Lade Inhalt...

Weltenbrand: Der Weg des Kriegers

von Danara DeVries (Autor:in)
399 Seiten
Reihe: Weltenbrand, Band 3

Zusammenfassung

Elko und Loke sind nach Asgard aufgebrochen, um den Hammer zurückzuholen. Währenddessen kämpft Claire mit dem unstillbaren Verlangen nach der Energie des Kraftgürtels. Als die Brüder in die unterirdischen Gewölbe des Ratssaals in Asgard eindringen, spürt Claire über Raum und Zeit hinweg die Gefahr. Doch sie kann ihnen nicht helfen. Als die Falle zuschnappt, scheint alles verloren. Elko gefangen, Loke schwer verletzt und Claire nur noch ein Schatten ihrer selbst, von dem erdrückenden Verlangen gelähmt. Rasantes Urban-Fantasy-Abenteuer mit einer Prise Romantik! Band 1: Weltenbrand: Das Erbe des Blutadels Band 2: Weltenbrand: Der Zorn der Brüder Band 3: Weltenbrand: Der Weg des Kriegers Band 4: Weltenbrand: Revelation

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 Weltenbrand

 

 

 

 

 

 

Der Weg des Kriegers

 

 

Danara DeVries

 

 

 

Kapitel 1

Der Nachthimmel war so klar, dass er die Sternenbilder mit dem bloßen Auge erkennen konnte. Elko Jörd kannte sich aus mit Sternenbildern, er wusste immer, wo er sich befand, ob nun auf Midgard oder hier in Asgard. Die Sterne wiesen ihm zu jeder Zeit den Weg.

Der Himmel über Asgard war hell erleuchtet vom Licht aller Sterne, die jemals über Midgard erschienen waren. Ob heute oder vor tausend Jahren. Um in diesem funkelnden Wirrwarr ihre Position zu bestimmen, musste man sich auskennen. Elko lächelte. Er kannte sich aus. Definitiv.

Seufzend drückte er sich noch enger an die nasskalte Mauer und spürte die Steine in seinem Rücken. Die Dunkelheit verhüllte ihn und die gebückte Gestalt seines Bruders. Loke Jörd spähte vorsichtig um die Ecke eines Gebäudes und deutete ihm mit einer flüchtigen Handbewegung an, näher zu kommen. Geduckt schloss Elko zu seinem älteren Bruder auf und hockte sich neben ihn. Der Platz vor ihnen war hell erleuchtet. Das Licht der riesigen, im Boden verankerten Scheinwerfer tauchte die Halle des Rates in Rot- und Goldtöne.

Der Ratssaal und dessen imposante Erscheinung hätte sie zu jeder anderen Zeit in Erstaunen versetzt. Aber weder Elko noch sein Bruder hatten ein Auge für die Schönheit des an ein rundes Amphitheater erinnerndes Gebäude oder an die kunstvoll arrangierte Beleuchtung. Der einzige Laut, der Elko entwich, war unterdrücktes Fluchen.

»Du sagst es, Bruder«, knurrte Loke und ließ sich gegen die Hauswand sinken. »Da kommen wir nie rein!«

Vor dem Ratssaal standen in regelmäßigem Abstand Soldaten, eindrucksvolle Erscheinungen mit ihren blauen Umhängen, goldenen Flügelhelmen und weißen Brustharnischen. Jeder der Männer trug eine Lanze, die er neben sich aufgestellt hatte. Aus eigener Erfahrung wusste Elko, dass die Gardisten zusätzlich zur Lanze einen schweren Zweihänder auf der einen Seite und einen leichten Dolch auf der anderen Seite des Gürtels trugen. Doch diese Gardisten hatten nicht nur ihre Lanzen kampfbereit. Sie hatten die Visiere heruntergeklappt, den Kettenpanzer angelegt und trugen Arm- und Beinschienen.

Normalerweise wurden für den Wachdienst zwei Gardisten eingeteilt, diese trugen leichte Bewaffnung, bestehend aus Dolch und Zweihänder, zudem den Brustharnisch, den Helm und den standesgemäßen Umhang. Diese Gardisten befanden sich eindeutig in Alarmbereitschaft.

»Ich fürchte, dieser Empfang dient ganz allein dir, werter Bruder«, stichelte Loke und warf ihm einen grimmigen Blick zu.

»Das ist lächerlich«, brummte Elko und griff zum hundertsten Mal an seine Seite. Dort, wo üblicherweise seine Waffe hing, befand sich nur eine leere Schlaufe. »Ich bin weder besonders gefährlich, noch bewaffnet. Im Übrigen bin ich tot.«

»Sie fürchten dich trotzdem«, knurrte Loke und ließ die zwanzig Gardisten nicht aus den Augen.

»Kannst du uns nicht unsichtbar machen oder sowas?« Elko wedelte flüchtig mit der Hand. Sein Bruder warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

»Was bitte schön verstehst du unter ›sowas‹? Ich kann nicht einfach einen Schleier über uns legen oder das Bewusstsein der Königlichen beeinflussen. Meland wird Vorkehrungen für solche Angriffe getroffen haben. Diese Sicherheitsmaßnahme hat absolut nichts mit deinem – und auch meinem – vornehmlichen Ableben zu tun. Wenn ich eine Wunderwaffe wie Thors Hammer aufbewahren würde, würde ich die Wachsoldaten auch verzehnfachen.« Loke schnalzte tadelnd. »Und überhaupt hat er gesehen, wie du auch ohne Hammer an den Kraftgürtel herankommst. Die Vorkehrungen sind für den unwahrscheinlichen Fall gedacht, dass du überlebt hast. Und wie du siehst, haben sich seine Maßnahmen ausgezahlt.« Loke grinste gehässig. »Also warum lässt du dir nichts Passendes einfallen, oh großer Krieger?«

Die bissige Wortwahl seines Bruders gefiel Elko überhaupt nicht und zu jeder anderen Zeit hätte er ihn zurechtgewiesen, vor allem, wenn er diesen Tonfall in der Öffentlichkeit angeschlagen hätte. Aber sie befanden sich nicht in einem Thronsaal und er war sich seiner Position überhaupt nicht mehr sicher.

Vor ein paar Tagen hatte Halldor Meland ihn mit Leichtigkeit seiner mächtigen Waffe beraubt und Thors Hammer hierher gebracht. Der Aufmarsch vor ihm ließ keinen Zweifel daran, wo er den Göttlichen aufbewahrte. Und nicht nur das! Halldor Meland hatte ihn dazu gezwungen, Claire mit ihrem Schmerz und ihrem Verlangen alleinzulassen. Elko presste zornig die Lippen aufeinander. Er würde ihn in Stücke reißen! Nur Meland war für Claires Zustand verantwortlich. Er hatte dafür gesorgt, dass das Portal, durch das er wenige Augenblicke zuvor mit dem Hammer verschwunden war, in einer Explosion biblischen Ausmaßes detonierte und ihn und seine Freunde töten würde. Zum Glück – oder leider? – hatte Claire mit Elkos Kraftgürtel einen Schild aus mehreren Schichten um den Explosionsherd gelegt und so alle gerettet. Seine süße, kleine Claire hatte sie alle gerettet. Seitdem war sie praktisch süchtig nach der Energie des Kraftgürtels. Eine kleine Berührung reichte und sie absorbierte Energie bis zur Bewusstlosigkeit. Loke und Sigrid hatten ihm versichert, dass sie ihr Verlangen in den Griff bekommen würden, aber die Verzweiflung in ihren Augen trieb ihn schließlich dazu, Claire zu verlassen. Nur so konnte sie sich in aller Ruhe – und ohne die verlockende Präsenz seiner selbst – ihren Studien widmen. So nannte es Loke, aber in Wirklichkeit musste sie lernen, ihr Verlangen zu kontrollieren. Sonst gäbe es keine gemeinsame Zukunft für sie. Und Elko floh, damit Claire sich nicht aus Versehen selbst umbrachte.

Verbittert knurrte er und ballte die Hände.

»Vielleicht gibt es noch einen anderen Weg«, murmelte Loke und richtete nachdenklich seinen Blick auf den Platz. Doch noch bevor er seine Überlegungen laut aussprechen konnte, erregte geschäftige Aktivität ihre Aufmerksamkeit. Die Gardisten formierten sich zu einer Gasse, beugten die Lanzen zum Spalier und verharrten in dieser Position. Elko und Loke spähten irritiert um die Ecke, doch die Richtung, in die das Spalier der Gardisten wies, entzog sich ihrem Blick. Die Geräusche aus dem verborgenen Winkel jagten Elko eisige Schauer über den Rücken. Noch ehe er die vielen Personen überhaupt sah, hörte er Schreie, verzweifeltes Wimmern und Wehklagen.

»Was zur Hölle ...?«, keuchte er und verfolgte angespannt, wie eine große Gruppe auf die Lanzengasse der Gardisten zugetrieben wurde – im wahrsten Sinne des Wortes! Die Menschen wurden von schwarz gekleideten Männern – keine Gardisten, denn diese beteiligten sich niemals an so einer Zurschaustellung von Macht und Gewalt – wie Vieh vorangetrieben. Trotz der Entfernung konnte Elko sehen, dass die Gardisten keine Miene verzogen. Egal, was nun folgen würde, sie waren Elitesoldaten, ausgebildet um zu gehorchen. Sie widersetzen sich dem Befehl des Rates nicht.

Am Eingang des Ratssaales erschien eine dunkel gekleidete Person, die durch das strahlende Licht nur schwer erkennbar war. Auf seine flüchtige Handbewegung hin lösten die Gardisten ihr Spalier auf und umringten die verängstigten Menschen, während die Schwarzen den Platz umstellten. Die Lanzen der Gardisten wurden ineinander verkeilt, sodass die Gefangenen in dem Oval eingeschlossen waren. Elko beschlich eine dumpfe Vorahnung, was nun folgen würde. Doch wie so oft in den letzten Wochen, setzte das Schicksal noch einen drauf.

»Schau!« Loke zupfte am Ärmel seines dunklen Umhangs und deutete auf zwei Gestalten am Rand des Kreises, die sich eng umschlungen hielten. Beim Anblick dieser beiden Personen gefror ihm das Blut in den Adern und sein rationales Denken wurde abrupt ausgeschaltet.

»Bei den Göttern!«, keuchte er und wollte sich aus der Dunkelheit lösen, auf den Platz stürmen und seine Eltern befreien. Doch Loke packte ihn am Kragen und schleuderte ihn kraftvoll gegen die Hauswand. Mit eisernem Griff presste er ihm eine Hand auf den Mund, während er ihn mit der anderen gegen die nasskalten Steine drückte.

»Spinnst du?!«, zischte er gedämpft. »Wenn du jetzt da raus gehst, kannst du ihnen gleich in den Kerker folgen!« Loke schlug ihn erneut gegen die Wand. Elko wehrte sich halbherzig, denn er wusste, dass Loke recht hatte. Aber er konnte doch nicht einfach tatenlos dabei zusehen, wie seine Eltern behandelt wurden.

Loke fixierte ihn drohend. »Kann ich dich loslassen, ohne dass du eine Dummheit begehst?« Elko knirschte mit den Zähnen und rang sich zu einem knappen Nicken durch.

»Gut, dann beobachten wir jetzt, was dort vor sich geht, okay?« Loke wartete nicht, ob Elko antwortete, sondern ließ ihn abrupt los und wandte sich wieder dem Geschehen zu. Elko atmete tief ein und aus. Das Blut pochte durch seine Adern und dröhnte in seinen Ohren. Er musste irgendetwas unternehmen! War es nicht schon genug, dass Meland sie verhöhnte und als Verräter abstempelte?! Musste er sich auch noch an seinen Eltern vergreifen? Meland? Moment!

Hastig folgte Elko Lokes Beispiel und linste erneut um die Ecke. »Ist er das?«, flüsterte er leise und deutete auf die dunkel gekleidete Person am Eingang des Ratssaales. Loke kniff die Augen zusammen und stierte angestrengt in die angedeutete Richtung. »Könnte sein, aber das Licht blendet mich. Die Kleidung passt. Das ist Halldor Meland!«

Elko stöhnte. »Was will der da?«

»Wir werden es gleich erfahren, sei leise«, zischte Loke. Konzentriert lauschten sie den Worten, die vom Platz her zu ihnen herüberwehten.

»Ihr fragt euch bestimmt, warum euch unsere Soldaten des Nachts vor den Rat führen?« Die Worte dröhnten in seinen Ohren. Seine Brust krampfte sich in fatalistischer Gewissheit zusammen. Mühsam wandte er sich ab und ließ sich gegen die nasskalte Mauer sinken. Die Kälte drang durch seine Kleidung, doch er spürte sie nicht.

In dem panischen Durcheinander auf dem Platz hatte er nicht nur seine Eltern erkannt. Alle Personen, die von den Gardisten eingeschlossen wurden, hatten eines gemeinsam: Sie waren alle bei der Wahl vor knapp einem Jahr zugegen.

