Fantasy, Mystik und Science Fiction zu tun hat.
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Titel: Weltenbrand: Der Zorn der Brüder