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Weltenbrand: Das Erbe des Blutadels

von Danara DeVries (Autor:in)
423 Seiten
Reihe: Weltenbrand, Band 1

Zusammenfassung

- Die Weltenbrand-Reihe ist beendet! - Als Mitarbeiterin eines renommierten Sicherheitsdienstes ist Claire Esterbrooks den Umgang mit gefährlichen Individuen gewohnt. Ihr selbstsicheres Auftreten imponiert Daniel Kirby, so dass er sich zu einem heißen Flirt hinreißen lässt. Ein Kuss allerdings macht sie zur Zielscheibe eines übermächtigen Magiers. Im Kampf um ihr Leben entdeckt sie bislang verborgene Fähigkeiten, die sie gleichsam faszinieren wie auch ängstigen. Daniel und seine Begleiterin scheinen zudem die Einzigen zu sein, die ihr gegen den mörderischen Zauberer helfen können. Claire ist gezwungen, ihre Hilfe anzunehmen, obwohl sie instinktiv spürt, dass weder Daniel noch seine Begleiterin von dieser Welt sind. Doch alles Training scheint vergebens, denn die Angriffe werden immer rücksichtsloser, und Claire und Daniel läuft die Zeit davon … Rasantes Urban-Fantasy-Abenteuer mit einer Prise Romantik! Band 1: Weltenbrand: Das Erbe des Blutadels Band 2: Weltenbrand: Der Zorn der Brüder Band 3: Weltenbrand: Der Weg des Kriegers Band 4: Weltenbrand: Revelation - REIHE beendet! -

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Weltenbrand: Das Erbe des Blutadels

Über den Autor

Danara DeVries (*1982) arbeitet als freier Autor und IT-Fachfrau. Danara DeVries ist das Pseudonym einer nerdigen Mutter von zwei Nachwuchs-Nerds und der Ehefrau eines Ober-Nerds. Zusammen begeistern sie sich in trauter Nerdigkeit für alles, was auch nur im Entferntesten mit Fantasy, Mystik und Science Fiction zu tun hat. Während die Nachwuchs-Nerds noch an der Vervollkommnung ihrer Kängeroo-Zitate und Nightwish-Songtexten arbeiten, widmet sich die Autorin Höherem. Das Schreiben eigener Texte ist ihr liebster Zeitvertreib und wenn sie nicht gerade durch virtuelle Welten hastet und mit Schwertern herumfuchtelt, versinkt sie in der nordischen Mythologie oder in anderen längst vergangenen Epochen.

 

Weitere Informationen unter: http://www.danara-devries.de

Kapitel 1

Lustlos schob sie das leere Glas vor sich hin und her und betrachtete gedankenverloren die feuchten Spuren, die es auf der abgenutzten Tischplatte hinterließ. Seufzend hob sie ihren Blick und ließ ihn durch die feiernde Menge schweifen. Das Top10 war eine angesagte Szene-Bar und sie sollte sich glücklich schätzen, hier zu sein.

Grundsätzlich hatte Claire Esterbrooks nichts gegen diese typische Freitag-Abendgestaltung der hiesigen Damenschaft, zu denen sich auch ihre besten Freundinnen gehörig fühlten. Doch alleine hier an einem Tisch zu versauern, widersprach ihren Vorstellungen von »ins Getümmel stürzen nach Beziehungsende« gänzlich. Bereits am späten Nachmittag waren Freundinnen bei ihr aufgeschlagen und hatten sie nach der noch so frischen Trennung von Steve auf andere Gedanken bringen wollen. Mit sündhaft teurem Champagner, den Chrissy im Keller ihrer Eltern ausgegraben hatte, und einem ordentlichen Beautyprogramm hatten sie ihre besten Freundinnen ablenken wollen und das war ihnen auch gründlich gelungen. Claire war ihnen für ihre Bemühungen durchaus dankbar, obwohl sie den weiteren Verlauf des Abends schon kannte. Er würde wie so viele andere Freitagabende enden.

Chrissy und Steph hatten sich wie üblich unters Volk gemischt und angeheitert, wie sie waren, ihre eherne Mission aus den Augen verloren. Mittlerweile war es im Top10 spürbar voller geworden, Chrissy tanzte eng umschlungen mit einer neuen Eroberung und Steph, so glaubte Claire, war mit einem alten Bekannten in den oberen Bereich der Bar verschwunden. Kuschelige Nischen luden Pärchen und die, die es werden wollten, zu gemütlicher Zweisamkeit ein, während unten auf der Tanzfläche das Nachtleben tobte.

Claire konnte weder dem einen noch dem anderen etwas abgewinnen. Doch ihren Freundinnen zuliebe hatte sie an diesem Abend nicht Nein! gesagt. Sie schätzte ihre Versuche, wenn auch das Ergebnis immer wieder aufs Gleiche hinauslief. Während Chrissy und Steph sich problemlos unters Volk mischen konnten, versauerte Claire an einem einsamen Tisch in der hintersten Ecke der Bar und schob gelangweilt einen alkoholfreien Cocktail von einer Ecke in die andere. Sie bereute bereits, dass sie sich überhaupt zu dieser Art der Abendgestaltung hatte breitschlagen lassen. Aber ihre Freundinnen fanden, dass sie dem Verflossenen nicht allzu lange nachtrauern sollte. Sie hätte die Trennung lieber mit Brendan Fraser anno 1999 verarbeitet. Aber aus Slapstick im Indiana-Jones-Kostüm wurde nichts. Steph und Chrissy hatten auf das Top10 bestanden und sie unerbittlich dorthin geschleift. Sie könne ja dann gemeinsam mit ihrer neuen Eroberung Die Mumie schauen.

Stephanie und Chrissy gingen – wie Claire bis vor kurzem auch – gewöhnlichen Bürojobs nach, zogen an den Wochenenden durch die Bars, trafen Jungs und nahmen hin und wieder auch einen von ihnen mit nach Hause. Claire hatte bis auf Steve noch nie einen Mann mit in ihre Wohnung genommen, dafür war sie viel zu pflichtbewusst und vorsichtig. Aber Steve war anders gewesen, so wie sich jede Frau den perfekten Partner vorstellte. Groß, durchtrainiert, breitschultrig, amüsant, aufmerksam, einfach perfekt. Sein einziges Problem war seine Liebe zu extremen Sportarten. Claire wusste nie, in welchem Winkel der Welt er sich gerade herumtrieb. Eisklettern im Himalaya war noch seine leichteste Übung. Höher, schneller, weiter! Er liebte das Abenteuer, die Gefahr und gierte unersättlich nach dem Nervenkitzel. Adrenalin war seine Droge. Für Claire war das auf Dauer einfach zu viel gewesen.

Aus dieser Beziehung war sie klüger und reservierter hervorgegangen und demzufolge nicht sonderlich erpicht darauf, Steve sofort durch eine neue Bekanntschaft zu ersetzen. Dennoch sehnte sie sich nach DEM Mann, der genau ihren Vorstellungen entsprach, dem Partner fürs Leben sozusagen.

Während sich Steph und Chrissy so vollkommen angstfrei ins Nachtleben stürzten und einen Kerl nach dem anderen kennenlernten, haderte Claire mit ihren persönlichen Ängsten. Obwohl sie für einen Sicherheitsdienst arbeitete und sich tatkräftig zu Wehr setzen konnte, wenn ein Mann ihr gegenüber handgreiflich werden sollte, hinderte sie genau diese Angst davor, so unbeschwert wie ihre Freundinnen den Abend genießen zu können. Ihre Angst hinderte sie von jeher, auf Männer zuzugehen. Wie sollte sie da jemals DEN Mann fürs Leben kennenlernen, wenn sie nur an ihrem Tisch hockte und darauf wartete, dass der Abend vorbei ging und sie nach Hause durfte?

Selbstverständlich hatte sie Steve nicht im Top10 kennengelernt; er war ihr im Fitness-Studio aufgefallen, mit seiner beherzt fröhlichen Art, seinem einnehmenden Lachen und dem belustigten Funkeln in den Augen. Er war der erste Mann in ihrem Leben, mit dem sie überhaupt intim geworden war. Und das nicht etwa in einer Kneipe, sondern ganz entspannt auf der Couch beim Kinoabend. Die Kerle davor überging sie stillschweigend. Claire war auch sonst ein eher vorsichtiger Mensch. Ihr Vater, dem sie ihre übervorsichtige Art zuschrieb, war kein einfacher Mann gewesen und sie hatte schon früh lernen müssen, dass die Einsamkeit eines LKW-Fahrers nicht am Freitagabend auf der Landstraße blieb. Stattdessen hatte er sie mit nach Hause gebracht, in Form von unzähligen Bierchen. Wenn dann nicht alles rund lief, das Kind zu laut war oder ihre Mutter nicht funktionierte, weil sie die ganze Woche über alleinerziehend war, rastete er regelmäßig aus. Als dann das Verhalten ihres Vaters vor ein paar Jahren zu eskalieren drohte, hatte ihre Mutter geistesgegenwärtig die Reißleine gezogen. Claire fehlte die unbeschwerte und sorgenfreie Kindheit, dieser traumatische Einschnitt in ihrem jungen Leben hatte sie zu einem vorsichtigen Menschen gemacht. Vor allem wenn Alkohol im Spiel war.

Claire seufzte und schob gelangweilt ihren leeren Cocktail in die andere Ecke des Tischchens. Grimmig zückte sie ihr Smartphone und starrte auf das Display. Noch nicht einmal Mitternacht. Wenn sie jetzt ging, könnte sie sich noch gemütlich auf die Couch kuscheln, um doch noch Brendan anzuschmachten. Er sah Steve gar nicht so unähnlich. Die Aussicht auf heiße Szenen im Wüstensand beflügelte sie in ihrem Vorhaben, doch die moralisch mahnende Stimme in ihrem Hinterkopf konnte sie nicht einfach ignorieren. Es wäre äußerst schäbig von ihr, die Freundinnen einfach so hängen zu lassen und daheim ihrem Ex nachzutrauen. Sie war es, die die Beziehung als »belastend« eingestuft hatte.

Claire seufzte, kämpfte noch einen Augenblick mit ihrem schlechten Gewissen und ließ das Handy wieder sinken. Chrissy und Stephanie wären zu Recht enttäuscht, wenn sie jetzt kommentarlos verschwinden würde. Es war ja noch nicht einmal Mitternacht! Sie klappte die helle Lederhülle ihres Smartphones unverrichteter Dinge wieder zu und verstaute es in ihrer Tasche. Erst einmal ein neuer Drink, selbstverständlich alkoholfrei. Vielleicht würde sich ja an der Bar etwas ergeben, zum Beispiel ein nettes Gespräch gegen die vorherrschende Langeweile.

Konversation war gut, hatte ihre Mutter heute Nachmittag noch am Telefon gesagt, als sie von dem geplanten Abend im Top10 erzählte. Man konnte sich kennenlernen und etwas für die eigene Sozialisierung tun. Man müsse nur genug Menschen begegnen, dann würde sich auch die ein oder andere Bekanntschaft entwickeln, die sich zu vertiefen lohnen könnte. Claire hatte den Rat ihrer Mutter zwar beherzigt, aber umsetzbar war er für sie nicht. Dafür war sie viel zu ängstlich, an genau den falschen Typen zu geraten. Nicht jeder konnte auf Fremde so unbefangen zugehen wie ihre Freundinnen.

Die Jungs aus der Firma kämen ebenfalls nicht als potenzielle neue Bekanntschaften, die sich zu vertiefen lohnten, in Frage. Sie waren ein ganz anderer Schlag Mann als Steve. Große, kernige Typen, die in Sekundenschnelle eine Pistole fachgerecht zerlegen und wieder zusammenbauen konnten. Aber mit dem weiblichen Geschlecht hatten sie nicht viel am Hut. Für diese Sorte Männer zählten nur Eroberungen. Sie hatte genug Gespräche zufällig mitgehört, sodass sie gut darauf verzichten konnte, bei den gegrölten Wortwechseln in der Umkleide eine tragende Rolle zu spielen. Eine Umkleide für beide Geschlechter – es lebe die Gleichstellung. Lediglich ein abgetrennter Bereich verschaffte ihr und zwei Kolleginnen etwas Privatsphäre. Als ihr Chef ihr die Stelle im Außendienst anbot, hatte sie sehnsüchtig zugegriffen. Sie wollte ja in eine Männerdomäne eindringen und ihrem langweiligen Schreibtisch entfliehen, also musste sie sich auch mit dem anderen Geschlecht arrangieren. Prinzipiell kein Problem, allerdings wünschte sie sich manchmal, die Jungs – so sehr sie sie auch mochte – würden etwas diskreter prahlen.

Schweren Herzens betrachtete Claire die wabernde Menge auf der Tanzfläche. Wenn sie einen neuen Drink wollte, musste sie sich wohl oder übel da durchkämpfen. Ihr Tischchen befand sich im hinteren Bereich des Top10 und die wabernde Masse menschlicher Körper versperrte ihr den Weg zur Bar. Mühsam drängte sich Claire seitlich an der Tanzfläche vorbei. Noch vor einer Stunde waren die Tische fast leer gewesen und der Weg praktisch frei. Aber es war Freitagabend und das Top10 dank seiner Atmosphäre beliebt.

Sanftes Licht tauchte die Theke in wohliges Ambiente, spiegelte sich in den hinter dem Barmann aufgebauten Flaschen wieder und ließ das Glas funkeln und blitzen. Claire wusste genau, warum sie und ihre Freundinnen dieses Etablissement immer wieder aufsuchten. Es gab die großzügige Tanzfläche, besagte Bar mit köstlichen Cocktails und einer umfangreichen Auswahl an Getränken, sowie Tische für größere Gruppen an der Seite. Im hinteren Bereich fanden abgetrennte Sitzgelegenheiten für mehr Privatsphäre ihren Platz und eine Etage höher konnten sich Pärchen und die, die es werden wollten, in eine gemütliche Lounge zum Kuscheln mit ruhiger Musik, gedämpftem Licht und sehr viel Sichtschutz zurückziehen.

Mittlerweile war die Bar richtig gut gefüllt, die Tische komplett besetzt und Claire musste sich energisch vorwärts schieben, um überhaupt bis zur Bar zu gelangen. Als sich eine Lücke in der Mauer aus breiten Schultern am Tresen bot, schob sie sich energisch dazwischen. Sie war nicht besonders groß. Sie hätte auf einem der Hocker Platz nehmen müssen, um überhaupt weit genug über die Theke zu reichen, aber sie verzichtete lieber auf die mühsame Ersteigung dieser Hocker, da sie ja nur einen Drink ordern wollte. Weit lehnte sie sich über die Theke und versuchte, die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erlangen.

Der junge Mann, vermutlich studentischer Aushilfsjob, war am anderen Ende des Tresens beschäftigt und sah nicht so aus, als ob er in nächster Zeit in ihre Richtung sehen würde. Eine große Gruppe Ausländer gab mit Verständigungsschwierigkeiten ihre Getränkebestellung auf und sie hatten – so wie es aussah – exotische Wünsche. Claire seufzte gottergeben und schnippte versuchsweise mit dem Finger.

»Mist.« Enttäuscht ließ sie ihren Arm wieder sinken.

»So wird das aber nichts«, kommentierte der Typ neben ihr und setzte sein Bier an die Lippen. Claire sah überrascht auf und starrte ihn verständnislos an.

»Was?«, gab sie bissig zurück. Sei freundlich, maßregelte sie sich im Tonfall ihrer Mutter. Du wolltest schließlich eine nette Unterhaltung.

Strahlend blaue Augen inspizierten sie über den Rand des Glases hinweg, und Claire hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, ein spöttisches Funkeln darin aufblitzen zu sehen. Als er das Bierglas wieder absetzte, musterte sie ihn etwas genauer. Dunkelblondes Haar war zweckmäßig zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden und der Dreitagebart konnte sein jungenhaftes Lausbubengrinsen nicht ganz verbergen. Er trug Jeans, ein dunkles Shirt mit V-Ausschnitt und einen rotbraunen kurzen Wildledermantel. Weiches Brusthaar linste vorwitzig unter dem Stoff hervor und Claire blieb einen Moment zu lange an dieser Stelle hängen. Weich? Sie hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlen würde, aber sie kostete diese Vorstellung einen winzigen Moment zu lang aus.

Als sie merkte, wie lange sie in seinen Ausschnitt starrte, spürte sie schamvolle Hitze ihre Wangen überziehen. Seufzend riss sie sich von dem Anblick los und begegnete seinem amüsierten Grinsen. Sie wollte den Blick abwenden, sich ertappt wegdrehen, aber sein Lausbubengrinsen war so einnehmend, so fesselnd, dass sie sich nicht von ihm lösen konnte.

Daniel Kirby genoss den Blick der jungen Frau viel zu sehr. Er wusste genau, wo ihr Blick hängen geblieben war. Sie verschlang ihn sprichwörtlich und ihr ertapptes Erröten war erfrischend und unschuldig zugleich. Sein Lächeln genügte, damit sie merkte, dass ihm ihre Blicke nicht entgangen waren.

»Der Barkeeper«, erklärte er noch immer lächelnd. Ihre dunklen Locken wallten in einer atemberaubend schönen Masse über ihren Rücken. Sie war schlank und nicht besonders groß. Um überhaupt über den erhöhten Tresen reichen zu können, musste sie sich ordentlich strecken. Dadurch konnte er einen guten Einblick in ihr straffes Dekolleté erhaschen. Daniel schmunzelte und genoss die Aussicht noch einen Augenblick länger auf den attraktiven Schlitz.

Er war noch nicht sehr lange im Top10, wollte nur auf ein Bier an die Bar und sich dann wieder ins Getümmel stürzen. Die Spurensuche war mühsam, langweilig und fruchtlos, aber leider blieb ihm nichts anderes übrig. Er hatte keine Ahnung, wo er ansetzen sollte. Die Bars abzuklappern und Fragen zu stellen, schien ihm die einzige Option. Das Bier an der Bar diente sowohl einer kurzen Pause, als auch Kontakt zum Barkeeper aufzunehmen.

Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als sich die junge Frau neben ihm ein bisschen mehr streckte und wieder mit den Fingern schnippte. Sie hatte sich offensichtlich von seinem Ausschnitt erholt und wieder ihrem eigentlichen Anliegen zugewandt.

»Ach was«, entgegnete sie und versteckte ihre Verlegenheit hinter einer schnippischen Antwort. »Der wird mich schon irgendwann bemerken.« Sie ließ den Arm wieder sinken und stützte sich leicht gekränkt auf dem glatt polierten Holz ab.

»Glaub ich nicht«, gab Daniel schmunzelnd zurück. »Die Meute da vorne hat recht ausgefallene Wünsche und unser Freund hier ist nicht der Hellste.« Er prostete ihr spielerisch zu und schenkte ihr erneut sein Lausbubengrinsen. Dabei gab er sich besonders große Mühe, in ihre Augen und nicht in ihren Ausschnitt zu sehen, während er sein Bier direkt vor ihre Nase stellte. Sigrid hatte ihm eingeschärft, bei seinen Befragungen immer Augenkontakt zu halten. Das würde die Menschen freundlich stimmen und sie zugänglicher für seine Fragen machen. Seiner Meinung nach war Sigrid allerdings notorisch eifersüchtig und versteckte ihre eigenen Ambitionen hinter guten Ratschlägen. Sie wollte nur verhindern, dass er sich dem weiblichen Geschlecht der hiesigen Bevölkerung zu sehr näherte oder gar Gespräche mit den Damen führte.

Die junge Frau sah das angebotene Glas irritiert an, als ob sie nicht wusste, was sie von seiner Geste halten sollte. »Ich habe auf dieses hier schon beinahe zwanzig Minuten gewartet, aber ich trete es dir gerne ab. Du wirkst mir halb verdurstet«, fügte er erklärend zu seiner Geste hinzu.

Claire lächelte ihn entschuldigend an und schob das Glas energisch von sich. Sein Lausbubengrinsen hatte offenbar seine Wirkung verfehlt. »Nein«, erwiderte sie bestimmt, »das kann ich unmöglich annehmen! Sie haben sich das Bier bestimmt redlich verdient und ich kann warten!« Sie wandte sich erneut dem Barkeeper zu. Der hatte inzwischen das Feld geräumt und war im Hinterzimmer verschwunden. Frustration und Enttäuschung machten sich auf ihrem Gesicht breit.

Verdammt! Claire hatte ihn nur einen winzigen Moment aus den Augen gelassen, und schon war der Mistkerl abgehauen! Die Verärgerung darüber musste sich deutlich in ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Daniel folgte ihrem Blick und grinste schelmisch in sich hinein.

»Zu blöd«, murmelte er schadenfroh, während er sich wieder zu ihr wandte. »Wenn du das Bier allerdings nicht alleine trinken magst, könnten wir es uns auch gerne teilen.«

Bewusst setzte er sein Lächeln erneut ein, um so aufrichtig und harmlos wie möglich zu wirken. Es fiel ihm sogar leichter als erwartet, denn ihre Augen strahlten vor Energie und Witz. Ihr Lächeln wirkte nicht aufgesetzt und sie entsprach generell so gar nicht dem üblichen Klientel dieser Kneipe. Ihre Gesellschaft war jetzt genau das Richtige für ihn, sie gab ihm reichlich Motivation, seine ermüdende und fruchtlose Fragerei fortzusetzen.

Nicht auszudenken, wenn er ihn nicht rechtzeitig fand. Er musste einen Hinweis zutage fördern. Nicht auszudenken, was der Kerl, hinter dem er her war, in der Zwischenzeit alles anstellen konnte. Und Daniel war daran schuld, nur er allein. Hartnäckig klammerte er sich an die Vorstellung, dass alles wieder so sein würde wie früher, wenn er ihn nur zurückbrachte. Doch insgeheim wusste er, dass nichts wieder so werden würde wie vor der Wahl. Die Eifersucht und der Hass standen für immer zwischen ihnen. Daniel schluckte schwer und lächelte die junge Frau entschuldigend an, doch er konnte die Schuldgefühle nicht ganz verbergen.

