Lade Inhalt...

Erzfieber

Ein Bergstadtkrimi

von Marcus Wächtler (Autor:in)
330 Seiten
Reihe: Bergstadtkrimi, Band 1

Zusammenfassung

Eine anonyme Millionenspende und das Verschwinden des Stadtkämmerers halten ganz Freiberg in Aufregung. Was hat das alles aber mit dem Selbstmord eines städtischen Beamten zu tun? Die junge Arzthelferin Ariane Itzen wollte eigentlich nur eine gute Tat vollbringen. Stattdessen gerät sie ins Visier einer mörderischen Verschwörung. Kann sie das Rätsel um »Erzfieber« lösen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Tag 1

 

Je mehr Ariane versuchte, sich zusammenzureißen, umso stärker nahm das Unbehagen in ihr weiter zu. Wobei Unbehagen wohl der falsche Begriff war – Abscheu würde es viel besser treffen. Mit ihren zarten 25 Jahren wusste sie noch nicht, ob sie für das Kommende überhaupt schon bereit war. Natürlich hatte sie eine entsprechende Ausbildung absolviert, beziehungsweise hätte die Weiterbildung sie auf genau diese Situation vorbereiten sollen, die sie gerade zu bewältigen hatte und an der sie so offensichtlich kläglich scheiterte. Zwischen der erlernten Theorie und der tatsächlichen Praxis lagen jedoch Welten.

Als sie den aufgeschnittenen Körper der Patientin vor sich sah, wurde ihr das nur zu schmerzhaft bewusst. Doktor Gronkowskie, seit gerade einmal einem Monat ihr neuer Chef, hantierte mit seinen Fingern und chirurgischen Werkzeugen im offenen Leib auf dem Operationstisch. Normalerweise wäre es ihre Aufgabe, dem Mediziner tatkräftig zur Hand zu gehen. Allerdings fühlte sie sich beim Anblick des geöffneten Bauchraumes nahezu paralysiert. Genau in diesem Moment kam ihr zu Bewusstsein, dass sie ihre berufliche Zukunft dringend überdenken sollte.

»Frau Itzen …! Hallo?«, drang sehr leise die Stimme des Arztes in ihren Verstand.

Ariane begriff, dass der Mann etwas von ihr wollte. Nichtsdestotrotz starrte sie den anästhesierten Körper auf der Operationsliege weiterhin an. Unmengen an Blut und Innereien tanzten vor ihren Augen einen wilden Reigen. Sie hätte lieber gar nicht darüber nachgedacht, dass sie selbst mit einem Retraktor den Schnitt weit offen hielt. Diese Vorstellung steigerte ihr Unwohlsein in ungeahnte Höhen. Dass sie dabei merklich zitterte, stellte nur ein weiteres Indiz ihres angeschlagenen Zustandes dar.

»Frau Itzen! Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, versuchte es der Doktor erneut.

Vor nicht einmal einem Monat hatte sie diese Stelle angetreten. Im Großen und Ganzen war der Job ein recht angenehmer. Mit ihren neuen Kolleginnen und Kollegen hatte sie sich auf Anhieb prächtig verstanden. Doktor Gronkowskie war zudem als Arbeitgeber ein sehr netter Mensch. Zu keiner Zeit ließ er den Chef heraushängen oder behandelte sie von oben herab. Eher im Gegenteil ging er mit all seinen Mitarbeitern sehr rücksichtsvoll um. So war es nicht verwunderlich, dass Ariane sich schon ab der zweiten Woche schnell eingearbeitet hatte. Das alles hatte sie aber nicht auf diesen Tag vorbereiten können. Wenn sie das nur vorher gewusst hätte!

»Ähm ja, es ist alles in Ordnung. Mir war nur nicht bewusst, dass es so blutig werden könnte.«

»Das ist schon okay. Das kann jedem beim ersten Mal passieren. Daran gewöhnen Sie sich mit Sicherheit noch«, versuchte der Arzt sie zu beruhigen.

Gerade das aber bezweifelte Ariane in dem Moment massiv. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, sich jemals damit abzufinden. Je mehr sie darüber nachdachte, desto absurder kam ihr der Gedanke vor. Entweder man war für diesen Job geboren oder eben nicht. In ihrem Fall schien die Antwort darauf relativ leicht – ein definitives Nein. In diesem Augenblick ging die Tür zum Operationszimmer auf.

»Herr Doktor! Wir haben einen Notfall. Könnten Sie kurz für eine Sekunde zu uns raus kommen?«, rief Stefanie, die ebenso für den Arzt arbeitete, mit gehetzter Stimme.

»Sehen Sie nicht, dass ich bis über beide Ohren beschäftigt bin? Wir sind mitten in einer OP.«

»Es ist wirklich eine Notsituation. Sonst würde ich Sie wohl kaum stören«, untermauerte Stefanie ihre Aussage, während sie noch immer in der Tür stand und dabei schnell ihre langen blonden Haare mit einem Zopfgummi zusammenband.

Stefanie war für Ariane in den vergangenen vier Wochen bereits zu einer Freundin geworden. Schon am ersten Arbeitstag hatte die Kollegin sie nach der Arbeit zu einem Glas Rotwein eingeladen und die beiden Frauen waren sich auf Anhieb sympathisch. Dass sie auf einer Wellenlänge zu sein schienen, lag vielleicht auch daran, dass Stefanie nur ein Jahr jünger war als Ariane. Allein dieser nette Umgang hatte für Ariane den Jobeinstieg um so vieles leichter gemacht. Bei ihrer vorherigen Arbeitsstelle hatte es in den kompletten fünf Jahren keinen so guten Kontakt zu den anderen Mitarbeitern gegeben. Hier bei Doktor Gronkowskie war es hingegen ab dem ersten Tag etwas vollkommen anderes. Zumindest bis vor einer halben Stunde, als der Arzt mit der Operation begonnen hatte.

In diesem Moment hätte Ariane die freundliche Kollegin aber am liebsten auf den Mond geschossen. Ihre Panik stieg an, als Doktor Gronkowskie tatsächlich von seiner Patientin abließ. Mit geübten Bewegungen streifte er sich den Mundschutz, die Handschuhe und die Schutzbrille ab. Beim Operationskittel musste Ariane dem Mann allerdings zur Hand gehen. Dies war jedoch genau die Art von Arbeit, wegen der sie hier angefangen hatte: Für leichte Assistenzaufgaben, die Verwaltung und Terminvereinbarung hatte sie sich eigentlich beworben. Davon, dass sie den Arzt bei Operationen unterstützen sollte, war nie die Rede gewesen. Dass sie selbst mit Geräten in den erkrankten Leibern herumstochern sollte, davon hatte nie etwas in der Stellenbeschreibung gestanden.

Mit einem dezenten Lächeln auf den Lippen verschwand der Arzt schon Sekunden später aus dem Raum. Panik machte sich in Ariane breit, nun allein für die Patientin verantwortlich zu sein. So sehr das angenehme Äußere des Arztes die Menschen sonst für sich einnahm, so sehr hasste Ariane den Doktor in dem Moment dafür. Sein stets so warmes Lächeln kam ihr urplötzlich verlogen und kalt vor. Das grau melierte Haar des Endvierzigers wirkte dabei nur umso affektierter auf sie. Vor allem die Augen und das nette Auftreten des eins achtzig großen Mannes erweckten in dem Augenblick den Eindruck eines penetranten Widerlings.

An ihrer hilflosen Situation änderte sich dadurch natürlich nichts. Sie befand sich vollkommen allein in dem Operationsraum mit einer frisch aufgeschnittenen Patientin. Das grellweiße Licht der Lampe über der Operationsliege strahlte in dem Moment unangenehm scharf in ihre braunen Augen. Ringsherum an den Wänden standen große verglaste Schränke, in denen alle möglichen Utensilien aufbewahrt wurden. Einzig ein Bild einer Gruppe von Katzen an der Stirnseite lockerte den sterilen Gesamteindruck zumindest ein wenig ab.

Innerlich verkrampfte sie sich immer mehr. Obwohl es Ariane klar war, dass es sich bei dem gerade durchgeführten Eingriff um keinen direkten Notfall handelte, kam es ihr durch und durch falsch vor. Ein Arzt sollte einen ihm anvertrauten Patienten auf gar keinen Fall sich selbst überlassen. Würde jetzt etwas Schlimmes passieren, wäre sie kaum in der Lage, dagegen einzuschreiten. Was passierte denn, wenn sich in dem Moment ein Wert auf dem Monitor mit den Vitalanzeigen veränderte? Ariane hätte nicht gewusst, was sie in solch einem Falle unternehmen sollte. Sie war nur eine einfache Schreibkraft – mehr nicht. Es war vollkommener Wahnsinn, sie in solch einer Situation allein zu lassen. Schon mit dem Doktor im Zimmer hatte Ariane sich gefragt, was zum Teufel sie hier überhaupt machte. Einem willenlosen Zombie gleich hatte sie die Anweisungen des Arztes ausgeführt. Nun jedoch war niemand mehr da, der ihr hätte sagen können, was sie machen sollte.

In dem Moment spürte Ariane ihre Hände, die sich schmerzhaft in eine Falte ihres Kittels gruben. Weiß traten die Knöchel hervor, als sie den Stoff immer fester zu kleinen Röllchen zusammenquetschte. Es war für sie nahezu eine übermenschliche Anstrengung, sich aus der eigenen Verkrampfung zu lösen.

Gleichzeitig fixierten ihre Augen den Monitor mit den Vitalzeichen. Der Herzschlag zeigte einen relativen normalen Wert von 130 Schlägen die Minute an. Auch der Blutdruck befand sich in einem vertretbaren Bereich. Im Geist malte Ariane sich aus, dass sie in der Lage wäre, diese Werte Kraft ihrer Gedanken auf dem gleichen Level zu halten. Vor allem hielt sie das davon ab, auf den geöffneten Leib hinunterzustarren. Just während dieser Überlegungen änderte sich der Puls der Patientin schlagartig auf 118. Heiß und kalt zugleich sackte nun ihrerseits der Blutdruck ab. Ariane spürte, wie ihr die Beine weich wurden. Genau diese Situation hatte sie befürchtet.

»So, da bin ich wieder«, erklang in dem Moment eine sie erlösende Stimme.

»Was war denn so wichtig, dass Sie während einer Operation nach draußen mussten?«, packte Ariane sowohl einiges an Vorwürfen, aber auch ein wenig ihrer Panik in die Entgegnung.

»Ein Cocker Spaniel hat seine eigene Zunge verschluckt. Eine Impfung jagte ihm dermaßen Angst ein, dass es zu dieser seltsamen Schockreaktion gekommen ist. Frau Müller hatte es nicht geschafft, den Rüden aus dieser misslichen Lage zu befreien. Manchmal ist bei so einer Sache etwas mehr Muskelkraft und Initiative gefragt.«

Während Doktor Gronkowskie sich erklärte, half Ariane ihm dabei, sich für den Fortgang der Operation einzukleiden. Selbstverständlich hatte sie Verständnis für die Notwendigkeit, dass der Arzt zu dem Notfall geeilt war. Letztlich war er in dem Moment der einzige studierte Mediziner in der kleinen Tierarztpraxis. Trotzdem waren die vergangenen fünf Minuten eine Erfahrung, auf die sie sehr gern verzichtet hätte. Verwundert sah Doktor Gronkowskie sie in dem Augenblick an.

»Ihre Augen wirken glasig. Ist auch wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ja, natürlich.« Nach einigen Sekunden des Schweigens revidierte Ariane jedoch ihre Aussage. »Eigentlich nicht. Tut mir leid, aber darauf war ich nicht vorbereitet.«

»Was meinen Sie?«, wollte der Tierarzt von ihr erfahren.

»Na, auf all das hier. Schließlich habe ich mich als Hilfe für den Anmeldebereich beworben.«

»Beim Gespräch haben Sie doch gesagt, dass Sie eine ausgebildete Sprechstundenhilfe wären?«

»Selbstverständlich, das bin ich auch. Ich bezog das aber mehr auf die verwaltungstechnischen Dinge. Verstehen Sie? Ich kann mit Computer und dem Internet ganz gut umgehen. Das hier«, und damit verwies Ariane auf den geöffneten Körper des hochschwangeren Chihuahuaweibchens, »ist etwas vollkommen anderes.«

»Na gut, dann holen Sie mir bitte Frau Müller herein«, versuchte Doktor Gronkowskie, das offensichtliche Dilemma zu lösen.

Statt einer Antwort nickte Ariane innerlich niedergeschlagen ihrem Chef zu. Im Hinausgehen vernahm sie die weiteren Worte des Arztes wie aus weiter Ferne.

»Wir sollten uns nach Ihrem Dienst zusammensetzen und über das hier reden.«

Ariane war sofort klar, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde. Letztlich befand sie sich noch in der Probezeit. Nachdem sie ihrer Kollegin Bescheid gegeben hatte, stand sie niedergeschlagen vor ihrem Spind im Personalraum. In dem kleinen Spiegel auf der Türinnenseite blickten ihr zwei müde braune Augen entgegen. Sonst eher groß und lebhaft, wirkten ihre Pupillen nunmehr wie die einer alten Puppe. Das halblange, dunkle Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie resignierend den Kopf auf die Brust sinken ließ.

Der Raum stürzte in der Sekunde fast auf sie ein. Die hohen, schmalen Metallschränke um sie herum erzeugten eine beängstigende Enge, so dass sie sich mit beiden Händen links und rechts abstützen musste, um nicht den Halt zu verlieren. In dem Moment war nichts mehr von dem stets so frischen und jugendlichen Mädchen zu sehen, das sonst immer vorhatte, die Welt für sich zu erobern.

Alles in allem war sie ihrer Meinung nach eine vollkommen normale Frau. Als richtig schön würde sie sich selbst nie bezeichnen. Allerdings hatten ihr schon etliche Männer gesagt, dass sie hübsch wäre. Ihr dunkles Haar konnte sich nicht entscheiden, ob es lieber lockig sein wollte oder doch eher glatt. Auch pendelte sie immer zwischen ein paar Kilo Hüftspeck und einer Strandfigur. Natürlich half ihr der Sport ein wenig dabei. Mehr als ein paar Kilometer Joggen in der Woche tat sie jedoch nicht. Gerade das hatte sie stets als vorteilhaft für sich gesehen. Die meisten ihrer Bekannten mäkelten an sich selbst herum. Im Gegensatz dazu war sie stets mit sich im Reinen. Ihr Leben, ihre Familie, der Job, die Freunde – komplett alles passte so weit. Zumindest bis zu diesem Tag jedenfalls. Ihr Versagen – und als solches betrachtete sie den Vorfall eben – war etwas vollkommen Neues für sie.