»Euer Erbe zeichnet euch als Verwandte der Verräter Elko und Loke Jörd aus. Ihr seid des Verrats angeklagt und werdet hiermit zum Tode verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig und wird im Morgengrauen vollstreckt.« Eine Welle des Schocks ging durch die Eingekreisten, als die Worte Melands langsam in ihren Verstand sickerten. Einige starrten erschüttert vor sich hin, wieder andere versuchten zu fliehen und drängten gegen die undurchdringliche Lanzenbarriere. Doch die Gardisten waren darauf vorbereitet und unterbanden energisch jeden Fluchtversuch. Melands letzte Worte gingen im Kreischen der Frauen unter. »Gegen dieses Urteil gibt es keine Revision. Verrat bedarf keiner weiteren Verhandlung. So schreibt es das Gesetz vor! Bis zur Vollstreckung des Urteils werdet ihr ins Verlies unterhalb des Ratssaals gebracht.«

Fassungslos starrte Elko auf den sich langsam leerenden Platz. Widerstandslos ließ er sich von seinem Bruder wegführen. Er war schon immer der Emotionalere gewesen. Während Loke bereits hartnäckig an einem Plan arbeitete, kämpfte er noch gegen den Drang, auf den Platz zu stürmen und sowohl Soldaten als auch Gardisten grün und blau zu prügeln. Er musste doch etwas tun! Wenn er im Besitz des Hammers wäre, dann wäre dieses Vorgehen anzuraten. Aber so war er nur ein gewöhnlicher Mann, stärker als die meisten von ihnen und dank seiner militärischen Ausbildung ein hervorragender Kämpfer, doch genauso verletzlich. Einzig das Erbe des Hammers verlieh ihm übermenschliche Stärke.

Loke führte ihn derweil durch die dunklen Gassen, auf einen weiteren Platz, weit ab vom Ratsgebäude. Am Fuße einer Statue ließen sie sich nieder und gaben sich ihren Gedanken hin. Es war bereits weit nach Mitternacht und in ein paar Stunden würde dieser Platz von Menschen überquellen, die Marktstände würden bestückt werden und das geschäftige Treiben würde die Luft hier in Schwingungen versetzen. Niemand würde ahnen, welches schauderhafte Ereignis sich wenige Stunden zuvor auf dem Ratsplatz abgespielt hatte.

Elko fröstelte, zog sich den Umhang fester um die Schultern und die Kapuze tiefer ins Gesicht. Dabei fiel sein Blick auf eine Tafel am Fuße der Statue. Irritiert glitten seine Augen über die Schrift. Was war das denn? Die Inschrift war durch den Dreck und Schmutz kaum lesbar, doch er brauchte sich absolut nicht anstrengen, denn er kannte deren Inhalt. Er erhob sich langsam, entfernte sich unter den stechenden Blicken seines Bruders und drehte sich um. Loke beobachtete ihn. Langsam glitt sein Blick höher und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er die verunstaltete Statue seiner selbst betrachtete.

»Was zur Hölle ...?«, keuchte er und kniff die Augen zusammen, um die Worte auf den Plakaten zu entziffern. Eines hing über seinem Kopf und betitelte ihn als »Verräter«, ein anderes wickelte sich um seine Brust: »Hurenbock«! Entsetzt schloss er die Augen und wandte sich ab, als sich Loke zu ihm gesellte. Sein Blick glitt in gleicher Manier über die Statue des einst glanzvollen Hammerträgers. Nur dass auch hier der Hammer in seiner ausgestreckten Faust fehlte. Stattdessen hielt der Stein-Hammerträger einen toten Vogel in der Hand. Mühsam schluckte er die aufkommende Übelkeit herunter und suchte die Augen seines Bruders, die die Statue spöttisch musterten.

»Sieht ganz so aus, als hätte der Rat deine Abwesenheit genutzt und Stimmung gegen dich gemacht«, stichelte Loke grinsend und schlug ihm gut gelaunt auf die Schulter. »Aber mach dir nichts draus, Bruder, man gewöhnt sich an so einiges!«

Elko schluckte und verzog das Gesicht. »Und was machen wir jetzt?«

Claire starrte auf ihre Finger, ballte sie krampfhaft und löste sie erneut. Doch das Zittern wollte nicht aufhören. Der Schmerz flirrte grauenhaft real in ihrem Inneren und sie schnappte keuchend nach Luft, wann immer sie an ihn dachte. Ihr Körper nahm die sehnsuchtsvollen Gedanken gierig auf und strebte erwartungsvoll nach Elkos Energie. Er war erst seit ein paar Stunden fort, doch allein der Gedanke, von seiner Energie unwiederbringlich abgeschnitten zu sein, warf sie schmerzhaft zu Boden. Entschlossen straffte sie die Schulter. Sie würde nicht wie ein Häufchen Elend zusammenbrechen, sondern genauso wie Elko ihre Aufgabe erfüllen.

Eine sanfte Berührung riss sie aus ihren Gedanken und sie hob blinzelnd den Kopf. Sigrid ließ sich ächzend auf den kleinen Korbsessel neben ihrem Bett sinken und stellte eine dampfende Tasse Kräutertee auf den Nachttisch.

Sigrid gab sich große Mühe, ihre eigene Erschöpfung vor ihr zur verbergen. Sie versuchte, den Anschein von Zuversicht zu vermitteln, doch Claire wusste, dass sie immer noch mit ihrer eigenen Regeneration kämpfte. Claire runzelte die Stirn, doch ihr wollte beim besten Willen nicht einfallen, wie lange es her war, dass Sigrid ihre eigene Lebensenergie geopfert hatte, um Elko aus einem todesähnlichen Schlaf zu wecken, was ihr, Gott sei Dank, geglückt war. Doch der Preis dafür war hoch. Sigrid kämpfte mit einer Erschöpfung, für deren Beschreibung Claire einfach keine Worte fand. Sigrid schlief viel, aber der Schlaf brachte keine Erholung.

Kurz vor ihrer Abreise hatte sie mit Elko und Loke gesprochen und dadurch eine vage Verbesserung ihres Zustandes erreicht. Elkos erneute Zuneigung hatte Sigrids Überlebenswillen entfacht. Und Loke? Nun, Claire hatte von Sigrid erfahren, dass auch er sich mit ihr ausgesöhnt hatte und sie nun an einem Strang zogen.

Der Heilerin war die Aufgabe zugefallen, Claire bei ihren Studien – so nannte sie den Kampf gegen das unaufhaltsame Verlangen nach Elkos Energie – zu unterstützen. Claire hatte sie noch im Bunker gefragt, ob das überhaupt möglich sei, doch Sigrid hatte nur den Kopf geschüttelt. »Ich vergleiche deinen Zustand mit einer Suchterkrankung. Stell dir vor, du leidest unter Alkoholismus oder bist drogenabhängig. Auch das wäre kein Todesurteil. Du könntest den Umgang mit deiner Erkrankung lernen. Genauso möchte ich dein Verlangen behandeln.« Claire glaubte nicht, dass Sigrid Erfolg haben würde. Doch wenn sie Elko jemals wiedersehen und eine gemeinsame Zukunft mit ihm haben wollte, musste sie kämpfen.

Im Augenblick stand sie ganz am Anfang ihrer Heilung. Ihr Körper reagierte exakt so, wie Sigrid es vorausgesagt hatte. Mit Übelkeit, Kopfschmerzen, Erschöpfung und diesem Zittern.

»Trink das«, drang Sigrids einfühlsame Stimme zu ihr hindurch. Claire spürte das harte Porzellan einer Tasse und das deutliche Zittern Sigrids.

»Was ist das?«, murmelte sie und richtete sich auf. Sie nahm die Tasse entgegen und nippte vorsichtig an der dampfenden Flüssigkeit.

»Der Tee, der dir nach Lokes Angriff gutgetan hat«, antwortete Sigrid. Erschöpft ließ sie sich zurücksinken. Der stärkende Duft belebte Claire und schenkte ihr für die Dauer eines Wimpernschlags Zuversicht. Das Gebräu war zweifelsohne mit einem starken Opiat versetzt. Prächtig, von einer Drogensucht zur nächsten. Claire lachte zynisch und inhalierte gierig den Duft.

»Was ist so lustig?«, fragte Sigrid amüsiert.

»Nichts, nichts«, antwortete Claire. »Ich dachte nur darüber nach, ob der Tee nicht auch irgendeine Droge enthält.« Sigrid lächelte sie an.

»Ein wenig schon. Der Tee besteht aus den Blättern der Coca-Pflanze sowie einem Teil Mate. Er hilft gegen Kopfschmerzen und Übelkeit und hat eine vitalisierende Wirkung.«

»Coca ... wie in Kokain?« Claire hielt die Tasse etwas von sich und beäugte die grünliche Flüssigkeit mit dem leicht grasigen Geschmack misstrauisch. Die von Sigrid beschriebene Wirkung setzte ein, die Kopfschmerzen verschwanden und sie konnte die Tasse ohne das lästige Zittern halten. Das Zeug war exzellent, aber offensichtlich nicht ganz legal.

Sigrid zuckte die Schultern. »Ja, Coca wie in Kokain. Aber mach dir keine Sorgen. Laut meinen Forschungen solltest du keine Abhängigkeit entwickeln. In Kolumbien und Bolivien werden die Blätter des Coca-Strauchs von den Bauern ständig gekaut und eine Abhängigkeit ist nicht bekannt. Genieße einfach seine Wirkung. Sie wird dir helfen, den Entzug zu überstehen.«

Oh Gott, sie tat es tatsächlich! Sigrid verglich ihr Verlangen mit einer Suchterkrankung. Claire fühlte sich erbärmlich, ausgezehrt und hungrig. Aber keine Nahrung der Welt würde diesen Hunger stillen können. Seit sie allerdings den Duft des Coca-Tees inhalierte, war ihr Verlangen weniger nagend. Sigrid kannte sich definitiv mit Pflanzen aus. »Danke«, murmelte Claire aufrichtig.

»Gerne. Trink den Tee und dann ruh dich aus. Ich versuche noch einmal, Tommy zu erreichen.« Tommy hatte sie gestern Abend zurück in ihre Wohnung gebracht und sich dann verabschiedet. Eigentlich wollte er heute Morgen mit ihnen zusammen frühstücken, aber bisher fehlte jede Spur von ihm. Sigrid legte die Stirn vor Sorge in Falten, als sie erneut seine Nummer wählte. Doch ihr Anruf blieb unbeantwortet, so wie die letzten zwanzig Male.

»Er wird einfach schlafen«, versuchte Claire sich in beruhigenden Worten. »Die letzten Tage waren kräftezehrend und er hat genauso wenig Schlaf wie wir alle abbekommen. Vermutlich hat er sein Handy ausgeschaltet und schnarcht friedlich.« Die Worte sollten Sigrid trösten, aber Claire glaubte selbst nicht daran. Das war so gar nicht Tommys Art. Wenn er sagte, er wolle mit ihnen frühstücken, dann würde er auch pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt vor der Tür stehen. Unruhig nagte sie an ihrer Unterlippe herum. Erst Elko, jetzt Tommy. Und Steve und ihr Vater. Irgendwie schienen sie alle Männer in ihrem Leben zu verlassen. Claire schluckte. Stop! Sie war an einem emotionalen Tiefpunkt angelangt, aber sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Vermutlich gäbe es für Tommys Verhalten eine plausible Erklärung. Meland war fort, Loke auf ihrer Seite und Kjartan tot. Tommy war sicher, aber Elko und Loke nicht. Sie jagten Meland und dem Hammer nach. Claire wehrte sich heftig gegen die aufkommende Beklemmung. Sie durfte nicht darüber nachdenken, in welche Gefahren sich die Brüder begaben.

Sigrid ließ ihr Handy sinken. »Du hast vermutlich recht«, murmelte sie abwesend.

»Und womit fangen wir an?« Claire ließ die halb geleerte Tasse sinken. »Ich fühle mich deutlich besser als noch vor ein paar Minuten und ich denke, ich kann sogar aufstehen.«

Geistesabwesend lächelte Sigrid und warf einen nervösen Blick auf ihr Handy. »Du solltest dich lieber ausruhen, aber wenn du willst, geh duschen. Nach dem Frühstück gehen wir ein wenig spazieren. Der Stadtpark sollte grün genug sein, damit du einen Energieknoten finden und deine Reserven aufladen kannst.«

Nach einer ausgiebigen Dusche und einem zweiten Frühstück fühlte sich Claire deutlich besser und sie gingen in den Park. Sie suchten sich eine geeignete Stelle und ließen sich im Gras nieder. Claire atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. Das Rauschen der Blätter durchflutete ihre Sinne und löschte nach und nach die Unruhe und Rastlosigkeit aus. Obwohl September war, war es noch immer warm und die kräftigen Strahlen der Sonne verhießen einen weiteren schönen Spätsommertag. Der Wind frischte auf und verfing sich in ihrem Haar. Er spielte mit den Strähnen und trieb sie ihr übers Gesicht. Claire lächelte und inhalierte ein weiteres Mal den grünen Duft.

Sigrid hatte sich neben ihr ausgestreckt und die Augen geschlossen. Sie hatte Claire aufgetragen, den Knoten selbstständig zu suchen. Für einen winzigen Moment war sie von ihrem Erfolg überwältigt, als sie ihn tatsächlich gefunden hatte. Doch dann erinnerte sie sich an die Minuten vor Lokes Angriff im Wald, als Elko ihr gezeigt hatte, wie sie das engmaschige Netz pulsierender Energie finden konnte. Ihr war es gelungen, das lebendige Netz aus reiner und unverfälschter Energie unter ihren Füßen ausfindig zu machen. Elko war damals barfuß gewesen ... und damit war ihre gute Laune dahin. Elko hier, Elko da. Das schmerzhafte Ziehen in ihrer Mitte. Claire presste die Lippen zu einem blutleeren Strich.