Der Ausdruck seiner Augen erweichte ihr Herz. Sie lächelte ihn mitfühlend an und nickte, ehe sie nach dem Glas griff. »Einverstanden.«

 

Interessiert beobachtete Daniel jede ihrer Bewegungen, als sie sein Bier ansetzte und es in einem Zug leerte. Das Glas war zwar nicht mehr bis zum Rand gefüllt, aber sie stellte es erst wieder ab, als sie den gesamten Inhalt geleert hatte. Seine Augen wurden mit jedem ihrer kräftigen Züge größer und er staunte nicht schlecht, als sie das Glas lautstark auf dem Tresen abstellte und tief Luft holte.

»Du musst ja am Verdursten gewesen sein«, kommentierte er lachend ihre hastigen Atemzüge. »Wir werden uns allerdings die Zeit anderweitig vertreiben müssen, bis der Barkeeper zurückkommt und wir nachbestellen können.« Daniel deutete erneut auf die ausländische Touristengruppe. Der Barmann war inzwischen zurückgekehrt. Das Gebrachte schien allerdings nicht den Wünschen der Gäste zu entsprechen, denn die Gruppe wirkte sichtlich unzufrieden und lehnte die Getränke lautstark ab.

Die junge Frau wurde puterrot. »Öhm ...«, machte sie verlegen und heftete ihren Blick angestrengt auf ihre Hände. »Ich geb dir eins aus, okay?«

»Kein Problem«, entgegnete er beschwichtigend. Das Bier hatte ihm sowieso nicht geschmeckt. Er hatte es nur bestellt, um überhaupt irgendetwas zu bestellen, und es befeuchtete die Kehle. Als Durstlöscher für diese junge, nervöse Person war es jeden Cent wert.

Aus einem Impuls heraus streckte er ihr seine Hand entgegen. »Darf ich den Namen der Dame erfahren, die gestandene Männer unter den Tisch trinken kann?«

Sie zögerte einen Moment, ehe sie seine Hand ergriff. »Claire.«

»Daniel,« erwiderte er und grinste sie an. Der Barhocker neben ihnen war in der Zwischenzeit frei geworden. Er lächelte sie aufmunternd an und deutete nickend darauf. »Wenn du mir einen ausgibst, bist du aber gezwungen, mir etwas Gesellschaft zu leisten.«

Claire musterte den gepolsterten Sitz unsicher. »Okay«, murmelte sie und versuchte, umständlich den Hocker zu bezwingen. Sie war viel zu klein und hatte jedes Mal erhebliche Probleme, diese Dinger zu besteigen. Deshalb bevorzugte sie auch die Tische und Nischen. Zur Bar ging sie nur, wenn die Bedienung überfordert war und sie am Verdursten war.

Daniel hob spöttisch eine Augenbraue und kommentierte ihre unbeholfenen Versuche mit einem wohlwollenden Lächeln. Claire bemerkte seine Reaktion. Ihr blieb allerdings keine Zeit für eine passende Erwiderung, denn er glitt mit einer fließenden Bewegung von seinem Barhocker herunter und hob die überraschte Claire ohne sichtliche Anstrengung auf die Polster.

Verdutzt starrte sie ihn an. Also so etwas war ihr auch noch nicht passiert! Wie ein kleines Kind auf einen Stuhl gesetzt zu werden! Sie war eine erwachsene Frau und dieser Typ hatte sie einfach ohne Erlaubnis hochgehoben und auf dem verdammten Hocker postiert, ohne sich um ihre Meinung zu scheren. Claire wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sollte sie sich ärgern oder über die fürsorgliche Geste erröten? Ihr Herz jedenfalls hatte bereits einen Standpunkt bezogen und pochte aufgeregt in ihrer Brust. Von ihm so angehoben zu werden war nicht unangenehm, aber irgendwie unangebracht. Sie kannten sich schließlich erst wenige Minuten. Sie anzuheben war eine vertraute Geste, die ihm nicht – noch nicht? – zustand. Sie spürte schon, wie ihre Wangen zu glühen begannen und ihr Blick an seiner Brust hängen blieb. Obwohl sie nun deutlich erhöht saß, war er im Stehen so groß, dass er sie um mehr als einen Kopf überragte. Nervös rutschte sie auf dem Hocker hin und her, suchte nach einer bequemen Sitzposition und wich seiner Brust aus, deren vorwitziger Ausschnitt schon wieder auf ihrer Augenhöhe war.

»Danke«, murmelte sie schüchtern und schluckte trocken. »Aber das wäre nicht nötig gewesen, ich hätte das schon geschafft.« Sie nestelte verlegen an ihrem schwarzen Jäckchen herum und zupfte die Bänder gerade.

»Ach was«, winkte er ab. »Ich wollte dir nur helfen.« Der tiefe Klang seiner Stimme ließ Claire von Kopf bis in die Zehenspitzen erschauern. Helfen? Sie hob leicht den Blick, um ihm in die Augen sehen zu können. Sein anzügliches Grinsen strafte seine harmlosen Worte Lügen. Dieser Mistkerl hatte das definitiv genossen! Oh Gott, das würde kein gutes Ende nehmen!

»So, was kann ich euch zwei Hübschen bringen?«, platzte der junge Barkeeper in ihre Gedanken und holte sie zurück auf ihren verdammten Barhocker. Besser war es, denn ihr Gehirn hatte sich eindeutig selbstständig gemacht und das vor ihrem inneren Auge ablaufende Kopfkino war absolut nicht jugendfrei.

»Äh ...« Claire war noch immer nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen und stammelte verlegen, doch Daniel übernahm zufrieden grinsend ob der Wirkung, die er auf sie hatte, die Bestellung.

»Für die junge Dame hier einen ...«, er machte eine vielsagende Pause, »... Ladykiller, und ich hätte gerne noch zwei Bier.« Der Barkeeper erwiderte sein Grinsen mit einem deutlichen Blick und einer schnellen Kopfbewegung. Daniel überging die unausgesprochene Bemerkung und starrte den Barkeeper irritiert an. »Alles klar!«, bestätigte der Barkeeper die Getränke. »Kommt sofort!«

»Das bezweifle ich«, murmelte Daniel und wandte sich wieder Claire zu, die dem kurzen Dialog mit offenem Mund gefolgt war. Sie arbeitete lange genug mit Männern zusammen, um deren lautlose Gespräche einschätzen zu können.

»Ladykiller?« War da nicht auch Alkohol drin? Er brauchte sie nicht betrunken zu machen, um wie ein Ladykiller auszusehen. Oh Gott, was dachte sie sich nur dabei?

»Mir scheint, als könntest du etwas Stärkeres vertragen.«

Claire war sich nicht sicher, ob er von dem Mixgetränk sprach. Ladykiller entsprach zwar genau ihrem Geschmack, aber sie hatte dabei keinen Alkohol im Sinn. Schockiert über ihre eigenen Gedanken riss sie entsetzt die Augen auf. Daniel deutete ihren Blick allerdings ganz anders und lachte aus vollem Hals. »Ich meine den Cocktail.« Belustigt zuckten ihre Mundwinkel. Dieser Kerl ... wusste verdammt gut, was sie gemeint hatte, aber sein herzliches Lachen steckte sie an und sie fing lauthals an zu prusten. Kein aufgesetztes Hüsteln, um ihre Verlegenheit zu überspielen, sondern ehrlich und von Herzen.

»Hast du etwa meine Gedanken gelesen?«, stichelte sie mit einem Augenzwinkern und schob das leere Bierglas zwischen ihren Händen hin und her. Das förmliche Sie, dass sie bei ihrer Begrüßung noch verwendet hatte, war vergessen. Ganz automatisch hatte sie sich seiner Wortwahl angepasst und war zum persönlichen Du übergegangen. Sie hatte sein Bier geleert, sich dann immer noch zu siezen erschien ihr unpassend.

»Lag ich richtig?«, wich er ihr mit einer spöttisch hochgezogenen Augenbraue aus. Claire blickte von ihrer Beschäftigung auf und sah ihm ernst in die Augen.

»Vielleicht.«

Daniel lächelte gelöst und entspannte sich in ihrer Gesellschaft.

 

 

Die Musik war viel zu laut, das Bier widerte ihn an und die Alibi-Bekanntschaft wurde für seinen Geschmack zu aufdringlich. Genervt ließ sich der dunkelhaarige Mann auf einer Tischkante im hinteren Bereich der miesen Spelunke nieder, nur um im gleichen Moment das lästige Gewicht eines nahezu unbekleideten Mädchens auf seinem rechten Oberschenkel zu spüren. Sie presste ihre verknöcherte Hüfte an ihn und machte unappetitliche Versuche, sich an ihm zu reiben.

Genervt schob er sich die linke Hand in die Hosentasche und umschlang mit der rechten mechanisch ihre Hüfte. Er schob sie in eine für ihn erträglichere Position, sodass sich ihre harten Hüftknochen nicht mehr unsanft in seine Seite bohrten. Sie nahm diese Berührung seufzend an und schmiegte auch den Rest ihres Klappergestells an ihn. Ihr Oberschenkel legte sich über seinen Schritt und sie begann mit unbeholfenen, kreisenden Bewegungen. Seine rechte Augenbraue wanderte angewidert nach oben, doch er unterdrückte jegliche Reaktion. Den Blick fest auf das Pärchen an der Bar geheftet, löste er die Hand von der Hüfte der Blondine und vollführte ein paar komplizierte Symbole. Seine Lippen bewegten sich tonlos in einer fremden Sprache.

Die Blondine erschlaffte an seiner Seite und sollte nun nicht weiter stören. Als Dekoration war sie ganz nützlich, aber zu aufdringlich brauchte sie auch nicht werden. Er war definitiv nicht mit amourösen Absichten hergekommen, der Besuch dieses Etablissements diente einzig und allein dem blonden Riesen an der Bar. Irgendwann würde er ihn in einem achtlosen Moment erwischen und dann konnte er seinen Plan endlich in die Tat umsetzen.

Das Pärchen am Tresen lachte und scherzte, der ehemals erschöpfte Blick des Riesen wirkte entspannt und gelöst. Verbittert presste er die Lippen bei dieser Beobachtung aufeinander und schluckte den Spruch, der ihm auf der Zunge lag, hinunter.

Dann packte der Mann die Kleine und setzte sie auf den Barhocker. Entsetzt riss ihr Beobachter die Augen auf und würgte trocken. Die zwei kannten sich also etwas besser ... Solch eine Vertraulichkeit nahm man sich nur unter Freunden heraus.

Bittere Galle kroch ihm die Kehle hoch und zwang ihn, den ekelhaften Geschmack hinunter zu würgen. Mit jedem Schlucken wuchs sein Hass: Hass auf diesen Kerl, Hass auf dieses Mädchen und Hass auf ihre gemeinsame, unbeschwerte Zeit. Sein grimmiger Blick heftete sich manisch auf die junge Frau.

Genüsslich blickte er auf seine rechte Hand, in der er plötzlich einen edel geschwungenen Dolch hielt. Die gebogene, vorne spitz zulaufende Schneide schimmerte im flackernden Licht der sich unablässig drehenden Diskokugel. Eigentlich hatte er ihn die Klinge heute Abend schmecken lassen wollen, wollte endlich seinen – ihren – Plan beginnen und seinen Teil dazu beitragen. Er hatte gehofft, wenn er sich durch die Menschenmassen zu dem Hünen durchschlug, könnte er endlich nah genug an ihn herankommen. Aber dann war das Mädchen aufgetaucht, und dann diese Vertraulichkeit zwischen den beiden. Die Rohheit des eigentlichen Planes stieß ihn von Anfang an ab und er ersann innerhalb weniger Atemzüge einen neuen, raffinierten. In jenem Augenblick schwor er sich, dass er das Fräulein genauso leiden lassen würde wie den Mann, für den er heute hergekommen war. Direkt vor dessen Augen, damit er genau den gleichen Schmerz erführe wie er, als er ihn um sein Erbe betrogen, ihre Freundschaft mit Füßen getreten und sein Versprechen gebrochen hatte. Er hätte ihm gehören sollen, nur ihm allein, und nicht diesem Trottel!

Der grünäugige Mann presste die junge Blondine noch fester an sich, sodass sie trotz ihrer Trance schmerzhaft stöhnte und morgen eine Reihe blauer Flecken ihre knochigen Hüften zieren würde. Dann zog er sich mit ihr an seiner Seite in eine der dunklen Nischen zurück. Von dort aus konnte er das Pärchen in aller Ruhe beobachten und auf dem Weg zu ihnen würde er dieses Anhängsel irgendwo abladen.

 

 

»Und was macht ein Mädchen wie du allein in so einer Bar?«

»Ich bin doch nicht alleine«, entgegnete Claire lächelnd und tauschte das Glas gegen Daniels Hand, die so unschuldig vor ihr gelegen hatte. Der unwiderstehliche Drang, ihn zu berühren, ließ sie ihre üblichen Hemmungen vergessen. Sie drehte seine Hand und fuhr gedankenverloren die harten Schwielen in der Innenfläche nach. Das waren die Hände eines Mannes, der tagtäglich harter, körperlicher Arbeit nachging. Claire hob den Kopf und begegnete seinen überrascht nach oben wandernden Augenbrauen. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern und verflocht ihre Finger mit seinen. Seine Kehle trocknete mit einem Schlag aus und er schluckte hart. Erneut ließ er den Blick Richtung Barkeeper schweifen, doch von dem bestellten Bier war nach wie vor nichts zu sehen. Damit könnte er seine klebrige Zunge befeuchten und seine Finger hätten etwas zu tun, würden Claires irritierenden, aber ganz und gar nicht unangenehmen Berührungen entgehen.

»Ähm, ja ... allein bist du nicht. Hier sind ... ganz viele ... Menschen«, stammelte Daniel abgelenkt und klebte förmlich mit seinem Blick an ihren Fingern.

Claire registrierte das Gestammel nicht. Er hätte ihr auch eine Spielanleitung vorlesen können, so sehr war sie von seiner großen und starken Hand fasziniert. Diese Hand würde sich wunderbar auf ihrer Haut anfühlen. Sie ließ ihre Finger über die einzelnen Fingerkuppen wandern, streichelte gedankenverloren über die Innenfläche und rieb mit dem Daumen über seinen Handballen. Das angestrengte Zittern, das von Daniels Arm in seine Hand überging, bemerkte sie nicht.

»Zwei Bier und ein Ladykiller, wie gewünscht!« Lautstark stellte der Barkeeper die Getränke vor ihnen ab und riss sie damit aus ihren Gedanken. Hastig legte Daniel seine andere Hand auf Claires und stoppte damit ihre irritierenden Streicheleinheiten. Den Barkeeper funkelte er grimmig an. »Ihr könnt euch auch oben in eine Nische verziehen«, fügte der junge Mann spöttisch hinzu, »dort ist es ruhig. Dunkel. Sanfte Musik.« Er grinste vielsagend und überging Daniels tödlichen Blick mit einer lässigen Geste.

Ertappt zog Claire ihren Arm weg und löste sich von seiner Hand. Ihre Selbstbeherrschung hatte sich verabschiedet und sie hatte nur noch seine wundervoll starke Hand im Sinn. Was er damit alles machen könnte? Er fühlte sich so gut und so richtig an ... Allein das plötzliche Auftauchen des Barkeepers holte sie zurück in die unwillkommene Realität. Claire sah ihm irritiert hinterher und schluckte trocken. »Verzeihung«, murmelte sie und griff nach ihrem Cocktail.

»Du brauchst dich nicht entschuldigen, ich hätte einfach meine Hand wegziehen können«, erwiderte Daniel und nahm einen großen Schluck kühles Bier, um sich selbst am Reden zu hindern. Oh ja, das tat gut.

»Nein, nein.« Claire drehte ihr Cocktailglas hin und her. Endlich hatten ihre Hände etwas anderes zu tun, als Daniel zu begrapschen. Wer weiß, wo sie sonst noch ohne ihr Zutun hinwandern würden. Als hätten ihre Hände ein Eigenleben entwickelt. Was war nur los mit ihr? Sie war doch sonst eher zurückhaltend.

Nicht aufhören!, dachte Daniel, als er sein Bierglas wieder abgestellt hatte. »Mir waren deine Berührungen nicht unangenehm«, murmelte er gestelzt.

Claire blickte überrascht auf. »Ich ...«, begann sie. Die Worte wollten ihren Mund allerdings nicht so recht verlassen und ihr Blick verlor sich in Daniels Augen, deren ehrlicher und sanftmütiger Ausdruck sie sprichwörtlich dahinschmelzen ließ. Widerstand war zwecklos. Ihre Augen wanderten zu seinem Mund und sie leckte sich unwillkürlich über die Lippen, wollte ihn nur noch fühlen. Seine Lippen würden genauso wunderbar weich und anschmiegsam sein, wie seine Hand. Aber das konnte sie natürlich nicht tun, nicht hier in der Öffentlichkeit. Sie kannten sich gerade mal fünf Minuten. Dennoch ertappte sie sich dabei, wie sie sich nach vorn beugte und die Augen schloss. Vielleicht um sich die sinnliche Berührung vorzustellen oder vielleicht auch nur, um ihn nicht weiter anzustarren. Sie wusste es nicht und genauso wenig traute sie sich, die Augen wieder zu öffnen. In nervöser und freudiger Erwartung hielt sie den Atem an. Und dann spürte sie plötzlich seine Lippen auf ihren. Die Berührung war sacht und zurückhaltend, unsicher, wie weit er sich vorwagen durfte, was sie erlauben würde. Sanft knisternd spürte Claire, wie sich ihr gesamter Körper auflud und sie mehr wollte, so viel mehr. Gierig öffnete sie ihre Lippen und ertrank in Daniels Küssen, vergrub ihre Hände in seinem Haar und klammerte sich haltsuchend an ihn. Die Ekstase durchströmte sie wie ein Stromschlag, setzte alle ihre Nervenenden in Brand und durchflutete sie mit ungeahnter Lebenskraft. So etwas hatte sie noch nie gespürt und sie wollte, dass es niemals endete.

Langsam legte er seine Arme um sie und schob sich zwischen ihre Lippen, so weich und nachgiebig. In ihrem Kuss versunken, vergaßen sie völlig, wo sie sich befanden, blendeten die Menschen, die laute Musik, einfach alles aus und existierten nur für diesen einen Moment.

Widerstrebend lösten sie sich erst voneinander, als sie zu ersticken drohten. Claires Kopf schwirrte, aber sie fühlte sich frisch und belebt, so als hätte sie zwölf Stunden am Stück geschlafen. Er hatte sie halb bewusstlos geküsst. Sie fühlte sich so elektrisiert, dass ihr vor Energieüberschuss beinahe die Sinne schwanden. Langsam kam sie wieder zu Atem und die Achterbahnfahrt in ihrem Kopf verlor an Geschwindigkeit. Ihr Herz pochte allerdings noch aufgeregter und ihr Puls raste wie nach einem Hundert-Meter-Lauf. Dort, wo er sie berührte, kribbelte es angenehm. Sein zärtliches Lächeln trieb ihren Herzschlag erneut an.

»Das war ...«, versuchte sich Claire, schwer atmend zu sammeln. Ohne Erfolg. Die Worte blieben ihr im Halse stecken, die Schmetterlinge in ihrem Bauch hinderten sie daran, ihre Gefühle in Worte zu fassen.

»Es tut mir leid«, murmelte Daniel, deutete ihr Schweigen vollkommen falsch, küsste sie aber dennoch gedankenverloren auf die Stirn. »Das hätte ich nicht tun dürfen, es war unangemessen.«

Deswegen küsst du mich auch schon wieder, dachte Claire und vergrub lächelnd für einen kurzen Moment ihr Gesicht in seinem Ausschnitt. Ihre Nase streifte über den Ansatz seines Shirts und berührte flüchtig das gekräuselte Brusthaar. Tatsächlich, es war wunderbar weich und roch nach Seife und ein wenig Schweiß, aber keineswegs unangenehm, eher nach ein wenig zu viel Mann. Dann spürte sie jedoch, wie er vor Anspannung zitterte. Mit gespieltem Entsetzen sah sie zu ihm auf, ehe sie seine aufkeimenden Bedenken mit einem einzigen Lächeln beiseite wischte.

»Mir waren deine Berührungen auch nicht unangenehm«, äffte sie ihn nach und grinste. »Ich kenne dich nicht, aber ich mag deine Küsse ...« Claire war von sich selbst überrascht, aber verdammt noch mal, sie war schon so lange nicht mehr geküsst worden. Steve war auch ein guter Küsser gewesen, aber bei Daniel fühlte sie dieses unbeschreibliche Kribbeln. Er hatte sie schwindelig geküsst. Sie würde diese Erfahrung – entgegen aller Vernunft und Vorsicht – gerne wiederholen und vertiefen.

»Nehmt euch doch ein Zimmer, das kann man sich ja nicht mit ansehen!«, unterbrach sie der Barkeeper lachend und wollte wieder verschwinden.

Claire riss sich ertappt von Daniel los und drehte sich zu dem jungen Mann. »Nein, danke«, entgegnete sie bissig und löste sich energisch aus Daniels Umarmung.

Der Barkeeper ging ihr gehörig auf die Nerven. Dauernd störte er und unterbrach sie. Sollte er sich doch lieber um seine Kunden kümmern, statt sie ständig abzulenken.

Statt Erregung und Daniels Küssen raubten jetzt Aufregung und Zorn Claire den Atem und trieben ihren Puls an. Sie musste dringend hier raus! Entweder das, oder sie würde den Kerl lynchen. Frische Luft! Sie brauchte unbedingt frische, kühle, kalte Nachtluft.

»Wir gehen!«

Daniel sah Claire verwundert dabei zu, wie sie sich vor Wut aufplusterte und sich das Rot ihrer Wangen intensivierte, insofern das nach seinen Küssen überhaupt noch möglich war. Wütend kramte sie in ihrer Hosentasche und warf ein paar Scheine auf den Tresen, dann griff sie nach seiner Hand und wollte vom Barhocker runterspringen. Entsetzen spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder, als sie nach unten blickte und ihre energischen Bewegungen abrupt stoppte. Höhenangst, dachte Daniel amüsiert. Die Kleine hatte Höhenangst.