Ariane hatte ursprünglich eine Ausbildung zur Arzthelferin in einer allgemeinmedizinischen Praxis eines Freundes ihres Vaters absolviert. In der Allgemeinmedizin bekam man in den seltensten Fällen viel Blut oder etwas Ähnliches zu sehen. Selbstverständlich hatte sie mal einen Zugang gelegt oder eine Spritze gesetzt. Das waren aber die absoluten Ausnahmen. Im Normalfall hatte sie immer hinter dem Tresen gesessen und war dort für die Terminvergabe zuständig gewesen. Leider war ihr vorheriger Arbeitgeber schon nach ein paar Jahren in Rente gegangen.

Hin- und hergerissen hatte sie die Chance ergriffen und eine Weiterbildung zur Sprechstundenhilfe für Veterinärmedizin in Angriff genommen. Eigentlich hatte sie, seitdem sie denken konnte, etwas mit Tieren machen wollen. Die Patienten waren zwar andere, die Arbeit blieb jedoch weiterhin dieselbe. Termine ausmachen, Ausrüstung bestellen und am Ende der Behandlung das Geld abkassieren. Die Umstellung war ihr dabei erstaunlich leichtgefallen. Zumindest bis Doktor Gronkowskie sie heute Morgen gebeten hatte, ihm bei der Operation zur Hand zu gehen.

»He Ariane, alles in Ordnung bei dir?«, sprach Stefanie sie in dem Moment an.

Ariane hatte gar nicht bemerkt, wie ihre Kollegin ebenso in den Pausenraum getreten war. Offensichtlich war sie zu sehr in Gedanken versunken gewesen, um überhaupt etwas um sich herum mitzubekommen. Dieser Umstand war jedoch nicht weiter verwunderlich. Nach wie vor verspürte sie eine gewisse Schwäche in ihren Beinen. Die Aktion von eben würde sie wohl noch eine ganze Weile lang begleiten.

»Klar ist mit mir alles okay. Warum sollte mit mir etwas nicht stimmen?«

»Ich hatte … ich meine, das klang gerade so als …« Nach einer kurzen Pause wechselte Stefanie unvermittelt das Thema. »Was würdest du denn mit fünf Millionen machen?«

Ariane fragte sich, was Stefanie nun schon wieder damit meinte. Sie hatte Probleme, dem Gespräch zu folgen. Ohnehin ärgerte es sie, dass die Situation während der Operation offenbar bereits die Runde gemacht hatte. Natürlich war ihr klar, dass in der kleinen Praxis mit gerade einmal sechs Mitarbeitern sich so etwas schnell herumsprach. Aber so schnell?

»Na, wegen der Schenkung. Wenn mir jemand eine so große Summe überlassen würde, wüsste ich ganz genau, was ich damit anstellen könnte. So ein eigenes Haus in der Toskana wäre genau das Richtige für mich. Einfach im Winter in den Süden abhauen und die Kälte hinter mir zurücklassen.«

Noch immer verstand Ariane nicht, worum sich das Gespräch drehte. Auch Stefanie schien zu begreifen, dass ihre Kollegin nicht wusste, was sie von ihr wollte. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung hielt Stefanie ihr deswegen eine Zeitung vor das Gesicht. Ariane nahm die Tageszeitung in die Hand. In großen Lettern prangte auf der ersten Seite die Frage, woher die vielen Millionen kämen.

»Ähm, ich habe absolut keine Ahnung, worum es geht«, gestand Ariane unverblümt.

Ihre Kollegin verdrehte unvermittelt die Augen. Offensichtlich konnte sie nicht verstehen, dass jemand noch nicht von dem mysteriösen Umstand gehört hatte.

»Hast du tatsächlich noch nichts davon mitbekommen, Ariane? Das ist doch DAS Thema in der lokalen Presse. Es gibt da einen anonymen Spender, der Freiberg fünf Millionen Euro geschenkt hat. Es ist wie damals in Görlitz. Allerdings ist es ein bisschen mehr als bei den berühmten Altstadtmillionen. Genau genommen sogar richtig viel mehr.«

»Welche Altstadtmillionen?« Ariane war tatsächlich ahnungslos.

»Also«, holte Stefanie zu einer Erklärung aus. »Seit 1995 hat ein nicht namentlich genannter Gönner Görlitz jährlich über eine halbe Million zukommen lassen.«

»Wieso schenkt jemand einer Stadt so viel Geld? Und was hat Görlitz mit all dieser Kohle angestellt?«

»Die Spenden waren an verschiedene Bestimmungen geknüpft. Zumindest glaube ich, dass ich da mal etwas darüber gelesen habe. Angeblich musste mit dem Geld irgendwas in der Innenstadt aufgebaut werden. Die Görlitzer Altstadt ist während der DDR-Zeit ziemlich heruntergekommen. Ich habe Bilder gesehen. Das war kein schöner Anblick. Auch nach 1990 ist der Wiederaufbau eher nur schleppend angerollt.«

»Du denkst, dass das hier nun auch in Freiberg passiert?«, wollte Ariane wissen.

»Zumindest denkt der Redakteur dieses Artikels, dass es darauf hinausläuft. Ich meine, ohne Grund wird niemand der Stadt ganze fünf Millionen Euro spenden. Das ist jede Menge Schotter. Überleg doch einmal, was man mit dem Geld alles anstellen könnte! Ich verstehe nicht, wie jemand solch eine Summe so einfach weggibt.«

»Vielleicht hat er zu viel davon?«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht im Leben!«, warf Stefanie ungläubig ein. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass da mehr dahintersteckt. Als ob die Menschheit so selbstlos wäre. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen – fünf Millionen Euro. Wahnsinn.«

»Aber das Tierheim und die Tierklinik bekommen ebenso Spenden von den Leuten.«

»Das ist etwas vollkommen anderes. Mal ein paar Dosen Hundefutter, Spielzeug oder eine Leine abzugeben, ist eine komplett andere Geschichte, als einfach so mehrere Millionen Euro zu verschenken.«

»Was soll denn mit dem ganzen Geld werden?«, fragte Ariane, die nun doch Interesse für die Angelegenheit entwickelte.

»Das ist gerade das große Geheimnis. Die Stadtoberen schweigen sich darüber noch aus. Selbst die Schreiberlinge von der Zeitung wissen nichts Genaues. Alle fragen sich, ob die Spende an ähnliche Bestimmungen geknüpft ist wie in Görlitz. Dort musste man das Geld halt für bauliche Sachen ausgeben. Darum ist es heutzutage auch so schick in der Stadt.«

»Was will man denn in Freiberg noch restaurieren? Die komplette Altstadt sieht mittlerweile fast wie neu aus. Es existiert kaum mehr ein Haus, das man wiederherrichten müsste. Ich meine, selbst die alte Stadtmauer ist in einem tadellosen Zustand. Was bezweckt dieser unbekannte Typ mit so einer Aktion?«

»Tja, das ist die große Frage, die sich jeder in Freiberg stellt«, führte Stefanie weiter aus. »Der Artikel handelt von nichts anderem. Solange sich die Verantwortlichen im Rathaus aber noch bedeckt halten, schießen die Vermutungen wie Pilze aus dem Boden. Letztlich ist absolut alles möglich. Vielleicht soll das Geld sogar unter den Einwohnern aufgeteilt werden. Das wären zumindest hundert Euro für jeden. Mehr als haltlose Spekulationen sind das aber alles nicht. Der Umstand an sich ist dafür umso faszinierender. Meinst du nicht auch?«

Nickend gab ihr Ariane recht. Immerhin hatte das Gespräch sie auf andere Gedanken gebracht. Im Nachhinein kam sie sich fast schon dumm vor, wie sie auf die Situation mit der Operation reagiert hatte. Normalerweise hatte sie sich wesentlich besser unter Kontrolle. Natürlich war ihr klar, dass die ungewohnte Lage sie vollkommen überfordert hatte. Trotzdem war das keine Entschuldigung für ihren Beinahe-Zusammenbruch. Sie stellte an sich selbst ganz andere Ansprüche.

»Ich muss dann erst mal mit Doktor Gronkowskie reden«, teilte Ariane deswegen ihrer Kollegin mit. »Danke, dass du gerade für mich da warst. Das kleine Gespräch hat mir definitiv gutgetan.«

Mit einem Lächeln verschwand Stefanie daraufhin aus dem Pausenraum. Ariane nahm sich noch einmal ein paar Minuten Zeit, um sich zu sammeln. Eine große Tasse Kaffee würde ihr dabei mit Sicherheit helfen. Das war einer der Vorteile einer so gut laufenden Praxis: Der große und teure Kaffeevollautomat spuckte jederzeit ein erstklassiges Getränk aus. Solange sie allein in dem Personalraum sein würde, konnte sie die Stille nutzen, um wieder zu alter Stärke zurückzufinden.

Wie automatisch nahm Ariane die Zeitung zur Hand. Den Artikel über die mysteriösen Millionen hatte sie bereits überflogen. Da sie außerdem die Zusammenfassung ihrer Kollegin kannte, sparte sie sich das Weiterlesen für diesen Moment. Abgesehen von den üblichen Lokalnachrichten fiel ihr aber eine weitere Schlagzeile auf, in der stand, dass der städtische Kämmerer seit Tagen vermisst werden würde. Stirnrunzelnd überflog sie den Text, der jedoch kaum mehr als ein paar haltlose Vermutungen und Andeutungen enthielt. Demnach war besagter Heinrich Schirach schon vor Tagen auf dem Nachhauseweg vom Rathaus spurlos verschwunden. Zwischen den Zeilen wurden zudem Unregelmäßigkeiten bei den Finanzen angedeutet. Allerdings hielt sich die Autorin derart vage, dass es auch etwas ganz anderes bedeuten konnte.

In Gedanken witzelte Ariane darüber, dass in Freiberg urplötzlich jede Menge los war. In dem sonst so beschaulichen Städtchen schien tatsächlich einmal etwas Nennenswertes zu geschehen. Normalerweise waren die sonstigen Aufreger die, dass jemand die Enten mit Brot überfütterte oder es ging um die Parkplatznot in der Innenstadt. Allein die Millionen als Schenkung waren so sensationell, dass die Nachricht über das Verschwinden des Kämmerers zur Nebensächlichkeit mutierte. Den Namen Heinrich Schirach kannte Ariane, sie konnte nur nicht sagen, womit sie ihn verband. Vielleicht lag es daran, dass der Kämmerer ein öffentliches Amt bekleidete. Neben dem Oberbürgermeister und dem Landrat stellte der Kämmerer die drittwichtigste Position in der Gemeinde dar. Entsprechend war der Name wohl öfter in der Zeitung zu lesen gewesen. Allerdings war sie sich sicher, dass sie ihn auch außerhalb dieses Amtes kannte.

Das alles half ihr jedoch nicht bei ihrem Problem. Ariane war hin- und hergerissen. Noch immer fühlte sie sich sehr wohl und gut aufgehoben in dem Team der Tierarztpraxis Gronkowskie. Gleichwohl gab es nunmehr einige gewichtige Dinge, die sie beachten sollte. Vor allem die Tatsache, dass sie die Mithilfe bei Operationen vehement ablehnte, sprach gegen eine Weiterbeschäftigung. Zecken ziehen, eine Zyste aufschneiden oder eine Impfung setzen waren Arbeiten, die sie ohne Probleme erledigen konnte. Das hatte sie schon zur Genüge in den ersten vier Wochen ihrer Anstellung erledigt. Sollte Doktor Gronkowskie aber von ihr erwarten, ihm weiterhin bei chirurgischen Eingriffen zu assistieren, müsste sie wohl oder übel die Kündigung einreichen. Das alles jedoch unter der Voraussetzung, dass der Tierarzt ihr mit einer Entlassung nicht zuvorkommen würde. Zu viele Wenns und Abers standen bei ihren Erwägungen gerade im Raum. Wahrscheinlich war es sinnvoll, wenigstens eine Nacht über diese Dinge zu schlafen. Der Arzt hatte allerdings angedeutet, dass er das Thema sehr gern schon heute bei Dienstende mit ihr besprechen wollte. In gewisser Weise hatte er recht. So einen Vorfall beizeiten aus der Welt zu schaffen, war besser, als das Gespräch auf die lange Bank zu schieben.

Diese Gedanken beständig zu wälzen, brachte Ariane nicht weiter. So entschloss sie sich, einfach mit ihrer normalen Arbeit weiterzumachen. Wieder halbwegs mit sich im Gleichgewicht, verließ sie den Personalbereich. Im Wartezimmer befand sich Stefanie hinter dem Empfangstresen am Telefonhörer. Im Vorbeigehen hörte Ariane die ihr nur zu vertrauten Floskeln.

»Wenn Sie den Termin nicht wahrnehmen können, dann rufen Sie uns wenigstens an, um ihn abzusagen. Ansonsten sind wir außerstande, Ihnen neue Termine zu geben. Dann müssen Sie so herkommen und warten, bis Sie an der Reihe sind. Wir haben nicht unbegrenzt …«

Offensichtlich stritt sich ihre Kollegin einmal mehr mit einem Haustierbesitzer, welcher die Sache mit der Terminabsprache eher für einen Vorschlag hielt. Oft kam es vor, dass am Vormittag Menschen anriefen, weil es ihrem Liebling gerade ganz besonders schlimm ging und sie am selben Tag noch dringend einen Arzttermin benötigten. Ein paar Stunden später meldeten sie sich hingegen schon gar nicht mehr, da sich das Problem offenkundig von selbst erledigt hatte. Die Praxis kämpfte bereits seit längerem mit dieser Art der Laxheit bezüglich Vereinbarungen. Im Moment war dies jedoch Stefanies Ärger. Am Nachmittag wäre Ariane dann wieder dran, sich damit zu beschäftigen.