Nicht jetzt, bitte nicht schon wieder. Sie spürte das Zittern zurückkehren, noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte. Doch dann fühlte sie Sigrids Berührung und eine Welle positiver Gedanken durchflutete sie. Elko beim Spiel als kleiner Junge, das sanftmütige Lächeln seines Vaters, die blonden Locken seiner Mutter und Loke, wie er konzentriert die Stirn runzelte und über einer Aufgabe grübelte. Gierig nahm Claire Sigrids Glücksgefühl in sich auf.

»Such nach deinen eigenen Momenten der Liebe. Augenblicke, die nur dir gehören«, hörte sie Sigrids Stimme aus weiter Ferne. Das Rauschen der Blätter begleitete ihre Worte und verlieh ihnen eine besänftigende Wirkung. »Du empfindest so viel Widersprüchliches für ihn. Doch er ist mehr als dieser scheußliche Kraftgürtel. Such nach euren Augenblicken der Zweisamkeit, wo ihr euch am Nächsten wart.« Claire schnalzte missbilligend mit der Zunge. Wie sollte sie nach glücklichen Momenten suchen, wenn ihre gemeinsame Vergangenheit nur aus Leid und Schmerz bestand? Sie konnte sich nicht wie Sigrid an ihn als kleinen Jungen erinnern. Im Übrigen hatte Sigrids Liebe nicht das geringste mit ihrer gemeinsam. Ihre Liebe glich eher der einer großen Schwester für ihren jüngeren Bruder. Glaubte Sigrid tatsächlich daran oder wollte sie sich nur selbst davon überzeugen? Sigrid liebte Elko doch auf eine ganz anderen Weise ...

Claire scheute vor der Richtung ihrer Gedanken zurück. Sie sollte die Bemühungen der Asin nicht verspotten! Auch wenn sie sich im Streit kennengelernt hatten, konnten sie mittlerweile normal miteinander umgehen, ohne ständig um Elkos Zuneigung zu buhlen. Das war ja nun auch nicht mehr nötig, jetzt, wo er nicht mehr da war. Und da waren sie wieder! Diese bohrenden, negativen Gedanken, die ständig ihren Geist vergifteten und sie daran hinderten, nach positiven Gefühlen zu suchen.

Wenn sie sich recht erinnerte, hatten sie sich sogar halb im Streit getrennt. Er hatte von ihr verlangt, dem Einsatz in Lokes Lagerhalle fernzubleiben. Statt sich seinen Wünschen zu beugen, hatte Claire ihn belogen. Elko war in dem Glauben gegangen, dass sie im Bunker zurückbleiben würde. Doch Claire hatte ihn überlistet; sie hatte Sigrid gezwungen, ihr mit einem Schleier – ein Zauber, der die Blicke der anderen ablenkte – zu helfen. So war sie unbemerkt auf die Ladefläche des SUV gelangt und als blinder Passagier mitgefahren. Danach war alles so schnell gegangen, dass ihr keine Zeit mehr für Erklärungen geblieben war. Ihr Verlangen war während des Einsatzes ins Unerträgliche gewachsen, bedingt durch die Verwendung ihrer Fähigkeiten. Sie hatte die Explosion eines Portals verhindern müssen und dazu Elkos Energie gebraucht. Er war danach übereilt abgereist und ihr war nur die unstillbare Gier geblieben. Claire verzog das Gesicht. Wie sollte sie da Sigrids Anweisungen folgen und sich positive Erinnerungen ins Gedächtnis rufen?

»Versuch‘s mal mit der hier«, murmelte Sigrid neben ihrem Ohr. Erschrocken fuhr sie zusammen, als sich tief in ihrem Inneren ein sanftes Kribbeln ausbreitete. Wie die leichte Berührung tausender federleichter Schmetterlingsflügel, die über die Innenseite ihres Körpers strichen. Ein zaghaftes Lächeln erhellte ihre Züge, als sich das Kribbeln in ein sehnsuchtsvolles Ziehen verwandelte. Ihm fehlte das gierige Verlangen, ein ganz anderes Begehren war der Kern dieser Empfindung. Erschüttert öffnete sie die Augen und starrte in Sigrids glühenden Blick.

»Machst du das etwa?«, keuchte Claire. Pah, sie stöhnte die Worte mehr, als sich das Gefühl verstärkte, das Elkos Berührung zwischen ihren Schenkeln auslöste.

Sigrid lachte perlend und wich einige Zentimeter zurück. »Ich hole nur hervor, was du anscheinend vergessen hast. Lehn‘ dich zurück und genieße es. Ich bin davon überzeugt, dass da noch deutlich mehr auf dich zukommt.« Das Lächeln hatte etwas sehr Anzügliches, aber die Gefühle in Claires Körper vereinnahmten sie vollständig. Keuchend fuhr sie zusammen, als sie glaubte, das Echo seiner Stärke in sich zu spüren.

Gott, das war gut! Genauso hätte es sich angefühlt, wenn tatsächlich etwas außerhalb ihrer Träume passiert wäre! Was immer Sigrid tat, übernahm bereits die Kontrolle. Sie hatte gar keine andere Wahl, als sich den Gefühlen hinzugeben. Stöhnend warf sie den Kopf in den Nacken, doch ein Gedanke ließ ihr keine Ruhe.

»Ich will nicht, dass du das tust! Bist du etwa in meinen Kopf eingedrungen?!« Claire krümmte sich zittern zusammen und fixierte Sigrid mit wildem Blick, als sie die nächste Welle erfasste. Gott, sie würde sich am liebsten ins Gras werfen, sich die Kleider vom Leib reißen und hemmungslos ... Aber so lange Sigrid in der Nähe war, konnte sie sich unmöglich gehen lassen.

Sigrid lächelte. »Du erlebst nichts, was ich nicht auch schon erlebt habe.« Der zynische Unterton entging Claire nicht. Auch wenn sie sich noch so viel Mühe gab, konnte Sigrid nicht aus ihrer Haut. Sie musste ihr immer wieder vorhalten, dass sie Elko bereits gehabt hatte. Wie Claire das hasste!

»Und was deine Frage betrifft, nein, ich bin nicht in deinen Gedanken. Ich habe nur deine Gefühle an die Oberfläche deines Bewusstseins gezerrt, um dir zu zeigen, was du wirklich empfindest.« Sigrids Tonfall wurde oberlehrerhaft und sie betrachtete Claire nachdenklich. »Du quälst dich mit Selbstzweifeln, ob das, was du für Elko empfindest, der Wahrheit entspricht oder ob du nur von blindem Hunger gesteuert wirst. Glaubst du denn, dass das, was du gerade empfindest, das Verlangen nach seiner Energie ist?«

Claire starrte sie fassungslos an und schüttelte den Kopf. »Und jetzt lehne dich zurück und genieße die Erinnerung. Der Weg zu deiner Genesung führt in erster Linie über positive Gefühle.« Obwohl sie vor Verlangen zitterte, verstand sie den tieferen Sinn hinter Sigrids Worten. Sie würde erkennen müssen, dass Elko mehr war als ein Selbstbedienungs-Buffet für ihren unstillbaren Hunger nach Energie. Erst, wenn sie ihn bewusst in einem anderen Licht sah, konnte sich ihre Einstellung zu ihm ändern. Und damit würde es ihr hoffentlich auch einfacher fallen, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren.

»Aber was, wenn mich jemand sieht?« Nervös sah sie sich um. Es war bereits Mittag und der Park diente vielen Städtern als gern genutztes Ausflugsziel für die Mittagspause. Hier und da schoben junge Mütter ihre Kinderwagen und genossen die erfrischende Kühle. Claire konnte unmöglich hier ... und mitten im Park. Die Scham schoss ihr ins Gesicht und sie wollte sich am liebsten in ihrer Wohnung verkriechen. Wenn Sigrid schon ihre intimsten Erinnerungen hervorholte, dann doch bitte innerhalb ihrer eigenen vier Wände. Sie hätte dann zwar noch immer Sigrid als Zuschauer, aber das war alle Male besser als hier im Park ... Oh Gott! Selbst Sigrid wollte sie nicht dabeihaben! Das waren ihre ureigensten Gefühle. Die gingen die Asin absolut nichts an!

Die Scham musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen, denn Sigrid machte eine wegwerfende Geste. »Ich werde mich nicht in deine Gedanken einmischen oder sie teilen. Ich habe nur deiner Erinnerung ein wenig auf die Sprünge geholfen.« Claire spürte eine neue Welle. Langsam verlor sie die Kontrolle. »Du musst dich dieser Erinnerung hingeben. Einmal in Gang gesetzt, kann sie nicht aufgehalten werden. Außerdem wird sie dir guttun. Also lass dich fallen und genieße es. Und was deine Sorgen angeht ...« Sigrid drehte den Kopf und beobachtete die vorbeischlendernden Passanten. »Die Menschen werden nichts von dem mitbekommen, was hier stattfindet. Ich habe einen Schleier über uns gelegt, der ihre Blicke ablenkt und unsere Unterhaltung dämpft. Für sie werden hier nur zwei Frauen im Gras sitzen.« Claire hing an ihren Lippen und versuchte krampfhaft, die Momente mit Elko und ihre letzten gemeinsamen Stunden zurückzudrängen. Sie flehte förmlich darum, endlich erlöst zu werden. Doch nein, halt, dann würde diese köstliche Stimulanz aufhören und das wollte sie auf gar keinen Fall. »Ich ... kann es ...«, stöhnte sie und fuhr sich erregt über die geröteten Wangen.

Sigrid lächelte. »Sei unbesorgt, niemand wird dich hören oder sehen. Und jetzt verschmelze mit der Erinnerung.«

Das Rauschen der Blätter im Ohr breitete sich die Dunkelheit über sie aus. Die vollständige Abwesenheit von Licht erinnerte sie stark an die Gefangenschaft im eigenen Geist, als Loke von ihr Besitz ergriffen hatte. Doch statt den bedrohlich über ihr schwebenden grünen Augen und der eisigen Kälte breitete sich die Lust in ihr aus. Entsprungen in ihrem Schoss, begrub sie eine Welle reiner Empfindungen. Sie spürte die sanfte Berührung seiner Finger, wie sie ihr Haar beiseiteschoben, um seine Lippen federleicht über ihre Halsbeuge wandern zu lassen. Claire stöhnte auf und bog den Kopf, sodass er noch mehr Platz für seine Berührungen hatte. Ein sanftes Vibrieren in ihrem Rücken durchfuhr sie, als Elko leise lachte und sich seine Hand unter ihr T-Shirt schob. Seine Finger hinterließen eine heiße Spur puren Verlangens auf ihrer Haut, strichen sanft über die Narben, die das Gift auf ihrem Körper hinterlassen hatte. Claire erwartete das erneute Aufflammen des Schmerzes, aber seine Liebkosungen hinterließen nichts weiter als das stete Verlangen nach mehr. Selbst die allzeit präsente Gier nach seiner Kraft blieb aus. Keine zwanghafte Kontrolle ihrer Reflexe, kein mächtiger Sog, nur sexuelles Begehren. Claire stöhnte auf und drängte sich an ihn.

»Mhhhh, das gefällt dir wohl?«, schnurrte er und leckte zärtlich über ihre empfindliche Haut. Obwohl Claire wusste, dass sie sich in einer Erinnerung befand, jagte ihr ein heißer Schauer, ausgelöst durch den tiefen Bass seiner Stimme, über den Rücken. Gott, er fehlte ihr so sehr!

Die vollkommene Dunkelheit verstärkte ihre Empfindungen. Sie musste sich vollends auf ihren Tast- und Geruchssinn konzentrieren, hörte seinen stoßweise gehenden Atem an ihrem Ohr und spürte seine deutliche Härte gegen ihren Po drücken. Instinktiv presste sie sich enger an ihn. Elko keuchte auf und ließ seine Hand unter ihrer Brust ruhen. Sein Daumen fuhr immer wieder über die wulstige Narbe, die genau zwischen den Brüsten verlief. Wann immer seine Fingerkuppe über die Narbe strich, durchfuhr sie die Erinnerung an die schrecklichen Momente. Die Narbe, die Elkos Daumen so hingebungsvoll liebkoste, würde sie ihr Leben lang zeichnen und immer wieder an ihre selbstlose Tat erinnern.

Nur das Ausbleiben des süßen Schmerzes zeigte ihr, dass sie sich in einer Erinnerung befand. Die Enttäuschung darüber löschte ein energischer Stoß seiner Hüften gegen ihren Po radikal aus. Claire bog sich ihm stöhnend entgegen. Sie wollte ihn jetzt spüren, scheißegal, dass es sich um eine Erinnerung handelte. Sein betörender Geruch nach Erde und Ozon war so verdammt real, dass es sie beinahe umbrachte, ihn nicht sofort in sich zu haben. Hastig nestelte sie an ihrem Hosenknopf und Elko ließ lachend von ihrer Narbe ab, um ihr hilfreich zur Hand zu gehen.

»Nur Geduld«, murmelte er mit seinem tiefen Bariton und schob seine Hand in ihre Jeans. Claire stöhnte erleichtert auf und warf ihren Kopf gegen seine kräftige Schulter, als seine geschickten Finger sie genau dort berührten, wo sie es brauchte. Keuchend gab sie sich seinem Streicheln hin und schloss die Augen. Zwischen ihrem Stöhnen und seinen abgehackten Atemzügen, schob sie sich die Hose hastig über die Hüften. Seine große Hand brauchte dringend mehr Platz, damit er besseren Zugang zu ihrer Mitte hatte. Erschrocken keuchte sie auf, als er energisch einen Finger in sie stieß und ihr somit den Verstand raubte. Geschickt rieb er über ihre empfindlichsten Stellen und entlockte ihr ein weiteres Stöhnen.