Er reagierte sofort, rutschte von seinem eigenen Barhocker und hob sie sanft herunter. Claire lächelte ihn dankbar an, ihre Wut augenscheinlich verflogen. Für einen kurzen Moment verfing sich ihr Blick in seinem. Sein Magen verkrampfte sich ruckartig und er löste die Verbindung mit einem unsicheren Lächeln. Widerwillig kämpfte er den Drang nieder, sie einfach auf seine Arme zu heben und aus dieser Bar herauszutragen.

»Danke«, murmelte sie leise, löste sich von ihm und zog ihn hinter sich her Richtung Ausgang.

»Danke für die Einladung, aber ich wollte für dich zahlen«, beschwerte er sich im Hinausgehen. Er hatte überhaupt nichts dagegen, wenn sie die Bar verließen, aber bitte doch mit korrekter Rollenverteilung.

»Kein Problem«, murmelte Claire und beschleunigte ihre Schritte. Sie hatte es plötzlich sehr eilig. Daniel folgte ihr widerstandslos. Die Bar war ihm sowieso zuwider. Der lästige Barkeeper, die viel zu laute Musik, die sich unkontrolliert bewegende Menge.

Als sie sich durch die Menschen schoben, wanderte sein Blick wie gewohnt durch die Menge, suchte ein bestimmtes Gesicht. Dabei fielen ihm die vielen Blicke auf, die man ihm zuwarf. Die Leute lächelten ihm teilweise zu, andere bedachten ihn mit anzüglichen Blicken und wieder andere fast feindselig. Nein, er hatte nichts dagegen, die Bar zu verlassen.

Was hatten sie da am Tresen getrieben, dass die Leute sie so genau wahrnahmen? Sein Hirn hatte zwar für ein paar Sekunden die Arbeit eingestellt und sich ganz Claire hingegeben, aber das konnten doch nicht viel mehr als ein paar Küsse gewesen sein. Okay, wilde und hungrige Küsse.

Sein Blick wanderte zu der kleinen Brünetten, die ihn energisch Richtung Ausgang zog. Ihr Shirt hing aus der Hose, das kurze Jäckchen war ihr von der Schulter gerutscht und entblößte verführerisch zarte Haut, ihre akkurat gelegten Locken hatten sich in eine zerzauste Löwenmähne verwandelt. Okay, das waren vielleicht doch etwas intensivere Küsse gewesen als gedacht. Aber er mochte ihren derangierten Anblick sehr. Anzüglich grinsend ließ er sich von ihr führen.

 

 

Starre Pupillen glänzten im flackernden Licht der glitzernden Diskokugel, die sich über der wogenden Menge im Rhythmus der hämmernden Bässe drehte. Kein Zwinkern, kein Flackern konnte den bohrenden Blick hinter der grünen Iris zweier fanatisch funkelnder Pupillen stören. Das Pärchen, auf das die manischen Augen gerichtet waren, bemerkte nichts von dem Interesse, das der grünäugige Mann ihnen zukommen ließ. Sie schoben und drängten sich durch die zähe Masse tanzender Körper, doch den Blick, der sich in ihre Hinterköpfe bohrte, registrierten sie nicht. Besonders die junge Frau mit der ungezähmten braunen Haarpracht bildete das Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Für sie würde er sich etwas ganz Außergewöhnliches ausdenken. Denn wenn dieses Mädchen es schaffte, das Interesse des Hünen zu erringen, dann war sie ein wenig Aufwand wert.

Gemurmelte Worte lösten sich von seinen Lippen und drängten sich in ihren Kopf, in ihre geheimsten Gedanken. Schonungslos zerrte er Ängste an die Oberfläche ihres Bewusstseins und verstärkte sie, pflanzte eine Erinnerung in ihren Geist, die nicht ihr gehörte. Sie würde wie Unkraut wachsen und ihre Gefühle vergiften. Leises Bedauern beschlich ihn, denn er würde ihrem Ausbruch leider nicht beiwohnen können. Zu gerne hätte er sie dabei beobachtet, doch er musste hier verschwinden. Die Zeit drängte.

Gemächlich verschmolz er mit der Wand in seinem Rücken und vollführte mit der Hand ein paar komplizierte Bewegungen. Sein Körper versank im Gemäuer und sein schallendes Gelächter erklang wie aus weiter Ferne. Es war jedoch noch immer nah genug, dass sich die Menschen in seiner Nähe verwirrt umdrehten, irritiert den Kopf schüttelten. Als sie die Quelle des Gelächters nicht ausfindig machen konnten, wandten sie sich wieder ihren Gesprächen zu. Als hätte sie das Lachen eines Geistes gestreift.

Auch die junge Frau schien das Gelächter gehört zu haben. Sie drehte im Gehen kurz den Kopf und starrte die Stelle in der Wand an, wo er gestanden hatte. Kreisförmige Wellenbewegungen breiteten sich von diesem Punkt aus. Doch nun wunderte sie sich lediglich über das eigenartige Flimmern und tat diese Beobachtung achselzuckend als Sinnestäuschung ab. Vor ihr hatte sich eine Lücke zwischen den tanzenden und feiernden Menschen aufgetan und sie beschleunigte ihre Schritte. Die Gelegenheit wollte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.

 

 

 

Erst, als Claire und Daniel die Bar endlich verlassen hatten, verlangsamten sie ihr Tempo. Zielstrebig gingen sie die Straße hinunter. Daniel glitt gemächlich neben ihr her, dank seiner langen Beine musste er sich nicht sonderlich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten.

»Sorry«, murmelte Claire und rieb sich den Nacken, nachdem sie ein paar Minuten schweigend nebeneinander her gelaufen waren. »Ich hab’s da drin einfach nicht mehr ausgehalten.« Ein unangenehmes Pochen breitete sich über ihre Schläfen bis zum Hinterkopf aus. Sie schluckte trocken.

»Ich auch nicht«, brummte Daniel und zog sie an sich. Unter Einsatz seines Körpergewichts drückte er sie ohne Vorwarnung gegen die nächste Hauswand und suchte wie ausgehungert nach ihrem Mund. Sobald sich ihre Lippen berührten, drängte er sich in ihren Mund. Claire war vollkommen überrascht von seinem ungestümen Kuss. Überwältigt von der fast schmerzhaften Wildheit, erstarrte sie und ließ seine Berührungen unerwidert über sich ergehen. Nur mit Mühe hielt sie der Attacke stand, wollte zurückweichen, doch die Mauer in ihrem Rücken verhinderte ihren Rückzug. Erinnerungen, die nicht ihre Eigenen waren, überrollten sie und jagten ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken, kontrollierten sie und erlaubten ihr nicht, anders als mit Totstellen zu reagieren. Daniel presste sie fester gegen die Hauswand, eroberte ungestüm ihren Mund und ließ ihr keinen Spielraum. Claire konnte sich nicht bewegen, fest im Würgegriff seines massigen Körpers und der Empfindungen, die ihr so fremd waren. Sie fühlte Angst und Beklemmung, aufkommende Panik und eine eisige Kälte.

Sie war einmal dermaßen bedrängt worden, aber sie hatte sich solide zur Wehr gesetzt und den Kerl gehörig vermöbelt. Der war so überrascht von ihrer kraftvollen Gegenwehr gewesen, dass er schnellstens das Weite gesucht hatte. Humpelnd hatte er sich den Schritt gehalten und sie mit wüsten Beschimpfungen bedacht. Claire hatte diese Begegnung nicht im mindesten aus der Bahn geworfen. Es bestärkte sie eher, dass sie sich wehren konnte und nicht als Opfer daraus hervorgegangen war. Und nun überwältigten sie eine ganze Reihe verzerrter Gefühle, die den damaligen Angriff in ein völlig deformiertes Licht rückten. Statt der Genugtuung und dem Gefühl des Triumphs, die sie damals gespürt hatte, fühlte sie sich wehrlos und gehemmt. Ihre so lange antrainierten Reflexe reagierten überhaupt nicht. Die Angst lähmte sie. Daniels stürmischer Kuss wurde zum Auslöser und sie konnte nicht anders, als es stocksteif über sich ergehen zu lassen.

Daniel bemerkte hinter dem Schleier der Erregung, dass sie seine plumpen Annäherungsversuche nicht erwiderte, sondern wie erstarrt vor ihm stand. Abrupt hielt er inne, geschockt und angeekelt von seinem Verhalten.

»Ich ...«, murmelte er und löste sich von ihr. »Ich wollte nicht ...« Er suchte nicht einmal ihren Blick, sondern wandte sich mühsam beherrscht ab. Hastig trat er ein paar Schritte zurück. Verwirrt starrte er auf seine Schuhe und versuchte bewusst, Claire nicht anzusehen, während sein Herzschlag pochend in den Ohren dröhnte. Er schluckte schwer und versuchte tief durchzuatmen, doch dieses Mädchen löste ein ihm unbekanntes Verlangen aus. Seine Gier nach ihr ängstigte ihn. Er wollte sie nur noch spüren, seine Hände in ihren Locken vergraben und mit ihr verschmelzen. So etwas war ihm noch nie passiert! Das passte überhaupt nicht zu ihm. Er war ein Gentleman, überließ immer der Frau den ersten Schritt, wagte sich nie zu weit vor, um ihre Grenzen nicht zu überschreiten, hatte sich und seine Empfindungen immer unter Kontrolle und war niemals impulsiv. NIEMALS.

Vollkommen fassungslos wandte er ihr den Rücken zu und floh vor seinen Emotionen, musste so viel Abstand wie möglich zwischen sie bringen. Jegliche Erregung verrauchte, als er im Laufen über sein Verhalten nachdachte. Sie hatte sich gesträubt, er hatte es genau gespürt. So wollte sie ihn nicht, und er hatte sich wie ein wildes Tier auf sie gestürzt. Wie sollte er ihr nur je wieder in die Augen sehen? Am besten überhaupt nicht!

Er beschleunigte sicherheitshalber seine Schritte und hastete um die nächste Ecke. Besser, wenn er sie nie wiedersehen würde! Selbst wenn das bedeutete, dass seine Lust nie wieder von einer Frau derart angefacht werden würde wie von ihr. Sie hatte sich ihm mit nur einem Kuss so bedingungslos hingegeben, dass die Erinnerung daran heftig schmerzte. Und dann hatte er ihre Grenzen überschritten. Bei Odin, allein der Gedanke daran ...

 

 

 

Claire lehnte schwer atmend an der Hauswand, verharrte für ein paar Sekunden in dieser Position und versuchte, das Geschehene zu entwirren. Verstört fuhr sie sich durch das Haar, wuschelte sich aufgewühlt durch die Locken und ordnete ihre Gefühle. Daniel hatte sie wild geküsst, hatte eindeutig mehr gewollt. Sie hatte ihm mit ihren Küssen eindeutige Signale gegeben. Er musste denken, dass sie ihn ebenfalls wollte. Und sie wollte ihn auch, unbedingt. Nur war sie so von ihren – verwirrt verzog sie das Gesicht – Erinnerungen überwältigt worden, dass sie nicht in der Lage gewesen war, so auf seine Küsse zu reagieren, wie er – und sie – es erwartet hatten. Vor ein paar Jahren, in einer ähnlichen Nacht, an einer ähnlichen Hauswand, waren ihr zwar einige unangenehme aber dennoch harmlose Dinge widerfahren. Allerdings stimmte ihre Erinnerung überhaupt nicht mit dem überein, was ihre Emotionen ihr suggerierten. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe. Irgendetwas Unerklärliches war passiert. Sie hatte geglaubt, die Nacht von damals verarbeitet zu haben. Ihre Fähigkeiten hatten Schlimmeres verhindert. Himmel, sie hatte zwischenzeitlich eine sexuell sehr erfüllende Beziehung gehabt und mit Steve keinerlei Probleme gehabt. Sie verstand einfach nicht, was hier gerade passiert war. Diese Erinnerungen fühlten sich verzerrt und fremd an, so als hätte jemand ihre damaligen Gefühle wachsen lassen, sie verstärkt wie die verzauberte Bohnenranke aus dem Märchen. Claire schüttelte verwirrt den Kopf.

Vielleicht waren auch nur ihre gerade entstehenden Gefühle für diesen Mann mit den dunkelblauen Augen, dem schelmischen Lausbubengrinsen und dem kitzeligen Dreitagebart Schuld. Ein verträumtes Lächeln stahl sich unbewusst auf ihre Lippen und sie berührte gedankenverloren ihre Wange. Dort hatte sie sein Bart gekitzelt.

Ein Schwarm Schmetterlinge flatterte einmal quer durch ihren Bauch. Sie wollte seine Berührungen und Küsse erwidern, sich an ihn schmiegen und ihn spüren. Es war egal, was ihre Erinnerungen ihr vorgaukelten. Die Gefühle für ihn waren stärker.

Claire straffte sich, atmete tief ein und löste sich von der Mauer. Sie musste ihm folgen und in aller Ruhe mit ihm reden. Daniel würde verstehen, warum sie so reagiert hatte. Er konnte ja nicht wissen, was ihr widerfahren war. Claire setzte sich in Bewegung und lief hinter ihm her. Zügig beschleunigte sie ihre Schritte.

»Daniel!«, rief sie und erhaschte einen kurzen Blick auf seinen Mantel, als er um eine Ecke bog. Doch er floh vor ihr und verschwand. Claire hechtete nur Sekunden nach ihm um die Häuserecke, legte nochmals an Geschwindigkeit zu. Suchend sah sie sich um.

Nur wenige Straßenlaternen durchbrachen die Dunkelheit, überall bildeten sich Schatten und erhellten viele – zu viele – Nischen nur spärlich. Hier und da waren Passanten unterwegs, aber niemand hatte auch nur annähernd Daniels Statur. Claire lief noch ein paar Meter weiter, spähte in Hauseingänge und rief seinen Namen, aber sie konnte ihn nirgends entdecken.

Leiser Donner kündigte das Herannahen eines Sommergewitters an. Ein Blitz zuckte über den Nachthimmel und leichter Nieselregen setzte ein. Claires Locken sogen sich mit dem sanften Regen voll und kräuselten sich durch die Feuchtigkeit noch mehr. Strähnen klebten ihr im Gesicht.

Ihr Herz pochte schmerzhaft gegen ihre Rippen, ihr Puls raste vor Anstrengung. »DANIEL!«, rief sie gegen die stärker werdenden Wassertropfen, die laut auf die Häuserdächer trommelten, aber sie bekam keine Antwort.

Kapitel 2

Donnergrollen erfüllte die tiefschwarze Nacht und kündigte vom Herannahen eines Sommergewitters. Seit Tagen löste ein Gewitter das nächste ab. Die Luft roch schwer nach Ozon und die drückende Hitze der vergangenen Tage steckte tief in den Mauern der Lagerhallen. Im Hafen lagen nur wenige Boote, doch ihre Buge wurden nicht mehr ganz so sanft wie am Morgen gegen die Kaimauer gedrückt. Das Wasser war unruhig und plätscherte aufgeregt.

Ein Blitz zuckte über den wolkenverhangenen Nachthimmel, als sich Claire langsam aus ihrem Dienstwagen schälte. Durch das näher kommende Gewitter waren die Funksprüche ihrer Kollegen in der Zentrale nur zerhackt zu ihr durchgedrungen, Bruchstücke hatte sie mühsam entziffern können. Darunter »Hafen«, »Pier 3« und Lagerhaus des Unternehmens »Kettler&Söhne«. Nach mehrmaligem Nachfragen drangen weitere Fetzen zu ihr durch. Sie sollte ihre normale Runde erweitern und dem neuen Kunden Sicherheit vermitteln. Claire arbeitete für einen Sicherheitsdienst in der Sparte Objektschutz für Gewerbegebäude. Ihre Arbeit war ruhig und vollkommen unspektakulär, im Gegensatz zu den Einsätzen ihrer Kollegen, die unter anderem auch im Ausland agierten und den gut bezahlten Personenschutz übernahmen. Ihre Aufgabe hingegen war es, Präsenz zu zeigen, die Objekte mehrfach in der Nacht anzufahren, um die Gebäude herumzugehen und mit ihrer Taschenlampe in die Fenster zu leuchten. Manchmal wurde von ihr auch erwartet, dass sie das Gelände betrat und genauer nach dem Rechten sah. Je nachdem, welches Paket der Kunde gebucht hatte und wie viel er bereit war, für den Schutz seiner Immobilien auszugeben, variierten auch ihre Aufgaben. Nahezu alles war möglich; der Preis war die entscheidende Komponente.

Claire war seit ein paar Jahren beim Sicherheitsdienst »Lehmann Security«. Zu Beginn ihrer Tätigkeit hatte sie im Büro gearbeitet, Buchhaltung, Terminplanung, Büroarbeiten. Innerhalb der letzten Monate hatte sich ihr Arbeitsbereich drastisch verändert. Lehmanns Kundenkreis wuchs so schnell, dass er mit der Einstellung und Einarbeitung neuer Mitarbeiter schlichtweg nicht mehr hinterherkam. Sie langweilte sich schrecklich im Büro und so kam es, dass Lehmann sie zu einem Waffenlehrgang einlud. Er selbst besaß einen gültigen Waffenschein und durfte die Ausbildung seiner Mitarbeiter selbst übernehmen. Für sie wählte er eine leichte P99 aus, Standartwaffe der Polizei. Ihr geringes Gewicht, die hohe Schusszahl und die unkomplizierte Handhabung machten sie für Anfänger optimal. Claire wusste genau, dass er bewusst darauf verzichtet hatte, die Waffe als optimal für eine »Frau« zu betiteln. Er wusste, wie sehr sie es hasste, auf ihr Geschlecht reduziert zu werden. Die Formulierung rechnete sie ihm hoch an, als Büromitarbeiterin war sie nicht für den Außendienst eingestellt. Claire erwies sich als äußerst talentiert im Umgang mit der P99. Schon nach kurzer Zeit erreichte sie die höchstmögliche Trefferquote, dazu ihre gute Reaktionsgeschwindigkeit. Lehmann nahm sie schon nach wenigen Wochen mit zur Prüfung. Wenn man im Rahmen der Tätigkeiten eines Sicherheitsdienstes auf offener Straße eine Waffe tragen wollte, musste man sich einer offiziellen Prüfung unterziehen. In ihrem Fall wurde die Prüfung direkt auf einer Polizeidienststelle abgenommen. Claire erinnerte sich nur ungern an die Prüfung, der Schießstand hatte sich im Keller befunden, es roch muffig und sie war den ständigen Sticheleien der Beamten ausgesetzt. Professionell war etwas vollkommen anderes. Aber sie hatte die Prüfung ohne großes Federlesen absolviert und konnte von da an als vollwertiges Mitglied in der Abteilung Objektschutz eingesetzt werden. Endlich keine langweilige Büroarbeit mehr! Wahnsinn!

Zunächst begleitete sie einen älteren Kollegen, sah ihm bei der Arbeit über die Schulter. Aber dank der hinzugekommenen neuen Gebäude – der Wunsch der Eigentümer nach Objektschutz wuchs unaufhörlich – mussten sie sich irgendwie arrangieren, um die neuen Objekte genügend abzusichern. Dabei spielte ihre eigene Sicherheit übergangsweise eine untergeordnete Rolle, bis neue Mitarbeiter eingestellt wurden. Leider hielt der unterbesetzte Zustand in ihrer Abteilung an. Und so fuhr sie schließlich alleine auf die Straße. Claire behagte diese Situation nicht, aber was getan werden musste, musste getan werden. Und sie leistete ihren Beitrag, die Straßen ein klein wenig sicherer zu machen.

Die Nachtschicht war fast zu Ende, am Horizont zeichnete sich bereits ein heller Streifen ab und kündigte den Sonnenaufgang an. Claire gähnte abermals, löste den kleinen Gurt von ihrer Waffe und legte die Hand auf den wohlgeformten Lederknauf ihrer P99. Wann immer sie sich einem Objekt näherte, war das ihre erste Handlung. Sie brauchte das zusätzliche Gefühl einer Pistole in ihrer Hand, auch wenn sie keinen Anlass dazu hatte.

Sie nahm ihre Taschenlampe vom Gürtel und bahnte sich einen Weg durch herumstehende Kisten, leere Pappkartons und herumfliegende Zeitungen. Das Lagerhaus von »Kettler&Söhne« lag weit ab vom Hauptgeschehen des Piers, aber immer noch nah genug am Steg, dass es sich zum Hafen zählen konnte.

Claire betrachtete skeptisch die heruntergekommene Fassade. Zerbrochene Scheiben und abgesplitterte Farbe kündeten eher von einem verlassenen als einem benutzten Bauwerk. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Ob sie sich in der Adresse geirrt hatte? Der Funkspruch war nur bruchstückhaft zu ihr vorgedrungen, ein Irrtum war also nicht auszuschließen. Claire holte tief Luft und leuchtete die Fenster aus, suchte nach einem Eingang. Normalerweise prägten sie sich die Gebäudepläne ihrer Objekte noch in der Zentrale gut ein, damit sie bereits im Vorfeld alle Sicherheitslücken kannten und auf diese Stellen ihr besonderes Augenmerk richten konnten. Da die Halle von »Kettler&Söhne« heute neu hinzugekommen war, kannte sie die Grundrisse noch nicht. Sie würden erst in ein paar Tagen geliefert werden. Aber wenn sie jetzt sowieso schon hier war, konnte sie sich das Gebäude auch gleich ansehen. Zurück im Dienstwagen wollte sie sich bei der Zentrale nochmal nach der Adresse erkundigen.

Sie grübelte noch immer über die genaue Anschrift nach, als sie eine Eingangstür entdeckte, die ebenso verkommen war wie der Rest des Lagerhauses. Ein Schild darüber verwies auf die Betreiberfirma, »Kettler&Söhne«. Okay, das war definitiv der Name, der ihr vorhin über Funk genannt worden war.