 

Der Wartebereich, den sie gerade durchquerte, war rappelvoll mit mehreren Haustierbesitzern samt Körben, Käfigen oder Taschen besetzt. Nach einer weiteren Tür folgte die Wachstation der Tierarztpraxis. Gerade bei akuten Fällen war es wichtig, die Tiere über Stunden oder Tage hinweg zu beobachten. Nach Operationen behielt Doktor Gronkowskie die kleinen Patienten sehr gern mindestens über eine Nacht in der Praxis. Vor allem die Anästhesie war bei kleinen Haustieren wesentlich problembehafteter als bei großen Tieren oder bei Menschen. Hunde und Katzen, die nur ein paar Kilogramm auf die Waage brachten, sprachen ganz anders auf eine Betäubung an als ihre kräftiger gebauten Artverwandten.

Deswegen war es Arianes Aufgabe, möglichst im Halbstundenrhythmus nach den Tieren zu schauen. Theoretisch hätte ihre Kollegin Frau Müller die Arbeit erledigen sollen. Aufgrund des Zwischenfalls von vor einer halben Stunde arbeitete Frau Müller aber noch immer im Operationszimmer. Käfig für Käfig ging Ariane nun die einzelnen Patienten ab. Sonderlich komplizierte Fälle befanden sich zum Glück nicht unter den Haustieren.

Ein Russkiy Toy mit Durchfall, zwei sterilisierte Katzen und ein Kaninchen mit einer stark zerquetschten Pfote stellten die eigentlichen Problemfälle dar. Den Tieren ging es den Umständen entsprechend. Besondere Sorgen musste Ariane sich um die Patienten jedenfalls nicht machen. Vor einem Käfig mit einer kunterbunten Promenadenmischung blieb sie nachdenklich stehen. Ein Blick auf den Laufzettel an der Tür ergab, dass der Name des kleinen Patienten Charlie war.

Zwei sehr traurig dreinblickende Augen zeigten ihr auf, dass es dem Hund nicht gut ging. Allerdings lag das nicht an einer Erkrankung oder Verletzung. Bereits seit drei Tagen wartete der Rüde darauf, von seinem Besitzer abgeholt zu werden. Dass dies immer noch nicht geschehen war, stimmte Ariane sehr betrübt. Einen Vierbeiner derart lange beim Tierarzt zu lassen, fiel schon fast unter den Tatbestand der Tierquälerei. Charlie hatte vor Tagen eine Tollwutimpfung nicht sonderlich gut vertragen. Der Halter hatte den Hund nach wenigen Stunden zurückgebracht. Zur Überwachung war der Mischling schließlich über Nacht in der Praxis geblieben. Am Morgen ging es dem Rüden glücklicherweise bereits wieder prächtig. Gleichwohl hatte sich der Besitzer am nächsten und übernächsten Tag nicht in der Praxis gemeldet.

Eigentlich war Ariane davon ausgegangen, dass sich längst jemand des Falls angenommen hätte. Dem war offensichtlich aber nicht so. Zu allem Überfluss begann der Hund damit, lauthals zu winseln. Mit einem Seufzer öffnete Ariane den Käfig. Augenblicklich ging ein Ruck durch die kleine Promenadenmischung. So wie sie ihre Hände in das Krankenlager hineinsteckte, robbte der Vierbeiner nach vorn, um sie mit seiner nassen Zunge zu begrüßen. Noch ehe Ariane sich versah, spürte sie die glitschige Zunge des Hundes über ihr Gesicht streifen. Überglücklich darüber, dass überhaupt einmal jemand kam, um sich mit ihm zu beschäftigen, zeigte Charlie seine ganze Zuneigung.

»Ja, ist schon gut, mein Großer. Du bist ein Feiner. Ich bin ja hier«, versuchte sie, den Hund zu beruhigen.

Dieser ließ jedoch nicht von seiner Liebesbekundung ab. Zu langweilig schien es dem Mischlingshund in der letzten Zeit in dem Käfig gewesen zu sein. Nach wie vor leckte er mit seiner Zunge über ihre Unterarme, während Ariane ihn kraulte.

»Vielleicht ist es eine gute Idee, wenn du hier mal herauskommst.«

Unvermittelt hob sie die knapp kniehohe Promenadenmischung aus dem Käfig heraus. An einem Haken neben der Tür hingen einige Leinen und Spielzeuge in verschiedenen Größen, um mit den Patienten Gassi gehen zu können. Als Charlie begriff, was ihm bevorstand, wedelte er vergnügt mit dem Schwanz. Offensichtlich war für den Hund alles besser, als in dem Käfig tagelang auf das Herrchen zu warten.

Im Hof der Praxis befand sich eine schmale Grünfläche, die direkt dafür gedacht war, den Tieren ein wenig Auslauf zu gönnen. Schon nach ein paar Sekunden beschloss Ariane für sich, dass die Leine nicht nötig wäre. Lebhaft genoss Charlie sofort seine Freiheit. Losgelöst drehte der aufgebrachte Rüde einige wilde Runden auf der kleinen Fläche. Anschließend blieb er freudig schwanzwedelnd vor Ariane stehen. Seine Augen waren schlagartig nicht mehr so traurig. Mitleiderregend strahlten sie Ariane nahezu an. Offenkundig wusste der Hund genau, was sich in ihrer Tasche versteckte.

Kaum dass sie den Gummiknochen in ihren Händen hielt, hüpfte Charlie übermütig an ihr hoch und runter. Er konnte es nicht erwarten, dass sie das Spielzeug zum Apportieren wegwarf. Wie von der Tarantel gestochen schnellte das Tier hinter dem Gummiknochen her, um ihn im Anschluss brav vor ihr abzulegen. Offensichtlich hatte sein Herrchen Charlie gut abgerichtet. Umso mehr verspürte sie ein Stechen in ihrer Brust, weil der Besitzer des Vierbeiners ihn nicht aus der Praxis abholte. Niemand sollte seinen treuen Begleiter ungestraft irgendwo parken, ohne sich zu melden. Natürlich war es richtig, manche Tiere über Nacht zur Beobachtung beim Tierarzt zu belassen. Den nunmehr dritten Tag ohne ein Lebenszeichen des Halters hielt sie für vollkommen verantwortungslos.

In dem Moment beschloss Ariane, dass sie sich des Problems annehmen musste. Nach der zehnminütigen Auslaufrunde verbrachte sie Charlie erneut in seinen Käfig. Kaum dass sie die Tür geschlossen hatte, trat neuerlich dieser unglaublich traurige Ausdruck in die Augen des Mischlingsrüden. Sie musste sich förmlich dazu zwingen, das Zimmer zu verlassen, ohne dem Hund einen weiteren Blick zuzuwerfen und weich zu werden.

»Was ist denn mit dem Besitzer von Charlie?«, fragte sie Stefanie besorgt, die weiterhin im Empfangszimmer saß.

»Das Problem beschäftigt mich auch schon die ganze Zeit. Ich habe absolut keine Ahnung, was mit Herrn Bublitz los ist. Normalerweise ist er ein sehr verantwortungsvoller Hundehalter. Nie lässt er eine Entwurmung oder einen Impftermin verstreichen.«

»Aber? Ich meine, Charlie ist bereits seit drei Tagen hier. Oder irre ich mich da?«

»Nichts aber – das sehe ich genauso. So etwas hat Herr Bublitz noch nie gemacht. Ich kenne den Mann nun schon seit ein paar Jahren. Er ist sozusagen Stammgast bei uns. Deswegen ist es mir absolut unerklärlich.«

»Hast du ihn mal angeruf…?«

»Natürlich habe ich versucht, ihn telefonisch zu erreichen«, fiel die Kollegin Ariane ins Wort. »Denkst du, ich bin blöd? Ich habe ihm E-Mails geschrieben und beinahe schon zehn Mal auf den verdammten Anrufbeantworter gesprochen. Es hat alles nichts genützt. Der Mann meldet sich einfach nicht zurück. Ich weiß nicht, was ich sonst unternehmen soll. Wir sind ja kein Hundehotel oder die Wohlfahrt.«

»Ist ja okay. Das war nicht als Vorwurf gemeint. Mich hat halt nur der arme Charlie interessiert. Das ist so ein Lieber.«

»Du, sorry. Ich wollte dich nicht anfahren«, zeigte sich Stefanie versöhnlich. »Ich finde die Situation ebenso zum Kotzen. Der Typ kann sich definitiv etwas anhören, wenn er herkommt, um seinen Hund abzuholen.«

Gemeinsam lächelten sie sich an, als die Sache damit geklärt war. Einhellig unterstellten sie beide diesem Herrn Bublitz, dass er ein verantwortungsloses Arschloch sei. Dass ihm vielleicht etwas passiert sein konnte, hielten sie für nicht sehr wahrscheinlich. Auf jeden Fall würde eine gepfefferte Rechnung auf den Mann warten. Mehrere Übernachtungen auf der Betreuungsstation der Praxis kosteten ihren stolzen Preis. Letztlich musste eine Schwester die ganze Nacht über da sein, um auf die kleinen Patienten aufzupassen.

Der restliche Arbeitstag flog für Ariane wie in Windeseile dahin. Doktor Gronkowskie war über beide Ohren mit Problemfällen eingedeckt. Zu den Tieren, die einen Termin hatten, gesellten sich zusätzlich jede Menge tatsächliche und vermeintliche Notfälle. Zum Glück nötigte der Tierarzt Ariane nicht dazu, noch einmal einer blutigen Operation beizuwohnen. Entsprechend gestaltete sich für sie die verbleibende Arbeit absolut gewöhnlich. Eher im Gegenteil genoss sie die Gleichförmigkeit des Telefon- und Tresendienstes.

Zum Ende ihrer Schicht drehte Ariane eine letzte Runde in dem Zimmer mit den Käfigen. Nach wie vor lagen die frisch operierten Patienten ziemlich teilnahmslos herum. Einzig von Charlie wusste sie, dass ihm nichts fehlte. Umso mehr überraschte es sie, dass der Vierbeiner bei ihrem Eintreten zu fiepen begann.

»Was ist denn los, mein Großer? Hältst du es etwa nicht mehr aus? Ich kann aber leider nichts für dich machen. Es tut mir leid.«

Wie als Antwort robbte die Promenadenmischung näher an die Gitterstäbe heran. Verzweifelt versuchte der Vierbeiner, seine Schnauze oder wenigstens die Zunge hindurchzustecken. Nichts wollte der kleine Racker mehr, als einen Kontakt zu einem anderen Lebewesen herzustellen. Ariane war es in dem Moment fast so, als würde ihr das Herz in der Brust zerspringen. Würde sie in der Sekunde einfach weitergehen, könnte sie sich das niemals verzeihen. Sie war nicht Schwester geworden, um derartige Qualen teilnahmslos hinzunehmen.

Kurzentschlossen öffnete sie Charlies Box. Kein Hund hatte es verdient, auf solch eine Art und Weise leiden zu müssen. Kaum befand sich der Rüde außerhalb des Käfigs und an der Leine, erwachte er förmlich zu neuem Leben. Sein Schwanz wedelte in unübersehbarer Freude hin und her. In dem Augenblick kam sich Ariane ein klein wenig manipuliert vor. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass Hunde zu derartigen Beeinflussungen in der Lage waren. Nein, das war lediglich eine Vermenschlichung, wie sie unfähige Hundehalter nur zu gern an den Tag legten. Charlie war halt froh darüber, endlich aus seinem Gefängnis herauszudürfen. Sie wäre ein Unmensch gewesen, hätte sie den Vierbeiner in den Käfig zurückgezwängt.

Jetzt benötigte sie nur noch eine Genehmigung von ihrem Chef, um ihren frisch gefassten Plan in die Tat umzusetzen. Als hätte sie es gewusst, fand sie Doktor Gronkowskie zusammen mit Frau Müller im Eingangsbereich vor. Über Akten gebeugt, schienen die beiden die Fälle des aktuellen Tages zu besprechen. Die nachdienstliche Auswertung war mitunter genauso arbeitsintensiv wie die ganzen Untersuchungen. Oftmals mussten Krankheiten oder Infektionen an die Behörden gemeldet werden. Zudem galt es, neue Impfstoffe, Ausrüstung und Medikamente zu bestellen. Außerdem mussten die Rechnungen an die Halter gestellt werden. Besonders Doktor Gronkowskie gab oft einen Rabatt, wenn ein Haustierbesitzer finanziell nicht so gut aufgestellt war.

»Nun, Frau Itzen, wo wollen Sie denn mit Charlie hin? Es ist schon kurz nach 18 Uhr. Haben Sie denn nicht bereits Feierabend?«, fragte der Arzt sie direkt heraus.

»Ähm, ja schon. Aber … wissen Sie eigentlich, wie es dem Charlie hier geht? Seit drei Tagen befindet er sich bei uns. Wir haben hier viel zu wenig Zeit, um uns um das arme Tier zu kümmern. Der Hund leidet, wenn er den kompletten Tag einsam in dem Käfig verbringen muss.«

»Das ist vollkommen richtig. Ich halte diesen Zustand ebenso für, sagen wir einfach einmal: fragwürdig. Das beantwortet aber noch nicht meine Frage.«

»Wenn Sie es gestatten, würde ich mit Charlie bei seinem Herrchen vorbeigehen. Ich werde den Vierbeiner bei Herrn Bublitz direkt abgeben. Zumindest kann ich da gleich mit dem Herrn ein ernstes Wörtchen reden.«

Statt eine Antwort zu geben, schmunzelte Doktor Gronkowskie nur still in sich hinein. Offensichtlich schien ihm ihr Enthusiasmus zu beeindrucken. Letztlich erledigte Ariane diesen Weg nach ihrer Arbeit und aus freien Stücken. In anderen Praxen oder Firmen war das mit Sicherheit nicht selbstverständlich. Unverwandt richtete der Doktor seine Aufmerksamkeit wieder auf die Unterlagen, die vor ihm ausgebreitet dalagen.

»Dann nehmen Sie bitte die Rechnung für den guten Herrn Bublitz gleich mit. Wir wollen nicht, dass der Mann wegen dieser Unannehmlichkeit noch einmal zu uns kommen muss. Wer weiß, wie sein Terminkalender ausschaut«, fügte Frau Müller noch an.

Nun stahl sich auch ein Lächeln ins Gesicht der älteren Arzthelferin. Frau Müller war als Mittfünfzigerin die dienstälteste Angestellte in der Praxis. Mit dem schon leicht ergrauten Haar und den vielen kleinen Fältchen im Gesicht wirkte sie wie die sprichwörtliche Oberschwester aus einer TV-Sendung. In ähnlicher Weise leitete sie die Belegschaft als eine Art Stellvertreterin. Gleichermaßen wie Doktor Gronkowskie war sie eine durchweg nette, mitfühlende und ehrliche Person. Allerdings achtete Frau Müller penibel darauf, dass der Dienstplan und die Vorschriften eingehalten wurden. In diesen Bereichen ließ sie nicht mit sich spaßen. Letztlich kümmerte und löste sie die ganzen kleinen Problemchen und Anfragen, die sich im Laufe eines Tages ergaben.