»Willst du ...«, schnappte sie und griff hinter sich.

»Schhhhttt ... genieße es.« Der tiefe Bariton strich über ihre Haut und sammelte sich zwischen ihren Schenkeln. Ein winziger Funken knisterte auf seiner Fingerkuppe, die gerade ihre empfindlichste Stelle quälte. Claire schrie auf und warf sich gegen ihn. »Mit mir ist alles in Ordnung«, seufzte er und entlockte ihr einen weiteren abgehackten Schrei. »Mach dir keine Sorgen.«

Was? Warum sollte sie sich denn Sorgen machen? Er verschaffte ihr hier gerade einen Hammer-Orgasmus, jagte wohldosierte Ladung knisternder Elektrizität nach der anderen in ihr Innerstes und ließ sie immer wieder aufschreien. Warum sollte sie sich jetzt Sorgen machen? Sie wusste, wie sehr er es genoss, sie schreien zu hören. Oh Gott! Manchmal könnte sie ihn dafür erwürgen! Er ließ sie leiden und zwang sie zu immer neuen Wellen ekstatischer Lust, während er mit seiner stählernen Härte hinter ihr lag, sich an ihr rieb und nichts weiter tat, als mit seinen Fähigkeiten anzugeben. Ja genau! Er war ein unverbesserlicher Angeber. Verdammt!

»Bitte ...«, flehte sie und stieß heftig ihren Po gegen seine Mitte. Sie wollte ihn endlich in sich spüren, wollte ihn anstacheln, ihn reizen, ihn seiner Beherrschung berauben. Doch Elko lachte zufrieden mit ihren Reaktionen und schob einen zweiten Finger in sie. Oh nein, bitte! Seine Größe spiegelte sich in seinen Händen und vor allem in seinen Fingern wieder. Einer schien genau passend zu sein, während ein zweiter ... Er jagte weitere winzige Stöße elektrischer Energie in ihren Schoß. Claire warf sich herum, keuchte und presste ihre Schenkel verzweifelt aneinander.

»Bitte ....«, stöhnte sie und sah sich der Welle des heranrollenden Orgasmus hilflos gegenüber. »Bitte, du ... in mir ...« Doch, statt sich endlich seiner Hose zu entledigen, rieb er mit den Handballen über ihren Venushügel. Als er noch ein weiteres Stakkato kleiner Stromstöße in sie feuerte, war es um sie geschehen. War es das Rauschen der Blätter oder der über ihr zusammenbrechende Orgasmus? Claire konnte es nicht auseinanderhalten. Doch als sie sich endlich von den Wellen ekstatischer Energie erholte und langsam wieder zu sich kam, hörte sie noch immer seine Stimme in ihrem Kopf. »Mach dir keine Sorgen, mit mir ist alles in Ordnung.«

Sie lag auf dem Rücken und sah in das grün funkelnde Blätterdach hinauf. Die Sonne brach sich in dem Meer aus verschiedenen Grüntönen und der blaue Spätsommerhimmel strahlte mit den heißen Strahlen der Sonne um die Wette. Obwohl in ihrem Schoß noch immer die Wellen des Orgasmus gegen ihre Mitte schlugen, machte sich eine ungute Vorahnung in ihrem Magen breit. Heiße und kalte Wellen durchfuhren sie und verwandelten ihr Innerstes in einen Knoten unheilvoller Angst. Was zur Hölle war mit Elko los? War etwas passiert? Warum dieses Gefühl?

Kapitel 2

Elko fluchte und zog das abgenutzte Wams über seinen Rücken. Das Leder sollte die empfindliche Nierengegend bei einer Konfrontation schützen, aber es saß viel zu hoch. Er lockerte die Riemen so weit, dass das Wams noch etwas tiefer rutschte.

Er hätte sich gerne für ihren Einbruch vernünftig ausgerüstet. Leider fehlte ihnen die Zeit und vor allem auch die nötigen finanziellen Mittel. Ihm waren nur wenige Goldmünzen geblieben, die für ein paar Waffen und das Wams draufgegangen waren.

Bedauerlicherweise konnten sie auch keine Bank aufsuchen. Dank der frostigen Stimmung in der Bevölkerung und der Banner wagten sie nicht, auch nur einen Fuß in ein Geldinstitut zu setzen und ihre Konten zu plündern. Wenn Meland halbwegs gründlich arbeitete, waren ihre Geldmittel sowieso eingefroren. Ihre Eltern saßen in Kerkerhaft und die Söhne waren als Verräter abgestempelt.

Vereinzelte Plakate berichteten sogar noch von seiner Wahl zum Hammerträger, aber sie waren mit abfälligen Parolen verschandelt. Jedes Mal, wenn jemand im Vorbeigehen einen dieser Sprüche las, wurde sein Hass auf Elko Jörd erneut geschürt. Der Mann, der ihr heiligstes Relikt gestohlen hatte und seinem flüchtigen Bruder hinterherjagte. Man verachtete ihn als Verräter.

Die Verurteilung ihrer Verwandten und Eltern zeigte eindrucksvoll, dass verschmierte Plakate nur die Spitze des Eisbergs darstellten. Meland hatte Macht und Einfluss. Ihr einziger Vorteil bestand im Moment darin, dass der hinterhältige Telepath davon ausging, dass sowohl Elko als auch Loke tot waren. Gestorben im Inferno eines explodierenden Portals.

Eigentlich hatte Elko noch während des kurzen Fluges nach Rostow geplant, einfach ins Ratsgebäude zu marschieren und Meland und den Rat zur Verantwortung zu ziehen. Aber je länger sie sich in Asgard befanden, desto nachdenklicher wurde er. Meland und der Rat steckten unter einer Decke, und er war praktisch kampfunfähig. Der Telepath hatte ihm offenbart, dass Elko nicht – wie überliefert – vom Hammer als sein neuer Träger erwählt worden war. Meland hatte ihm höhnisch ins Gesicht gelacht und erklärt, dass nur er bestimmte, wer der nächste Träger wurde. Er, Halldor Meland, hatte den Hammer auf Elko Jörd programmiert und nur deshalb war er erwählt worden. Weil man ihn für dumm genug hielt, weil man ihn benutzen wollte, um die Tradition des edlen Erben von Thors Hammer abzuschaffen. Der Rat und Meland. Loke war ihnen genauso auf den Leim gegangen und hatte folgsam Melands Plan ausgeführt. Erst, als es fast schon zu spät gewesen war, hatte Loke Melands wahres Gesicht erkannt.

Damals, kurz nach der Wahl, hatte Elko noch eine große Anhängerschaft gehabt und es wäre für den Rat unmöglich gewesen, ihn zu stürzen. Schon gar nicht mit dem Hammer in der Hand. Aber in Midgard, ohne Garde, ohne die nötige Erfahrung mit der göttlichen Waffe und ohne die Unterstützung der Bevölkerung, sah Meland seine Chance. Er hätte ihn töten können, und es beinahe geschafft. Claire war die große Unbekannte gewesen. Sie hatte ihn gerade noch rechtzeitig gerettet. Loke hatte sich auf seine Seite gestellt und Elko hatte ihm blind verziehen. Er gierte so sehr nach der Akzeptanz seines Bruders, dass er ihm selbst einen Mord verzeihen würde.

Was war ihm auch anderes übrig geblieben? Er brauchte Loke, wenn er Asgard vor den gierigen Fingern Halldor Melands und dem Machthunger des Rates befreien wollte. Alleine hatte er nicht den Hauch einer Chance. Aber mit Loke an seiner Seite konnte er alles schaffen.

Nun standen sie hier in der Dunkelheit und warteten darauf, dass die Nacht weit genug voranschritt, damit sie unbemerkt in die Katakomben des Ratssaals eindringen konnten. Dort, wo sich die Kerker der Verurteilten befanden, die auf ihre Hinrichtung warteten. Elko schluckte.

»Es ist Zeit. Bist du so weit?«, raunte ihm Loke über die Schulter hinweg zu und schob seinen schlanken Körper an einer rostigen Eisenstange vorbei. Als Elko noch ein Junge war, hatte ihm Loke diese verschlungenen Pfade hinein in die heiligen Hallen der Asenregierung gezeigt. Doch Elko konnte sich kaum noch daran erinnern. Loke indes wusste genau, wie er ungesehen in den Eingeweiden der Regierung wandeln konnte. »Was meinst du, woher ich mein Wissen habe? Stundenlang habe ich den geheimen Besprechungen gelauscht.« Verschwörerisch hatte er gelächelt und ihm das halb zerfallene Wams gereicht. Elko hatte darauf bestanden, das Loke es tragen sollte, aber sein Bruder hatte ihn abgewiesen. »Wir wollen doch nicht, dass dein hoheitlicher Körper erneut verletzt wird. Deine Süße kann dich hier nicht zusammenflicken, oder?« Elko sparte sich jeden weiteren Kommentar. Es würde sowieso zu nichts führen.

Elko hätte ihn gerne von seinen Sticheleien abgelenkt und gefragt, ob er bei seinen heimlichen Beobachtungen von den Plänen des Rates erfahren hatte. Aber er hatte alle Hände voll damit zu tun, seinen massigen Körper an dem rostigen Eisen vorbeizuquetschen. Das Wams scheuerte über dem verschwitzten T-Shirt und verhakte sich in dem Eisen. Mit aller Kraft schob er sich weiter, krallte die Finger um die morsche Stange und bog sie nach außen. Aber das widerspenstige Material gab keinen Zentimeter nach. Elko kniff angestrengt die Augen zusammen und schickte sich an, eine kleine Menge Energie in die Stäbe zu jagen. Er war noch nicht sehr geübt im Umgang mit der neuen Technik und hätte die Chance gerne genutzt, doch Loke bemerkte, was er vorhatte und hielt ihn hastig zurück.

»Wag es ja nicht! Wenn Meland nur ein wenig auf sich hält, hat er das gesamte Areal mit Sensoren vermimt. Er wird jede noch so kleine Anwendung von Magie sofort mitbekommen. Und ich würde lieber unbemerkt bleiben.«

Elko seufzte. Und wie sollte er jetzt hier reinkommen? Loke hatte seinen sehnigen Körper mühelos durch die Öffnung geschoben, aber Elko wog locker vierzig Kilo mehr und sein breiter Oberkörper steckte fest verkeilt zwischen kalten Gemäuer und rostigem Eisen.

»Vorschläge?«, brummte er und verfestige seinen Griff um die Eisenstange, die ihn am Vorwärtskommen hinderte.

»Tja«, äffte Loke seinen Tonfall nach. »Dein Grips wird dir hier nicht weiterhelfen, davon hast du ja sowieso nicht sonderlich viel. Also benutz halt deine Muskeln.« Elko warf seinem Bruder einen genervten Blick zu. Loke wurde der Sticheleien nie überdrüssig. Wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, musste er ihn darauf hinweisen, dass er die Aufnahme an der Magischen Akademie vergeigt hatte. Doch der Dienst in der königlichen Garde war eine ebenso ehrenwerte Aufgabe gewesen. Das harte Training hatte ihm jedenfalls diese Muskeln beschert. Elko spannte zornig die Brustmuskeln an und bog sich ächzend gegen die widerspenstigen Stangen. So oder so, ohne seine Muskeln würde er hier jetzt nicht feststecken, und ohne sie würde er sich auch nicht befreien können. Wie so oft hatte die Medaille zwei Seiten.

Das Metall knirschte und bog sich quälend langsam. Stück für Stück gab es nach und Elko schob sich ins Innere des Tunnels.

Loke legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. Sie waren übereingekommen, sobald sie das Innere des Gebäudes betreten hatten, schweigend ihren Weg fortzusetzen. Loke ging davon aus, dass Meland nicht nur Magiesensoren, sondern auch geräuschempfindliche Scanner ausgelegt hatte. Wenn er so umsichtig gewesen war, auch noch Wärmesensoren auszulegen, wären sie definitiv im Arsch. Andererseits konnten sie ihre Eltern nicht ihrem Schicksal überlassen und Elko wollte unbedingt den Hammer zurückhaben.

Obwohl Meland in der vergangenen Nacht eine Hinrichtung im Morgengrauen angekündigt hatte, war nichts passiert. Elko und Loke hatten sich beim ersten Sonnenstrahl erneut auf dem Platz vor dem Ratsgebäude eingefunden. Aber dort war weder ein Scharfrichter noch ein Richtblock oder eine Spur der Verurteilten zu sehen gewesen. Der Platz hatte ruhig vor ihnen gelegen und nichts war passiert. Also war selbst ein Halldor Meland nicht fähig, die langsamen Mühlen der Obrigkeit auszuhebeln. Doch sie konnten nicht darauf hoffen, noch einen weiteren Tag Aufschub zu erhalten. Heute Nacht mussten sie handeln!

Sie hatten die Gnadenfrist sinnvoll genutzt und sich mit Waffen, Schutzkleidung und Vorräten ausgerüstet. Dank seinem langen Dienst in der Garde wusste Elko, wie man, ohne allzu viele Fragen beantworten zu müssen, an Waffen und Ausrüstung kam. Die wenigen Goldmünzen trugen sogar sein stilisiertes Gesicht. Bei Odin, wurde Zeit, dass er diese hässlichen Dinger endlich loswurde. Der Schmuggler hatte sich jedenfalls nicht für die Gestalt unter der Kapuze interessiert, sein gieriger Blick hatte nur dem Gold gegolten. Was Elko allerdings dafür bekommen hatte, war den Aufwand kaum wert gewesen. Ein abgenutztes Lederwams, ein grobschlächtiges, aber immerhin scharfes Breitschwert und für Loke eine Pärchen Saxe. Sein Bruder hatte die Waffen beinahe ehrfürchtig entgegengenommen und sie in den Ärmeln seines weiten Umhangs verschwinden lassen.