Sie ruckelte probeweise an der Schiebetür. Offen? Was zur Hölle hatte das zu bededeuten? Wozu brauchte man einen Sicherheitsdienst, wenn sie den Haupteingang nicht verriegelten? Mit einem kräftigen Schwung öffnete sie die Tür und trat ein.

Ein übler Geruch nach Abgasen, Altöl und verrottendem Metall schlug ihr schwallartig entgegen und ließ sie angewidert die Nase kräuseln. Würgend hielt sie sich die Hand vor den Mund und schluckte jeglichen Kommentar herunter. Stattdessen leuchtete sie mit ihrer Taschenlampe in das Gebäude. Das Innere spiegelte das Äußere wieder, genauso verrottet wie ausgestorben. Wie sonst üblich, erwartete sie das Scharren von kleinen Krallen unzähliger Nager über kalten, feuchten Betonboden. Doch scheinbar trieben sich nicht einmal Ratten hier herum, und die gab es überall am Hafen. In jedem Lagerhaus lebten Unmengen der kleinen Tiere und versorgten sich auch dort mit Essbarem, wo es scheinbar nichts gab.

Sofort beschlich Claire ein ungutes Gefühl. Wenn sogar Ratten dieses Gebäude mieden, war etwas überhaupt nicht in Ordnung.

Sie hielt ihre Waffe alarmiert im Anschlag unter ihrer Taschenlampe und ging aufmerksam weiter. Stück für Stück leuchtete sie die Ecken aus, ihr Atem ging stoßweise und ein eisiger Schauer kroch ihr Rückgrat hinab. Ihr siebter Sinn verlangte energisch, diesen Ort auf der Stelle zu verlassen, zurück zum Wagen zu gehen und ihre Kollegen anzufordern oder zumindest ihr Funkgerät zu benutzen. Pah! Sie war kein Jammerlappen! Sie konnte diese Lagerhalle sichern! Also ignorierte sie die Vorahnungen, schob ihre Ängste beiseite und tat ihren Job, denn dafür war sie hier und genau das würde sie auch tun. Sie würde das Objekt sichern, Meldung machen und ihre Schicht beenden.

Statt auf ihre innere Stimme zu hören, drang sie Meter für Meter in das Lagerhaus vor. Umsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und überprüfte systematisch jeden Winkel stur nach Schema F. Plötzlich fühlte sie einen eisigen Hauch in ihrem Nacken, der langsam über ihre Wirbelsäule hinab kroch und sie erschauern ließ.

Claire fuhr mit klopfenden Herzen herum und richtete die Waffe auf ... was auch immer?! Sie blickte Richtung Ausgang und erhaschte gerade noch aus dem Augenwinkel eine Bewegung – eine wahnsinnig schnelle Bewegung. Ihr Puls raste, als sie ihren bewaffneten Arm herum riss und dem Schatten zu folgen versuchte. Der Strahl der Taschenlampe hinterließ leuchtende Schlieren in ihrem Blickfeld und sie konnte für die nächsten Sekunden gar nichts erkennen. Innerlich ohrfeigte sie sich für diese dämliche Aktion. Jetzt musste sie endlose Atemzüge warten, bis sich ihre Augen an das veränderte Licht gewöhnt hatten. Schließlich erhaschte sie einen Schatten, der vor ihrer Lampe flüchtete.

Claires Herz pochte bis zum Hals, als sie mit der Taschenlampe und der Waffe im Anschlag dem Schatten folgte. Aber sie drehte sich nur im Kreis und konnte weder eine Person noch sonst etwas ausmachen. Wild auf etwas nicht eindeutig Erkennbares zu schießen, kam für sie nicht in Frage. Jede im Einsatz abgefeuerte Kugel musste akribisch dokumentiert werden und sie hatte keine Lust, Formulare auszufüllen. Rational gesehen würde sich die Gestalt vermutlich als Katze oder Waschbär entpuppen und das Gespött ihrer Kollegen wäre ihr schon sicher, wenn sie für diese Art von Einbrecher Munition verschwendete.

Ein schepperndes Krachen ließ Claire, noch während sie ihren Gedanken nachhing, zusammenzucken. Die Tür des Lagerhauses schlug heftig zu. Vielleicht der Wind? Claire schnappte nach Luft, als ihr Gehirn sich endlich in Bewegung setzte und zum Rückzug blies. Was auch immer das war, sie würde nicht hier eingesperrt Jagd darauf machen, allein und ohne Rückendeckung. Egal, Waschbär hin oder her, sie war weder von ihren Fähigkeiten überzeugt noch lebensmüde. Der Eindringling musste warten, bis Verstärkung eintraf. Sie konnte das Kerlchen auch mit Tommy jagen, der würde sie wenigstens nur ein paar Tage damit aufziehen. Dieser Preis war völlig in Ordnung, wenn sich dieses ... Wesen als Tier entpuppen sollte. Ihr siebter Sinn widersprach der Rationalität ihrer Gedanken vehement. Das war kein Tier gewesen. Es war viel größer, schneller und die Gefahr, die davon ausging, war greifbar.

Vorsichtig setzte Claire einen Fuß hinter den anderen und versuchte, zur Schiebetür zu gelangen, ohne den unerkundeten Bereich aus den Augen zu lassen. Weit war sie nicht in das Lagerhaus vorgedrungen, die Tür musste also direkt hinter ihr sein. Claire fühlte, wie sich ihre Brust schmerzhaft zusammenzog und sie beinahe keine Luft mehr bekam. Die verbliebene Hitze des Tages war in der Lagerhalle entsetzlich drückend. Sie musste hier raus, sie konnte nicht mehr atmen! Die Dunkelheit wich nicht mehr wie noch vor Kurzem dem Licht ihrer Taschenlampe, sondern wurde immer dichter und schien regelrecht auf sie einzustürzen! Claire schnappte nach Luft. Statt ihren kontrollierten Rückzug fortzusetzen, drehte sie sich um und floh in Panik Richtung Tür. Sie rannte und rannte, doch sie konnte die Tür nicht erreichen! Claire beschleunigte in Panik ihre Schritte und spürte eine flüchtige Berührung im Rücken. Etwas schabte über den Stoff ihrer Uniformjacke, etwas sehr Kaltes. Ein starker Schmerz durchfuhr ihren Körper. Umdrehen oder weglaufen? Da muss ich nicht lange überlegen!, dachte sie und beschleunigte ihre Schritte. Das Etwas packte sie an der Schulter und wirbelte sie mit solcher Kraft herum, dass sie in einer heftigen Drehung zu Boden stürzte und ihre P99 verlor. Die Taschenlampe schlitterte in einem wild flackernden Wirbel aus Licht außer Reichweite und kam scheppernd zum Stillstand.

Claire atmete ruckartig und krabbelte rückwärts – zur Tür, wie sie meinte, aber sie hatte vollends die Orientierung in dieser undurchdringlichen Schwärze verloren. Hastig sah sie sich um und erkannte nur schemenhafte Konturen. Sie spürte genau, dass da jemand – etwas? – auf sie zu kam, fühlte die Schritte mehr, als dass sie sie hörte. Der Beton vibrierte unter ihren Fingerkuppen. Wie die Kreise, die ein Kieselstein beim Eintauchen in das Wasser eines Sees hinterlässt.

Dann hörte sie das Geräusch gummierter Schuhsohle auf Beton. Schwere, langsame Stöße. Bedrohliche Umrisse ragten über ihr auf und näherten sich ihr unaufhaltsam. Hilflos und in Panik streckte sie abwehrend ihre Arme aus und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieses Ungeheuer von ihr lassen würde, sie nicht angreifen und verletzen würde. Sie musste sich schützen!

Die Enge in ihrem Inneren strömte nach Außen, pulsierte in ihren Händen und entlud sich in einer einzigen, kraftvollen Druckwelle. Hätte Claire nicht ihre Lider fest aufeinandergepresst, hätte sie die Wirkung ihres Wunsches in Erstaunen versetzt. Der Schatten stieß einen erschrockenen Schrei aus, als er zurückgeschleudert wurde und gegen einen Pfeiler prallte. Die erdrückende Schwärze ließ augenblicklich nach, das Licht der Straßenlampen drang wieder durch die zerbrochenen Fensterscheiben und die nur undeutlich erkennbaren Umrisse gewannen zunehmend an Gestalt. Claire öffnete vorsichtig die Augen und blickte sich zitternd um, während die Dunkelheit immer weiter zurückwich. Da waren Pfosten, die die Decke stützten, einzelne Kabinen, verrostete Maschinen und vieles mehr. Und dann erkannte sie eine vermummte, in Lumpen gehüllte Gestalt.

Sie schluckte die aufkeimende Panik herunter, fixierte den Angreifer mit zusammengekniffenen Augen und spähte aus dem Augenwinkel nach ihrer Taschenlampe und ihrer Waffe. Der Zerlumpte rührte sich und hob den Kopf. Nur ein Mensch!, atmete Claire erleichtert auf.

»Du Miststück ...!«, brüllte er wütend und kämpfte sich unter Schmerzenslauten auf die Beine. Doch weit kam er nicht, denn er wurde von einem Blitz getroffen. Er zuckte heftig unter den Stromschlägen, wurde in die entgegengesetzte Richtung geschleudert und verschwand damit aus Claires Sichtfeld.

Claires an die Dunkelheit gewöhnte Augen versagten ihr völlig den Dienst. Sie sah nur noch verschwommene Umrisse und schwarze Punkte vor schmerzhafter Helligkeit pulsieren, dann eine Gestalt, die zusammengekrümmt an einem Pfeiler hockte. Die Blitze hinterließen ohrenbetäubenden Lärm und Claire rollte sich unter Schmerzen auf dem Boden zusammen. Die Elektrizität verwandelte die Luft in brennendes Gas, das auf ihrer Haut sengenden Schmerz hinterließ. Die Lautstärke paralysierte sie. Panisch presste sie sich die Hände auf die Ohren, versuchte zu atmen, doch die Luft schmerzte in ihren Lungen. Es zischte und knisterte und ätzte um sie herum. Claire schrie laut auf und spürte alsbald gar nichts mehr als Getöse, Schmerz und Chaos.

Irgendwann war der Schmerz vorüber, der Lärm ließ nach und sie fühlte die beruhigende Berührung einer anderen Person. Wärme hüllte sie ein und sie wollte sich nur noch hinlegen und schlafen – und vergessen.

 

 

»Claire? Claire! Wach auf!«

Oh mein Gott, mein Kopf dröhnt. Trotz der Schmerzen in ihrem Schädel versuchte Claire Esterbrooks, ihre Augen zu öffnen. Das gleißende Licht blendete sie heftig und explodierte in einer Kaskade aus feurigen Stichen in ihrem Hinterkopf. Also schloss sie die Augen möglichst schnell wieder und wartete einfach ab, bis die wirbelnden Farben auf ihrer Netzhaut den irren Tanz einstellten und sich die Welt aus Farben und Licht etwas beruhigte. Sie spürte die Berührung einer Hand auf ihrer Schulter und hielt sich einfach an ihr fest. Langsam ließen die Drehungen nach und sie konnte vorsichtig blinzelnd die Augen öffnen.

»Alles okay?«, fragte eine ihr vertraute Stimme. Thomas Meyer, einer ihrer Kollegen, hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt und sie sanft gedrückt. Claire mochte ihn auf eine freundschaftliche Art und Weise sehr gerne, nur manchmal war sie sich nicht sicher, ob er ihre Beziehung zueinander genauso betrachtete. Claire blinzelte ihn verschwommen an und setzte sich bedächtig auf. Ihr Kopf dröhnte noch immer, aber es wurde von Minute zu Minute besser. Sie nickte vorsichtig und sah ihn reichlich verwirrt an.

»Was ist passiert?« Ihre ausgetrocknete Kehle brannte bei jedem Wort schmerzhaft. Claire saß auf einer Transportliege in einem Krankenwagen, fürsorglich zugedeckt.

Tommy zuckte mit den Achseln und drückte ihr eine Flasche Wasser in die Hand. »Wir hatten gehofft, du könntest uns weiterhelfen.« Er half ihr beim Öffnen und beobachtete sie nachdenklich, als sie den halben Liter Wasser ohne abzusetzen leerte. »Du hast dich heute Nacht nicht mehr regelmäßig gemeldet, also sind wir deine Route abgefahren, um nach dir zu suchen. Dein Dienstwagen stand vorne am Pier, mit eingeschalteten Lichtern. Die Batterie hat gehalten.« Tommy grinste. Bei den alten Modellen wusste man nie, ob sie noch anspringen würden, wenn sie mal ein paar Tage gestanden hatten und er kannte sich bestens im Batteriewechseln und Starthilfegeben aus. Dass die neue Batterie in ihrem Dienstfahrzeug die Beleuchtung versorgt hatte, freute ihn offensichtlich.

Claire ignorierte seinen Kommentar und nickte nachdenklich. Vor ihrem inneren Auge ging sie die Ereignisse der Nacht noch einmal durch. Sie konnte sich erinnern, dass sie den Wagen hell beleuchtet zurückgelassen hatte, da seine Scheinwerfer ihr zusätzliches Licht spenden sollten. Aber was dann folgte, konnte sie nicht sagen. Sie wusste nicht mehr, was genau passiert war. Hilflos zuckte sie mit den Achseln und gab Tommy die leere Flasche zurück. »Danke. Aber ich weiß nur noch, dass ich ins Lagerhaus gegangen bin, an mehr kann ich mich nicht erinnern.« Sie rieb sich erschöpft die Schläfen.

»Okay«, sagte Tommy und half ihr auf.

Claire schwankte ein wenig, hielt sich aber mit seiner Hilfe auf den Beinen. »Bin ich angegriffen worden? Irgendwelche Spuren?«

Tommy stützte sie und half ihr aus dem Krankenwagen. Gemeinsam gingen sie zur Schiebetür des Lagerhauses und sahen sich um. Claire war vielleicht fünfzehn Meter weit in das Lagerhaus vorgedrungen und hatte direkt an einem Pfosten gelegen, so seine erklärenden Worte. Er deutete auf einen Pfosten inmitten von Schmutz und Unrat. Die Halle wirkte bei Tageslicht vollkommen unspektakulär und Claire sah sich nachdenklich um. Hier gab es nichts, was einen Überfall rechtfertigte.

»Keine eindeutigen Hinweise. Wir haben bewusst noch keine Polizei verständigt. Lehmanns Kunden sind manchmal etwas eigen und da du keine eindeutige Erinnerung an den Vorfall hast ...« Tommy ließ vage die Hände sinken.

Claire nickte und rieb sich den schmerzenden Nacken. »Vielleicht habe ich einen Junkie überrascht?« Verwirrt zuckte sie mit den Achseln. Außer einer Schnittwunde an der Stirn über dem rechten Auge hatte sie keine nennenswerten Verletzungen. Ihre Glieder schmerzten, ihre Kleidung war an den Stellen feucht, wo sie auf dem Boden gelegen hatte, und sie fühlte sich wie durch die Mangel gedreht. Morgen würde sie um ein paar blaue Flecken reicher sein, aber ansonsten schien alles in Ordnung. Körperlich zumindest.

»Komm, ich bring dich zurück. Lehmann verlangt eine Untersuchung. Du kennst die Vorschriften.« Sie wollte Tommys Hilfe abwehren, aber er bestand darauf, sie zu dem vor der Tür wartenden Krankenwagen zurückzubringen.

»Ernsthaft?«, empörte sich Claire und wollte seine Hilfe abschütteln. »Mir geht’s gut!«, wehrte sie sich entschieden.

»Klar! Weiß ich doch, aber der Chef besteht drauf. Einmal durchchecken, dann kannst du nach Hause und dich ausschlafen.«

Claire gab widerwillig nach und ließ sich von dem Sanitäter erneut in den hinteren Teil des Rettungswagens geleiten. Sie hatte zwar nicht die geringste Lust auf die Prozedur, aber ihr war klar, dass dieser Blackout untersucht werden musste. Lehmann würde einen Bericht der Ereignisse der letzten Nacht erwarten und den konnte sie nicht liefern. Er war so schon ständig besorgt, dass er sie alleine losschicken musste. Aber der Personalmangel zwang sie dazu. Nach diesem Vorfall würde er sie garantiert zum Bürodienst verdonnern. Ein Attest vom Arzt, der ihre Diensttauglichkeit bestätigte, könnte sich positiv auf die nächsten Einsätze auswirken und Lehmanns Bedenken zerstreuen.

Claire seufzte und ließ sich nach den ersten oberflächlichen Untersuchungen für die Fahrt ins Krankenhaus anschnallen. Der Vormittag würde sich wohl noch etwas hinziehen, ehe sie sich zu Hause in ihrem Bett verkriechen und in Ruhe über die vergangenen Stunden nachdenken konnte.

 

 

Am Ende war alles nur halb so schlimm, wie sie erwartet hatte. Die meiste Zeit im Krankenhaus verbrachte sie mit Warten, warten in der Notaufnahme, warten auf den Arzt, warten auf den Bericht. Zwischen Arzt und Bericht stattete ihr Cornelius Lehmann, Inhaber und Chef der »Lehmann Security« einen Besuch ab. Noch vor dem obligatorischen Händeschütteln musterte er sie mit besorgt gerunzelter Stirn.

»Es ist nichts, Chef!« Claire hob beschwichtigend die Hände und verzog im gleichen Augenblick schmerzhaft das Gesicht. Verdammte Kopfschmerzen!

»Nana«, Lehmann nahm ihre Hand und blickte ihr stirnrunzelnd in die Augen. »Sie haben ganz schön was abgekriegt, Claire.« Die Platzwunde an ihrer Schläfe war bereits versorgt und ein dickes Pflaster über dem Auge strafte ihre Worte Lügen. »Nichts« entsprach so ziemlich der Untertreibung des Jahrhunderts.

»Tommy sagte, Sie hatten einen Blackout?« Claire zuckte nichtssagend die Schultern. Was sollte sie auch antworten? Sie war in diese Lagerhalle gegangen, wie es die Vorschriften erforderten und dann war sie auf einer Krankenliege zu sich gekommen.

»Mh«, machte Lehmann und nahm neben ihr im Wartezimmer platz. »Gab es vielleicht einen Angreifer?«

Claire zuckte erneut mit den Schultern. »Sorry, Chef, ich kann mich an absolut nichts erinnern. Die Ärzte sagten, ich könnte einen Schock erlitten haben und die Erinnerung würde höchstwahrscheinlich in ein paar Tagen zurückkehren.«

»Das gefällt mir trotzdem nicht. Sie sollten nachts nicht alleine unterwegs sein.« Claire wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, doch Lehmann brachte sie mit einer energischen Handbewegung zum Schweigen. »Ich hatte Sean angewiesen, Sie nicht alleine rausfahren zu lassen.«

»Aber, Chef!«, widersprach Claire und wollte ihren Kollegen, der die Dienstpläne erstellte, in Schutz nehmen. »Ich habe ihn selbst gebeten, mich genauso zu behandeln wie die männlichen Kollegen. Ich kann auf mich selbst aufpassen!«

Lehmann drehte den Kopf und sah sie zweifelnd an. »Ja, okay ... dieser kleine Blackout. Aber ich will nicht, dass Sie mich schonen.«

»Claire«, brummte Lehmann besänftigend. »Sie nehmen sich jetzt ein paar Tage frei, erholen sich. Und dann sehen wir weiter. Ich möchte nicht, dass Sie sich unnötig in Gefahr begeben. Was immer da in der Lagerhalle passiert ist, sollten wir ernst nehmen. Aber Sie machen sich bitte keine Sorgen.« Er klopfte er kameradschaftlich auf die Schulter und erhob sich. »Kann ich Sie schon mitnehmen oder haben die Ärzte noch etwas mit Ihnen vor?«

Claire seufzte. »Leider nein, ich muss noch auf den Bericht warten.«

Lehmann nickte. »In Ordnung. Schicken Sie mir die Tage ebenfalls einen kurzen Bericht über den Vorfall, soweit Sie sich erinnern. Ich muss das auf jeden Fall mit dem Kunden besprechen. Aber wie gesagt, machen Sie sich keine Sorgen. Ich tische Kettler eine entsprechende Geschichte auf.« Er lächelte unverbindlich und reichte ihr zum Abschied die Hand.

»Ruhen Sie sich aus, Claire.«

Die junge Frau nickte und sah ihm schweigend nach, als er den langen Krankenhausflur entlang schlenderte.

Dienstlich war also alles im Reinen, aber in Claire gärte es. Was war passiert? Warum konnte sie sich nicht erinnern? Sicherlich hatten ihre Kopfschmerzen damit zu tun ... War vielleicht etwas so Grauenhaftes geschehen, dass ihr Verstand sich einfach weigerte, es zu visualisieren, sozusagen im Selbstschutzmodus alles ausblendete, was ihrem psychischen Zustand schaden konnte? So viele Fragen und keinerlei Antworten ...

Als sie endlich das Krankenhaus verlassen durfte, hatten sich noch deutlich mehr Fragen als am Morgen aufgetürmt. Schweigend starrte sie vor sich hin, ganz in Gedanken versunken, als sie eine Weile am Straßenrand auf ein Taxi wartete.

Normalerweise wäre ihr die alterslos wirkende Frau, die sie interessiert beobachtete, aufgefallen, aber die Ereignisse der vergangenen Nacht forderten ihren Tribut. Claire fröstelte und zog die Uniformjacke mit den Symbolen des Sicherheitsdienstes enger um ihre Schultern. Unbewusst versteckte sie sich in ihrer Jacke vor den Blicken der Frau und schob die in ihr aufwallende Kälte auf blanke Erschöpfung.

 

 

 

»Sie wirkt noch so jung«, murmelte die Frau, die Claire intensiv beobachtete. Hellblonde Haare mit leicht angegrauten Strähnen rahmten ein faltenloses Gesicht, winzige Krähenfüße dekorierten ihre tiefblauen Augen. Sie saß auf einer Parkbank und hatte eine Zeitschrift auf ihrem Schoß ausgebreitet, doch sie las nicht darin. Ihre Augen folgten Claire, ihr Blick berührte sie taxierend.