»Das werde ich auf jeden Fall machen. Verlassen Sie sich auf mich«, sprach Ariane sowohl den Doktor als auch ihre Kollegin an. »Und wegen heute Nachmittag …«

»Darüber reden wir ein anderes Mal. Ich glaube, das hier ist der falsche Moment, um dieses Problem zu erörtern«, fiel ihr Doktor Gronkowskie ins Wort.

Mit einem Nicken ließ Ariane es damit auf sich bewenden. Allerdings war es ihr nicht entgangen, dass ihr Chef den Vorfall als Problem bezeichnet hatte. Ohne Weiteres würde es der Tierarzt offensichtlich nicht auf sich beruhen lassen. Über kurz oder lang musste Ariane sich mit dem Thema auseinandersetzen. Dabei war sie sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt in der Tierarztpraxis bleiben wollte. Tief in ihrem Bauch spürte sie noch immer das flaue Gefühl, das sie wegen der Operation bekommen hatte. Normalerweise hörte sie auf ihr Bauchgefühl.

Charlie gab ihr indes zu verstehen, dass er sehr gern raus wollte. Die wenigen Minuten im Hinterhof reichten kaum aus, dem Hund genügend Bewegung zukommen zu lassen. So ein Tier benötigte definitiv weitaus mehr Auslauf, als die Schwestern auch nur im Ansatz in der Lage waren, ihm in der knapp bemessenen Zeit zu gönnen. Mit Ach und Krach schaffte es Ariane, die Rechnung für Herrn Bublitz auszudrucken. Die auf dem Briefkopf angegebene Straße, die Charlies Besitzer als seine Adresse hinterlassen hatte, kannte sie gut. Sie lag nur unweit entfernt von der Praxis. Sekunden später zog sie der Rüde voller Vorfreude in Richtung Ausgang.

Vor der Tür wartete zu ihrer Überraschung Stefanie auf sie.

»Du bist noch hier? Ich dachte, du wärst längst gegangen«, stellte Ariane fest.

»Das wollte ich auch. Dann habe ich aber durch die Scheibe gesehen, dass du gerade aufbrechen wolltest. Als ich Charlie bei dir entdeckt habe, war mir alles klar.«

»Willst du vielleicht mit zu diesem Herrn Bublitz kommen?«

»Auf jeden Fall. Zu zweit können wir diesem Typen viel besser die Meinung geigen«, brachte Stefanie im Brustton vollster Überzeugung heraus.

Befreit lachten sie beide auf. Dass die Kollegin sie auf diesem Weg begleiten würde, beruhigte Ariane ungemein. Vor allem dankte sie der Freundin dafür, dass sie einfach nur da war. In dem Moment war sie definitiv mehr als nur eine Arbeitskollegin. Gemeinsam machten sie sich schweigend auf den Weg. Jede hing den eigenen Gedanken nach. Charlie nutzte derweil die Zeit, um ausgiebig seine Duftmarken am Rand des Weges zu setzen. Letztlich hatte er in den letzten Tagen keine Möglichkeit dazu gehabt. Gut erzogen, wie der Hund war, zog er aber zu keinem Zeitpunkt an der Leine.

»Was ist Charlie überhaupt für eine Rasse?«, fragte Stefanie nach einer Weile, während sie die Burgstraße in Richtung Schloss entlangschlenderten.

»Wenn ich das nur wüsste. Da sind, glaube ich, mindestens vier oder fünf Rassen mit drin. Den Körperbau und die Beine hat Charlie definitiv von einem Dackel abbekommen. Das erkennt man ziemlich eindeutig.«

»Die Schnauze kommt mir aber mehr wie die von einem Jack Russell vor. Wobei, die Ohren passen kaum dazu. Oder etwa nicht? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, die sind von einem Labrador.«

»Die Ohren gehören auf jeden Fall zu einer anderen Art. Ob es ein Labrador ist, kann ich nicht sagen. Irgendein Spaniel ist da aber auch noch mit drin. Von diesem seltsamen hell- und dunkelbraun gescheckten Fell kann man kaum auf einen der Vorfahren schließen.«

»So gesehen hast du vollkommen recht. Nennen wir ihn einfach einen Charlie. Das beschreibt die Sache wohl am besten«, fasste Stefanie das Kaleidoskop des möglichen Stammbaums zusammen.

In diesem Moment blieb Ariane wie angewurzelt stehen. Sie hatten gerade die Kreuzung erreicht, in der sie abbiegen mussten, um zu Herrn Bublitz’ Adresse zu gelangen. Mehrere Polizeiwagen, ein Arzt und ein Rettungswagen versperrten ihnen jedoch den Weg. Bei einem Sixpack flimmerte sogar noch das Blaulicht auf dem Dach. Ariane war sich nicht sicher, doch meinte sie, dass die Wagen genau vor dem Haus standen, zu dem sie auch wollten.

Mit düsteren Vorahnungen bewegten sich die beiden Frauen unsicher in die kleine Gasse hinein. Sowohl neugierig als auch argwöhnisch suchten ihre Blicke die nähere Umgebung ab. Ungeachtet dessen war nirgendwo eine Menschenseele auszumachen. Niemand befand sich in der Nähe, den man hätte um eine Auskunft bitten können. So hatten sie keine andere Wahl, als sich an den kreuz und quer stehenden Einsatzfahrzeugen vorbeizuschieben. In den Autos saß ebenso keine einzige Person. Es wirkte wie ein menschenleeres Stillleben.

Der Hund an ihrer Seite witterte gleichfalls, dass etwas nicht in Ordnung war. Letztlich war das hier sein Revier. Der Mischlingsrüde kannte die Straße mit Sicherheit in- und auswendig. Arianes Vorahnungen bestätigten sich immer mehr, als sie vor dem Gebäude ankamen. Beide Flügel der Zugangstür standen sperrangelweit offen. Dahinter war der Hausflur hell erleuchtet. Etwas eng und mit gewölbter Decke, entsprach das Gebäude einem typischen Altbau der mittelalterlichen Innenstadt. Seltsamerweise war weiterhin keine Menschenseele zu entdecken. Irritiert sahen sich die beiden Kolleginnen an.

»Ich weiß nicht. Sollen wir wirklich?«, fragte Stefanie unsicher.

»Wir müssen nur Charlie abgeben und die Rechnung aushändigen. Ich wüsste nicht, warum wir das nicht sollten. Wir haben nix angestellt.«

Mit diesen Worten gab sich Ariane einen Ruck. Mit festem Schritt nahm sie die Treppen in Angriff. Sie wusste aber nicht, in welchem Stockwerk der Mann wohnte. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Namen der Klingelschilder zu kontrollieren. Weder im Erdgeschoss noch im ersten Stock fanden sie die gesuchte Tür. Mehr und mehr fühlte Ariane ein komisches Gefühl im Bauch. Sonderlich viele Möglichkeiten gab es nicht, um sowohl die ganzen Polizisten und Rettungssanitäter als auch Herrn Bublitz zu finden.

Schon nach ein paar Sekunden bestätigten sich ihre Vermutungen, nachdem Charlie vehement an seiner Leine zu ziehen begann. Da er dies den ganzen Weg über nicht getan hatte, überraschte Ariane der plötzliche Ruck. Obwohl sie versuchte nachzugreifen, riss sich der Rüde los. So schnell der Hund konnte, überwand er die letzten Stufen und hetzte im zweiten Stock durch eine offene Wohnungstür. Erst lauthals bellend, dann immer leiser werdend, verschwand der Mischlingsrüde innerhalb der Wohnung. Stefanie und Ariane blieb nichts anderes übrig, als dem Vierbeiner hinterherzulaufen.

»Gottverdammt noch mal! Wer hat dieses dämliche Tier hereingelassen? Geht’s vielleicht noch? Wieso ist niemand an der Tür? Kann sich jemand mal um das Vieh hier kümmern?«, erfolgte eine ganze Kaskade laut gebrüllter Flüche von drinnen.

Automatisch waren die beiden Frauen dem Hund in die Wohnung gefolgt. Ein dunkler Flur führte von der Eingangstür in die Altbauwohnung hinein. Noch immer hatte Ariane die Hoffnung, Charlies Leine wieder zu fassen zu bekommen. Irgendetwas war hier vorgefallen. Ein freilaufender Hund würde der Situation mit Sicherheit nicht guttun. Noch vor dem Eingang zu dem Zimmer, aus dem die Kraftausdrücke zu hören gewesen waren, prallte sie unvermittelt in einen gerade nach draußen stürmenden Menschen. Getragen von dem Aufprall stolperte Ariane ein paar Schritte zurück. Hätte ihre Kollegin nicht helfend die Hände nach ihr ausgestreckt, wäre sie wahrscheinlich schmerzhaft auf dem Hintern gelandet. So schaffte es Ariane gerade noch, das Gleichgewicht zu halten.

»Verdammich, können Sie nicht aufpassen!«, verließ nun ihrerseits ein Fluch die Lippen.

»Ich? Ja, sagen Sie mal, sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, hielt sich der vor ihr stehende Mann ebenfalls nicht mit Vorwürfen zurück. »Was gehen Sie mich denn an? Sind Sie noch ganz bei Trost?«

Hier nun war Ariane zum ersten Mal in der Lage, sich den Menschen anzuschauen, gegen den sie so schmerzhaft geprallt war. Obwohl der Fremde normale Kleidung trug, war sie sich sicher, einen Polizisten vor sich zu haben. Anders ließ sich dessen Auftreten, gepaart mit den Einsatzwagen vor dem Haus, kaum erklären. Sie schätzte ihn auf gerade einmal Anfang dreißig. Jeans, ein modisches hellblaues, oben offenes Hemd und ein dunkles, sportliches Sakko unterstrichen ein gewisses Understatement. Mit seinen blauen Augen, einer schlanken Figur und dem athletischen Erscheinungsbild war der Typ durchaus als ganz ansehnlich zu bezeichnen.

»Was zum Geier wollen Sie hier?«, blaffte ihr Aufprallopfer sie neuerlich an. »Und haben Sie diese Töle mitgebracht? Das kann ja wohl nicht sein, dass Sie hier ungefragt einfach hereinpoltern. So etwas habe ich in meiner ganzen Karriere noch nicht erlebt.«

Augenblicklich legte Ariane den netten äußeren Eindruck zu den Akten. Sie konnte Menschen partout nicht leiden, die derart über Tiere redeten. Daneben empfand sie sein Auftreten als äußerst unsympathisch. Was nützt es, wenn man ein attraktiver Schönling war, aber der innere Kern eher einer verfaulten Tomate entsprach?

»Diese sogenannte Töle ist ein lieber und gut erzogener Hund. Außerdem wüsste ich nicht, was Sie das angehen sollte. Ich bringe den Vierbeiner nur zu seinem Herrchen zurück. Wie wäre es, wenn Sie sich bei mir entschuldigen würden?«

»Was soll ich? Geht’s Ihnen vielleicht noch gut?«, wurde der Fremde noch ausfallender. »Wer hat Sie hier überhaupt hereingelassen? Sie können hier nicht einfach so herumtrampeln!«

In der Sekunde bemerkte der Typ offensichtlich Stefanie, die stumm das sich ihr bietende Schauspiel beobachtete, und funkelte nun auch sie böse an. Allerdings verkniff er sich jedwede weiteren Flüche und Beschimpfungen. Kurzzeitig kehrte eine seltsame Stille in den dunklen Flur ein. Einzig Charlies wehleidiges Winseln war aus dem Nachbarraum zu hören.

Ariane fragte sich, was den Hund zu einer derartigen Reaktion veranlassen könnte. Selbst im Käfig waren die Geräusche des Rüden nicht so herzerweichend gewesen. Mit Vehemenz drückte sie sich deswegen an dem unhöflichen Unbekannten vorbei. Egal, was in dem Raum gerade passierte, sie hatte vor, der Sache auf den Grund zu gehen.

»Na, hören Sie mal! Sie können doch nicht …«, vernahm Ariane noch, als sie im Türrahmen wie angewurzelt stehen blieb.

Der Anblick, der sich ihr bot, war derart verschreckend, dass sie alles um sich herum vergaß. So etwas hätte sie sich nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen vorstellen können. Die Szene in dem Zimmer hätte viel eher in einen schlechten Krimi aus den Öffentlichrechtlichen gepasst als in ihr Leben.

Ein Mensch hing an einem Seil von der Decke herab. Am oberen Ende konnte sie einen großen Haken erkennen, der in einen Dachbalken getrieben worden war. Die Beine des Erhängten baumelten wie von einem schwachen Luftzug leicht hin und her. Am Boden lag ein umgeworfener Hocker. Alle Einzelheiten brannten sich ihr innerhalb einer Millisekunde ins Gedächtnis. Obwohl Ariane sich sofort mit Ekel abwendete, hätte sie später die Szenerie haarklein beschreiben können. Sogar das Aussehen des Erhängten prägte sich Ariane mit fotografischer Genauigkeit ein: sein blasses Gesicht, die hervorgetretenen Augen und die heraushängende Zunge. Genauso, wie man sich eine Leiche sonst wohl vorstellte.

Koffer und Rucksäcke standen auf dem Boden verteilt herum. Ariane nahm die Männer in Uniform, die relativ teilnahmslos im Raum standen, um sich herum wahr. Daneben befanden sich mehrere Menschen in weißer Kleidung. In eine Gruppe zusammengedrängt standen sie beieinander und hielten ihre Blicke auf Charlie gerichtet, der auf dem Teppich vor dem umgestürzten Hocker wehleidig winselte.

Ariane war sich sehr sicher, dass der Mann, der von der Decke hing, Herr Bublitz sein musste. Charlie hatte sein Herrchen auf Anhieb erkannt. Damit erklärte sich die ganze Geschichte um den nicht abgeholten Hund auf eine brutale Art und Weise. Der Schrecken des Anblicks erzeugte in Ariane augenblicklich einen Fluchtreflex. Sie wollte nur noch so schnell wie irgend möglich aus dieser Wohnung heraus. Eiskalt spürte sie den Hauch des Todes auf ihren Unterarmen und dem Rücken. Nichts auf der Welt würde sie weiter in diesem Haus halten.