Als Elko den Durchgang passierte und seinem Bruder in geduckter Haltung folgte, warf er seinen Umhang achtlos beiseite und rückte das Schwert auf seinem Rücken zurecht. Loke wagte nicht, Magie einzusetzen, um ihnen Licht zu spenden. Sie folgten in absoluter Dunkelheit einer Karte, die Loke während seiner unzähligen Besuche im Ratsgebäude in seiner Erinnerung angelegt hatte. Ohne Lokes Führung wären sie in dem Wirrwarr aus Gängen und Dunkelheit orientierungslos umhergeirrt. Elko wurde wieder einmal daran erinnert, dass er seinem Bruder bedingungslos vertrauen musste. Was, wenn er nach wie vor für Meland arbeitete und ihn in eine Falle lockte? Elko schluckte hart gegen den inneren Drang, sich umzudrehen und das Weite zu suchen.

Doch dafür war es sowieso zu spät. Er befand sich bereits in den Gedärmen des Rates, auf Gedeih und Verderb den Plänen seines Bruders ausgeliefert. Ihm blieb nur die vage Hoffnung, dass Blut dicker war als Wasser und Lokes Treue nicht vorgetäuscht.

»Schhhhht«, riss ihn sein Bruder aus den Gedanken und stoppte abrupt vor ihm. Elko konnte gerade noch verhindern, dass er gegen ihn rempelte.

»Pass doch auf!«, zischte Loke und deutete den Gang hinunter. Elko drückte sich gegen ihn und spähte angestrengt in die undurchdringliche Schwärze. Am Ende des dunklen Tunnels zeichnete sich ein schwacher Lichtschein ab. Vor ihnen befanden sich die benutzten Kellergewölbe. Dort lagen auch die Zellen der Gefangenen. »Wenn wir uns in der Dunkelheit nicht verirrt haben, sollten wir bald zu den Zellen kommen«, bestätigte Loke seine Vermutungen.

»Sei auf der Hut, keine schnellen Bewegungen«, ermahnte Loke ihn und schlich weiter. Sie hatten dieses Szenario den ganzen gestrigen Tag wieder und wieder durchgespielt. Waren den Weg in Gedanken gegangen, hatten sich die unzähligen Abzweigungen eingeprägt. Bis jetzt verlief alles nach Plan. Elko lächelte zufrieden und folgte Loke auf leisen Sohlen. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an das spärliche Licht und er konnte die feuchten Steine unter seinen schweren Stiefeln – Lehmanns Ausrüstung – erkennen. Das Schuhwerk war hervorragend, doch dank der dicken Sohlen musste er sich besonders vorsichtig fortbewegen, um kein verräterisches Geräusch zu machen.

Ihr Plan – soweit es ihn überhaupt gab – sah vor, die Gefangenen zu befreien und den Hammer ausfindig zu machen. Sie waren sich auch nach Stunden des Abwägens und Taktierens uneins darüber, welchem Teil sie Priorität einräumen sollten. Elko zog den Hammer vor und hatte seinen Standpunkt leidenschaftlich verteidigt. »Wenn ich erst einmal wieder im Vollbesitz seiner Fähigkeiten bin, werde ich jeden Gegner mühelos ausschalten können. Also hat der Hammer definitiv Vorrang.« Loke hatte ihn nur abschätzig gemustert. »Du hast nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wozu er überhaupt fähig ist. In deiner arroganten Selbstüberschätzung glaubst du wirklich, du brauchst ihn nur einmal zu schwingen und alle deine Probleme lösen sich in Luft auf?« Loke hatte frech gegrinst und ihm hart gegen die Stirn getippt. »Wer, lieber Bruder, sagt dir denn, dass Meland den Hammer nicht schon neu programmiert hat? Sicher wäre das die beste Option für ihn. Immerhin geht er von unserem Tod aus.« Lokes Scharfsinn erstickte jedwede Gegenwehr seinerseits und das überlegene Grinsen, mit dem ihn sein Bruder bedacht hatte, zeigte wieder einmal in absoluter Klarheit, dass sich Loke durchaus seiner gewandten Rhetorik bewusst war ... und es genoss. Elko hasste es, aber er hatte sich gefügt. Nun ja, fast. Sollten sie natürlich zuerst den Hammer ausfindig machen, standen ihre Chancen deutlich besser, das Ratsgebäude mit den Gefangenen lebend zu verlassen, wenn er ein wenig Verwirrung stiften könnte.

»Nach dir, liebster Bruder«, griente er und fiel absichtlich zurück. Elko seufzte und schob sich an seinem Bruder vorbei dem Lichtschein entgegen. Wenigstens hier ließ ihm Loke liebend gern den Vortritt. Elko hatte auch ohne Hammer die deutlich besseren Chancen im Nahkampf. Und er wollte so wenig Leichen wie möglich hinterlassen und hatte daher angeboten, Gegner mit gezielten Fausthieben statt der Klinge auszuschalten. Loke hätte lieber dafür gesorgt, dass ihre Gegner nicht wieder aufstanden. Also durfte Elko jetzt vorangehen. Er brannte vor Ungeduld. Sein Körper schmerzte und vibrierte und er glaubte, das fahle Echo des Hammers als dumpfes Summen in seinen Knochen wahrzunehmen. Er war ganz in der Nähe, irgendwo hier in der Nähe ... Elko beschleunigte seine Schritte, ohne auf die warnenden Zischlaute seines Bruders zu achten. Überstürzt lief er um die Ecke und folgte dem Ruf des Hammers, immer den Vibrationen hinterher. Meland hatte ihn also noch nicht umprogrammiert, er war noch immer auf ihn ausgerichtet! Elko wusste es einfach. Dieses Wissen und die Aussicht darauf, sein wundervolles Gewicht bald wieder in der Hand zu spüren, seine Finger um den ledernen Griff zu schließen und wieder Eins mit ihm zu werden, beflügelten ihn und ...

»Sag mal, spinnst du!« Loke packte ihn energisch an der Schulter und wirbelte ihn unsanft herum. Sein Kopf schlug hart gegen die nasskalten Steine und er sah für einen Moment funkelnde Blitze vor den Augen. »Was ...?«, stammelte er und sah in das ungläubig verzerrte Gesicht seines Bruders. Sein Blick glitt an ihm vorbei und Elko stellte verwirrt fest, dass er sich in einem vom Schein der an den Wänden angebrachten Fackeln erhellten Gang befand. Sie hatten die Dunkelheit weit hinter sich gelassen und den belebten Teil des Kellergewölbes erreicht.

Das Geräusch näher kommender Schritte ließ sie erschrocken zusammenfahren. »Verdammt!«, fluchte Loke und lauschte in den Gang. »Wir sind nicht allein ...« Hektisch sah er ihn an. »Bist du wieder bei Verstand oder rennst du gleich wieder dem beschissenen Götterding hinterher?« Elko verzog das Gesicht und schüttelte benommen den Kopf.

»Nein, alles klar«, murmelte er und sah sich suchend nach einer Nische um. Aber vor und hinter ihnen erstreckte sich nur ein gerader Gang und selbst wenn sie eine Lücke in der Mauer fanden, keine Nische würde genug Platz für sie beide bieten. Sie tauschten kurz einen Blick und nickten sich wortlos zu. Elko stieß sich von der Wand ab und folgte dem Gang, den Geräuschen harter Absätze auf Gestein entgegen. Wenn sie sich schon nicht verstecken konnten, würden sie sich eben dem Kampf stellen. Die Vorfreude strömte durch seine Adern und er verfestigte seinen Griff um den Knauf des Breitschwertes. Irritiert starrte er auf seine Hand. Irgendwann während seiner atemlosen Hast nach dem Hammer hatte er es wohl gezogen.

Direkt vor ihm tauchten zwei Gardisten der königlichen Garde auf, mit golden Flügelhelmen und blauen Umhängen. Die weißen Brustharnische reflektierten den Schein der Fackeln und ließen sie rotgolden leuchten. Ihre Augen funkelten vor Erregung, als sie sie entdeckt hatten. Gardisten wurden zum Kampf erzogen und trainierten den ganzen Tag. Sie liebten den Kampf und das Kräftemessen untereinander. Aber im Training konnten sie nie die volle Bandbreite ihrer Fähigkeiten ausschöpfen und in Zeiten des Friedens waren Einsätze selten. Die Aussicht, Eindringlinge während der langen Schichten im Kellergewölbe zu finden, war eine grandiose Abwechslung.

»Sieh an«, griente der größere der beiden Gardisten und Elko war sich nicht sicher, ob der Mann ihn erkannte oder ob er die Aussicht auf einen Kampf meinte. »Wen haben wir denn da?« Vollkommen ruhig zog er seine Saxe und vollführte eine lässige Drehung. »Schlag Alarm!«, raunte er seinem Kumpanen zu. Dieser nickte und starrte Elko mit weit aufgerissenen Augen an. Der leichte Schatten eines sprießenden Bartes und das runde Kinn zeugten von seinem geringen Alter. »Das ist ...«, stammelte der kleine Kerl.

»Ja, ist er!« Genervt schubste ihn der Ältere zurück in den Gang. »Und jetzt schlag endlich Alarm, du Trottel!« Der Gardist schlug stolpernd die Hacken zusammen, verhedderte sich bei seiner hastigen Drehung beinahe in seinem Umhang und floh holprig in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Elko sah ihm hinterher. So viel zu unbemerktem Anschleichen. Doch Loke glitt lautlos wie ein Schatten an ihm vorbei, verschmolz mit der Wand und rannte dem fliehenden Gardisten hinterher. »Kümmer dich um ihn ... und sei nicht zu zimperlich. Er wird Alarm schlagen.« Er hörte Lokes Stimme in seinem Kopf und folgte erstaunt Lokes neuen Fähigkeiten.

»Meland sagte, Ihr wärt tot«, brachte sich der ältere Gardist wieder in Erinnerung und ließ seine Saxe durch die Luft zischen.

»Offensichtlich nicht«, knurrte Elko und breitete die Hände aus, den Zweihänder hielt er dabei mühelos in der Rechten. »Wir müssen nicht kämpfen, mein Freund, ich bin hier nicht als Feind.«

Der Gardist verzog verächtlich das Gesicht. »Wir haben Asgard die Treue geschworen und Ihr habt uns verlassen. Und nun kehrt Ihr als Verräter zurück. Natürlich müssen wir kämpfen!«

Elko stöhnte und hob den Zweihänder mit beiden Händen zum Angriff über den Kopf. Er hatte geahnt, dass der Gardist in seiner verbohrten Einstellung keine Toleranz aufbringen würde. Der Kampf würde allerdings kurz ausfallen, denn die lächerliche Langsaxe, die der Gardist trug, war seinem Zweihänder hoffnungslos unterlegen. Ein Hieb mit der schweren Klinge und das Messer würde wie ein Zahnstocher zerbrechen.

»Dann soll es so sein.« Elko setzte sich langsam in Bewegung, gewann zügig an Geschwindigkeit und schlug mit aller Kraft auf das zur Abwehr nach oben gezogene Messer ein. Der Gardist taumelte unter dem Aufprall und verhakte sich in der Parierstange des Breitschwertes. Kraftvoll stieß Elko ihn zurück und setzte mit einem gezielten Fausthieb nach. Der Gardist wich aus und Elkos Schlag verfehlte ihn um Haaresbreite.

»Ihr habt Euren Posten verlassen und seid geflohen. Der Göttliche dient der Verteidigung Asgards! Warum habt Ihr ihn von hier fortgebracht?« Der Gardist trat zurück und umkreiste ihn lauernd. Die Verwirrung in seinem Gesicht ließ Elko innehalten und er betrachtete ihn nachdenklich. Er wollte nicht kämpfen und schon gar nicht töten. Eigentlich sollte er den jungen Mann so schnell wie möglich ausschalten, aber er fühlte sich, als ob er ihm eine Antwort schuldig sei. Die Gardisten waren seine Leibwächter und er hatte sie verlassen, ihre Pflichterfüllung unmöglich gemacht und sie damit in ihrer Ehre beschmutzt. Wenn er ihm seine Beweggründe vor Augen führte, würde er sich vielleicht an den Treueeid erinnern. Er war ja selbst lange genug Gardist gewesen und wusste, welche widersprüchlichen Gefühle die ihm treu ergebenen Männer empfanden. Sie leisteten sowohl einen Eid auf den Hammerträger, als auch auf Asgard. Sein vermeintlicher Verrat musste zu einer Zerrissenheit unter ihnen geführt haben. Pflicht gegen Schwur.

»Ich bin nicht geflohen«, antwortete Elko, statt ihm den finalen Hieb zu versetzen. »Ich wollte nur meinen Bruder finden. Dann wäre ich zurückgekehrt und hätte meine Aufgaben erfüllt.« Sein Gegner musterte ihn ungläubig. »Was hat der Rat Euch denn erzählt?«, setzte Elko misstrauisch nach. Die Erwähnung des Rates schien den Gardisten an seine Pflicht zu erinnern und er verzog das Gesicht.