»Das kommt daher, weil sie jung ist, viel zu jung«, brummte ihr Begleiter; ein hünenhafter Mann stand hinter der Parkbank an einen Baum gelehnt und beobachtete Claire ebenfalls. »Wir sollten keine Zeit mir ihr verschwenden, sie kann sich weder an uns noch an ihn erinnern.« Er setzte sich neben die blonde Frau und streckte seine langen Beine von sich. Scheinbar interessiert senkte er den Blick auf die Zeitung. Eine blonde Strähne löste sich aus seinen zu einem losen Pferdeschwanz gebunden Haaren und fiel ihm über die Schulter. Sein ungepflegter Dreitagebart und der wirre Schopf gaben ihm ein übernächtigtes Aussehen, verstärkt wurde diese Erscheinung durch seine erschöpfte Haltung, die auch seine imposante Körpergröße nicht verstecken konnte. Alles in allem wirkte er, als benötige er dringend ein paar Stunden Schlaf. Die alterslose Frau hingegen schien frisch und munter, aufmerksam und ausgeruht. Ihre scharfen Augen erfassten jedes noch so kleine Detail und musterten Claire mit scharfem Adlerblick, kategorisierten und maßen.

»Du bist nicht viel älter, mein Lieber«, säuselte die Frau und lächelte ihn gewinnbringend an. »Ich glaube nicht, dass er sie in Ruhe lassen wird. Sie hat ihn abgewehrt und das kommt nicht sehr häufig vor. Er war nicht ohne Grund in dem Lagerhaus und wir auch nicht.« Die Frau seufzte und wandte sich an ihren Begleiter. »Du musst ein Auge auf sie werfen.«

Der Mann sortierte seine langen Beine und verschwendete keinen weiteren Blick an Claire, sondern griff nach der Zeitschrift und blätterte sie lustlos durch. »Ich? Du interessierst dich doch für sie, also kümmere du dich um sie.« Er würde einen Teufel tun, sich Claire zu nähern. Hätte Sigrid nicht einen Schleier über sie ausgebreitet, hätte er längst das Weite gesucht. Unter dem Schutz des Zaubers fühlte sich Daniel einigermaßen vor ihren Blicken geschützt, sollte sie sich zufällig umdrehen. Er war sich relativ sicher, dass sie ihn trotz der unsteten Lichtverhältnisse, die in der Bar geherrscht hatten, erkennen würde und er hatte nicht die geringste Lust, sie wiederzusehen. Ihre Begegnung war ihm unangenehm genug gewesen. Vielleicht nicht lästig, aber definitiv mit peinlichem und unschönem Ausgang. Er seufzte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Zeitschrift. Was auch immer das Mädchen in dem Gebäude zu suchen hatte, es konnte sich nur um einen Zufall handeln.

Zufälle gibt es nicht, hörte er die belehrende Stimme seines Bruders aus längst vergangenen, glücklicheren Tagen, die Abfolge der Ereignisse folgt einem bereits lange vorbestimmten Plan. Wir begreifen ihn nur noch nicht.

Daniel stöhnte. Ihn beschlich das ungute Gefühl, dass sein Bruder, wie immer, Recht behalten würde.

Sigrid gegenüber hatte er sein heftiges und flüchtiges Zusammentreffen mit Claire vor ein paar Tagen nicht erwähnt und er hatte nicht vor, ihr auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen. Sollte sie doch glauben, dass er wegen dem Vorfall im Lagerhaus auf den Schleier bestanden hatte. Er hatte keine Lust, mit ihr über Befangenheit zu diskutieren, und überhaupt ging sie das sowieso nichts an. Eifersüchteleien waren das Letzte, was er in seiner jetzigen Situation gebrauchen konnte. Er musste sich konzentrieren; zu viel hing von ihm ab und er konnte sich weitere Fehler nicht mehr leisten. Die Zeit war sein ständiger Gegner. Er hatte sich schon viel zu lange vor den ihm auferlegten Pflichten gedrückt. Dieses Katz-und-Maus-Spiel war seiner absolut unwürdig, aber er konnte sich seinen Aufgaben nicht stellen, so lange diese Angelegenheit nicht bereinigt war.

Sigrid nahm ihm die Zeitschrift wieder ab und ließ ein perlendes Lachen erklingen. »Mein Lieber, Frauen sind nicht so ganz mein Ding, das ist eher dein Metier.« Sie tätschelte ihm vertraut den Oberschenkel und ließ ihre Hand besitzergreifend auf seinem Knie ruhen.

Daniel seufzte und ließ seinen Blick auf ihrer Hand, kämpfte den Drang nieder, sie wie eine lästige Fliege zu verscheuchen. Frauen vielleicht, aber nicht diese, bitte nicht diese.

»Ich verlange ja nicht, dass du dich sofort auf sie stürzt, aber bleib in ihrer Nähe, okay?«, mahnte Sigrid. Daniel zuckte zusammen. Auf sie stürzen. Das war definitiv eine ungünstige Wortwahl ...

»Zur Sicherheit«, fuhr Sigrid unbeeindruckt fort. »Ich möchte nicht, dass er sich ihr unbemerkt nähert. Wenn er sich für sie interessiert, werden wir es bald bemerken.«

Sie wollte Claire also als Köder benutzen. Daniel schluckte. Das war zwar ein guter Plan, aber er gefiel ihm nicht.

»Woher das Interesse an dem Mädchen?«, hakte er gespielt gelangweilt nach und schob mit einer scheinbar lässigen Geste Sigrids Hand von seinem Bein. Sie war ihm entschieden zu weit nach oben gewandert.

»Nur so ein Gefühl«, murmelte Sigrid nachdenklich und beachtete ihn nicht. »Sie hat etwas an sich… etwas Ungewöhnliches.« Sigrid rieb sich gedankenverloren das Kinn. »Nur so eine Ahnung ...« Sie löste ihren Blick von Claire. »Bitte, für mich!«, klimperte sie mit den Wimpern und lächelte ihn zuckersüß an.

Daniel stöhnte genervt. Zuweilen hasste er ihre plumpen Versuche, ihn mit charmanter Weiblichkeit um den Finger wickeln zu wollen. Da ihre Fähigkeiten für ihn von unschätzbarem Wert waren und er sie für sein Vorhaben brauchte, würde er sich – nur noch dieses eine Mal! – fügen. Er hatte zwar eine Menge Muskeln und Durchschlagskraft zu bieten, aber dieses Taktieren und Intrigieren war Sigrid bereits in die Wiege gelegt worden. Und auf ihr Bauchgefühl konnte man sich absolut verlassen. Da ihr Zielobjekt selbst über eine Reihe magischer Fähigkeiten verfügte, die Daniel nicht beherrschte, brauchte er Sigrid. Sie war eine Meisterin in ihrem Fach. Der Gedanke entlockte ihm ein bitteres Lachen.

Als endlich ein Taxi vor Claire hielt, huschte ihr Blick kurz über das ungleiche Paar auf der Bank direkt vorm Krankenhaus. Ihre Augen streiften sie nur flüchtig, doch sie verfing sich für den Bruchteil einer Sekunde in seinen tiefen, blauen Augen. Daniel hielt gespannt den Atem an, während ihn ein Schauer durchfuhr und er schwer schluckte. Sofort spürte er ein sehnsuchtsvolles Ziehen im Magen. Odin sei Dank wirkte Sigrids Zauber und drängte Claires Blick ab. In wenigen Augenblicken würde sie das seltsam anmutende Pärchen auf der Parkbank schon wieder vergessen haben.

Als sie ins Taxi stieg und dem ungeduldigen Fahrer ihre Adresse nannte, blieb ihr nur noch ein dumpfes Gefühl des Wiedererkennens, das sie nicht so recht einordnen konnte.

 

 

 

Daniel Kirby bezog schließlich doch vor Claires Wohnung Stellung. Nicht nur, weil ihn Sigrid darum gebeten hatte, sondern auch, weil er sich selbst davon überzeugen wollte, dass ihr keine Gefahr drohte. Sigrid lag selten falsch mit ihren Vermutungen. Würde sie recht behalten und ihr Bekannter hier erscheinen, hätte Daniel den optimalen Aussichtspunkt, denn von seinem Posten aus konnte er den Eingang zu ihrem Apartmenthaus gut überwachen. Sollte der Mann, nach dem sie suchten, nicht auftauchen, auch gut. Dann war Claire sicher und sowohl er als auch Sigrid beruhigt.

In Anbetracht der frühen Stunde entschied er sich schließlich für das Café gegenüber, bewaffnete sich mit einem Espresso, einem Croissant und einer Tageszeitung, und positionierte sein Smartphone auf dem Tisch vor sich. Er blätterte lustlos in den Nachrichten und las ein paar für ihn völlig uninteressante Artikel. Er suchte gewohnheitsmäßig nach einer bestimmten Sorte von Meldungen, aber aktuell schien alles ruhig zu sein. Er seufzte und biss in das halbwegs genießbare Gebäck. Gerade wollte er sich einer anderen Zeitung widmen, als die Haustür von Claires Apartmenthaus geöffnet wurde und die junge Frau mit iPod, kurzer Hose und Laufjacke ausgerüstet loszog. Daniel stöhnte.

»Was zum Teufel…?« Konnte sie nicht einfach zu Hause bleiben, sich nach der anstrengenden Nacht ausruhen und schlafen? Musste jede junge Frau heutzutage ständig herumhetzen? Er hätte sie trotz ihrer athletischen Figur nicht für den Joggertyp gehalten, sie sah eher nach Kraftsport aus. Leicht genervt stopfte er sich das restliche Croissant in den Mund, warf ein paar Münzen auf den Tisch und hastete Claire hinterher. Amüsiert bemerkte er, dass diesmal er hinter ihr her lief und nicht sie hinter ihm.

An jenem schicksalhaften Abend hatte er ihre Rufe durchaus gehört, doch er war zu aufgewühlt gewesen, um ihr gegenüber zu treten. Sein Verhalten hatte ihn derart aus der Bahn geworfen, dass er sich einfach nur geschämt hatte. Statt sich ihr zu erklären, war er noch schneller geflohen. Er hätte nicht im Traum damit gerechnet, sie jemals wiederzusehen. Die Nornen allerdings hatten ihre Lebensfäden wieder miteinander verflochten. Daniel fragte sich im Laufen, ob sie noch weitere Knoten eingewoben hatten oder ob es bei diesen beiden bleiben würde. Irgendwie hoffte er, dass sie aus ihren Fäden einen ganzen Teppich geknüpft hatten.

 

 

 

Zwei dunkelgrüne Augen lugten unter der Kapuze eines dicken, grauen Pullis hervor und folgten jeder seiner Bewegungen. Der Unbekannte war weder zerlumpt, noch besonders gut gekleidet; seine Erscheinung war unauffällig. Er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, doch man konnte markante Gesichtszüge und seine scharfen Augen erkennen. Auch er setzte gemächlich einen Fuß vor den anderen, schwang einen Spazierstock und klemmte sich ihn locker unter den Arm. Über dem Kapuzenpulli trug er eine schwarze Lederjacke, dunkle Jeans, zweckmäßige Schuhe. Vergnügt pfiff er eine muntere Melodie und folgte Daniel.

 

 

 

Daniel hatte einige Mühe, mit Claire Schritt zu halten. Er verschaffte sich einen kurzen Überblick über ihre Laufstrecke – immer die gleiche Runde im Stadtpark – und beschloss, auf einer Bank Stellung zu beziehen, von wo aus er ihre Strecke problemlos überblicken konnte. Es war seltsam, sie nur zu beobachten. Noch vor ein paar Tagen hatten sie sich hemmungslos geküsst und wären vermutlich auch im Bett gelandet, wenn er es mit seinem unkontrollierbaren und beinahe ausgehungerten Verlangen nicht ruiniert hätte. Er hatte schon so lange nicht mehr diese überwältigenden Empfindungen gespürt, dass sie ihn einfach überrollt und jegliche Selbstkontrolle ausgeschaltet hatten. Claire hatte etwas in ihm geweckt, was er verzweifelt verdrängen wollte. Von ihm wurde viel verlangt, für Gefühle oder leidenschaftliche Verbindungen war kein Raum vorgesehen. Er hatte zwar nie sonderlich große Probleme gehabt, eine Partnerin für die Nacht zu finden, aber dabei war es auch geblieben. Bis auf eine, fügte ihr bitter in Gedanken hinzu.

Mürrisch presste er die Lippen zu einem hauchdünnen Strich. Allein seine Herkunft gestaltete die Partnersuche schon schwierig. Meist wollten sie nur sein Blut für ihre Nachkommen. Ihn hatte es nicht gestört. Sollten sie es doch bekommen und eine weitere Generation hinzufügen. Empfunden hatte er für diese Frauen nie etwas. Sie dienten, auch wenn es hart klingen mochte, als Objekt der Lustbefriedigung. Und er war sich sicher, dass sie ihn ebenfalls so sahen. Mit ihm konnte sie ordentlich bei ihren Freundinnen punkten, und ihm war es gleich.

Claire hingegen war anders, es schmerzte ihn beinahe, sie von dieser kleinen Anhöhe aus zu beobachten und nicht mit ihr – neben ihr – laufen zu dürfen. Allein die Vorstellung, mit ihr zu joggen, erfüllte ihn mit solchen Glücksgefühlen, dass er schier überwältigt war und sich für kurze Zeit seinen Träumereien hingab.

 

 

Claire joggte gemütlich durch den Park. Ihre beiden Verfolger hatte sie nicht bemerkt, weder Daniel auf der Parkbank noch den unheimlichen, grünäugigen Mann. Ihre Gedanken gingen ständig auf Wanderung und sie brauchte dringend Ablenkung. Das Laufen gab ihr die Möglichkeit, sich ganz von ihnen zu befreien und abzuschalten. Ihr Körper hatte etwas zu tun und das genügte. Sie spürte ihren Herzschlag und folgte einfach dem monotonen Tritt ihrer Füße, alles andere war egal und konnte warten. Und wenn der Lauf vorüber war, hatte sich ihr Geist erholt und konnte sich wieder den eigentlichen Problemen widmen. Sie fühlte sich nach dem Joggen erfrischter und ausgeruhter als nach einem unterbrechungsfreien Nachtschlaf.

Unbewusst änderte Claire ihren Kurs und verließ die angestammte Strecke, lenkte ihre Schritte in Daniels Richtung und lief direkt an ihm vorbei, so als würde sie wie ein Magnet von ihm angezogen.

 

 

Tief zurückgezogen im düsteren Dickicht eines kleinen Wäldchens ruhten zwei giftgrüne Augen und warteten. Er hatte die junge Frau bereits ausgemacht und verfolgte gespannt ihre Runden. Auch sein Gegenspieler war wie erwartet aufgetaucht und beobachtete das Mädchen. Der Mann grinste verlogen und rieb sich freudig die Hände. Erst würde er dafür sorgen, dass sie einen Blick auf ihren Liebsten erhaschen durfte und dann würde er zuschlagen. Ihr Wiedererkennen würde ihn verwundbar machen, ihn wie üblich zur Raserei treiben und unvorsichtig machen. Dann, gefangen in seinen Gefühlen, war er am verwundbarsten. Und dann würde er ihm endlich den Dolch schmecken lassen. Sein Blick wanderte zu dem Spazierstock in seiner Hand, der sich urplötzlich verflüchtigte und einer funkelnden Klinge trat an dessen Stelle. Er umklammerte das mit Edelsteinen besetzte Heft so kräftig, dass die Knöchel seiner rechten Hand weiß hervortraten. Erst würde er sich die Kleine greifen, und ihm dann den Dolch in den Rücken rammen. So wie er es geplant hatte! Das Mädchen gehorchte ihm schon, folgte an unsichtbaren Fäden gezogen seinen Befehlen. Der Unbekannte lächelte zufrieden sein teuflisches Grinsen und lenkte Claires Schritte gemächlich in die Richtung des Mannes, der auf der Parkbank saß.

 

 

Daniel hatte gerade Sigrid ein Update per SMS geschickt, als er von seinem Smartphone aufblickte und sich sein Blick mit Claires Augen kreuzte.

Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie ihn erkannte. Sie verlangsamte ihren Lauf und stoppte direkt vor ihm. Sie sah ihn prüfend an, öffnete den Mund zu einer Frage, aber sie wurde fortgezogen, ihre Füße setzten sich ohne ihr Zutun in Bewegung und ihr Kopf war wie leergefegt. Sie wollte den Mund öffnen und »Daniel?« sagen, aber sie war nicht fähig, ihn anzusprechen. Claire versuchte, sich zu wehren, aber es war, als würde jemand anderes ihre Schritte, ihre Muskeln, ihr Bewusstsein lenken.

Daniel sah ihr verwundert nach, viel zu verblüfft, um etwas erwidern zu können. Sein Plan, sich nicht von ihr erwischen zu lassen, war gehörig nach hinten losgegangen. Für einen Verschleierungszauber hätte er Sigrid mitnehmen müssen, wozu er nun wahrlich keine Lust hatte. Ihr Scharfsinn hätte ihn innerhalb kürzester Zeit durchschaut und auf die darauffolgenden bissigen Bemerkungen war er nicht sonderlich erpicht. Doch jetzt hatte Claire ihn gesehen und er ohrfeigte sich für seine Nachlässigkeit.

Er konnte in ihren Augen sehen, dass sie ihn ebenfalls erkannt hatte. Plötzlich war es ihm ein tiefes Bedürfnis, ihr sein Verhalten zu erklären. Ihr Blick hatte eine Woge von unterdrückten Gefühlen heraufbeschworen, denen er nicht widerstehen konnte. Er musste mit ihr reden!

»Claire!«, wollte er ihr hinterherrufen, doch sie bog gerade um eine Ecke und änderte wieder die Richtung, verließ sein Blickfeld. Daniel suchte schnell seine sieben Sachen zusammen, erhob sich und folgte ihr in Windeseile. Er musste mit ihr sprechen, irgendwie! Sollte sie ihn beschimpfen und beleidigen. Durch sein unangebrachtes Verhalten hatte sie durchaus das Recht dazu. Er wollte sie um Verzeihung bitten und sie danach nie wiedersehen. Dann wäre die Angelegenheit bereinigt.

Daniel seufzte niedergeschlagen. Hätte er sich an diesem Abend nicht so total daneben benommen, gäbe es diese verfahrene Situation nicht. Wer weiß, was passiert wäre. Er lächelte, seinen Gedanken nachhängend, und beschleunigte seine Schritte. Entschuldigungen konnten diesen vermurksten Abend nicht aus der Welt schaffen, aber er würde sagen, was er zu sagen hatte und Claire zumindest wieder halbwegs normal gegenübertreten können. Sie würden keine Freunde werden, aber er könnte diesen Vorfall wenigstens etwas gerade biegen. Und er würde sie wiedersehen!

 

 

 

Claire steuerte auf einen unbelebten Teil des Parks zu und lief zielgerichtet tiefer in den Stadtwald. Normalerweise wagte sie sich nicht in diesen Teil, aber ihre Füße bestimmten die Richtung und irgendetwas zog sie dorthin. Sie lief und lief, der Wald wurde dunkler und undurchdringlicher. Gerade noch hatte die Sonne geschienen, aber plötzlich wurde es dunkler und spürbar kühler. Ein paar Wolken mussten aufgekommen sein. Claire fröstelte verwirrt, verlangsamte ihre Schritte und sah sich um. Ihre Kehle wurde trocken und sie schluckte.

Sie fühlte sich beobachtet. Eine vage Erinnerung flatterte durch ihren Geist. Daniel? Hatte sie ihn nicht gerade gesehen? Aber der Gedanke verschwand genauso schnell, wie er gekommen war.

Suchend drehte sie sich um und rieb über ihre nackten Arme, um die Gänsehaut etwas zu vertreiben. Wahrscheinlich war sie doch nicht so fit, wie sie geglaubt hatte. Übernächtigt und mit einer dicken Beule am Kopf hätte sie wohl doch lieber zu Hause bleiben sollen. Verdammt. Claire wandte sich um und wollte ihre Schritte aus diesem Teil des Parks lenken, als sie einen Schatten aus dem Augenwinkel sah. Erschrocken fuhr sie herum und versuchte, einen Blick auf die Gestalt zu erhaschen, die sich in rasantem Tempo hinter einem Baum versteckte. Ein mulmiges Gefühl von Déjà-vu verfestigte sich in ihrem Magen zu einem eisigen Knoten.

»Ich habe Sie gesehen! Kommen Sie sofort heraus!«, rief sie mit zitternder Stimme.

Die Gestalt schob sich quälend langsam hinter dem Baumstamm hervor und starrte sie mit smaragdgrünen Augen an. Sein Blick bohrte sich in Claires Pupillen und nagelte sie förmlich am Waldboden fest. Sie konnte sich nicht bewegen, konnte nur in diese eigenartigen Augen starren. Der Wald verschwamm zu einer grün-braunen Masse und ihr wurde schlecht. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, ihre Beine bestimmten erneut ohne ihr Zutun die Richtung, direkt in seine ausgestreckten Arme. Triumphierendes Lachen schrillte unangenehm in ihren Ohren, verhallte in einem dramatischen Echo. Sie wollte sich abwenden, weglaufen, rennen, nur noch nach Hause, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht, setzten stetig ihren Weg fort, so als würden sie jemand anderem gehören. Claire bekam Panik, die Angst kroch ihr in die Glieder, doch sie war völlig machtlos, hilflos, ausgeliefert, zu einem unbeteiligten Beobachter verdammt.