Schleunigst verließ sie das Zimmer und zog Stefanie mit einer Hand hinter sich her, um ihr diesen Anblick zu ersparen. Es würde reichen, wenn Ariane Albträume davon bekam. Ihre Freundin würde ihr später danken, dass sie sie vor diesem Horror bewahrt hatte. Schnell strebten sie beide dem Treppenhaus entgegen.

»Einen Moment, mein junges Fräulein! Bleiben Sie stehen!«, schoss jedoch plötzlich eine Stimme hinter ihr her.

Ariane ignorierte den Ruf des Unbekannten. Was interessierte sie jetzt noch dieser ungehobelte Klotz? Sie hatte eine leibhaftige Leiche zu sehen bekommen. Einen echten Toten. Alles andere war da nur nebensächlich. Überhaupt wüsste sie nicht, was sie jetzt hier noch sollte. In dem Augenblick bereute sie ihre Schnapsidee, den Hund abliefern zu wollen. Wie hätte sie das aber auch ahnen können?

»Hallo! Ich rede mit Ihnen. Was soll das?«

Neuerlich versuchte der unhöfliche Typ, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Wie schon zuvor beachtete Ariane die nun drängender klingende Stimme mit voller Absicht nicht. Leider ließ sich Stefanie nur widerwillig mitziehen. Noch verstand ihre Kollegin nicht, weswegen Ariane Hals über Kopf aus der Wohnung fliehen wollte. Wie eine Art Klotz verlangsamte Stefanie das Vorankommen und redete beim Laufen unablässig auf Ariane ein. Allerdings hatte Ariane keine Lust, ihr das Geschehen hier im Haus erklären zu wollen, dafür war später noch Gelegenheit. In diesen Mauern wandelte der Tod. Entsprechend war es für sie zwei ratsam, so viele Meter wie möglich zwischen sich und den Toten zu bringen. Raus, nichts wie raus hier!

Fast hatten sie es aus dem Gebäude heraus geschafft, als sie im Flur kurz vor der Haustür der unflätige Fremde eingeholt hatte. Der feste Griff seiner Hand bohrte sich dabei unangenehm in Arianes Oberarm. Als würde das nicht reichen, schubste der Typ sie mit Vehemenz in einer drehenden Bewegung gegen die Wand. Schmerzhaft prallte Ariane dabei gegen den harten und kalten Stein. Mit einiger Wut im Bauch war sie drauf und dran, dem Widerling an die Gurgel zu gehen. Was bildete sich dieser Dummkopf nur ein, so mit ihr umzuspringen?

»Ich sagte, Sie sollen stehen bleiben! Was ist daran nicht zu verstehen?«, fauchte ihr Gegenüber sie an.

»Das ist mir vollkommen egal, was Sie hier herumpoltern oder nicht. Ich will nur noch hier raus. Und Sie haben mir überhaupt nichts zu sagen. Also lassen Sie mich gefälligst endlich los!«

Langsam lockerte der Typ tatsächlich seinen Griff. Ariane hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Worte diese Wirkung erzielen würden. Gleichwohl war der Mann nach wie vor darauf bedacht, bei ihr notfalls wieder fest zuzufassen, falls sie erneut flüchten wollte. Stefanie verfolgte das Treiben indessen mit großen Augen. Ariane konnte ihr ansehen, dass sie keine Ahnung hatte, was hier gerade geschah. Überfordert mit der Situation brachte Stefanie keinen Ton heraus.

»Wenn Sie mir versprechen, nicht noch einmal wegzurennen, können wir sehr gern raus auf die Straße treten«, machte der Unbekannte Ariane einen Vorschlag, den sie nur zu gern annehmen wollte.

Als Ariane es geschafft hatte, endlich das Haus des Todes zu verlassen, atmete sie erleichtert auf.

»So, mein Fräulein, jetzt noch einmal von vorn. Sie haben mich ja nicht zu Wort kommen lassen.« Der Mann baute sich während seiner Ansage vor den beiden Frauen auf. »Mein Name ist Ben Benserler. Ich bin Kommissar der Kriminalpolizeiinspektion Chemnitz.«

»Ernsthaft? Ben Benserler?«, zeigte sich Ariane in keiner Weise beeindruckt.

»Lassen Sie bitte diese Witze. Glauben Sie mir, ich habe schon so ziemlich jeden gehört, den es gibt. Als Erstes würde ich sehr gern erfahren, wer Sie sind.«

»Mein Name ist Ariane Itzen.«

»Und ich bin Stefanie Tschirnhaus. Ich verstehe aber nicht, was das alles hier soll. Kann mir das einer mal bitte erklären?«

»Zu Ihnen komme ich gleich«, spielte der Polizist seine Position forsch aus. »Was ist mit Ihnen? Warum sind Sie weggelaufen? Ich hatte Sie vehement aufgefordert, stehen zu bleiben.«

Da er Ariane mit seinen blauen Augen durchdringend ansah, hatte sie keine andere Wahl, als klein beizugeben. Eigentlich war ihr gar nicht danach, sich mit diesem Mann zu unterhalten. Oben in der Wohnung und gerade eben hatte er sie ›Fräulein‹ genannt. Sollte sie ihn nun vielleicht ›Männlein‹ nennen? Außerdem war sein Benehmen alles andere, nur nicht freundlich gewesen. Allerdings war er auch ein Polizist. Allein ihre Erziehung sagte ihr, dass es falsch wäre, weiter auf Konfrontationskurs zu gehen. So gab sie sich geschlagen.

»Wegen des Anblicks natürlich. Da wäre automatisch jeder geflüchtet. Oder etwa nicht?«

»Da ist schon etwas dran. Aber was haben Sie überhaupt in der Wohnung zu suchen gehabt? War Ihnen nicht klar, dass sich da oben ein Verbrechen ereignet hat?«, erwartete Ben Benserler von ihr zu erfahren.

»Wie sollten wir denn …«, Ariane brach leiser werdend ab, als sie die ganze Tragweite begriff. »Wir wollten nur Charlie zu seinem Besitzer zurückbringen. Wie hätten wir ahnen können, dass sich Herr Bublitz …? Das war so ein grauenhafter Anblick.«

Mit einer Hand schlug sich Ariane vor den Mund. Sie schaffte es einfach nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Auch Stefanie verstand nun, worum es sich bei den Geschehnissen zu drehen schien. Ariane sah, wie ihrer Kollegin bereits die Tränen in die Augen traten. Wahrscheinlich hatte sie sich so etwas längst gedacht. Nun wurde es aber zu einer bedrückenden Gewissheit.

»Jetzt noch einmal bitte ganz langsam und von vorn. Ich verstehe hier überhaupt gar nichts«, zeigte sich der Kommissar unbeeindruckt.

Ariane musste mehrfach schwer schlucken. Zu sehr ging ihr dies alles an die Nieren.

»Wir beide arbeiten in der Tierarztpraxis von Doktor Gronkowskie«, begann sie mit der Erklärung und verwies dabei mit einem Arm in die ungefähre Richtung der Praxis. »Charlie war der Hund von Herrn Bublitz. Vor drei Tagen hat er den Vierbeiner zu uns gebracht, weil der Rüde eine Impfung nicht vertragen hat. Wir haben ihn über Nacht zur Beobachtung bei uns behalten. Seitdem ist Herr Bublitz nicht wieder bei uns erschienen, um seinen Hund abzuholen. Nun haben wir uns heute aufgemacht, um ihm Charlie vorbeizubringen. Wir haben uns schon gewundert, denn eigentlich ist er immer sehr zuverlässig gewesen, wenn es um seinen Hund ging. Dass Herr Bublitz aber tot sein könnte, wäre uns nie im Leben in den Sinn gekommen.«

Nachdenklich nickte der Kommissar, während er sich Notizen in einem kleinen Buch machte.

»Hat … hat er sich selbst umgebracht?«, stellte Ariane eine Frage, die ihr unter den Nägeln brannte.

»So wie es aussieht, ja. Zumindest deutet alles darauf hin. Wir behandeln aber jeden Suizid erst einmal wie einen Mordfall. Es gilt immer, die Umstände des Ablebens genau zu untersuchen. Manchmal sieht es nur wie ein Selbstmord aus. Oder irgendwer trägt wegen einer Unterlassung eine Teilschuld. Deswegen darf ich Ihnen nichts Näheres darüber sagen. Sie verstehen?«

Ariane und Stefanie mussten das wohl oder übel so hinnehmen, auch wenn es sie brennend interessiert hätte, was in der Wohnung vor sich gegangen war. Im Anschluss erfragte Ben Benserler sämtliche Daten der beiden Frauen. Wie schon zuvor schrieb er alles in das kleine Notizbuch. Dies wirkte auf Ariane etwas verschroben. Vor allem in Anbetracht der digitalisierten Welt, in der man heutzutage lebte, wirkte das Arbeiten des Beamten eher wie ein Anachronismus. Zugleich fragte der Kommissar explizit nach der Tierarztpraxis und deren Kontaktdaten. In dem Moment kam es Ariane seltsam vor, dass der Polizeibeamte derart gründlich vorging. Normalerweise hätte die Ausweisnummer ausreichen müssen, um darüber jegliche Informationen zu erhalten.

»Können Sie mir vielleicht noch etwas über Herrn Bublitz sagen? Das gehört mit zu dem üblichen Vorgehen bei einem Suizid. Wir bilden uns einen Gesamtüberblick und reden mit Verwandten, Freunden und Kollegen. Sie verstehen?«

»Und da wollen Sie uns befragen? Wir kannten den Mann so gut wie gar nicht«, sprach Ariane für sie beide.

»Es ist zwar unüblich, entfernte Bekannte zu fragen. Da Sie beide aber schon hier sind, wird es sicherlich nicht schaden. Im Zweifel erfahre ich nur das, was ich bereits gehört habe«, begründete der Kommissar seine Anfrage.

»Das ist so nicht ganz richtig«, mischte sich Stefanie ein. »Ich bin ja schon etwas länger bei Doktor Gronkowskie. Deshalb ist mir Herr Bublitz geläufig. Er ist gewissermaßen Stammgast bei uns. Oh, Entschuldigung – er war Stammgast.«

»Okay. Also kennen Sie den Mann etwas näher?«

»Das kann man durchaus so sagen.« Ariane merkte sofort, dass es Stefanie unangenehm war, über den Toten zu reden. Trotzdem gab sich Stefanie einen inneren Ruck, um dem Polizisten etwas über Charlies Besitzer zu berichten. »Herr Bublitz war ein pflichtbewusster Hundehalter. Nie hat er einen Termin versäumt oder eine Wartezeit überschritten. Eher im Gegenteil. Ich würde Herrn Bublitz fast schon als überfürsorglich und korrekt bezeichnen.«

»Wie meinen Sie das? Können Sie mir ein konkretes Beispiel nennen?«

»Sobald es Charlie mal etwas schlechter ging, ist Herr Bublitz zu uns gekommen. Sogar wenn es nur Lappalien waren, hat er den Tierarzt aufgesucht. Mitunter hatten wir ihn einmal im Monat in der Praxis.«

»Und Herr Bublitz selbst? Was hatten Sie für einen Eindruck von ihm?«, bohrte der Beamte nach.

Nach kurzer Überlegung fand Stefanie die richtigen Worte. »Eigentlich habe ich den Mann immer als einen überaus netten und höflichen Menschen angetroffen. Seinen Hund liebte er über alles. Nie habe ich etwas Schlechtes von ihm gehört. Außerdem kam Herr Bublitz mir nicht depressiv vor.«

»Können Sie mir vielleicht noch etwas zu dem Verstorbenen sagen?«, richtete der Kommissar das Wort an Ariane.

»Tut mir leid. Ich arbeite erst seit einem Monat bei Doktor Gronkowskie. In der kurzen Zeit hatte ich keine Möglichkeit, Herrn Bublitz näher kennenzulernen. Ich wüsste nicht, was ich Ihnen über den Mann erzählen könnte.«

»Also, dann wäre es das jetzt«, beendete der Polizist die Befragung. »Sollte ich noch irgendwelche Fragen haben, weiß ich ja, wo ich Sie antreffen kann.«

Ohne ein weiteres Wort wendete sich der Kriminalbeamte um. Mit einem forschen Schritt verschwand er im Haus, um schnellstens wieder zur Wohnung des Toten zu gelangen. In dem Moment fiel Ariane aber etwas Entscheidendes ein. Entgegen ihrer zuvor getroffenen Aussage eilte sie dem Polizisten hinterher.

»Herr Benserler, einen Augenblick bitte!«

Verwundert blieb der Mann stehen. Offenkundig hatte er nicht damit gerechnet, noch einmal von den beiden Frauen angesprochen zu werden. Fragend zog der Beamte eine Augenbraue in die Höhe.

»Was passiert jetzt eigentlich mit Charlie?«

»Charlie? Wen meinen Sie?«, zeigte sich der Kommissar nicht von seiner hellsten Seite.

»Na, der Hund. Deswegen sind wir heute hierhergekommen. Sie haben das Tier doch gerade selbst gesehen.«

»Was soll mit dem passieren? Ich verstehe Ihre Frage nicht.«

»Wenn Herr Bublitz nun tot ist, wer kümmert sich um den Kleinen?«, erwartete Ariane von ihrem Gegenüber zu erfahren.

»Öhm, das werden wohl die Kollegen von hier erledigen. Die normale Prozedur ist, dass der Hund ins Tierheim kommt, bis sich jemand aus der Familie meldet. Zudem ist das eher eine Frage der Nachlassverwaltung. Dies betrifft uns Polizisten nicht. Wir klären nur die Verbrechen auf. Im Zweifel stellen wir Sachverhalte für die Staatsanwaltschaft klar. Für alles Weitere sind dann ganz andere Abteilungen und Ämter zuständig.«

»Sie meinen also, dass Charlie wieder in einen Käfig muss?«

»Ich habe keine Ahnung, wie die Abläufe in Freiberg sind. Dafür habe ich hier zu wenig zu tun. Ich gehe aber davon aus, dass es darauf hinauslaufen wird.«

Diese Information ließ Ariane erneut das Herz in der Brust schwer werden. Dass Charlie neuerlich weggeschlossen werden sollte, war definitiv nicht fair. Der Rüde hatte es im Moment sowieso beschissen genug. Sie hatte soeben mitbekommen, wie der Hund winselnd vor seinem verstorbenen Besitzer gelegen hatte. Der Mischlingsrüde hat sofort erkannt, dass etwas Schreckliches geschehen war. Ihn nun jedoch wieder – und das für eine unbestimmte Zeit – in einen Käfig zu stecken, fühlte sich vollkommen falsch an. Am Ende würde Charlie das nicht überleben. Es gab Unmengen Berichte von Vierbeinern, die vor Kummer eingegangen waren. Ariane hatte den Mischling bereits in ihr Herz geschlossen. So gab es für sie keine andere Wahl.