»Das spielt keine Rolle! Ihr habt Euren Posten verlassen und Asgard schutzlos zurückgelassen! Das ist Hochverrat! Und dafür müsst Ihr sterben! Macht Euch bereit!« Die Worte trafen ihn wie Peitschenhiebe und er zuckte unter ihrer Härte zusammen. Nur dank seiner in jahrelangem Training geschulten Reflexe konnte er dem unvermittelten Angriff rechtzeitig ausweichen. Elko tänzelte leichtfüßig um den Angreifer und versetzte ihm einen Hieb gegen den Hinterkopf.

Der Kopfschmuck des Gardisten war eigentlich kein richtiger Helm. Mit seinen vergoldeten Flügeln und dem breiten Nasenschutz sah er zwar ganz brauchbar aus, war aber zu nichts weiter gut, als ihre Erscheinung herauszuputzen. Elko hatte ihn gehasst und dieser Kerl hier würde ihn fortan wohl auch verfluchen. Verstärkt von dem billigen Katzenblech, raubte ihm Elkos finaler Hieb das Bewusstsein.

Der junge Gardist hatte nicht einmal annähernd sein Gewicht, aber Elko konnte ihn trotzdem nur schwer bewegen. Der metallene Brustharnisch hinterließ ein verräterisches Kratzen auf den Steinen, und das, obwohl er ihn in seinen dunkelblauen Umhang einwickelte. Egal. Er wollte ihn nur nicht direkt im Schein der Fackeln liegenlassen. Am liebsten hätte er ihn in eine Nische geschoben. Da es keine gab, zog er ihn einfach in einen etwas dunkleren Bereich und hoffte, dass sich keine weiteren Gardisten in diesen Teil des Kellergewölbes verirrten. Er musste Loke hinterhereilen. Mit etwas Glück hatte er den anderen Gardisten noch nicht getötet.

Elko ging in die Hocke und winkelte die Beine des jungen Mannes so an, dass er komplett im unbeleuchteten Bereich zwischen zwei Fackeln verschwand. Nicht perfekt, aber ausreichend. Elko schulterte sein Breitschwert und erleichterte den Gardisten um die Langsaxe. Die Saxe des Gardisten waren von guter Qualität und für den Kampf in den Gängen besser geeignet als das Breitschwert.

Elko betrachtete den jungen Mann nachdenklich und sann über seine schneidenden Worte nach. Auch wenn Meland ihnen Lügen aufgetischt hatte, so blieb doch der bittere Nachgeschmack der Wahrheit. Er hatte sein Volk verlassen und die Familie über das Wohl Asgards gestellt. Seine Entscheidung hatte das Chaos erst ermöglicht. Elko schluckte, erhob sich und eilte den Gang entlang, ohne sich ein weiteres Mal nach dem jungen Mann umzudrehen.

Er musste seinen Bruder nicht lange suchen. Als er um die nächste Ecke bog, sah er die dunklen Umrisse einer Gestalt, tief hinunter gebeugt über einen leblosen Körper. Elko verfestigte den Griff um das Messer und verlangsamte seine Schritte. Die Gestalt zuckte zusammen, drehte sich aber nicht nach ihm um, sondern reinigte die dünne Klinge am königsblauen Umhang des Gardisten. Elko seufzte missbilligend.

»Du warst träge und hast viel zu lange gebraucht«, maßregelte ihn Loke und erhob sich geschmeidig.

»Ich musste ein paar Dinge ins rechte Licht rücken.« Loke funkelte ihn unter der dunklen Kapuze an. Seine stechend grünen Augen durchbohrten ihn.

»Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen! Du kannst deine Gardisten später wieder um dich scharen. Im Augenblick haben wir Wichtigeres zu tun, als Gespräche zu führen.« Elko seufzte und stieß die Leiche des jungen Mannes mit der Stiefelspitze an.

»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, so wenig Tote wie möglich zu hinterlassen?« Der Junge hatte nur seine Aufgabe erfüllt. Leider war er heute Nacht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Wenn der andere Mann losgelaufen wäre, um Hilfe zu holen, wäre er noch am Leben und dafür der andere tot.

»Er wird jedenfalls keinem von unserer Anwesenheit erzählen«, zischte Loke und wandte ihm den Rücken zu. Diese Geste hatte etwas Endgültiges. Loke war nicht gewillt, weiter über dieses Thema zu sprechen.

Natürlich war ihm klar gewesen, dass sie die beiden Gardisten nicht ohne Weiteres gehen lassen konnten. Sie hätten Alarm geschlagen und ihren Plan zunichtegemacht. Der Hammer wäre verloren und ihre Eltern würden als Verräter hingerichtet werden. Nein, Elko war mit dem Auftauchen der beiden Männer klar gewesen, dass er ihren Tod in Kauf nehmen musste.

»Du hättest ihn nicht töten müssen«, drängte Elko ein allerletztes Mal, doch Loke zuckte nur missbilligend mit den Schultern und deutete mit der Spitze seiner Saxe den Gang hinunter.

»Los jetzt, wir haben schließlich nicht die ganze Nacht Zeit.« Sein Bruder scherte sich nicht weiter um die sterblichen Überreste, aber Elko konnte den Jungen nicht einfach so liegen lassen. Wie Abfall. Er schluckte den Ekel hinunter, wickelte die Leiche sorgsam in den Umhang und verfuhr so wie mit seinem bewusstlosen Kameraden. Im Schatten zwischen zwei Fackeln würde der Körper erst morgen früh entdeckt werden und dann würden sie hoffentlich mit Hammer und Gefangenen außerhalb der Reichweite des Rates sein.

Das war alles Melands Werk! Wütend presste Elko die Lippen zu einem schmalen Strich und erhob sich, um Loke zügig zu folgen. Sein Bruder drückte sich unweit an die Mauer und spähte vorsichtig um die nächste Ecke.

Elko schloss langsam zu ihm auf und verharrte an die Mauer gepresst. »Was siehst du?«, flüsterte er.

»Dort vorne ist Melands Labor ... ich würde mir zu gerne ansehen, was er dort versteckt ...« Loke schob sich sorgfältig um die Ecke und schlich den Gang hinunter. Sein Ziel war eine vom Licht der Fackeln beleuchtete Holztür. Elko wollte zu einer Erwiderung im Sinne von »Wir haben jetzt keine Zeit für Sightseeing!« ansetzen, doch Loke war bereits so weit vorausgegangen, dass ihm nichts weiter übrig blieb, als seinem Bruder zu folgen.

Loke blieb unter einer Fackel stehen und streckte vorsichtig die Hand nach der Holztür aus. Elko wartete geduldig und spähte in den Gang hinunter. Vor ihm war alles ruhig. Und hinter ihnen lag nur eine Leiche.

»Los, mach schon!«, raunte er seinem Bruder zu und warf einen Blick über die Schulter. Loke ließ zögernd seine Hand über der Klinke schweben. »Was ist? Ich dachte, du willst Melands Labor unbedingt einen Besuch abstatten?«

Loke warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Wenn du nur ein einziges Mal deinen Kopf zum Denken verwenden würdest ... Halldor Meland tut das ständig und ich möchte keine Falle auslösen, indem ich wie ein grobschlächtiger Trottel in sein privates Labor stapfe.« Er schloss angestrengt die Augen und konzentrierte sich. »Und jetzt behalte den Gang im Auge, während ich nach Fallen oder Sicherungen suche ... wenn du nur ein einziges Mal auf Claires Sicherheit geachtet hättest, wäre ich nie so leicht in ihre Wohnung gelangt, als du mal eben einkaufen warst ...«

Elko erstarrte. Ein eisiger Schauer durchfuhr ihn und der Verrat, den er ihm bereits verziehen hatte, kam erneut hoch. »Du hast was ...?«, stammelte er.

Loke lachte leise, während er sich weiterhin konzentriert der Türklinke widmete. »Ich habe Claire und Sigrid einen Besuch abgestattet, als du fort warst. Die beiden haben in ihrer Trance nichts mitbekommen. Da habe ich Claires Signatur aufgenommen. Sie ist so unglaublich ...« Loke stockte, als Elko ihm die geschärfte Spitze der Langsaxe unter das Kinn presste.

»Noch ein weiteres Wort und ich ramme dir den Stahl ins Hirn«, zischte er und übte ein wenig mehr Druck auf Lokes Haut aus. Nur so viel, dass ein winziger Tropfen roten Blutes über die Klinge lief. Loke ließ sich davon nicht beeindrucken und lachte leise, als die Tür mit einem leichten Klacken aufsprang.

»Mach dich nicht lächerlich, Bruder. Du wirst mich nicht töten, nur weil ich dir eine Belanglosigkeit mehr über deine ... kleine Freundin erzähle. Lass uns lieber schauen, was Meland so plant.«

Elko knurrte ihn zornig an und ließ das Schwert sinken. Irgendwann einmal, wenn er ihn nicht mehr brauchte, würde er ihn häuten, vierteilen und zerstückeln ... Irgendwann. Loke erwiderte seinen zornigen Blick fröhlich grinsend und schob sanft die Tür für ihn auf. »Nach dir, lieber Bruder.«

Das Innere von Melands Labor bot für Elko keinerlei Neuigkeiten, ein Labor eben. Regale an der Wand beherbergten Bücher, dicke und staubige Wälzer. Andere Regale waren mit Fläschchen und Döschen gefüllt, die allerhand widerliches Zeug enthielten. Die Mitte des nur spärlich erhellten Raumes beherrschte ein großer Tisch. Doch Lokes Aufmerksamkeit richtete sich auf ein Objekt in der hintersten Ecke, das mit einer weißen Plane bedeckt war. Loke zögerte nur einen winzigen Moment, bevor er die Plane fortriss und eine exakte Kopie des Portals, dessen Explosion sie töten sollte, zum Vorschein kam. Die Kopie war so perfekt, dass Loke ein ehrfürchtiges Keuchen entwich.

»Dieser verdammte Drecksack«, murmelte sein Bruder und ließ sich am Fuß des Objekts nieder.

»Ein Portal, na und?«, erwiderte Elko gleichgültig und zuckte mit den Schultern. Warum auch nicht? Halldor Meland war auf dem Gebiet der Portalmagie bewandert. Es war also nicht sehr überraschend, dass sie in seinem privaten Labor ein Portal fanden.

Loke wühlte bereits in den Kabeln im Portalfuß, doch er nahm sich immerhin so viel Zeit, Elko einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. »Nicht irgendein Portal, Bruder, dieses Ding könnte unser Weg hier raus sein.« Jetzt hatte er seine Aufmerksamkeit.

»Inwiefern?« Elko sah sich kurz um und ging neben Loke in die Hocke. Als ob er ihm irgendwie helfen könnte. »Halldor Meland plante nicht nur ein Portal von Asgard nach Midgard, nein, er wollte das Portal unabhängig machen. Ich bin ihm dabei öfter zur Hand gegangen und ich glaube, dass er es geschafft hat. Gib mir ein paar Minuten und mit etwas Glück kann ich ein paar Modifikationen durchführen ...« Und damit verschwand er kopfüber im Fuß des Portals und brummte allerhand wissenschaftliches Zeug vor sich hin.

Elko folgte kopfschüttelnd seinen Ausführungen. Portalmagie war eine Art Verschmelzung von technischer Finesse und angewandter Magie. Elko war schon froh, wenn er die altersschwachen Landwirtschaftsmaschinen auf ihrem Gut in Schuss halten konnte, von Modifikationen oder gar Verbesserungen konnte überhaupt keine Rede sein. Er konnte ja noch nicht einmal einfache technische Geräte steuern! Claires sogenanntes Auto zum Beispiel besaß so viele Knöpfe, Hebel und Schalter, die mit Händen und Füßen gleichzeitig bedient werden mussten, dass er das nie hinkriegen würde. Er hatte viel von diesen Autos gehört, aber als er das erste Mal nach Midgard gekommen war, hatte ihm vor Staunen der Mund offen gestanden. Es war einfach unglaublich, was die Menschen trotz ihrer mangelnden magischen Fähigkeiten zustande brachten.

In Asgard gab es solche Gefährte nicht, hier funktionierte beinahe alles mit Magie. Große Distanzen legten sie über ein kompliziertes Röhrensystem zurück. Für kürzere Wege griffen sie auf Pferde zurück.

Loke hatte ihm einmal erklärt, dass ihre Magie vom Schild herrührte. Der Kontakt mit der Strahlung hatte ihre Gehirne verändert, sodass die besten – oder, wenn man so wollte, die am meisten Verstrahlten – Magier und Heiler jedes Element in seine Bestandteile zerlegen konnten. Magie war also nichts anderes als kinetische Energie auf molekularer Ebene, so Loke. Elko hatte verständnislos genickt und dümmlich gegrinst. Alles klar. Loke hatte ihn damals mit gerunzelter Stirn angesehen, gleich jenem Blick, den er üblicherweise für ihn reserviert hatte. Arrogante Herablassung für den unwissenden Hohlkopf.

In Asgard bedienten sie sich dieser Fähigkeiten immer und überall. Von den einfachsten Lichtquellen bis hin zu komplizierter Portalmagie. Kein Wunder, dass das Studium an der Magischen Akademie Jahrzehnte dauerte, ach, eigentlich hörten es nie auf. Elko seufzte trocken.