 

 

 

Daniel folgte Claire in einigem Abstand in den Park. Der kurze Augenkontakt hatte ihm gereicht; sie hatte sich definitiv an ihn erinnert. Sonnenstrahlen brachen durch das dichte Blätterdach und verfingen sich spielerisch auf dem Waldboden. Für einen winzigen Moment genoss er die Schönheit der Natur und genehmigte sich einen tiefen Atemzug. Er freute sich, Claire wieder zu begegnen, sich mit ihr zu unterhalten, egal, wie sie reagieren würde. An jenem Abend hatte er seit Langem wieder so etwas wie Glück gefühlt. Ihre ganze Art hatte einen Teil von ihm angesprochen, den er nicht gekannt hatte.

Noch vor wenigen Augenblicken wollte er sie nie wiedersehen, diesen unschönen Vorfall einfach vergessen, und jetzt gab es nur noch ein vor Claire und nach Claire. Sie hatte ihn angesehen, zum zweiten Mal an diesem Tag. Erst der kurze Blick vor dem Krankenhaus, dann ihr bewusstes Wiedererkennen. Er war sich absolut sicher, dass er mit ihr reden wollte, sich entschuldigen musste. Aber zunächst musste er sie finden.

Claire konnte noch nicht weit sein. Sie war zwar durchtrainiert und lief ein beachtliches Tempo, aber auch er war nicht gänzlich untrainiert. Daniel bog um eine Ecke und sah gerade noch, wie Claire den Weg verließ und langsamen Schrittes tiefer in den Wald ging. Ihre Bewegungen wirkten unnatürlich und abgehackt, so als würde sie jeden Schritt neu erlernen. Nachdenklich legte er den Kopf zur Seite und beobachtete sie. Als würde ihr Körper an Fäden hängen ...

Alarmiert stürzte er vorwärts. Er hatte so etwas schon einmal gesehen!

Das konnte nur eines bedeuten. Er war ganz in der Nähe und kontrollierte Claire!

Den angstvollen Knoten in seinem Magen ignorierend, versuchte Daniel, so schnell wie möglich zu ihr zu gelangen, bevor er sie ganz verlor und sie unter seinem Bann stand. Was dann? Wie sollte er sie von seinem Einfluss befreien? Daniel kannte sich weder mit Zauberei noch mit Gedankenkontrolle aus, auch an dem nötigen Fingerspitzengefühl fehlte es ihm. Sigrid würde wissen, was zu tun war, aber sie war nicht hier. Daniel musste die Entscheidung alleine treffen! So schnell wie möglich.

Verzweifelt versuchte er, sich Sigrids warnende Worte ins Gedächtnis zu rufen, doch er konnte sich einfach nicht erinnern. Egal, wie viel er falsch machte, er hatte keine Zeit, lange über die Auswirkungen nachzudenken. Er würde die Gedankenkontrolle einfach mit roher Gewalt beenden, basta. Um die Konsequenzen konnte sich Sigrid kümmern, wenn es denn dann noch etwas zum Kümmern gab.

Für die letzten Meter raffte er alle verfügbaren Kraftreserven zusammen und beschleunigte seine Schritte. Drei Schritte, zwei und ein gewagter Hechtsprung. In aller letzter Sekunde berührten seine Fingerspitzen ihre Laufjacke und er zerrte sie im letzten Moment mit einem heftigen Ruck zurück. Das war knapp!

Die Schattengestalt mit den grünen Augen fluchte und maß Daniel mit einem vernichtenden Blick. Ihre Augen trafen sich, hielten einander fest. Der Fremde knurrte ihn feindselig an und riss sich von ihrem Blickkontakt los. Dann verschmolz er mit dem Dickicht und wurde unsichtbar. Er schien keine Lust auf eine schlagkräftige Auseinandersetzung mit Daniel zu haben. Dabei zog er meistens den Kürzeren. Aber sein Gesichtsausdruck versprach Revanche mit dem ein oder anderen fiesen Trick in der Tasche. Drohend streckte Daniel ihm eine Faust hinterher. »Irgendwann krieg ich dich!«, schrie er der bereits längst verschwundenen Gestalt nach.

Claire sackte auf der Stelle kraftlos in seinen Armen zusammen, als der Fremde mit seinem Verschwinden von ihr abgelassen hatte. Daniel drückte sie fest an sich und suchte den Waldrand ab, doch er wusste, dass seine Suche erfolglos bleiben würde. Tief atmete er durch und strich sanft über Claires dunkelbraune Locken.

Sigrid hatte Recht behalten. Er war hinter ihr her und verdammt nah dran gewesen, sie mit sich in die Dunkelheit zu ziehen. Zum Glück war er in der Nähe gewesen. Nicht auszudenken, wenn er Sigrids Bauchgefühl missachtet hätte. Dann wäre sie zu seiner Marionette geworden, wehrlos seinem Willem unterworfen. Daniel fröstelte.

Seine Finger flogen über ihren schlaffen Körper. Sie hatte das Bewusstsein verloren, doch ihre Atmung ging gleichmäßig. Ihr Puls war kräftig, ohne zu rasen. Ein dünner Schweißfilm zog sich über ihre Stirn und ihre Haare waren an den Schläfen feucht, ihre Wangen eisig und klamm. Der Schweiß rührte von der Anstrengung des Joggens, aber ihre Haut hätte warm sein müssen. Diese Kälte, so Sigrid, deutete auf die absolute Bewusstseinskontrolle und ein gewaltsames Lösen der Verbindung hin. So viel war ihm noch im Gedächtnis geblieben. Wenn der Fremde in den Köpfen gewöhnlicher Menschen herum spuckte, sie seinem Willen unterwarf, hinterließ er nichts als Kälte. Es war ähnlich den Auswirkungen, als hätte man sich wie bei dieser Challenge mit Eiswasser übergossen, nur mit dem winzigen Unterschied, dass die Schockphase nicht nur den Bruchteil einer Sekunde anhielt. Es würden Minuten oder gar Stunden vergehen, ehe der Schmerz nachließ und Claire ihre Glieder wieder fühlte.

Betrübt schüttelte er den Kopf. Sie hätte ein normales und ereignisloses Leben verdient. Aber mit ihm auf ihren Fersen war an geordnete Tagesabläufe nicht zu denken und ein gewöhnliches Leben sogar lebensgefährlich. Ihre einzige Chance auf Normalität bestand darin, den Fremden aus dem Verkehr zu ziehen und zurück »nach Hause« zu bringen, dort wo er hingehörte. Vielleicht würden sie sich aussprechen können, er und die Fremde, ihre Differenzen beilegen und so ein für alle Mal aus Claires Leben verschwinden.

Gedankenverloren strich er dem Mädchen eine braune Strähne aus der Stirn und klemmte sie hinter ihr Ohr. Sie sah so friedlich und unschuldig aus. Ihre kraftvolle Gegenwehr in der Lagerhalle hatte dem Fremden etwas offenbart. Was auch immer es war, sie hatte sein Interesse auf sich gezogen und nun war sie in Gefahr. Dieser Mann gab niemals auf. Er würde es wieder versuchen, so oft er musste, bis sie seinem Willen unterworfen war. Daniel jedenfalls hatte nicht vor, sie ihm so einfach zu überlassen, so viel stand fest.

Seine Empfindungen überraschten ihn und er zuckte zusammen. Vor einigen Tagen, in jener Bar hätte er die Ernsthaftigkeit seiner Gefühle bereits erkennen müssen. Claire war alles andere als gewöhnlich, sie hatte ihn vom ersten Augenblick an fasziniert. Sie war durch und durch besonders und er hatte das Gefühl, dass hinter ihrem unschuldigen Lächeln mehr steckte, als auf den ersten Blick erkennbar. Daniel beschlich das untrügliche Gefühl, dass ihre heftige Gegenwehr in der Lagerhalle eindeutig damit zu tun hatte.

Zunächst aber musste Sigrid ihr beibringen, wie sie sich gegen gewaltsames Eindringen in ihr Bewusstsein zur Wehr setzen konnte. Und dann konnte er vielleicht mit ihrer Hilfe das Interesse des Mannes an Claire dazu verwenden, ihn endlich festzunageln. Selbstverständlich, ohne Claire in Gefahr zu bringen. Damit fand diese Odyssee dann hoffentlich ihr Ende.

Säuerlich verzog er das Gesicht und fröstelte bei der Vorstellung, wieder nach Hause zu gehen und Claire zurückzulassen. Pflichterfüllung war manchmal sehr, sehr anstrengend.

Mit ihr hatten sie eine reelle Chance, ihn einzufangen. Er drückte sie noch einmal kurz an sich, war sich bewusst, dass diese Intimität sich nicht so bald wiederholen durfte. Nur mit einem klaren Kopf konnten sie sich auf ihre Aufgabe konzentrieren und mit der Entscheidung, Claire als Lockvogel einzusetzen, war der Abschied bereits deutlich am Horizont erkennbar. Seine Gefühle durften nicht zu intensiv werden, nur dann hatte er die Kraft, sie auch zu verlassen. Es war also äußerst ratsam, schnell vorzugehen. Damit würde der Abschied nicht zu schmerzhaft werden.

Daniel seufzte und fühlte schon, wie ihn die Kraft verließ und sein innerer Widerstand bröckelte. Diese Pflicht fiel ihm schon jetzt sehr schwer.

Ächzend erhob er sich mit ihr auf seinen Armen. Zeit, sie warm einzupacken. Wenn sie aufwachte, würde sie schrecklich frieren. Zum Glück lag ihre Wohnung nicht weit entfernt. Dort würde sie sich erholen können und er konnte in Ruhe nachdenken.

 

 

Claire erwachte zitternd und fröstelnd; sie fror entsetzlich. Ein Schauer nach dem anderen kroch ihr über den Nacken. Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander, als sie die Augen öffnete. Sie sah über sich ihre abscheuliche Deckenleuchte im Wohnzimmer und seufzte beruhigt auf. Aus ihrem Flur drangen sich gedämpft unterhaltende Stimmen, eine männlich und eine weiblich.

»Du brauchst nicht in ihrem Kopf herumrühren«, sagte der Mann. »Ich fürchte, ich habe mich geirrt und du hattest Recht.«

Die Frau lachte. »Ich könnte jetzt sagen, dass ich es dir ja gesagt habe, aber ich halte meinen Mund«, entgegnete sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Ich werde mich um sie kümmern und ihr die Kälte aus den Gliedern treiben.«

Claire hörte, wie ihre Wohnungstür aufgeschlossen wurde.

»Danke, ich bin unten, wenn du mich brauchst.«

Das Öffnen der Tür brachte das gewohnte Knarzen von schlecht geölten Scharnieren mit sich. Tommy wollte sich seit Wochen damit befassen, das Öl stand bereits im Keller. Bisher war er aber noch nicht dazu gekommen.

Schließlich wurde die Tür wieder geschlossen und verriegelt. Schritte, Dielen ächzten und verrieten Claire, dass die Frau in die Küche ging. Tassen klapperten, der Wasserkocher blubberte, Schranktüren wurden geöffnet und geschlossen. Die Person machte Tee.

Claire seufzte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Die Müdigkeit lastete bleischwer auf ihrer Stirn und lähmte ihr Denken. Doch das Klappern der Tassen verhinderte, dass sie der Erschöpfung nachgab und ihr Gehirn widmete sich träge der Frage, wer diese Frau war und was sie in ihrer Wohnung machte. Tee kochen, antwortete ihr Verstand mechanisch. Claire kicherte belustigt, das Porzellanklappern hielt inne, die Dielen knarzten erneut und die Frau kam ins Wohnzimmer. Claire öffnete die Augen und blickte in ein lächelndes, aber keineswegs freundliches Gesicht.

»Du bist wach, wie schön!«, flötete die Frau. Grau melierte Strähnen durchzogen ihr blondes Haar. Sie hätte 30 oder auch 50 Jahre alt sein können. Eine vage Erinnerung an dieses Gesicht flatterte durch Claires trägen Verstand, doch sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob sie die Frau schon einmal gesehen hatte. Ein eigenartiges Deja-Vu beschlich sie, doch das Gefühl war nicht greifbar und verflüchtigte sich, ehe Claire nach ihm greifen konnte. Seltsamerweise war sie nicht im Mindesten überrascht, die blonde Frau hier zu sehen.

Stöhnend rappelte sich Claire auf und schälte sich aus dem Deckenberg, den man fürsorglich über sie ausgebreitet hatte. Und nicht nur das: zu ihren Füssen lagen zwei oder vielleicht sogar drei Wärmflaschen und die Hitze wärmte ihre Waden, vertrieb die eisige Kälte, die noch immer in ihren Gliedern steckte. Um Entführer konnte es sich bei dem Pärchen jedenfalls nicht handeln, die würden sich nicht so aufmerksam um sie kümmern. Wenn die zwei einer solchen Gruppe angehörten, hätte sie jetzt sicherlich in einem feuchten Kellerloch ausharren müssen. Stattdessen lag sie auf ihrer Couch, behaglich eingehüllt und in ein paar Minuten mit heißem Tee versorgt. Claire entschied, sich lieber bei der Frau für ihre Fürsorge zu bedanken, statt hitzig ihre Anwesenheit in ihrer Wohnung infrage zu stellen.

»Danke«, murmelte Claire Minuten später über eine Tasse dampfenden Tee gebeugt.

»Aber, ich muss Sie dennoch fragen, was Sie in meiner Wohnung machen? Und wie…«, sie kramte in ihren Gedanken und versuchte, sich zu erinnern. Belebt von dem heißen Dampf des Tees, setzte sich ihr Verstand langsam in Bewegung. »… und wie bin ich hierher gekommen? Ich war im Park, und dann habe ich Daniel erkannt und … Ich wollte ihn ansprechen, aber dann war ich nicht mehr da … Es war so seltsam … und jetzt habe ich schon wieder einen totalen Blackout! Schon wieder!« Claire seufzte frustriert und stellte die Tasse auf dem Tischchen vor sich ab. Was war nur mit ihr los!? Erst der unerklärliche Vorfall in der Lagerhalle, der sie dank Lehmanns Nachsicht nicht wieder hinter den Schreibtisch brachte. Und jetzt der Blackout im Park! Sie sollte sich noch einmal gründlich durchchecken lassen! Irgendetwas war mit ihr definitiv nicht in Ordnung. Zwei Blackouts innerhalb von 24 Stunden. Claire fröstelte und schloss die Finger erneut um die warme Tasse.

Die Frau runzelte nachdenklich die Stirn und ließ sich in den Sessel ihr gegenüber sinken, ebenfalls mit einem Tee ausgestattet. »Nun ...«, begann sie an Claire gewandt. Die notwendigen Erklärungen würden etwas Zeit in Anspruch nehmen.

Claires Blick schweifte Richtung Balkontür. Es dämmerte bereits. Sie musste mehrere Stunden besinnungslos auf der Couch gelegen haben. Als sie zum Joggen aufgebrochen war, hatte gerade die Turmuhr Mittag geschlagen. Sieben oder acht Stunden Blackout. Oh man!

Die Frau stellte sich als Sigrid vor und erzählte Claire, dass ihr Freund sie bewusstlos im Wald gefunden hatte. Nach kurzem Überprüfen des Führerscheins hatte er sie zu ihrer Wohnung gebracht und sie angerufen. Sie musste sich wohl beim Laufen überanstrengt haben und ohnmächtig geworden sein, mutmaßte Sigrid.

Claire nickte, tief in Gedanken versunken. Sie hörte ihre Worte kaum. »Ich kann mich an ein Paar grüne Augen erinnern.«

Sigrid runzelte die Stirn und sah sie prüfend an. »So? Kannst du das? An was kannst du dich denn noch erinnern?« Claire verwendete ihre gesamte Konzentration auf ihre Erinnerungen, so dass sie der Frau keine Aufmerksamkeit schenkte. Sigrid furchte konzentriert die Stirn und streckte ihren Geist aus, holte behutsam die Erinnerung hinter den Riegeln und Türen hervor, hinter die sie sie vergangene Nacht gebannt hatte. Die Ereignisse in der Halle sollten nie wieder an die Oberfläche ihrer greifbaren Gedanken kommen.

Claire schüttelte verwirrt den Kopf und nippte vorsichtig an der dampfenden Flüssigkeit, während mit der Wärme, die in ihre Glieder zurückkehrte, auch die Erinnerungen ihren angestammten Platz einnahmen. »Ich war in einem Lagerhaus. Es war dunkel, meine Taschenlampe war völlig nutzlos, sie hat nur einen winzigen Bereich erhellt. Ich war praktisch blind ...« Claire senkte die Lider und zog gierig den heißen Dampf des Tees ein. Was war das denn für ein seltsamer Geruch? Ihr Vorrat an Tee beschränkte sich auf Kamille und Pfefferminze. Diesen Tee kannte sie gar nicht, aber er tat gut.

Sigrid sah sie weiterhin durchdringend an und wartete geduldig, bis sie fortfuhr.

»Ich hatte Angst, schreckliche Angst. Und das sollte ich nicht, denn ich bin ja für solche Situationen ausgebildet ...« Claire verstummte. Aber ihre Ausbildung hatte ihr nicht geholfen, selbst die Waffe in der Hand konnte ihr keine Sicherheit geben. Ihr schien es, als wäre die 9mm völlig unbrauchbar in diesem Wirrwarr gewesen. »Die Person … Auch sie hatte grüne Augen, ich konnte mich nur nicht mehr erinnern … Und vorhin im Wald, da war dieser Schatten ...«, erzählte sie stockend, während mehr und mehr Erinnerungen in ihrem Kopf herumschwirrten.

Sigrid nickte bestätigend.

»Wir haben bereits mit ihm Bekanntschaft gemacht«, sagte sie und nahm einen Schluck Tee. »Er verschmilzt mit der Dunkelheit, kann Licht und Schatten beeinflussen. Wir folgen ihm schon eine halbe Ewigkeit. Er dringt in die Gedanken seiner Opfer ein und unterwirft sie seinem Willen.«

Sigrid verstummte und beobachtete Claire genau. Ihre Reaktion verblüffte sie. Sie hatte mit Erstaunen, Panik und Verleugnung gerechnet, doch Claire nickte erleichtert. Mit Sigrids Worten bestand die Möglichkeit, dass mit ihr alles in Ordnung war und diese Blackouts von ihm ausgingen, weil er in ihrem Kopf herumgespukt hat. »Das erklärt, warum ich mich nicht bewegen und mich nicht erinnern konnte.« Wieder roch sie am Tee. »Der Tee schmeckt gut, was ist das?«

Sigrid lächelte. »Ein Geheimrezept. Er beruhigt, klärt den Geist und stärkt die Wahrnehmung. Wirkt er?«

Claire erwiderte ihr Lächeln automatisch. Perfekt. Bis vor ein paar Minuten konnte sie sich nur bruchstückhaft an ihre schreckliche Begegnung im Wald erinnern. Die Ereignisse der letzten Nacht waren vollständig ausgelöscht. Doch je mehr sie sich erinnerte, desto mehr wünschte sie sich, das Vergangene bliebe vergessen. Dann hätte sie sich der Illusion hingeben können, dass nichts passiert wäre. So gesehen waren ihr die Blackouts fast lieber, als ein gefährlicher Magier, der in ihrem Kopf herumspukte, sie zu seinem Ziel auserkoren hatte. Aber sie musste sich erinnern. Das Vergraben ihrer Erinnerung, wäre zwar eine Wohltat gewesen, aber keineswegs die Lösung des Problems. Der Magier wäre nach wie vor da, auch wenn sie von seiner Existenz nichts gewusst hätte. Claire fröstelte. Zauberer, Magier ... Wesen, die ihren Körper beherrschen konnte! Das war unglaublich! Claire spürte, wie ihr Verstand aussetzte und in eine Panik abzudriften drohte, doch der Tee half ihr, beruhigte ihren Herzschlag und negierte die aufkeimende Panik. Dieser Fremde. War er ein Magier? Gab es so etwas überhaupt? Auf jeden Fall war er nichts, was sie in ihrer Ausbildung kennengelernt hatte.

»Was wollte er von mir?«, stellte Claire die Frage, die ihr die ganze Zeit unter den Nägeln brannte.

Sigrid seufzte. Unmöglich, Claire seine wahren Interessen zu offenbaren, soweit sie sie natürlich kannten. Wahrscheinlicher war es, dass er noch eine ganze Reihe weiterer, perfider Pläne ausheckte. Claire hatte gerade erlebt, wie sich jemand in ihrem Kopf ausgebreitet hatte und ihre Füße gegen ihren Willen bewegte. Es hätte nicht mehr lange gedauert und Claire wäre so fest mit ihm verbunden gewesen, dass … nein, nicht auszudenken. Zum Glück war Daniel rechtzeitig zur Stelle gewesen.

Sigrid schnaubte verärgert. Daniel hatte sie belogen. Er hatte die Kleine bereits vor ein paar Tagen kennengelernt. Und dann tauchte das Mädchen in der Lagerhalle auf. Zufälle gibt es nicht und in dieser Situation glaubte Sigrid erst recht nicht an eine zufällige Begegnung. Er hätte ihm gar nicht so viel Spielraum lassen dürfen, hätte dichter an Claire dranbleiben müssen. Es war ja schließlich nicht das erste Mal, dass er auf diesen Mann hereingefallen war. Sigrid hätte diese Aufgabe selbst übernehmen müssen. War er vielleicht abgelenkt gewesen und hat mehr auf ihren Hintern gestarrt, statt seine Aufgabe ernsthaft zu verfolgen? Sigrid verzog missbilligend das Gesicht.

Sie ärgerte sich noch immer über ihre Nachlässigkeit. Ihr wäre solch ein fataler Fehler nicht unterlaufen. Man konnte die Intelligenz und den Talenten des Schattens nun mal nicht mit Muskelkraft trotzen. Da konnte Daniel so viel trainieren, wie er wollte, letzten Endes blieb er ein Gefäß, das der Grünäugige mit der gewaltigen Macht seiner Gedanken nur auszufüllen brauchte. Wäre Sigrid nicht, hätte er sich Daniel schon längst genommen, ihn in Schwärze gehüllt und in den Schrank gestellt, aufbewahrt für später, bis er seine Fähigkeiten gebrauchen konnte. Daniel war deshalb bereits mit einer soliden Mauer um seinen Verstand ausgerüstet, die sie in mühevoller Arbeit Stein für Stein errichtet hatte. Somit konnte er sich ihrem Zielobjekt problemlos nähern und lief nicht Gefahr, selbst zum Opfer zu werden. Das fehlte ihnen noch! Daniel mit seiner ungeheuren Stärke als willenloser Spielball des Schattens.