»Wäre es eventuell möglich, dass ich den Hund mitnehme? Ich meine, ich könnte ihn wenigstens für ein paar Tage bei mir aufnehmen, bis alle Formalitäten geklärt wären und sich die Erben oder Verwandten gefunden haben.«

Einen Augenblick stand Ben Benserler schweigend da. Offensichtlich schien er das Für und Wider des Vorschlages abzuwägen. Ariane konnte nahezu das Rattern hinter der Stirn des Polizeibeamten sehen.

»Mir fiele auf der Stelle nichts ein, was dem entgegenstehen sollte. Damit würden Sie uns wahrscheinlich Arbeit abnehmen. Es ist zwar eine etwas unorthodoxe Verfahrensweise, trotzdem spricht prinzipiell nichts dagegen. Von mir aus also sehr gern.«

Erleichtert atmete Ariane auf. Zumindest hatte sie dadurch einen kleinen Erfolg erzielt. Damit wäre dieser Tag nicht eine komplette Vollkatastrophe. In dem Augenblick wurde ihr jedoch bewusst, dass das bedeutete, neuerlich in diese Wohnung gehen zu müssen. Dies hatte sie bei ihrem Einfall nicht bedacht. Eigentlich hatte sie sich zuvor vorgenommen, nie wieder dieses Haus zu betreten. Nun brach sie ihren eigenen Vorsatz schon nach wenigen Minuten.

Während der Kommissar bereits auf der Treppe nach oben verschwunden war, stand Ariane noch immer hin- und hergerissen in der Haustür. Der dunkle Flur lag still und bedrückend vor ihr. Vor vielen Jahren war hier wohl einmal ein pastellfarbenes Orange aufgetragen worden. Nun wirkte der Zugang nur noch abgegriffen. Nach wie vor hielt sie etwas davon ab, ihren eigenen Vorschlag in die Tat umzusetzen. Es würde ihr aber wenig bringen, sich noch länger auf der Schwelle herumzudrücken. Von allein würde sich das Problem definitiv nicht lösen lassen.

»Wartest du bitte hier? Ich werde Charlie da herausholen. Wir können ihn nicht in der Wohnung des Toten lassen«, teilte sie Stefanie mit.

Ihre Kollegin hütete sich davor, Widerworte zu erheben. Auch Stefanie sah es ein, dass es sinnvoll war, den Mischlingsrüden wieder mitzunehmen. Allerdings dachte sie keine Sekunde daran, Ariane nach oben zu begleiten, und nickte nur, um ihrer Kollegin Mut zu machen.

Zögernd hatte Ariane den ersten Schritt gemacht. Nachdem sie den Hausflur hinter sich gebracht hatte, kam ihr ihre zuvor gezeigte Abscheu ein wenig lächerlich vor. Letztlich war dies ein ganz normales Haus, in dem eine unglaubliche Tragödie geschehen war. Täglich musste so etwas in Deutschland mindestens hundertfach passieren. Da sie nun wusste, wohin es ging, lief sie die Treppe mit neu entfachtem Mut nach oben. Vielleicht würde es reichen, Charlie einfach nur zu rufen. Wenn alles gut lief, musste sie nicht noch einmal an den Tatort gehen und die Leiche an der Decke sehen.

Zu Arianes Überraschung befand sich nun ein uniformierter Polizist vor der Zugangstür. Augenscheinlich hatte Kommissar Ben Benserler ein Machtwort gesprochen. Wie es schien, hatte er keine Lust auf weitere unangenehme Überraschungen.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte der Polizeibeamte in einem neutralen Tonfall.

Ariane schilderte daraufhin ihre Absprache mit dem Kriminalkommissar. Ungläubig blickte der Beamte sie einen Moment lang an. Offensichtlich entsprach ihre Idee ganz und gar nicht der üblichen Herangehensweise. Aus diesem Grund entschloss er sich wohl, zuerst Rücksprache mit den anderen Polizisten und Ben Benserler zu halten. Nachdem das Okay aus der Wohnung erklungen war, trat der Uniformierte etwas unwillig beiseite. Es schien ihn zu stören, eine fremde Person an den Tatort zu lassen.

Ariane betrat unsicher den Flur. Schon hörte sie Charlie in einem herzzerreißenden Tonfall winseln. Der Hund befand sich offenbar weiterhin in dem Zimmer bei seinem Herrchen. Wahrscheinlich hatte es keiner der Anwesenden über sich gebracht, den Rüden von dem Toten wegzuziehen. Auf eine gewisse Art und Weise konnte sie das sogar verstehen.

»Charlie! Charlie, mein Guter. Bei Fuß!«, versuchte sie, den Rüden zu sich zu locken. Der Hund reagierte jedoch nicht. Einzig hatte er zu winseln aufgehört. »Charlie, jetzt komm schon. Bei Fuß! Los jetzt!«, rief Ariane erneut in den Wohnungsflur hinein.

Wie sie es jedoch befürchtet hatte, unternahm der Rüde keine Anstalten, zu ihr zu kommen. So hatte sie keine andere Wahl, als den Hund persönlich aus dem Zimmer zu holen. Schon allein die Vorstellung, dabei neuerlich den Toten zu Gesicht zu bekommen, trieb ihr eine Gänsehaut über den Rücken und die Oberarme. Innerlich tadelte sie sich selbst für den Einfall, den Vierbeiner hier herauszuholen. Sie fragte sich, ob sie von allen guten Geistern verlassen wäre. Niemand sonst käme auf eine derartig absurde Idee, in die Wohnung eines Toten zurückzukehren. Nur sie machte so etwas aus freien Stücken. Die Aktion war vollkommen irre.

Trotz all dieser Gedanken hatte sie es schließlich bis zur Tür geschafft. Dennoch schloss Ariane beim Hindurchtreten die Augen. Ein innerer Zwang sorgte dafür, dass sie auf gar keinen Fall ein weiteres Mal diesen kalten, leblosen Körper anschauen wollte. Für so eine Situation war sie definitiv nicht geschaffen. Beim ersten Schritt stieß sie jedoch mit ihrem Fuß gegen etwas Hartes.

»Frau Itzen, was ist denn jetzt schon wieder?«, vernahm sie die genervte Stimme des Kommissars.

In dem Moment wurde ihr bewusst, wie lächerlich sie sich benahm und wahrscheinlich auch aussah. Wie bei einem Pflaster, das man mit einem Ruck abzog, öffnete Ariane unvermittelt weit die Augen. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, in dem Raum vorzufinden. Der neuerliche Anblick der Leiche jagte ihr abermals einen furchtbaren Schrecken durch die Glieder.

»Tut mir leid. Ich benötige nur eine Sekunde«, entschuldigte sie sich bei Ben Benserler.

Zu ihrem Erstaunen grinste der Polizist sie frech an. Offensichtlich schien er sich darüber zu amüsieren, welche Probleme sie mit der Situation hatte. Dies trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Ariane kam sich deswegen reichlich bloßgestellt vor. Schon Augenblicke später verwandelten sich ihre Gefühle in Wut. Was bildete sich dieser ungehobelte Klotz nur ein? Innerlich riss Ariane sich zusammen. Noch einmal würde sie diesem Typen nicht eine solche Genugtuung geben.

Es war für sie wohl das Einfachste, ihren Blick stur auf den Hund zu richten, um sich durch den Raum zu manövrieren. Tatsächlich ließ sie diese Strategie die Situation besser ertragen. Bereits nach kurzer Zeit hatte sie es bis zu dem Mischlingshund geschafft. Erleichtert ging sie neben dem Vierbeiner in die Knie, stets darum bemüht, nichts anderes als das Tier anzublicken.

»Ja, mein Kleiner, ist ja alles gut. Du bist ein ganz Feiner. Das wird schon wieder«, beruhigte sie eher sich selbst als den Hund. Gleichzeitig kraulte sie dabei das Fell des Rüden.

Zum Glück trug Charlie seine Leine noch immer am Halsband. So konnte sie den Hund leicht unter ihre Kontrolle bekommen. Das war aber gar nicht nötig. Der arme Mischling war das sprichwörtliche Häufchen Elend. Unter ihrer Hand spürte Ariane aber, wie sich der Vierbeiner langsam beruhigte. Sie hoffte, dass er sich problemlos aus dem Zimmer führen lassen würde. Wenn sich der Rüde dagegen wehrte, wüsste sie nicht, was sie machen sollte.

Ariane sah auf, um den Blickkontakt mit dem Kommissar zu suchen. Stattdessen machte sie die Leiche des Hundebesitzers nicht weit von sich entfernt aus. Warum um alles in der Welt hing der Mann noch immer von der Decke? Sie hatte zwar keine Ahnung über die Gepflogenheiten bei der Polizei, allerdings hielt sie das alles für überaus befremdlich. Ihrer Meinung nach war es äußerst pietätlos, einen Menschen so lange an dem Seil baumeln zu lassen.

Das Zweite, was ihr durch den Kopf ging, war die Frage, weswegen der Mann seine Schuhe so seltsam verknotet hatte. Ariane wusste nicht weshalb, doch trat ihr dieses Detail umso deutlicher ins Auge. Es war fast so, als würden die Knoten hell leuchtend pulsieren. Instinktiv hatte sie vor, Ben Benserler danach zu fragen. Der Kommissar befand sich aber gerade mit einem Kollegen in ein Gespräch vertieft. Schulterzuckend wendete sie ihren Blick mit einem innerlichen Unwohlsein von der Leiche ab.

Mit einem Ruck stand sie auf, um endlich aus dem Zimmer verschwinden zu können. Sehr zu ihrer Beruhigung reagierte Charlie auf die Leine in ihrer Hand. Sämtliche ihrer Befürchtungen lösten sich in Wohlgefallen auf, als der Hund langsam neben ihr her trottete. Zwar mit gesenktem Kopf und nicht sonderlich schnell, entfernte sich der Rüde dennoch problemlos von seinem toten Herrchen.

Erleichtert atmete sie auf, als sie schließlich den Raum verlassen hatte. Erneut meinte sie, die Kälte des Todes in der Wohnung zu spüren. Je weiter sie sich vom Tatort entfernte, umso leichter fiel ihr das Laufen und umso wärmer wurde die Umgebung.

»Frau Itzen, einen Moment bitte«, vernahm sie überraschend die Stimme des Kommissars hinter sich im düsteren Treppenhaus.

Verwirrt drehte sie sich zu ihm herum. »Ist noch etwas? Habe ich was vergessen?«

»Nein, nein. Es ist nicht … Ich wollte … Ich meine … sind Sie morgen in der Praxis? Nur für den Fall, dass es noch weitere Fragen zu der ganzen Sache hier gibt.«

Verdutzt über diese Anfrage nickte Ariane nur. Damit hatte sie in dem Augenblick nicht gerechnet. Der Polizist sah sie indes nur an, ohne neuerlich das Wort zu ergreifen.

»Darf ich Sie etwas fragen?«, nutzte Ariane nach einem Moment der Stille die Gelegenheit.

»Natürlich.«

»Wieso hängt der Mann noch immer an der Decke?«

»Sie meinen damit, weswegen wir ihn noch nicht abgenommen haben?«, fragte Ben Benserler nach.

»Ja, ganz genau. Ich meine, das ist irgendwie falsch. Jemanden so lange in so einer Position zu lassen, gehört sich einfach nicht.«

»Im Prinzip haben Sie recht«, stimmte der Polizist ihr zu. »Allerdings sind wir in so einem Fall auf die Kollegen aus dem Institut für Rechtsmedizin Chemnitz angewiesen. Weder dürfen wir die Leiche untersuchen noch etwas an ihrer Lage ändern. Die längere Anreise führt dann leider zu diesen unangenehmen Wartezeiten. Ich selbst bin ja auch aus Chemnitz hergerufen worden. Die Fahrtzeit, Sie verstehen?«

Ariane konnte tatsächlich diese Erklärung nachvollziehen. Freiberg war nun einmal nicht der Nabel der Welt. Viele Institutionen und Ämter befanden sich entweder in Dresden, Leipzig oder Chemnitz. Über die Probleme der Kriminalpolizei und der Pathologie hatte sie dabei aber nie nachgedacht. All dies kannte sie sonst nur aus dem Fernsehen. Da lief es jedoch immer relativ unkompliziert ab. Polizei und Ärzte waren in den Filmen nahezu augenblicklich und in ausreichender Anzahl vor Ort.

»Vielen Dank für die Auskunft. Ich muss dann aber wieder«, verwies Ariane auf den Hund an ihrer Seite.

Mit einem smarten Augenzwinkern entließ der Kommissar sie daraufhin aus der Wohnung. Hat der Typ gerade eben tatsächlich mit mir geflirtet, fragte Ariane sich verwirrt. Dabei hatte sie sogar vergessen, den Polizisten auf die Knoten aufmerksam zu machen. Sie glaubte aber, dass die Beamten das ebenso erkennen würden. Letztlich war es deren Job, auf so etwas Außergewöhnliches achtzugeben.

Ein Stockwerk tiefer kamen ihr Mitarbeiter der Spurensicherung und weitere Polizisten entgegen. Zwei Männer trugen zudem einen dunklen geschlossenen Sarg. Ariane war froh darüber, dass sie nicht Zeuge von dem nun folgenden Schauspiel werden musste. Das, was sie bereits gesehen hatte, reichte aus, um ihr nächtelang Albträume zu bescheren. Eng an die Treppenhauswand gedrückt ließ sie die Männer mit ihrer Ausrüstung passieren. Umso mehr beeilte sie sich daraufhin, endlich aus dem Haus herauszukommen. Viel zu lange hielt sie sich bereits hier auf.