»Wie kann ich helfen?«, fragte er dennoch und beugte sich über das Wirrwarr bunter Kabel und Drähte. Loke hob den Kopf und deutete zur Tür. »Steh Schmiere, lass dich aber nicht dabei erwischen. Weißt du noch, wie bei Mutter Hildegard.« Elko erstarrte und nickte mechanisch. Obwohl Loke so viel älter war als er, hatte er sich früher gerne zu Kleine-Jungen-Streiche anstiften lassen. Kekse klauen bei Mutter Hildegard, der Köchin, war einer ihrer bevorzugten Raubzüge gewesen und da Elko damals nicht größer war als einen guten Meter, hatte er die Wachdienste übernommen.

Er warf seinem Bruder einen langen, nachdenklichen Blick zu. Manchmal war er ein einziger Widerspruch. Noch vor ein paar Minuten hatte er ihn bis auf die Knochen gereizt und er hätte ihm liebend gern die Saxe ins Gehirn gerammt und nur wenige Augenblicke später lösten glückliche Kindheitserinnerungen warme Gefühle aus. Er liebte Loke, aber auf der anderen Seite verachtete er ihn auch für das, was er Claire ... und ihm angetan hatte. Wie sollte er nur jemals wieder normal mit ihm umgehen?

Elko wandte sich der Tür zu, während er weiter seinen gegensätzlichen Gedanken nachhing. Er schob sich die Langsaxe in den Gürtel und öffnete die Tür einen Spaltbreit, um in den Gang hinauszusehen. Wie erwartet regte sich dort nichts außer dem sanften Flackern der Fackeln.

»Und was sollen deine Modifikationen bewirken?«, fragte er nach ein paar Minuten. Unruhig lugte er immer wieder hinter sich, doch von Loke war nicht viel mehr als geschäftiges Murmeln zu hören. Hin und wieder ein leises Fluchen, was auf seine erfolglose Arbeit hinwies. Elko wurde langsam nervös. Sie verschwendeten viel zu viel Zeit mit dieser unnötigen Spielerei.

»Das, mein lieber Bruder, wird eine Überraschung«, raunte Loke ihm ins Ohr und Elko zuckte heftig zusammen. Loke lachte und tätschelte ihm die Schulter. Sein Blick war warm und herzlich. Verdammt noch mal, Taten hin oder her, Loke war sein Bruder und er würde ihn immer lieben, egal, was er getan hatte. Egal, wie viele Morde er begehen würde. Nur das mit Claire war nicht ganz so einfach.

Wehmütig verzog Elko das Gesicht, zog die Saxe aus dem Gürtel und folgte Loke leise durch den Gang. »Was hast du mit dem Ding gemacht?«

Sein Bruder führte ihn zügig durch die Gänge. Die Fackelbeleuchtung wurde spärlicher, als sie eine Treppe hinunterstiegen und die ersten Zellen in Sicht kamen. Als sie die Kammer der Wachoffiziere passierten, hielten sie inne und lauschten. Alles war ruhig. Elko warf Loke einen kurzen Blick zu, bevor er flüchtig hinein spähte. Doch die Kammer war leer. Das war eigenartig. Zu seiner Zeit musste die Stube immer von mindestens einem Offizier besetzt sein. Dieser trug die Schlüssel am Gürtel und seine Hauptaufgabe bestand darin, sie die ganze Nacht zu bewachen. Er durfte die Wachstube nicht verlassen, nicht auf Patrouille gehen und nicht schlafen. Die Schlüssel hatten oberste Priorität. Umso eigenartiger, dass der große Metallring mit allen Zellenschlüsseln unbewacht auf dem Tisch inmitten des Raumes lag. Die Feuerpfanne in der Ecke glühte noch und spendete etwas Wärme. Die sechs Stühle waren lose um den Tisch verteilt. Die Reste des kärglichen Abendessens standen noch auf dem Tisch und mitten drin lagen die Zellenschlüssel.

Elko runzelte argwöhnisch die Stirn. »Hier stimmt doch irgendetwas nicht«, brummte er und deutete mit einem flüchtigen Nicken auf den Tisch. »Kannst du den Bereich prüfen? Ich habe so ein Gefühl ...«

Loke nickte und hob die Hand. Konzentriert schloss er die Augen und scannte den Raum nach Fallen. »Hier ist nichts«, sagte er nach einer Weile. »Vielleicht hast du nur zu viel Eintopf gegessen und er ist dir nicht bekommen?« Elko verzog genervt das Gesicht.

»Okay ... du meinst, ich kann also einfach rein gehen.« Er zögerte, den Raum zu betreten, doch Loke zuckte lediglich mit den Schultern, warf einen prüfenden Blick nach links und rechts, trat in den Raum, griff nach den Schlüsseln und reichte sie ihm lächelnd. »Kein Problem, keine Fallen, alles nach Plan.« So wie du dir es gewünscht hattest!

»Bei Odin, die beiden Gardisten waren ja wohl nicht eingeplant!« Beim Verlassen der Wachstube nahm Loke eine kleine Öllampe und drückte sie Elko vielsagend in die Hand. Während sich Loke bereits den Gang entlang arbeitete, schlug Elko ein paar Funken und entzündete die Öllampe. Den Schlüsselbund in der einen und die Lampe in der anderen Hand, folgte er Loke, der leise die Gefangenen weckte und sie zur Ruhe aufforderte.

»Öffne die Zellen«, raunte er Elko über die Schulter hinweg zu.

»Alle?«, fragte Elko unsicher und kramte bereits die richtigen Schlüssel hervor. Loke hielt inne und wandte sich zu ihm um. »Das hier sind alles Verurteilte unter der Tyrannei Halldor Melands. Willst du jetzt mit mir streiten, inwiefern sie ihre Strafe verdient haben?« Elko schüttelte den Kopf. Sein Bruder packte ihn unsanft an dem alten Lederwams und zog ihn zu sich. »Und außerdem werden sie die nötige Verwirrung stiften, damit wir mit Vater und Mutter verschwinden können, verstanden?« Dieser verdammte Dreckskerl schaffte es tatsächlich, jede Situation zu seinem Vorteil zu wenden. Loke fletschte die Zähne zu einem verunglückten Lächeln und gab ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen, die ersten Zellen zu öffnen.

Kapitel 3

Als Elko den Schlüssel in das Schloss der hintersten Zelle schob, wurde sein Unterarm unsanft gepackt. Die Finger gruben sich tief in sein Fleisch und er unterdrückte den Drang, seine Hand ruckartig aus der Umklammerung zu reißen. Irritiert hielt er inne.

»Geh! Du bist hier nicht sicher!«, zischte ihm sein Vater zu. Seine Stimme klang so anders, so verletzt, so schwach ... Und doch war es das ihm so vertraute Timbre.

»Vater!«, keuchte er und beeilte sich, das Schloss zu öffnen. Sie hatten ihn gefunden! Er gab den Schlüssel an Loke weiter und trat in die Zelle, ohne die warnenden Worte seines Vaters zu beachten. Loke klapperte hinter ihm mit den Schlüsseln und machte sich daran, die anderen Zellen aufzuschließen.

»Vater? Seit Ihr unversehrt? Könnt Ihr laufen? Ist Mutter bei Euch?« Elko kämpfte gegen die beklemmende Angst. Sie hatten ihre Eltern gefunden und nur das zählte.

Elko leuchtete nervös die kleine Zelle aus und entdeckte die kraftlose Gestalt einer blonden Frau in der Ecke. »Mutter?«, fragte er unsicher und ging einen Schritt zu der Stelle, wo sie kauerte.

»Elko, bitte ... geh!« Magnor Jörd umklammerte seinen Unterarm.

»Warum? Warum soll ich gehen? Wir sind gekommen, um euch hier rauszuholen!« Irgendetwas stimmte hier nicht. Er konnte das Gefühl nicht länger ignorieren. »Vater?! Was ist los?!«

Sein stolzer Vater war in den letzten Monaten zu einem hutzeligen Männlein zusammengeschrumpft. Gebückt schlurfte er zu seiner Mutter und hockte sich neben ihren Strohsack. »Du solltest gehen. Hier bist du nur in Gefahr.« Am liebsten würde er seine Mutter über die Schulter werfen und seinen Vater am Kragen packen und aus dieser Zelle schleifen, aber seine Gleichgültigkeit ließ ihn tatenlos vor ihm stehen.

»Nein«, antwortete Elko stur. »Ich bin gekommen, um euch zu befreien. Loke ist auch hier.«

Sein Vater hob den Kopf und lächelte ihn flüchtig an, während seine Hand über das blonde Haar seiner Mutter strich. Sie schien allmählich aus ihrer Lethargie zu erwachen und Elko glaubte, den Schatten eines Lächelns über ihre Züge huschen zu sehen. Schüchtern erwiderte er ihr Lächeln.

»Dann hast du ihn endlich gefunden und ihr habt euch zusammengerauft?«

»Ich erkläre euch alles später. Wir müssen hier raus! Meland oder eine Wache könnten jeden Moment hier auftauchen!«, drängte Elko und ging neben seiner Mutter in die Knie. »Was ist passiert? Wir haben euch gestern Nacht auf dem Platz gesehen.« Zärtlich strich er ihr eine Strähne aus der Stirn und steckte sie hinter ihrem Ohr fest. Ihr Atem ging flach.

Elkos Vater zuckte mit den Schultern. »Das, was schon die ganze Zeit, seit deinem – eurem«, korrigierte er sich und verzog das faltige Gesicht, »Verschwinden geschehen ist. Man hat uns zu unzähligen Verhören geholt. Immer und immer wieder, aber wir konnten ihnen ja nichts berichten, weil wir ja nichts wussten. Wie auch!« Der anklagende Tonfall versetzte Elko einen Stich und er fühlte sich ein ums andere Mal schuldig. Schuldig an Melands Machtergreifung, an dem, was Claire zugestoßen war, und schuldig an dem Schicksal seiner Eltern. Oh Odin, hättest du nur jemand anderen für diese Bürde gefunden. Ich bin seiner wahrlich nicht würdig, dachte er und schluckte die bittere Galle seiner Verantwortungslosigkeit herunter.

»Es tut mir leid«, murmelte er und senkte im Eingeständnis seiner Verfehlung den Kopf. Er presste die Lider aufeinander, um die Tränen zurückzudrängen. Er hätte viel früher damit anfangen müssen, die Konsequenzen seiner Handlungen zu bedenken, anstatt blindlings seinen Gefühlen zu folgen.

Vorsichtig legte ihm der alte Mann einen Finger unter das Kinn und zwang ihn mit liebevollem Druck, den Kopf zu heben und ihn anzusehen.

»Verzeih die Bitterkeit in mir, aber du bist nicht schuld«, murmelte sein Vater mit erstickter Stimme. »Einzig Meland ist schuld und wenn überhaupt, bist du nur ein Opfer seiner perfiden Pläne. So wie wir alle.« Die Worte seines Vaters berührten ihn, dennoch trug er die Verantwortung für die unglückliche Verkettung der Ereignisse. Indem er den Hammer zurückerlangte, konnte er falsche Entscheidungen wiedergutmachen. Doch zunächst musste er sich um seine Eltern kümmern.

»Und was ist mit mir? Sprichst du mich auch so nachsichtig von jeglicher Schuld frei?« Loke schob sich gemächlich unter dem Türbogen durch.

Ihr Vater hob den Kopf und lächelte seinen Sohn sanftmütig an. »Ihr seid beide meine Söhne und ich beschuldige niemanden des Verrats, außer Meland.«

»Dann glaubst du nicht an seine Worte?« Lokes beißender Tonfall versetzte Elko erneut einen tiefen Stich. Misstrauisch und nachtragend, wie er war, konnte er die Güte ihres Vaters nicht einfach so annehmen. »Du weißt nicht wirklich, was ich getan habe.« Der Schmerz in seiner Stimme ließ Elko aufblicken. Lokes Blick traf ihn und seine Mundwinkel zuckten zum Zeichen, dass er ihn verstanden hatte. Elko wollte ihm so gerne sagen, dass er seine Vergebung hatte, doch Lokes Augen füllten sich bereits mit Tränen. Mürrisch blinzelte er und riss sich von Elko los.

»Nicht, Ihr müsst erfahren, was ich getan habe.« Elko schluckte ob der Dringlichkeit seiner Worte. Loke grämte sich nach wie vor und machte sich schwere Vorwürfe. Auch wenn er es nicht direkt sagte, wusste Elko von seinem inneren Zerwürfnis. Elko knirschte mit den Zähnen und wurde allmählich unruhig, er würde diese Familienzusammenführung mit Offenlegung aller Sünden gerne verschieben, aber Loke brauchte sie so dringend, dass er ihnen, wenn auch nur widerwillig, etwas Zeit einräumte.

»Ich habe versucht, Elko zu töten. Ich habe aus den Überresten der Jörmungandr ein Gift extrahiert und die Klinge eines Dolches damit getränkt ... Und Elko wäre fast daran gestorben ... ich ... es tut mir leid ...« Lokes Stimme versagte, als der entsetzte Blick seines Vaters ihn traf. Elko schluckte, er hatte gewusst, dass ihr Vater vieles vergeben konnte, aber versuchter Brudermord gehörte nicht dazu.

»Du hast dein eigen Fleisch töten wollen?« Die eisige Kälte in seiner Stimme ließ die Temperatur in der ohnehin schon kühlen Zelle noch um ein paar Grad mehr sinken. Elko fröstelte.

»Aber ich bin wohlauf. Also macht ihm bitte keine Vorwürfe, Vater. Er war fehlgeleitet und ich habe ihm bereits vergeben. Also bitte vergebt ihm auch!« Elko packte die Hand seines Vaters und flehte ihn förmlich an, doch sein Vater maß ihn mit einem langen Blick.