Sigrid starrte in ihre Tasse. Sie musste Claire gegen die Angriffe des Schattenmannes schützen, herausfinden, was genau ihn an ihr interessierte und wie sie sie am besten einsetzen konnten.

»Du besitzt etwas, was er haben möchte«, begann Sigrid vorsichtig und schwenkte den dampfenden Tee in ihrer Tasse hin und her. Sie wollte sehr sacht vorgehen und Claire unter gar keinen Umständen verschrecken. Die Erinnerungen an die Oberfläche ihres Verstandes zu holen, war ihr erster, vorsichtiger Schritt. Sie brauchten Claires Vertrauen darauf, dass sie und Daniel ihr helfen wollten. Wenn sie sich an die Geschehnisse der vergangenen Nacht erinnerte, würde sie erkennen, dass es so etwas wie Telepathie und Magie durchaus gab und dass sie, Claire, sich gegen den Schatten erfolgreich gewehrt hatte. Sigrid lächelte in dem Wissen, dass ihr Plan aufgehen würde.

Die junge Frau richtete sich auf und sah Sigrid forschend an, wartete darauf, dass sie fortfuhr, aber die andere Frau schwieg beharrlich und betrachtete ihren Tee. »Und das wäre …?«, bohrte Claire schließlich ungeduldig nach. Sie suchte nach Antworten, und Sigrid würde sie ihr geben. Stück für Stück, so dass sie sich diesem Wissen langsam und wohl dosiert nähern konnte.

»Das werde ich, oh, das werde ich, mein Täubchen«, murmelte Sigrid, zu leise für Claires Ohren. Dann erhob sie die Stimme und fuhr fort: »Ich beantworte dir deine Fragen, aber du musst mir versprechen, dass du unvoreingenommen bist, das Erzählte als Realität annimmst.«

Jetzt hatte sie die Kleine am Haken. Claire nickte gierig.

»Ich sage dir immer die Wahrheit«, fuhr Sigrid fort. »Vielleicht lasse ich ein paar Details weg, aber das, was ich dir erzähle, wird den Tatsachen entsprechen.« Sigrid lächelte sie aufmunternd an und wartete auf ihre Fragen.

»Okay ...«, begann Claire zaghaft und suchte die Information, nach der sie am meisten verlangte. »Was genau könnte ich schon besitzen, das diesen Mann so sehr interessiert? Und wer ist er? Was ist er?«, feuerte sie ihre Kugeln ab. Sigrid hob beruhigend eine Hand und brachte Claire damit zum Schweigen.

»Zunächst wissen wir nicht, was du besitzt, aber es ist für ihn von größtem Interesse. Wir müssen gemeinsam herausfinden, worin deine Fähigkeiten liegen.« Sigrid seufzte. »Die anderen Punkte sind deutlich schwieriger zu klären. Er ist ein Wissenschaftler und Forscher, er folgt einem Muster und du stehst im Augenblick an der Spitze dieses Paradigmas. Und bevor du fragst, nein, ich kenne diesen Plan nicht. Wir folgen ihm nur. Seine Taten sind grausam und gefährden die Sicherheit der Menschen.«

Claire furchte die Stirn und stellte die nächste Frage, die ihr auf der Zunge brannte. Ihr Verstand arbeitete jetzt auf Hochtouren.»Was ist letzte Nacht passiert? Ich nehme an, du warst dort, wenn ihr diesen Kerl verfolgt?«

Sigrid nickte und blickte wieder in ihre Tasse. Der Tee wirbelte in einem kleinen Strudel durch die Keramik.

Sie berichtete von ihrer Verfolgung und vom Kampflärm, als sie das Lagerhaus betraten. Daniel hatte sich unverzüglich auf den Angreifer gestürzt, während sie sich um Claire kümmerte. Bewusst erwähnte sie dabei nicht Daniels Namen, sondern betitelte ihn als ihren Partner.

»Leider konnten wir nicht vor Ort bleiben, da wir weder zur Polizei, noch zu einer anderen Behörde gehören«, beendete Sigrid ihre Erläuterungen der letzten Nacht. Claire wog Sigrids Worte stirnrunzelnd ab, ehe sie fragte: »Für welche Einrichtung arbeitet ihr dann?«

Sigrid wich ihr aus. »Es ist etwas Persönliches.«

Claire gab sich zunächst mit dieser Antwort zufrieden und nickte Sigrids Erzählung ab. »Verstehe. Dann seid ihr mir in den Park gefolgt?«

Sigrid nickte. »Ich bestand darauf, dich zu beobachten. Mein Begleiter ist anderer Meinung gewesen, aber er hat nachgeben. Ich glaube, du besitzt Potential.« Sie holte tief Luft. Langsam war es an der Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen. »Ich möchte dir gerne helfen, deine Fähigkeiten zu erkunden.«

Sigrids Lächeln sollte ermutigend wirken, doch Claire fröstelte bei diesem eiskalten und berechnenden Blick. Die Augen angstvoll aufgerissen, schüttelte sie vehement den Kopf, aber Sigrid war so von ihrem Plan überzeugt, dass sie ihr behutsames Vorgehen vergaß und unbeirrt fortfuhr.

»Du könntest enorme Fähigkeiten entwickeln! Wir müssen deine Stärken herausfinden. Ich kann es kaum erwarten, deinen Geist zu erforschen. Dort kann ich die Lösung finden!«

 

Bitte was? Claire versteifte sich. Sie wollte nicht UNGLAUBLICHES tun, sie wollte sie selbst sein, wollte arbeiten, ihr absolut langweiliges Leben leben, Freunde treffen und nicht von grünäugigen Irren gejagt oder blonden Hexen erforscht werden. Sie war doch keine Laborratte!

»Kommt überhaupt nicht in Frage!«, rief sie aufgebracht. »Niemand wird meinen Geist erforschen! Dieser Kerl hat mir gereicht. Ich werde nicht zulassen, dass du irgendetwas in der Art versuchst!« Sie schleuderte alle Decken von sich und sprang auf. Die Kälte war wie weggeblasen und der Zorn verschaffte ihr die nötigen Kräfte.

»Aber ...«, stammelte Sigrid und stellte ihre Tasse ab. »Ich kann dir helfen, dich gegen ihn zu wehren. Dazu muss ich nur eine Barriere in deinem Geist errichten, die er nicht überwinden kann.« Sie hob beschwichtigend die Hände. »Er wird wiederkommen, und wenn wir nicht in der Nähe sind, bist du für ihn leichtes Spiel!«

Aufgebraucht starrte Claire sie an. »Nein, du wirst nicht in meinem Kopf herumspazieren und irgendwelche Mauern aufbauen! Ich bin Sicherheitsbeamtin und habe mit Auszeichnung im Nahkampf abgeschlossen. Ich brauche keine Kopfbarrieren!«

Sie hatte erst einmal genug von Sigrids Antworten. Claire wirbelte herum und stürmte zur Wohnungstür in dem Bestreben, dieser Frau und ihren wahnsinnigen Ideen zu entkommen. Sigrid kämpfte sich noch immer durch die auf den Boden geworfenen Decken und rief Claire hinterher, doch die junge Frau wollte nichts dergleichen hören. Sie riss die Tür auf, stürmte geradewegs die Treppen hinunter und zur Eingangstür hinaus. Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss und erst da bemerkte sie, dass sie keinen Schlüssel mitgenommen hatte.

Verdammt.

Kapitel 3

Wohin denn so eilig?« Das dunkle Timbre seiner Stimme jagte ihr heiße und kalte Schauer über den Rücken und Claire stand einige Sekunden verwirrt vor der Haustür. Die Stimme würde sie nie wieder vergessen. Allein das laute Hämmern der Bässe in seiner Stimmlage versetzte die feinen Härchen auf ihrer Haut in Schwingung. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, doch die Versuchung war zu groß. Daniel – IHR Daniel – lehnte lässig an der Hauswand und beobachtete sie amüsiert. Seine Augen funkelten belustigt, als er sie von Kopf bis Fuß musterte. Irgendwie war ihr klar gewesen, dass sie ihn noch einmal wiedersehen würde, nur die Umstände hatte sie sich etwas anders vorgestellt.

Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu, auch wenn sie ihm viel lieber zugehört hätte.

»Verfolgst du mich etwa?« Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften und funkelte ihn zornig an. »Du warst im Park und jetzt hier? War das im Top10 etwa dein Plan?«

Daniel stöhnte und sah ertappt zu Boden. »Nein, nein.« Ausweichend schob er mit dem Fuß ein Steinchen hin und her. »Nichts war geplant. Ich bin dir nur gefolgt, um dich zu schützen«, murmelte er defensiv.

Claire musterte ihn kritisch, als ihr Sigrids Worte wieder einfielen. Die ältere Frau hatte von ihrem Begleiter gesprochen. Dass Daniel hier und jetzt vor ihrer Haustür stand, war doch kein Zufall!

Er sah noch müder und erschöpfter aus als vor ein paar Tagen. Hatte er seitdem überhaupt geschlafen? Zugegeben, in der Bar war es düster gewesen und sie nicht mehr ganz nüchtern. Vielleicht hatte sie sich auch getäuscht? Nein, bestimmt nicht. Sigrid hatte außerdem das Lagerhaus erwähnt. »Du gehörst zu ihr?«, fragte Claire mit einem Kopfnicken zur Haustür. »Warst du auch im Lagerhaus am Pier?«

Daniel blickte kurz auf und nickte. Er war trotz der auffallenden Müdigkeit immer noch sehr attraktiv. Der ungepflegte Bart stand ihm und sie stellte sich vor, wie sie mit den Fingern durch die Stoppeln kraulte. Mühsam riss sie sich von diesem Gedanken los und zwang sich, ihren Zorn nicht gänzlich zu vergessen. Aber die Vorstellung besänftigte sie ein wenig.

»Sigrid hat dir gesagt, was sie gewillt ist, zu tun, nicht wahr?« Er ging nicht weiter auf ihre Fragen ein und stieß sich von der Wand ab.

Claire nickte und setzte sich langsam in Bewegung. »Gehen wir ein paar Meter, ja?« Er stimmte ihr angespannt zu und trottete ihr folgsam hinterher. Automatisch passte er seine langen Beine ihren Schritten an.

»Ich will nicht, dass sie in meinem Kopf rumwühlt«, begann Claire zögerlich, nachdem sie ein paar Meter schweigend nebeneinander her gelaufen waren. Die Erinnerung an den Fremden im Park ließ sie fröstelnd zusammenzucken. Niemand sollte je wieder in ihrem Kopf herumspazieren.

Daniel vergrub die Hände in den Jackentaschen seiner rotbraunen Lederjacke. »Sie macht sich Sorgen. So könnte sie dich vor ihm beschützen.«

Verärgert plusterte sich Claire auf. »Und wer beschützt mich vor ihr?!« Sie wäre Sigrid hilflos ausgeliefert und es war ihr absolut nicht recht, wenn sie dieser Frau, der sie nicht vertraute, ihren Kopf hinhielt. Ihre Gedanken wurden von Daniel regelrecht beherrscht und sie wollte partout nicht, dass Sigrid oder irgendjemand sonst etwas davon mitbekam. Ob sie ihn nun haben konnte oder nicht, ihre Schwärmereien gehörten ganz allein ihr. »Ich kann selbst auf mich aufpassen!«, schnaubte Claire empört und stampfte wütend mit dem Fuß auf.

Daniel lächelte nachsichtig. »Hab ich gesehen, zweimal sogar.«

Sie warf ihm einen angriffslustigen Blick zu und prustete empört. Was bildete sich dieser Kerl ein? Hätte er sich nicht so aufopferungsvoll um ihre Sicherheit – zweimal sogar! – bemüht, würde sie ihm jetzt einen gezielten Kick in den Magen verpassen. Wenn sie ihm doch nur nicht so dankbar wäre ...

Also beließ sie es bei zornigem Fauchen und lief einfach weiter. Nach ein paar Metern hatte sich Claire etwas beruhigt. Die kalte Abendluft und das Laufen taten ihr gut. Ohne ihr Zutun lenkte sie ihre Schritte in den Park. Dort hatte sie sich immer wohl gefühlt, doch seit heute Mittag sollte sie den Park wohl besser meiden. Abrupt blieb sie stehen und starrte auf den Weg. Daniel hielt neben ihr an.

»Du brauchst keine Angst haben, ich pass schon auf dich auf«, brummte er und legte ihr fürsorglich eine Hand auf den Rücken. Ein feuriges Kribbeln ging von der Stelle aus, wo er sie berührte und Claire versteifte sich. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich gegen seine Hand schmiegen und ... Sie holte tief Luft und zwang sich zu einem nichtssagenden Lächeln.

»Ich wollte mich noch bei dir dafür bedanken, dafür dass du ... aufgepasst hast. Letzte Nacht und heute Vormittag.« Seine Berührung verströmte flüssiges Feuer in ihrem Rücken.

»Keine Ursache«, murmelte er verlegen, nahm unvermittelt seine Hand von ihrem Rücken und kratzte sich am Kinn. Hastig setzte er sich wieder in Bewegung und floh mit zügigen Schritten vor ihr. Hatte er die Auswirkungen der Berührung etwa auch gespürt? Claire starrte fassungslos hinter ihm her und beeilte sich, ihn einzuholen. So leicht würde er ihr nicht entkommen. Er presste die Hände in seine Manteltaschen und stakste verkrampft den Gehweg entlang.

Als er merkte, dass sie wieder zu ihm aufschloss, drosselte er sein Tempo. Ein paar Minuten liefen sie schweigend nebeneinander her. Beide brauchten Zeit zum Nachdenken.

 

Sigrid war eine beeindruckende Frau. Aber wenn sie von etwas fasziniert war, schoss sie gerne übers Ziel hinaus und konnte einfach nicht verstehen, warum sich andere nicht genauso für die Thematik begeisterten. Claire war sicherlich kein Feigling, aber die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihre Welt dramatisch auf den Kopf gestellt. Da war ein Irrer, der ihr Bewusstsein beherrschte, um irgendetwas zu nehmen, von dem sie selbst nicht wusste, um was es sich handelte, schon genug.

»Und wenn ich ihm einfach gebe, was er will … dann wird er mich doch in Ruhe lassen«, begann Claire nach einiger Zeit. Daniel stoppte abrupt.

»Das ist nicht dein Ernst!«, entgegnete er entrüstet.

Claire wandte sich zu ihm um. »Aber … ich … du hast doch gesehen, was er mit mir gemacht hat! Was kann ich dem schon entgegensetzen?« Zweifelnd nagte sie an ihrer Unterlippe. »Ich bin doch nur eine Frau!«

Daniel packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. »Du bist viel mehr als nur eine Frau!« Er ließ sie los und berührte sie sacht am Kinn, zwang sie mit leichtem Druck, ihn anzusehen. Sein Blick hielt sie gefangen und sie dachte nicht im Traum daran, diesen innigen Moment mit einer unbedachten Bewegung zu ruinieren. Die Stelle, an der er ihr Kinn sanft umfasst hielt, kribbelte heiß. »Du bist bemerkenswert stark! Einmal konntest du dich schon erfolgreich gegen ihn wehren und du wirst es wieder schaffen! Sigrid und ich können dir Techniken beibringen, wie du dich gegen seine mentalen Angriffe schützen kannst. Zuschlagen kannst du jedenfalls schon.« Er lächelte sie aufmunternd an. »Du hast ihm im Lagerhaus ordentlich zugesetzt und ich bin überzeugt davon, dass mehr in dir steckt, als man auf den ersten Blick sieht.«

Claire schluckte hart. Noch niemals zuvor in ihrem Leben hatte jemand sie als bemerkenswert bezeichnet. Ja, okay, sie konnte sich ganz gut zur Wehr setzen und den ein oder anderen schmerzhaften Kick austeilen, aber so gut war sie nun auch wieder nicht. Von ihren bisherigen Männerbekanntschaften ganz zu schweigen. Zwar konnte sie durchaus auf eine kleine Liste interessanter Eroberungen zurückblicken, aber meistens war sie es, die sitzen gelassen wurde. Mal war sie nicht hübsch genug, mal fehlten ihr die geeigneten Karriereambitionen. Wer war schon gerne mit einer Nachtwächterin liiert? Die Arbeitszeiten waren beziehungsuntauglich.

Daniel hingegen war anders. Seine Augen schienen durch ihre äußere Fassade hindurch direkt in ihr Innerstes zu blicken und sie genoss die Art, wie er sie ansah. Dennoch, die alles entscheidende Frage, die ihr die letzten Tage nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, musste sie ihm jetzt stellen. Sie bedauerte, dass sie diesen innigen Moment damit zerstören würde. »Und warum bist du vor ein paar Tagen einfach abgehauen, statt mit mir zu reden?«

Daniel erstarrte, ertappt. Die Muskeln an seinem Kinn zitterten verkrampft und verrieten ihn. Den Schlag in die Magengrube hatte er nicht erwartet. Er seufzte schwer und ließ sie los, wandte sich von ihr ab und senkte den Kopf. Seine Hände wanderten wieder in die Jackentaschen und er zog sich komplett von ihr zurück.

»Ich ...«, murmelte er und stockte. »Es tut mir leid ... ich war ... nicht ganz bei mir ...«

Claire hasste sich dafür, aber sie musste es einfach wissen. Scherben aufkehren konnte sie hinterher. Um ihn und auch sich selbst zu ermutigen, ging sie einen Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf den Arm, zwang ihn jetzt ihrerseits mit sanftem Druck, sie anzusehen. »Ich bin nicht sauer. Ich war auch damals nur erschrocken, überrascht.« Sie schluckte, und da war sie wieder! Ihre totale Unerfahrenheit mit dem anderen Geschlecht. Wenn sie jetzt den Mund aufmachte, würde sie es garantiert vermasseln. Also schwieg sie und wartete auf seine Reaktion.

Daniel atmete erleichtert auf. »Darf ich mich bei dir entschuldigen?«

Befreit erwiderte sie sein Lächeln, fühlte, wie die Anspannung von ihr abfiel. »Selbstverständlich!« Sie warf ihm die Arme um den Hals und drückte sich sehnsuchtsvoll an ihn. Und überall dort, wo er sie berührte, durchfuhr sie flammende Wärme.

 

 

 

Dunkelgrüne Augen funkelten das Pärchen boshaft an. Abgrundtiefer Hass erfüllte ihn und er konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, nicht sofort zuzuschlagen. Er wollte sie beide leiden sehen, dafür bestrafen, was ihm dieser Schönling zeit seines Lebens angetan hat. Mit ihr würde er anfangen, denn sie war ganz verrückt nach diesem Schnösel und das war der Punkt, an dem er ansetzte. Sie würde als Erstes leiden und dann würde er sich Stück für Stück alles andere, was seinem Gegner lieb und teuer war, vornehmen. Vielleicht würde er sich sogar Sigrid zuwenden. Er mochte sie, aber sie hatte sich ein paar Mal zu oft im falschen Bett gewälzt. Alle würden sie bezahlen: die Menschen, dieser Planet, diese verfickte Welt.

Die Gestalt löste sich aus den Schatten und formte sich zu einem hageren Mann mit grünen Augen, dunklem Haar und einer leicht gebogenen Adlernase. Beinahe liebevoll streckte er die Hand aus, tastend, suchend. Dann, als er gefunden hatte, was er suchte, umspielte ein zufriedenes Lächeln seine schmalen Lippen. Sein Blick senkte sich konzentriert und er formte mit der rechten, ausgestreckten Hand einen Zylinder. Kraftvoll bog er die Finger nach innen, seine Muskeln zitterten und bebten, während er langsam zudrückte.

 

 

Daniel lächelte schmerzlich, wandte sich allerdings, kurz bevor sich ihre Lippen berühren konnten ab, so dass sie ihm lediglich einen Kuss auf die Wange gab. Sanft löste er sich aus ihrer Umarmung.

»Ich kann nicht«, entgegnete er bestimmt. Ihr enttäuschter Blick traf ihn mitten ins Herz. »Nicht, so lange du in Gefahr bist«, murmelte er und ließ ihre Hände los. Er wandte sich ab, denn er konnte ihren verletzten Blick kaum ertragen.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte Claire verunsichert.

Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, du bist fantastisch.« Er schluckte schwer und drehte sich wieder zu ihr. Liebevoll strich er mit dem Daumen über ihre Wange. Sein Blick wurde weicher, sehnsüchtig. Wie gebannt hing er an ihren leicht geöffneten Lippen und stellte sich vor, wie sie wohl schmecken würden. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie sich in jener Bar angefühlt hatten. Vielleicht sollte er seine Bedenken einfach über Bord werfen und die Erinnerung daran auffrischen ... Nein, nein, nein! Er tat es schon wieder! Ließ sich von ihr ablenken und verlor den Fokus. Hastig löste er sich von ihr und wirbelte zornig herum, ballte hilflos die Hände zu Fäusten. »Die Umstände sind einfach ungünstig«, erklärte er halbherzig.

Daniel starrte wütend die Wand vor sich an, als er statt einer Antwort ihrerseits nur gestocktes Röcheln vernahm. Alarmiert stellten sich seine Nackenhaare auf und er wandte sich um. Beunruhigt starrte er in ihre ängstlich aufgerissenen Augen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr! Ihr Blick wurde glasig, die Haut verfärbte sich und aus ihrem Mund drang nur hilfloses Röcheln. Das konnte nur eines bedeuten! Irgendjemand – und er hatte da eine ganz bestimmte Person im Sinn – manipulierte ihre Gedanken! Hastig packte er Claire bei den Schultern und versuchte, sie zu beruhigen, doch in ihren Augen stand die nackte Angst. Sie schnappte hilflos nach Luft.