Glücklicherweise wartete Stefanie noch immer auf der Straße auf sie. In diesem Moment hätte Ariane auf gar keinen Fall allein sein wollen. Für einige Sekunden bereute sie ihren zuvor gefassten Entschluss, sich des Hundes anzunehmen. Als sie allerdings in Charlies Augen sah, wurde ihr bewusst, dass sie alles richtig gemacht hatte. Der Rüde konnte absolut nichts für all die Dinge, die geschehen waren. Ihn an sich zu nehmen, war definitiv die beste Lösung.

»Was hast du denn die ganze Zeit da oben getrieben? Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr herunterkommen. Ich war bereits drauf und dran, einfach nach Hause zu gehen«, rief ihr Stefanie vorwurfsvoll entgegen.

»Ja, tut mir leid. Ich habe etwas länger gebraucht. Dafür bin ich ja jetzt endlich da.«

»Gab’s denn irgendwelche Probleme? Oder was hat da so ewig gedauert?«

»Nein, das nun nicht gerade. Es ist … der hängt da oben noch immer von der Decke. Charlie lag genau unter der Leiche. Es kostete mich ohnehin schon Überwindung, in die Wohnung zurückzukehren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für eine Situation war«, fasste Ariane ihre Gedanken zusammen.

»Das wusste ich nicht. Sorry!« Stefanie legte dabei ihre Hand beruhigend auf Arianes Oberarm.

Charlie stand indes zwischen den beiden Frauen und blickte abwechselnd von links nach rechts. Auch er schien sich zu fragen, wie es nun weitergehen sollte.

»Stefanie?« Ariane wusste nicht recht, wie sie die nächste Frage stellen sollte.

»Ja, was ist?«

Mit einem leicht flehenden Blick sah Ariane ihre Kollegin an. Sie hoffte darauf, dass die andere erraten würde, was sie von ihr wollte.

»Oh, magst du vielleicht noch einen Kaffee oder Tee mit mir trinken? Es ist zwar schon spät, aber …«

»Ein Wein wäre mir wesentlich lieber«, gestand ihr Ariane ein. »Oder eventuell sogar etwas viel Stärkeres.«

Sie dankte ihrer Arbeitskollegin dafür, dass sie den Vorschlag von sich aus gemacht hatte. Irgendwie war sich Ariane bereits ein wenig blöd vorgekommen, ihre Freundin darum zu bitten, noch weitere Zeit mit ihr zu verbringen. Im Augenblick wollte sie alles Erdenkliche, nur nicht alleine sein. Möglicherweise reichten ein paar Minuten in einer Bar aus, damit es ihr besser ging.

»Ich weiß da auch schon genau das Richtige!«

 

Stefanie zog Ariane an einer Hand hinter sich her. Auch Charlie lief widerstandslos mit. Offensichtlich hatte er akzeptiert, dass die beiden Frauen nun erst einmal die Führung übernommen hatten. Ariane fragte sich, wie viel der Hund von alledem mitbekam. Charlie wirkte so, als wüsste er genau, was geschehen war. Erst die Trauer und nun die Akzeptanz des neuen Frauchens zeugten zumindest von dieser These.

Schnell befanden sie sich erneut auf der Burgstraße. Diesmal ging es jedoch in die Gegenrichtung. Anhand der Zielstrebigkeit ihrer Kollegin wurde es Ariane schnell klar, wohin der Weg führen sollte. Kaum mehr als einhundert Meter entfernt lag Freibergs urigste Kneipe. Die »Stadtwirtschaft« war eine der angesagtesten Lokalitäten in der Bergstadt. Der tatsächliche Grund ihres geplanten Besuchs war allerdings der im Innenhof liegende Biergarten. Nirgendwo sonst war es an lauen Sommerabenden möglich, so entspannt zu sitzen. Ein gepflasterter Boden, viele Grünpflanzen und das Ambiente eines mehrere hundert Jahre alten Bauwerks erzeugten eine sehr angenehme Atmosphäre.

Zu ihrer beider Freude gab es sogar freie Tische. Mit einem befreienden Seufzer nahmen sie auf den Stühlen Platz. Schon nach kurzer Zeit tauchte eine Bedienung auf, um die Bestellung aufzunehmen. Ariane entschied sich neben einem Schoppen Rotwein für einen doppelten Wodka. Diesen hatte sie sich auf jeden Fall redlich verdient. Stefanie tendierte dabei mehr zu einem lieblichen Rosé. Aus kollegialer Freundschaft orderte sie sich zudem einen Ramazzotti, damit sie beide etwas zum Beruhigen hatten.

Neben dem Zugang entdeckten sie etliche Wassernäpfe für die vierbeinigen Besucher. Mit diesen dürfte auch Charlie zufrieden sein. Kaum hatte Ariane solch eine Schale geholt, stürzte sich der Mischlingsrüde direkt darauf. Offensichtlich war er wesentlich durstiger, als sie zuvor angenommen hatte. Wenn man bedachte, was der Hund heute erlebt hatte, war das jedoch nur zu verständlich.

Kaum befand sie sich zurück an ihrem Platz, wurden bereits die Bestellungen serviert. Genau in diesem Moment fiel so viel von Ariane ab. Erst da wurde ihr bewusst, was sie alles hinter sich gebracht hatte. Überhaupt schien der heutige Tag sie viel mehr belastet zu haben, als sie es für möglich gehalten hätte. Dabei hatte der Tag ganz normal begonnen.

Zielstrebig nahmen die beiden Frauen ihre Gläser mit dem Schnaps in die Hand. Gemeinsam prosteten sie sich zu. Nach einigen Sekunden des Genießens erscholl beinahe simultan ein wohliges Aufseufzen.

»Das war schon ganz schön heftig«, brach Stefanie zuerst das Schweigen.

»Das kannst du wohl laut sagen.«

»So richtig begreifen tu ich es aber immer noch nicht. Herr Bublitz soll sich umgebracht haben?«

»Du kanntest ihn also wirklich?«, fragte Ariane neugierig nach.

»Kennen ist vielleicht der falsche Ausdruck. Wann kennt man einen Menschen schon? Er war regelmäßig mit Charlie bei uns. Da kommt man gelegentlich ins Schwatzen.«

»Was war er denn für ein Typ? Ich meine, hättest du dir vorstellen können, dass sich so einer selbst das Leben nimmt?«, hakte Ariane nach.

Ihre Kollegin zog daraufhin die Stirn kraus. »Das ist es ja gerade. Bei Herrn Bublitz hätte ich das als allerletztes vermutet. Der war einfach nicht der Typ für so etwas. Es gibt immer mal wieder depressive Menschen, bei denen man sich vorstellen könnte, dass sie sich selbst ein Ende setzen. Der Bublitz gehörte für mich aber auf jeden Fall nicht dazu, der war immer freundlich und wirkte stets gut gelaunt.«

Dies und der Wein auf dem Tisch ließen Ariane nachdenklich werden.

»Du hattest vorhin schon einmal so etwas angedeutet«, ergriff Ariane erneut das Wort, nachdem sie beide einige Zeit stumm in Gedanken vertieft waren. »Du sagtest, Herr Bublitz wäre ein überaus guter Hundehalter gewesen. Wie hast du das gemeint? So lange bin ich noch nicht in der Praxis, als dass ich all unsere Patienten und ihre Herrchen gut kennen würde.«

»Na ja, Charlie war mehr so ein Dauergast bei uns. Das hatte ich ja diesem Polizisten schon erklärt. Dir sind vielleicht diese Tierliebhaber bekannt, die jeden Euro in ihre Lieblinge stecken. Von allem muss es immer das Beste sein. Herr Bublitz war genau so jemand. Charlie hat stets nur frisches Fleisch bekommen. Zugleich ist sein Herrchen lieber einmal zu viel zu uns gekommen, als dass es dem Hund schlecht gehen könnte.«

»Und so einer soll sich einfach umbringen, wohl wissend, dass sein geliebter Vierbeiner bei uns in einem Käfig auf ihn wartet?« Ariane stellte diese Frage mehr sich selbst. Stefanie ging jedoch direkt darauf ein.

»Ja, das habe ich mich auch schon gefragt. Natürlich hätte er Charlie bei uns lassen können. Er kannte Doktor Gronkowskie und die Praxis zur Genüge und wusste, dass sein Hund bei uns gut aufgehoben war. Er wusste jedoch auch, dass wir keine Hundepension sind. Du hast ja selbst gesehen, wie es dem Rüden nach drei Tagen ergangen ist. Nein, irgendwie halte ich das alles für nur schwer verständlich.«

»Du findest das alles tatsächlich auch für ziemlich mysteriös?«

»Auf jeden Fall«, pflichtete Stefanie ihr bei. »Allerdings sind das Dinge, mit denen sich lieber die Polizei beschäftigen sollte. Vielleicht wäre es ratsam, wenn wir das dem hübschen Kommissar noch mitteilen würden.«

»Hübsch? Ist das dein Ernst? Dieser überhebliche Typ?«

»Ach komm, jetzt tu doch nicht so. Als ob dir dieser Ben Benserler nicht auch gefallen hätte. Ich habe genau gesehen, wie du ihn angestarrt hast. Das war mehr als nur offensichtlich.«

»Das ist ja wohl etwas komplett anderes.« Ariane schüttelte abwehrend den Kopf, um ihre Abneigung zu unterstreichen. »Was nützt einem ein nettes Äußeres, wenn man innerlich einfach nur ein riesiges Arschloch ist. Nee, von solchen Leuten habe ich die Nase gestrichen voll.«

»Apropos solche Leute: Was macht eigentlich dein Liebesleben?«

»Na, jetzt sind wir aber ganz schön neugierig«, stellte Ariane lachend fest.

Tatsächlich hatte sie mit Stefanie zuvor noch nicht über etwas derartig Vertrauliches geredet. Sie hatten sich zwar auf Anhieb verstanden, doch war dies ein sehr privates Thema. Mittlerweile aber fühlte Ariane sich Stefanie verbunden. Ein wenig Smalltalk konnte nicht schaden, um die vergangenen Ereignisse zu verarbeiten.

»Ach komm, erzähl doch einmal«, forderte Stefanie sie auf. »Bei mir ist es gerade eher mau. Man hat ja nur am Wochenende mal Zeit, um auf Party zu gehen. Da bin ich aber immer so müde, dass es mich meist schon vor um zwölf ins Bett treibt. Früher war das noch ganz anders. Ich könnte dir da von Geschichten berichten …«

»Ich glaube, bei mir ist es ganz ähnlich«, gestand ihr Ariane. »Ich war jedoch nie der großartige Partygänger. Als ich jung war, hat es mich oft in die gemütlichen Kneipen verschlagen. Momentan ist bei mir aber männermäßig ganz schön tote Hose. Die letzte längere Sache ist nun bereits wieder über achtzehn Monate her.«

»Echt jetzt? Erzähl doch mal!«

»Da gibt es nicht viel zu verraten.« Ariane versuchte, sich an die damaligen Ereignisse zurückzuerinnern. »Zu der Zeit bin ich gelegentlich nach Dresden gefahren, um am Wochenende etwas zu erleben. Im Downtown in der Dresdner Neustadt hab ich mich in den DJ verguckt.«

»Ernsthaft? In den DJ?«

»Ja ja, das war aber nichts Besonderes«, spielte Ariane die Sache sogleich wieder herunter. »Das ging nur ein paar Wochen lang. Obwohl Finn ein echt niedlicher Typ war, hat das einfach nicht gepasst. Du weißt ja, wie diese DJs drauf sind. So richtig was Ernstes ist da nie draus geworden. Ich bin dann irgendwann nicht mehr nach Dresden gefahren. Finn hat sich nach ein paar Versuchen aber auch nicht noch einmal bei mir gemeldet. So hatte sich die Geschichte irgendwann von selbst erledigt.«

»Und das ist jetzt schon eineinhalb Jahre her? Seitdem hast du keinen Mann mehr in deinem Bett gehabt?« Stefanie sah sie überrascht an.

Ariane verstand nicht, was daran so ungewöhnlich war, schließlich hatte sie in der Zeit ihre Energie in ihren Beruf gesteckt. Dass ihre alte Praxis so schnell geschlossen würde, hatte sie damals nicht ahnen können. Sie war gerade erst fünfundzwanzig Jahre alt. Ihr ganzes Leben lag noch vor ihr. Es bestand absolut keinen Grund, die Sache mit den festen Beziehungen zu überstürzen.

»Wäre es vielleicht möglich, dass wir bitte das Thema wechseln?« Hoffnungsvoll sah sie Stefanie an.

»Null Problemo.«

Ihre Kollegin erhob das Glas, um erneut mit ihr anzustoßen. Im Laufe des Abends hatte Ariane bereits den halben Schoppen geleert. Dadurch stellte sich bei ihr ein leichtes Gefühl der Weinseligkeit ein. Genau dies hatte sie erreichen wollen. Das oberflächliche Gespräch hatte ihr gut geholfen, die schrecklichen Erinnerungen beiseitezudrängen.

Mittlerweile setzte die Dämmerung ein. Ein guter Moment, um den Nachhauseweg in Angriff zu nehmen, ging es Ariane durch den Kopf. Würde sie hier weiter mit Stefanie sitzen und Wein trinken, könnte das noch eine sehr lange Nacht werden. Allerdings hatte sie sich vorgenommen, zeitig ins Bett zu gehen. Morgen stand schließlich ein wichtiges Gespräch mit ihrem Chef bevor. Noch immer galt es für sie, ihren Totalausfall am Operationstisch zu erklären. Dies sollte sie unbedingt im ausgeschlafenen Zustand machen. Alles andere wäre purer arbeitstechnischer Selbstmord für sie.

Selbstverständlich lud Ariane ihre Kollegin ein. Es war schließlich ihre Idee gewesen, Charlie zu seinem Herrchen zurückzubringen. Letztlich hatte Stefanie ihr bei der Sache zur Seite gestanden und nicht umgekehrt. Normalerweise hätte die Freundin schon längst vor ihrem Fernseher sitzen können, um den Feierabend zu genießen.

»Was machst du jetzt mit dem Hund?«, stellte Stefanie vor der Tür der Gastschenke schlussendlich eine Frage, die Ariane bereits die ganze Zeit durch den Kopf spukte.

»Weißt du, darüber mache ich mir erst morgen Gedanken. Gott hat die Erde schließlich auch nicht an einem Tag erschaffen. Außerdem soll man ein Problem erst nach dem anderen lösen.« Mehr Plattitüden fielen Ariane in dem Moment nicht ein.

»Alles klar, das ist dein Ding. Dann sehen wir uns morgen früh in alter Frische wieder.«

Den einen Arm noch zum Abschiedsgruß erhoben, entschwand ihre Kollegin in die Dämmerung hinaus. Ariane sah ihr eine ganze Zeit lang hinterher. Nachdem Stefanie weg war, kehrten zugleich die düsteren Gedanken bei Ariane zurück. Auch Charlie erinnerte sie an die Dinge, die sie heute Nachmittag und am frühen Abend erlebt hatten.

»Und was machen wir zwei Hübschen jetzt miteinander?«

Der Rüde blickte sie in dem Augenblick nur ziemlich nichtssagend an. Sie fragte sich selbst, was sie auch erwartet hatte. Charlie konnte ihr schlecht antworten oder seine Wünsche mitteilen. Sehr zu ihrer Überraschung trottete der Mischlingsrüde aber ungefragt los und nahm erstaunlicherweise sogar die richtige Richtung. In weniger als einer Viertelstunde Entfernung wusste sie ihre Wohnung in der Bahnhofsvorstadt.

Ariane fragte sich, ob der Hund wissen konnte, wo sie wohnte. Diese Idee war jedoch zu irreal, um sie länger als ein paar Sekunden darüber grübeln zu lassen. Worüber sie definitiv nachdenken sollte, war, was es jetzt mit Charlie anzustellen galt. Zu ihrem Leidwesen war sie auf tierischen Besuch in keiner Weise vorbereitet. Aufgrund ihrer stets so langen Arbeitstage hatte sie sich nie ein Haustier angeschafft. Es wäre nur Quälerei, ein Tier den kompletten Tag über allein zu lassen.

Ihr Plan, den Rüden bei seinem Herrchen abzuliefern, hatte sich als undurchführbar herausgestellt. Dass sie nun plötzlich einen Überraschungsschlafgast hatte, brachte ihr ganzes Singleleben gehörig durcheinander. Der angenehm laue Abend und sicher auch der Alkohol ließen sie aber die Erinnerungen an die Schrecken des Tages schnell vergessen. Kurz überlegte sie sogar, Charlie von der Leine zu lassen. Leider kannte sie den Vierbeiner nicht gut genug, um ihm soweit zu vertrauen. Trotz allem genoss sie den kurzen Spaziergang mit dem Hund. Am nächsten Tag müsste sie sich unbedingt darum kümmern, eine Lösung für den Kleinen zu finden, die nicht darin bestand, die Promenadenmischung in irgendeinen Käfig zu stecken.

Zu Hause im Kühlschrank fand sie zum Glück noch etwas für den Rüden zum Essen. Hühnchen, mit Möhren leicht aufgekocht, schien der Fellnase sehr zu munden. Als sie sich beide zum Schlafen niederlegten, war bei Charlie kaum mehr etwas von der zuvor gezeigten Niedergeschlagenheit zu merken, auch wenn Ariane noch eine gewisse Art der Melancholie bei dem Vierbeiner zu spüren vermochte. Eine große Decke zu Füßen ihres Bettes reichte dem Tier als Schlafplatz vollkommen aus. Binnen Sekunden waren sie beide nach diesem sehr langen und ereignisreichen Tag eingeschlafen.

Tag 2

 

Am nächsten Morgen nahm sie Charlie mit auf die Arbeit. Ariane hegte die Hoffnung, dass es in der Tierarztpraxis von Doktor Gronkowskie kaum stören würde, wenn sie das Tier den ganzen Tag über bei sich hatte. Der blaue Himmel über ihr ließ einen erneut ausgesprochen warmen und sonnigen Tag erwarten, der bestimmt nicht so schlimm werden würde wie der gestrige. Das ihr bevorstehende Gespräch mit dem Chef drückte ihr jedoch ein wenig auf den Magen. Kurz bevor sie das blaue Haus, in dem sich die Tierarztpraxis befand, betrat, atmete Ariane deswegen noch einmal tief durch. Unter dem Anmeldetresen schaffte sie ein wenig Platz, damit Charlie eine Ecke fand, in die er sich verkriechen konnte. Sie hoffte darauf, dass der Rüde im Laufe des Tages keinen Blödsinn anstellte, wenn sie mal kurz weg musste. Ihn neuerlich nach hinten in die Käfige zu bringen, brachte sie jedenfalls nicht übers Herz.

Ihr Arbeitsplatz war der Empfangstresen der kleinen Tierarztpraxis. Sie hatte schon von anderen Praxen gehört, in denen drei, vier oder sogar sechs Ärzte arbeiteten und es wie am Fließband zuging. Doktor Gronkowskie überließ hingegen viele der alltäglichen Tätigkeiten den Schwestern. Vielleicht war es ihm deswegen möglich, diese Praxis allein zu betreiben. Eine perlweiße Tapete, dekoriert mit unzähligen Tierfotos und selbstgemalten Bildern von Haustieren, zierte die Wände um sie herum, sicherlich allesamt Patienten der Praxis. Neben den obligatorischen Stühlen zum Warten befand sich zudem eine große Waage im Wartebereich.

Ihr Tresen ragte L-förmig in den rechteckigen Raum hinein. So bunt sich die Wände durch die Bilder präsentierten, so vielfältig war auch der Tresen dekoriert. Unmengen an Glückwunsch- und Urlaubskarten zierten den Anmeldebereich der Tierarztpraxis. Dazwischen suchten sich der Monitor, ein Drucker und das Telefon verzweifelt einen Platz auf dem Schreibtisch. Der Rest war mit einer Vielzahl von Papieren übersät. Diese reichten von Patientenberichten über Bestellformulare bis hin zu Auswertungen irgendwelcher Labore. Aus einem ihr unerfindlichen Grund favorisierte Doktor Gronkowskie dieses Haufensystem. In ihrer ersten Woche hatte sie tatsächlich den Versuch unternommen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Nachdem sie von so ziemlich jedem Mitarbeiter deswegen angegangen worden war, hatte sie sich der Mehrheit gebeugt. Überraschenderweise schien das System sogar zu funktionieren. Bis jetzt war noch kein Schriftstück verschwunden.

»Ah, guten Morgen, Frau Itzen«, begrüßte sie in dem Moment Doktor Gronkowskie. »Stefanie hat mir bereits so einiges von Ihren gestrigen Abenteuern erzählt. Wie geht’s Charlie?«

»Der ist hier unten bei mir.« Mit einer Handbewegung verwies sie auf den Hundeplatz zu ihren Füßen.

»Ihnen ist aber schon klar, dass das kein Dauerzustand sein kann? Das hier ist eine Tierarztpraxis und kein Tierheim.«

»Das ist mir durchaus bewusst, Herr Doktor. Wenn Sie es wünschen, bringe ich den Hund noch heute weg.«

»Nein, nein. Das habe ich auf gar keinen Fall damit gemeint. Ich bin froh darüber und auch ein bisschen stolz auf Sie, dass Sie sich des Problems angenommen haben. So selbstverständlich ist das jedenfalls nicht. Der Kleine kann von mir aus heute ruhig hierbleiben. Ich wollte nur ausdrücken, dass das eben keine Dauerlösung sein kann.«

»Wollen Sie etwa, dass ich Charlie ins Tierheim bringe?« Ariane stellte diese Frage wie einen Vorwurf.

»Das ist die denkbar schlechteste Lösung. Die Tierheime im weiten Umkreis sind heillos überfüllt. Ich wüsste noch nicht einmal, ob die überhaupt neue Hunde annehmen würden. Die Ferien haben erst vor kurzem angefangen. Da bringen die Leute ihre Tiere leider immer ins Heim, weil sie diese nicht mit in den Urlaub nehmen können. Es ist eine Schande.«

Fragend sah sie Doktor Gronkowskie weiterhin an. Der Mann blieb ihr ferner eine Antwort schuldig. Wenn er das Thema schon ansprach, konnte er sich auch sehr wohl dazu äußern. Für ein wenig Unterstützung, was sie jetzt mit dem Hund anstellen solle, wäre sie ihm durchaus dankbar.

»Warten wir erst einmal die nächsten ein oder zwei Tage ab. Es wird sich bestimmt jemand melden, der die Angelegenheiten des Verstorbenen regelt. Herr Bublitz wird sicher Kinder oder wenigstens Verwandte haben. Ich kann auch gern meinen Freund, Hauptkommissar Walter Helmholtz aus Dresden, um Rat fragen. Er wird mit Sicherheit wissen, was in solch einer Situation zu tun ist. Solange können Sie Charlie gern mit in die Praxis bringen.«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, fand Ariane die richtigen Worte. »Und wegen gestern, während der Operation. Ich meine …«

»Liebe Frau Itzen, lassen Sie uns das erst einmal hintenanstellen«, unterbrach der Tierarzt sie. »Auf der einen Seite kann ich Sie sehr gut verstehen. Andererseits sind wir nur eine kleine Praxis. Es kann sogar vorkommen, dass wir beide im Laufe einer Schicht allein hier sind. Was passiert, wenn Frau Müller nicht da ist, um für Sie einzuspringen? Aber wie gesagt, darüber sollten wir einmal in Ruhe reden. Sie machen hier am Tresen eine hervorragende Arbeit. Außerdem rechne ich es Ihnen hoch an, dass Sie sich um den Hund kümmern. Alles andere klärt sich später noch.«

Über diese Worte war Ariane sichtlich erleichtert. Es stand zwar nach wie vor das Problem zwischen ihnen im Raum, allerdings nahm sie die Aussage des Doktors als Kompliment auf. Umso mehr fühlte sie sich darin bestärkt, dass sie nichts falsch gemacht hatte.

Eine Sache brannte Ariane aber noch auf der Seele. »Darf ich Sie noch etwas fragen?«

»Aber sicher doch.«

»Kannten Sie Herrn Bublitz gut?«

Kurz sah Doktor Gronkowskie sie intensiv an. Ariane ging davon aus, dass er sich fragte, was genau sie mit dieser Erkundigung bezweckte. Nach weiteren Sekunden des Zögerns beantwortete der Tierarzt jedoch ihre Frage.

»Nun ja, eben so, wie ein Arzt mit einem Patienten beziehungsweise seinem Herrchen bekannt ist. Wieso interessiert Sie das?«

»Die ganze Sache beschäftigt mich schon den ganzen Morgen. Ich frage mich, was Herr Bublitz für ein Mensch war. So oft bin ich in meinem Leben noch nicht mit dem Tod in Berührung gekommen. Vor allem der Umstand, dass er sich selbst erhängt hat, lässt mich einfach nicht in Ruhe.«

»So etwas machen Leute nun einmal. Es gibt dafür keine vernünftige Erklärung. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich glaube, Herr Bublitz war eine relativ wichtige Person in der Stadtverwaltung. Während der Behandlungen hat er manchmal von seiner Arbeit erzählt. Er kam mir dabei aber nie depressiv vor, wenn es das ist, was Sie interessiert.«

»Das auch – aber nicht nur. Ist Ihnen vielleicht bekannt, als was der Mann gearbeitet hat?«

»Er war meines Wissens bei der Städtischen Weiterentwicklungs GmbH in leitender Funktion angestellt.«

»Der was?«

»Das ist eine Firma, die zu hundert Prozent der Gemeinde gehört und sich mit verschiedenen Liegenschaften beschäftigt. Soweit ich weiß, war er die Verbindung zwischen Rathaus und der Weiterentwicklungs GmbH. Herr Bublitz hat immer mal wieder von den Möglichkeiten des modernen Bergbaus in Freiberg gesprochen. Ich habe bei den Gesprächen aber nur die Hälfte verstanden. Das ist nicht unbedingt ein Gebiet, auf dem ich mich sonderlich gut auskenne.«

»Als einen Manager habe ich mir Herrn Bublitz gar nicht vorgestellt.«

»Lassen Sie es damit bewenden.« Doktor Gronkowskie versuchte, Ariane mit dieser Aussage zu beschwichtigen. »Wie ich schon gesagt habe, ist so ein Suizid nur selten zu erklären. Es passiert einfach, völlig unabhängig davon, welchem Beruf die betreffenden Menschen nachgehen. Leider muss man das hinnehmen. Umso erfreuter bin ich, dass Sie sich vorbehaltlos um Charlie kümmern. Das imponiert mir durchaus.«

Nachfolgend verschwand Doktor Gronkowskie in Richtung eines der Behandlungszimmer. Beschwingt durch die positiven Worte ihres Chefs ging Ariane ihrer Arbeit nach.

Der Morgen verging wie im Flug. Während Ariane die vierbeinigen Patienten in den Hof zum Auslauf brachte, nahm sie auch Charlie mit. Zu ihrer Erleichterung verstand sich der Rüde mit allen anderen Hunden aus der Praxis hervorragend.

Kurz vor der Mittagspause kam Stefanie zu ihr an den Tresen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ihre Freundin den kompletten Vormittag im Laborzimmer verbracht. Es waren eine ganze Reihe von Kulturen anzulegen gewesen, um eine bakterielle Infektion in einer Hundespielgruppe auszuschließen. So hatte Ariane es bisher noch nicht geschafft, ein paar Worte mit der Arbeitskollegin zu wechseln.

»Weißt du, was mir schon den ganzen Morgen über durch den Kopf geht?«

Ariane hatte absolut keine Ahnung, worauf ihre Kollegin gerade hinauswollte. »Vielleicht die furchtbare Szene von gestern?«

»Lass mich mal bitte an den Computer.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drängte sich Stefanie einfach vor den Bildschirm. Ariane hatte keine andere Wahl, als ihr Platz zu machen. Ein wenig angefressen war sie schon, weil sich Stefanie so frech an ihren Arbeitsplatz drängelte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739469034
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Mord Intrige Bergwerk Rathaus Bergbau Sachsen Verschwörung Erzgebirge Erzklopfen Freiberg Cosy Crime Whodunnit

Autor

  • Marcus Wächtler (Autor:in)

In einer kalten verschneiten Februarnacht 2014 fing Marcus Wächtler an, munter draufloszuschreiben. Seitdem hat er damit nicht mehr aufgehört. Aufgewachsen im wunderschönen Freiberg hat Marcus Wächtler seinen Wohnsitz nach dem Politik- und Geschichtsstudium ins beschauliche Dresden verlegt. Neben der Arbeit in seiner kleinen Eventagentur findet er genug Muße, um sich mit geschichtlichen, gesellschaftlichen und politikwissenschaftlichen Themen zu befassen.
Zurück

Titel: Erzfieber