Jetzt tu nicht so entsetzt, hörte er eine ihm nur zu bekannte Stimme in seinem Kopf. Du weißt ganz genau, was du tun musst, um sie zu schützen. Ein boshaftes Lachen erklang hinter seiner Stirn und ließ ihn unbewusst zusammenzucken. Komm schon, wahre den Schein oder rette die Liebste! Der schrille Ton wurde höhnisch. Daniel lief es eiskalt den Rücken hinunter.

Es stimmte; er wusste, was hier passierte. Er war wieder da, versteckte sich hier in der Nähe und hatte Claire die mentalen Finger um die Kehle gelegt. Er würgte sie mit reiner Willenskraft. Du könntest sie natürlich auch wie einen Fisch auf dem Trockenen ersticken lassen und stattdessen mich suchen, finden und eliminieren. Ich fürchte allerdings, dein Schätzchen wird nicht lange genug durchhalten, damit du beides haben kannst. Das Gelächter schwoll an. Entscheide dich jetzt, Bruder!

Er hatte recht. Claire lief mittlerweile blau an, er hatte keine Zeit mehr und der Stimme dieses grünäugigen Bastards in seinem Kopf wollte er auch nicht länger lauschen. Zu gerne würde er ihm den Wahnsinn ausprügeln, ihn ausschalten, aber nicht auf Claires Kosten. Sie war unschuldig und durfte nicht unter seinen Fehlern leiden, niemals!

Heftig zog er Claire an sich und presste ihr seine Lippen auf den Mund. Sie ruderte noch immer wild mit den Armen, doch als er mit sanfter Gewalt ihre Lippen teilte, gab sie bereitwillig nach und erwiderte den Kuss. Ihr Verlangen nach ihm war so intensiv, dass sie den Drang nach frischer Atemluft völlig vergaß. Ihr Denken setzte aus und sie gab sich hin, ließ sich von ihm erneut besinnungslos küssen.

Leidenschaftlich fuhr er durch ihr gelöstes Haar, presste sie an sich und registrierte kaum, wie sie sich merklich entspannte, die Panik ließ nach und sie erwiderte mehr und mehr seine Küsse. Zeit, sich von ihr zu lösen. Die Gefahr schien gebannt. Durch den Kuss hatte ihr Gehirn aufgehört zu arbeiten und wenn sie nicht nachdachte, den Kopf frei hatte, war es seinem Bruder unmöglich, ihre Gedanken zu beherrschen. Seine Finger würgten sie nicht, alles geschah nur in ihrem Kopf. Wenn ihr Verstand glaubte, sie würde ersticken, dann tat sie es auch. Die Berührung seiner Lippen hatte ihr Gehirn mit Hormonen und Gefühlen geflutet, so dass kein Platz mehr für mentale Manipulationen war.

Sich von diesen wunderbar weichen und süßen Lippen zu trennen gestaltete sich allerdings schwieriger als erwartet. Irgendwann musste er sich dann doch von ihr trennen. Gemeinsam starrten sie sich an und schnappten gierig nach Luft. Dennoch wollte sie ihn nicht loslassen. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen schlüpften ihre Hände unter sein Shirt und wanderten an seinen Seiten nach oben. Sie hielt ihn fest an sich gedrückt, hätte sogar die Beine um seine Hüften geschlungen, um ihn nicht loslassen zu müssen. »Nicht wieder abhauen«, hauchte sie atemlos.

Daniel erschauerte beim Klang ihrer Stimme, seine Nackenhaare stellten sich alarmiert auf, doch er war nicht fähig, die Umarmung zu lösen. »Im Traum nicht«, murmelte er leise und küsste sie erneut. Der Kuss war nötig gewesen, um ihr Leben zu retten. Eine Wiederholung durfte jedoch nicht stattfinden!

»Was war das denn?«, flüsterte sie schließlich leise gegen seine Lippen.

Nur widerwillig ließ er seine Hände hinab zu ihren Hüften gleiten und schob sie sanft von sich. »Er hat es schon wieder versucht«, murmelte er, seine Stirn zärtlich gegen ihre gelegt.

»Und dieser wilde Straßensex war die einzige Möglichkeit?«, fragte sie gespielt entrüstet.

Selbstverständlich hätte er sie auch mit Matheaufgaben ablenken können, aber sie zu küssen war weitaus angenehmer. Außerdem war ihm auf die Schnelle nichts Anderes eingefallen. Daniel räusperte sich verlegen. »Ja, natürlich. Am wirksamsten.«

Er atmete tief durch und sammelte sich. Den Kuss irgendwie zu lösen hatte zu viel Kraft gekostet und obendrein noch die Anstrengungen der letzten Tage, der innere Widerstand, sich nicht einfach auf Claire zu stürzen, forderten ihren Tribut. Seine Knie zitterten vor Anspannung und drohten nachzugeben, doch Claire stützte ihn, als sie sein Zittern bemerkte. Und er ließ sich einfach von ihr halten.

»Alles gut«, raunte Claire und zog ihn in eine innige Umarmung, hielt ihn einfach fest.

»Du machst mich echt fertig, Mädchen«, krächzte er und vergrub seine Nase tief in ihren dunklen Locken. Diese kleine Person besaß genug Stärke für sie beide. Daniel erschauerte.

Während Claire ihn hielt und sie darauf warteten, dass er sich erholte, sah sie sich suchend um. »Ist er denn hier in der Nähe?«, fragte sie vorsichtig.

Daniel schüttelte den Kopf. »Nicht mehr, aber du musst lernen, wie du dich selbst schützen kannst. Ich bin nicht immer verfügbar für ...« Verlegen hielt er inne.

Claire lachte amüsiert und drückte ihn fester an sich. »Mir gefällt wildes Küssen viel besser als Chinesische Mauern in meinem Kopf.«

Daniel stimmte verhalten in ihr Lachen ein. »Das kann ich mir denken. Aber das darf nicht wieder passieren. Wir dürfen uns nicht gegenseitig ablenken und müssen unsere ganze Aufmerksamkeit auf ihn richten.« Er holte tief Luft und sah sie ernst an. Allmählich kehrten seine Kräfte zurück. Ihm kam der Gedanke, dass sein Bruder durchaus seinen Anteil an der plötzlichen Schwäche haben könnte. Er manipulierte ihn, wo er nur konnte und er würde nicht ruhen, bis er sein Ziel erreicht hatte.

Sachte löste er sich aus Claires Umarmung, auch wenn er liebend gerne die nächsten tausend Jahre in ihrer Nähe verbracht hätte. Ihre Berührungen lenkten ihn ab; es war besser, auf Distanz zu bleiben. Er bezweifelte allerdings stark, dass er die dafür nötige mentale Stärke aufbringen konnte. Über kurz oder lang würde er garantiert zwischen ihren Schenkeln landen. Da sie absolut nichts dagegen zu haben schien, lag nur sein Widerstand als letzte Barriere zwischen ihm und ihrem Bett.

Sein Körper gegen den ihren gepresst, die Küsse, ihre Hände auf seiner nackten Haut – sie hatte das Spiel seiner Muskeln unter ihren Fingern gespürt und fühlte ein sehnsuchtsvolles Ziehen in ihrem Bauch. Ihr Innerstes schrie buchstäblich nach ihm und schalt sie eine Närrin, dass sie sich überhaupt von ihm gelöst hatte. Claire holte tief Luft und erinnerte sich an das Gefühl der eiskalten Finger an ihrer Kehle. Schlagartig verlor sie jegliche Lust und suchte mit ihren Augen den im Dämmerlicht immer dunkler werdenden Waldrand ab, nur um sicher zu gehen, dass niemand sie beobachtete. Sie schluckte zitternd und strich sich mühsam ihr Shirt glatt. Sie trug noch immer Joggingshirt und Laufhose. Die kühle Abendluft ließ sie frösteln. Daniel sah sie forschend an.

»Du frierst.« Er zog seinen Mantel aus und legte ihn ihr um die Schultern. »Ich bring dich zurück in deine Wohnung.«

Claire sah ihn mechanisch an, als er sie geschäftig einpackte und dabei bewusst vermied, sie zu berühren. Er hätte den Mantel mühelos zweimal um sie wickeln können und er wäre immer noch zu groß gewesen. Ihr Blick blieb an seinen muskulösen Oberarmen hängen, das dunkle Shirt eng um den Bizeps gespannt. Sie seufzte wehmütig. Ihn nicht dauernd anzusehen und entrückt zu schwärmen, würde verdammt schwer werden. Dieser Kerl war von Kopf bis Fuß pure Sünde. Dank seiner Größe bot er genug Raum für ihre Phantasien. Seine kräftigen Hände, seine Lippen, einfach alles. Allein der Gedanke, mit den Händen über seinen Bauch zu streicheln ... Claire schüttelte sich. Er hatte ja recht, erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Oh ja, und davon dann bitte jede Menge.

 

 

Kapitel 4

Sigrid hatte eine große Kanne Tee für Claire und eine weitere Kanne Kaffee für Daniel gekocht. Obwohl sie Daniels Idee, sich als Wachhund vor der Haustür zu platzieren, blödsinnig fand, war sie nicht weiter überrascht, als die beiden nicht so schnell zurückgekommen waren. Es bestand offensichtlich Klärungsbedarf. Als er mit Claire die Küche betrat, hatte sie bereits den Kühlschrank geplündert und den Tisch mit dessen kärglichen Inhalt bestückt. Claire musste dringend essen, denn die Bewusstseinskontrolle forderte nicht nur psychischen Tribut. Ihr Körper litt unter den Auswirkungen genauso wie ihr Geist. Daniel hingegen hatte seit Tagen nur lustlos im Essen gestochert, vielleicht konnte sie ihn ebenso zu ein paar Bissen überreden. Üblicherweise war er ein guter Esser und fürchtete keine noch so große Portion, aber die Suche nach seinem Bruder hatte ihm zugesetzt.

Mit gesenkten Köpfen schlichen beide in die kleine Küche und ließen sich auf die ihnen dargebotenen Stühlen sinken. Sigrid goss Daniel einen großen Pott Kaffee ein und reichte ihm den Becher wortlos. Nickend nahm er die Tasse und sah Sigrid kurz in die Augen. Sein Blick ging ihr durch Mark und Bein. Was zur Hölle war da draußen vorgefallen? Misstrauisch musterte sie ihn, als Claire mit der Schilderung der letzten Minuten begann.

Sigrid runzelte argwöhnisch die Stirn, als Claire von dem erneuten Angriff berichtete. Seufzend schüttelte sie den Kopf. Der Kerl war zu einer regelrechten Plage geworden! Die Erzählung jagte Sigrid eiskalte Schauer über den Rücken. Diese Skrupellosigkeit.

»Geht es dir gut, Claire?«, fragte sie besorgt und tätschelte beruhigend ihre Hand.

Sie nickte schüchtern, doch Sigrid wusste, dass es ihr nicht gut gehen konnte. Sie kannte ihn zu gut, wusste, dass er zu extremen Methoden neigte, aber dass er sogar Mord in Betracht zog, um seinem Bruder eins auszuwischen ... Als Claire sich Daniels Kuss von der Seele redete, wanderte ihr Blick vielsagend zu ihm. Er verschluckte sich hustend an dem Getränk und warf Sigrid argwöhnische Blicke zu. Als würde er nur auf ein Wort von ihr warten, um ihr mit bereits zurechtgelegten Worten über den Mund zu fahren. Ihr Blick wanderte bedeutungsvoll von Claire zu Daniel und zurück und auch er sah Claire an. Sigrid schluckte die Bemerkung herunter, diesen Gefallen würde sie ihm nicht tun! Aber die unterschwellige Wut und die aufkeimende Eifersucht konnte sie nicht ganz verbergen. Dieses Gefühl war ihr nicht unbekannt.

Sie wusste selbstverständlich, dass er immer wieder andere Frauen auswählte, aber niemals Menschen. Umso überraschter war sie, dass er sich ausgerechnet so ein graues Mäuschen wie Claire Esterbrooks ausgeguckt hatte. Sie war bei Weitem keine Schönheit, sie besaß weder reizvolle Kurven noch ein hübsches Gesicht. Aber irgendetwas an ihr hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Als er Sigrid auf diese Mission eingeladen hatte, war sie überglücklich gewesen. Es wärmte ihr Herz, dass er an sie gedacht hatte und sie genoss die gemeinsame Zeit. Ja, in ihrer Naivität war sie davon ausgegangen, dass er wieder in ihr Bett kommen würde. Stattdessen schleppte er ihr so ein menschliches Flittchen an! Und sie hatte ihn auch noch ermutigt, sich um sie zu kümmern. Ihre Neugierde auf Claire hatte sie das Offensichtliche übersehen lassen.

Claires verborgene Fähigkeiten hatten nicht nur Sigrids Interesse geweckt, auch Daniels Bruder interessierte sich offensichtlich brennend für sie. Wie hatte sie einen begabten Telepathen wie ihn abwehren können? Zugegeben, in der Lagerhalle war er von ihr überrascht worden. Daraufhin hatte er seine weiteren Attacken sorgfältiger vorbereitet und sie war ihm hilflos ausgeliefert gewesen. Worin bestand Claires Geheimnis? Sigrid war sich relativ sicher, dass die junge Frau nicht einfach nur ein Mensch war.

Tief durchatmend kontrollierte Sigrid ihren Zorn und zwang sich, das Gespräch fortzuführen. Zunächst musste sie das Bewusstsein dieses ... Mädchens erkunden. Dabei würde sich auch offenbaren, warum Daniel so großen Eifer für ihre Sicherheit an den Tag legte.

»Du musst lernen, dich gegen ihn zu schützen«, betonte Sigrid und warf Daniel einen giftigen Blick zu. Er sah sie flüchtig über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg an. Warum wich er ihr aus? Was hatte er zu verbergen? Sie kannte ihn zu lange, als dass sie in ihm nicht lesen konnte wie in einem offenen Buch. Hatte er etwa Gefühle für dieses nichtssagende Ding? Doch er schwieg und widmete sich stattdessen seinem Essen. Wohlwollend beobachtete sie sein beherztes Zugreifen. Wenigstens aß er.

Nachdenklich nippte sie an ihrem Tee. Ob er wusste, wie viel sie noch für ihn empfand? Wenn er tatsächlich ahnte, wie es um ihre Gefühle stand, schien es ihn herzlich wenig zu interessieren. Gequält schloss sie die Augen und beruhigte sich mit Hilfe einiger tiefer Atemzüge. Immer wieder redete sie sich ein, dass er sein eigener Herr war, sie bestimmte nicht, für wen er sich entschied. Aber ihre Eifersucht vernebelte ihr rationales Denken. Purer Neid beherrschte ihre Gedanken, während sie Daniel beim Essen zusah.

Sigrid war nicht hungrig. Ihr war der Appetit gehörig vergangen.

 

 

 

»Zeig es mir.«

Claire vertraute Sigrid nicht, ihre Blicke machten sie nervös. Diese Frau war ihr auf Anhieb unsympathisch. Und ihre gute Menschenkenntnis versagte bei Sigrid auf ganzer Linie. Die blonde Frau einzuschätzen, war ihr schier unmöglich. Unergründlich wie ein unbeschriebenes Blatt. Dennoch konnte Claire nicht leugnen, dass sie wohl in Sachen Verteidigung gegen einen Telepathen die beste – und ehrlich gesagt auch die einzige – Ansprechpartnerin war.

»Hast du Angst?«, hakte Sigrid nach und taxierte Claire berechnend.

Claire nickte. Natürlich hatte sie Angst! Unwillkürlich griff sie sich an den Hals und massierte die Stelle, an der sich die eisigen Finger um ihre Kehle geschlossen hatten. Ihre letzte Begegnung mit einem Telepathen war schlichtweg traumatisch verlaufen. »Ich wäre sehr naiv, wenn ich keine Angst hätte«, entgegnete sie. »Du willst schließlich auch in meinen Kopf eindringen! Ich kenne dich und deine Beweggründe nicht, warum du mir helfen willst, aber Daniel hat etwas von Mauern in meinem Kopf erwähnt und der Angriff vorhin hat mir gezeigt, dass ich dringend etwas unternehmen muss.« Sie wäre liebend gerne einfach davon gerannt, aber dieser Kerl tauchte überall auf und beeinträchtigte ihr Leben immer mehr! Wenn Sigrid ihr helfen wollte, musste sie ihre Hilfe annehmen. Im Augenblick vertraute sie ihr nicht, möglich, dass es irgendwann so etwas zwischen ihnen geben würde. Daniel war ihr einziger Berührungspunkt und Claire vertraute ihm. Das musste vorerst reichen.

Sigrid lächelte wenig vertrauenserweckend, aber Claire hatte auch nicht das Gefühl, dass der älteren Frau besonders viel an ihrem Zutrauen gelegen sei.

»Entspanne dich einfach, dir wird nichts geschehen«, schlug Sigrid vor, atmete tief ein und blies die Atemluft in einem gleichmäßigen Strom wieder aus. Dabei hielt sie die Lider geschlossen und streckte Claire ihre feingliedrigen Finger entgegen.

Claire seufzte und ergab sich in ihr Schicksal. Was blieb ihr auch anderes übrig, wenn sie nicht ein weiteres Mal in Daniels Bruder laufen und von ihm übernommen werden wollte? Also folgte sie gottergeben Sigrids Beispiel.

»Nimm meine Hände und führe mich.«

 

 

 

 

Sigrid gab Claire zwar das Gefühl, dass sie sich von ihr leiten ließ, aber als Empathin konnte sie Claires Gedanken dennoch in eine bestimmte Richtung lenken – ohne dass sie es bemerkte. Trotz Daniels Anwesenheit konnte sie der Versuchung nicht widerstehen und tastete behutsam nach Claires Gefühlen für ihn. Dabei fand sie nicht nur die Szene im Park vor, die sie mit wachsendem Zorn verfolgte. Oh nein, sie ertastete leidenschaftliches Verlangen und tiefe Sehnsucht. Pah, dieses dumme Ding. Sie wusste ja nicht, wer oder was er war. Wenn sie sich auf ihn einließ, würde sie sich gehörig die Finger verbrennen. Er würde niemals bei ihr bleiben können und sie bestenfalls verletzt und einsam zurücklassen. Sigrid lächelte boshaft und setzte ihre Wanderung fort. An Claires verzehrender Begierde hing eine weitere Begegnung. Neugierig folgte sie diesem Abzweig und fand sich in einer Bar wieder. Daniel und Claire saßen am Tresen und unterhielten sich, dann küssten sie sich plötzlich. Wütend fuhr Sigrid schließlich doch zurück und löste aufgebracht ihre geistige Verbindung mit Claire. Sie starrte zornig auf Daniel, der sie verständnislos ansah, doch statt sich ihren Gefühlen entsprechend wütend auf ihn zu stürzen, schob sie graziös ihren Stuhl nach hinten und erhob sich mit einer fließenden Bewegung. Sie würde sich doch nicht vor diesem ... Flittchen echauffieren!

»Würdest du mir bitte ein Gespräch unter vier Augen gestatten?«, säuselte sie verkniffen und lächelte scheinheilig. Daniel starrte sie verblüfft an, die Art, wie er seufzte, wies daraufhin, dass er genau wusste, worauf Sigrid anspielte. Er deutete zur Tür.

»Wie kannst du es wagen?«, zischte Sigrid, noch ehe er die Wohnzimmertür hinter sich geschlossen hatte. Abwartend starrte sie ihn an, wollte ihm keine vorgefertigte Erklärung in den Mund legen, nein, so einfach würde sie es ihm nicht machen!

»Was meinst du?«, fragte er unschuldig.

»Na dieses Flittchen! Wie konntest du dich mit einer wie ihr einlassen!!!«, fauchte sie. Daniel wich ihrem Zorn aus und schob gedankenverloren imaginäre Steinchen hin und her. »Hast du gar nichts dazu zu sagen?!«, zischte sie zornig. Keine Reaktion seinerseits! Verdammt noch mal! Warum konnte er sie nicht einfach irgendwie verteidigen? Dieses Schweigen war so unerträglich, dass sein Nichtstun ihren Zorn nur noch mehr anfachte. Als er sich schließlich doch zu einer Reaktion herabließ und den Kopf hob, sah sie bereits rot und holte zu einer kräftigen Ohrfeige gegen ihn aus. Mühelos fing er ihre Hand ab und schüttelte langsam den Kopf.

»Wie kannst du es wagen, die Hand gegen mich zu erheben!«, flüsterte Daniel erstickt. Sigrid zitterte vor Wut am ganzen Körper und versuchte, ihre Hand aus seinem eisernen Griff zu lösen. Sie wusste, dass sie den Bogen überspannt hatte. Ihm eine Ohrfeige verpassen zu wollen, kam Hochverrat gleich.

»Es ... tut ... mir ... », flüsterte sie stockend. Sie liebte ihn doch! Wieso verstand er das nicht? Claire war ein Nichts, ein Niemand! Ein verdammter und gewöhnlicher Mensch! Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Sie war ja hier, um ihre Fähigkeiten zu erkunden und vor seinem Bruder zu schützen. Oh man, warum hatte sie ihn nur ermutigt, ihr zu folgen!

Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie streckte vorsichtig eine Hand nach ihm aus, wollte ihn berühren und um Verzeihung bitten.

»Fass mich nicht an!«, knurrte er und wich ein paar Schritte zurück. Sigrid zog ihre Hand zitternd zurück. »Es tut mir leid«, murmelte sie mit gesenktem Blick.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739492438
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
thor nordische mythologie fremde welten urban fantasy liebesroman Romance Fantasy

Autor

  • Danara DeVries (Autor:in)

Danara DeVries ist das Pseudonym einer nerdigen Mutter von zwei Nachwuchs-Nerds. Das Schreiben eigener Texte ist ihr liebster Zeitvertreib und wenn sie nicht gerade durch virtuelle Welten hastet und mit Schwertern herumfuchtelt, versinkt sie in dem Kreieren romantischer Beziehungen mit Tragikfaktor.
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Titel: Weltenbrand: Das Erbe des Blutadels