»Es liegt nicht an mir, dir zu vergeben, Sohn«, wandte er sich an Loke. »Elko ist der Hammerträger. Wenn er dir vergeben hat, will ich mich seiner Entscheidung beugen.« Das war ganz und gar nicht die Antwort, die sich Elko von ihm erhofft hatte, nichts im Sinne von »Ich vergebe dir und ich liebe dich nach wie vor!« Nein, sein Vater hatte einfach eine fade Plattitüde ihrer Kultur wiederholt und seinen Sohn mit Floskeln abgespeist, statt ihm aufrichtige Vergebung zu schenken. Enttäuscht malte Elko mit den Kiefern und fürchtete sich ein wenig davor, sich umzudrehen und in die Augen seines Bruders zu sehen. Doch sie mussten sich beeilen, und hatten keine Zeit für familieninterne Zwistigkeiten. Wenn sie nicht bald hier verschwanden, würden sie entdeckt werden und es würde sich keine weitere Gelegenheit der Aussprache bieten. Für den Moment mussten sie die Probleme verdrängen und endlich von hier verschwinden.

»Vater«, murmelte Elko tadelnd und musterte seinen Bruder flüchtig. Lokes Unterlippe bebte, doch als er Elkos Blick begegnete, nickte er tapfer. Es war wohl zu viel verlangt, bereits kurz nach der Offenbarung seiner Sünden die Absolution von ihrem Vater zu fordern. Als er sicher sein konnte, dass Loke mit der Ablehnung umgehen konnte, wandte er sich wieder seinem Vater zu und berührte ihn sanft am Arm. »Loke hat alles getan, um seine Verfehlung wiedergutzumachen und es ist kein Schaden entstanden. Ich wünsche, dass du ihm genauso wie ich vergeben kannst. Aber ich werde es nicht in meiner Position als Hammerträger von dir einfordern. Ich möchte, dass du darüber nachdenkst und deine eigene Entscheidung triffst ...«

Elko hielt inne, als er Lokes Hand auf seiner Schulter spürte. »Lass es gut sein. Ich bin dankbar, dass ich eine zweite Chance erhalten habe.« Tief bewegt von Lokes Worten schluckte Elko. Die Worte bedeuteten ihm mehr als alles, was in den letzten Tagen passiert war und er fühlte sich seinem Bruder so nahe wie noch nie zuvor.

»Wir sollten gehen, die Zeit drängt«, mahnte Loke und trat auf den Gang hinaus. Elko hörte geflüsterte Worte voller Angst. Die Befreiten drückten sich an die Mauern und warteten geduldig, bis sie ihren Familienzwist bereinigt hatten. Elko fluchte. Sie sollten ihre Probleme hinten anstellen und dann lösen, wenn sie die Zeit dafür hatten und nicht, wenn sie mitten im Kerker hockten und jederzeit entdeckt werden konnten.

Elko erhob sich und steckte kurz den Kopf aus der Zelle. Die Blicke, die ihm begegneten, waren voller Hoffnung. Sie sahen ihn als ihren Befreier an und ergaben sich blind in seine Führung. Er war ihr Hammerträger.

Diese Menschen setzten so viel Vertrauen in ihn und seine Fähigkeiten, dabei war er ohne die Macht des Hammers nur ein einfacher Mann. Doch davon wussten sie nichts und er wollte ihre Hoffnung mit der Wahrheit nicht zerstören.

»Haltet euch bereit«, raunte er ihnen schlicht zu. »Wir werden euch hier rausbringen!« Hastig wandte er sich wieder seinen Eltern zu.

»Los jetzt, wir werden gehen.« Doch sein Vater machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben. Verunsichert starrte Elko ihn an und griff nach ihm. Doch er entwand sich trotz seines geschwächten Zustandes geschickt seiner Hand.

»Vater?«

»Lasst mich, ich werde nicht mit euch gehen! Ich bin das Verstecken und Fliehen leid!«

»Vater, was soll das?!« Wütend knirschte Elko mit den Zähnen.

Loke hockte sich zu ihm und berührte ihn sanft an der Schulter. »Wir sind gekommen, um euch zu retten!«, sagte er einfühlsam und drückte seine Schulter. »Wir wissen, dass die letzten Monate voller Entbehrungen gewesen sein mussten, aber jetzt sind wir wieder hier und wir sind gewillt, Meland und den Machenschaften des Rates ein Ende zu setzen. Elko wird sich endlich seiner Verantwortung stellen.« Hörte er da etwa eine Spitze in Lokes Ansprache? Elko schmunzelte. Sein Bruder konnte nach wie vor nicht aus seiner Haut. Wenigstens seine Sticheleien hinterließen einen Hauch von Normalität. »Und ihr werdet jetzt mit uns kommen.«

Sein Vater hob den Blick und er glaubte, so etwas wie ein Lächeln zu sehen. Sein Zustand ging weit über das rein Körperliche hinaus. Meland hatte ihm nicht nur physische Wunden zugefügt, sondern auch seinen Geist gebrochen.

Elko erhob sich hastig und floh aus der Zelle. Er konnte den Anblick seines Vaters kaum noch ertragen. Von seiner Mutter ganz zu schweigen. Er ballte die Fäuste und kämpfte die aufsteigende Wut nieder. Die Worte seines Vaters drangen leise durch das Rauschen in seinen Ohren.

»In Ordnung, wir werden euch begleiten.«

Lokes Plan sah vor, Elko vor allem im Kampf ohne den Hammer zu schulen. Sein Verlust machte ihn angreifbar und Elko hatte bewiesen, dass er den Kraftgürtel auch ohne Hammer beherrschte. An dieser Fähigkeit mussten sie pfeilen. Außerdem würde Loke gerne herausfinden, ob Elko den Kraftgürtel mit dem Hammer erhalten hatte oder ob er ihn schon immer in sich trug. Als Nachfahre Thors hatte sein Bruder sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gott. Nur leider sah er sich selbst nicht als Erbe, sondern eher als den armen Tropf, der die Aufgabe widerwillig erfüllen musste, weil kein anderer sich für diese Bürde fand.

Loke seufzte, während er die Gefangenen durch die Gänge führte, und nahm sich vor, die Einstellung seines Bruders zu ändern. Er hätte ihm diese Bürde selbstverständlich abgenommen. Mittlerweile hatte er allerdings erkannt, dass sein Bruder der bessere Hammerträger war und der eigentliche Feind war Halldor Meland. Nur zusammen konnten sie etwas gegen ihn ausrichten. Mit Elko an seiner Seite fühlte er sich der Aufgabe gewachsen, Asgard von Melands Einfluss zu befreien. Bei Odin, er war so dankbar für die glückliche Wendung, die die Ereignisse genommen hatten!

Langsam erreichten sie den Bereich der Kellergewölbe, die Loke als sicher einstufte und er erhöhte mit einer flüchtigen Handbewegung die Helligkeit. Er ging davon aus, dass seine Magie so weit entfernt vom Zentrum nicht aufgespürt werden konnte. Die Sensoren waren teuer und nur an wichtigen Punkten platziert. So weit von den inneren Räumen entfernt sollte ihnen keine Gefahr drohen. Und selbst wenn sie jetzt entdeckt werden würden, spielte das keine Rolle mehr. Vielleicht für Elko, weil die Entdeckung ihn daran hinderte, seinen Hammer zu suchen. Aber die Sicherheit der Gefangenen hatte Vorrang. Und falls ihnen das Glück erhalten blieb, konnten sie später nach dem Hammer suchen.

Als sie an dem ersten Gardisten vorbeikamen, ließ sich der ein oder andere Gefangene zu entsetzen Aufkeuchen hinreißen. Loke fuhr hastig herum und zischte den Störenfried warnend an. Da der Bereich verlassen war, mussten sie nicht zwangsläufig leise sein, doch er wollte sich nicht für seine Taten rechtfertigen. Natürlich hatte Elko recht gehabt und ein Mord war nicht nötig gewesen, aber er keine Zeit verschwenden und schon gar nicht riskieren, dass der Bengel mit seinem Geschrei die restlichen Wachen anlockte. Ein sauberer, gut gesetzter Stich und der Junge war leblos zusammengesackt, ohne groß zu leiden, vollkommen schmerzfrei ... abgestochen wie ein Schwein.

Loke schluckte und sah noch einmal die vor Entsetzen aufgerissen Augen des Jungen. Verdammt, er hätte dem Rat seines Bruders folgen sollen. Leichen pflasterten seinen Weg. Allmählich war er des Tötens überdrüssig. Die vielen Gesichter verfolgten ihn des Nachts im Schlaf und erinnerten ihn unermüdlich an seine Taten und daran, dass er selbst vor Brudermord nicht zurückschreckte.

Als sie ein paar Meter weiter gingen, wäre er beinahe über den zweiten Gardisten gestolpert. Der Kerl hatte sich in seiner Bewusstlosigkeit zur Seite gewälzt und behinderte nun ihr Durchkommen. Loke schob ihn mit der Spitze seines Stiefels beiseite. Das Stöhnen, dass dem Gardisten daraufhin entwich, führte abermals zu aufgeregtem Geschnatter in den hinteren Reihen. Loke zuckte zusammen, doch er rief die Befreiten diesmal nicht zur Ordnung. Was immer ihnen durch den Kopf gehen mochte, es war ihm egal. Sie waren gerettet, also sollten sie dankbar sein und nicht mit der Moralkeule ausholen.

Schließlich hatten sie den Ausgang erreicht. Loke schob sich als erster durch die schmale Öffnung. Ein kurzer Blick durch das Unterholz zeigte ihm, dass sie auf keine unliebsamen Überraschungen treffen würden. Weder waren sie entdeckt worden, noch war die Nacht sonderlich weit vorangeschritten. Glück gehabt.

Loke drehte sich um und versuchte, den Durchgang etwas zu verbreitern, doch die schmalen und gezeichneten Gestalten passten problemlos durch die enge Spalte. Einer nach dem anderen schlüpften sie in die Freiheit. Das Schlusslicht bildete sein Vater. Loke schob ihn hastig beiseite und half Elko, die schlaffe Gestalt ihrer Mutter durch die Öffnung zu bugsieren.

Wie leicht sie doch war! Loke schluckte und ließ sie ein paar Schritte entfernt vom Durchgang zu Boden gleiten. Ihr Vater ging neben ihr in die Hocke und strich ihr sanft das Haar aus der Stirn. »Wie ist euer Plan?« Loke hob den Kopf und suchte Elko, der sich ächzend und stöhnend durch den schmalen Durchgang kämpfte. Seine Größe war nicht immer von Vorteil, dachte Loke boshaft.

»Wir werden noch einmal zurückgehen und nach dem Hammer suchen«, murmelte Elko, als er sich zu ihnen gesellte. Seine Augen fixierten misstrauisch die Befreiten, doch sie hielten sich respektvoll zurück und ließen ihnen genug Raum für private Gespräche.

Dank der Dunkelheit konnte Loke das entsetzte Gesicht seines Vaters nicht sehen, doch er hörte den puren Unglauben in seiner Stimme. »Der Hammer ist nicht bei dir? Wie konnte das geschehen? Was ist passiert?«

»Still, Vater«, raunte Elko und packte ihn hastig an der Schulter. Sein Blick schweifte hektisch zu den Befreiten. »Meland hat ihn mir abgenommen. Und jetzt stell keine Fragen. Ich muss ihn zurückbekommen, sonst ist alles verloren.« Elko senkte die Stimme.

»Das ist ... unmöglich«, stammelte ihr Vater und griff sich fassungslos an die Stirn. »Er hat ihn einfach so genommen? Das ist Blasphemie!«

Loke verdrehte die Augen. »Vater, wir haben jetzt keine Zeit dafür. Das Einzige, was Ihr wissen müsst, ist, dass Elko ihn nach wie vor fühlt. Also werden wir ihn finden.« Loke wartete die Antwort seines Vaters nicht ab, sondern erhob sich und ließ seinen Blick über die Befreiten schweifen. Als er die auf den ersten Blick kräftigste Gestalt entdeckte, winkte er den Mann hastig zu sich.

»Könnt Ihr Euch um die Eltern des Hammerträgers kümmern?« Der Mann sah an ihm vorbei und musterte ihre Eltern mit einem kritischen Blick. »Ja, Herr, es wäre mir eine Ehre.« Der Mann neigte demütig den Kopf, doch die unausgesprochene Frage, warum sie sich nicht selbst um ihre Eltern kümmern konnten, stand unbeantwortet im Raum. Loke seufzte und ließ sich zu einer knappen Antwort hinreißen. »Wir haben noch etwas im Inneren des Ratsgebäudes zu erledigen.« Das boshafte Lächeln, mit dem er seine nichtssagenden Worte unterstrich, stellte den Mann offensichtlich zufrieden.

»Kennt Ihr einen Ort, wo ihr Euch verbergen könnt?« Der Mann runzelte die Stirn und dachte einen Augenblick angestrengt nach, bevor er Loke mit einer Handbewegung anwies, näherzukommen.

»Ich kann noch nicht mit Exaktheit sagen, wo wir uns verstecken werden, aber ich werde in Eurem Elternhaus einen Hinweis hinterlassen, der Euch und ...«, sein Blick glitt zu Elko und maß ihn mit einem Ausdruck, der Loke einen Schauer über den Rücken jagte. Darin schwang nicht nur Bewunderung mit, sondern eine gehörige Portion Fanatismus, »... Seine Hoheit zu uns führt. Nachdem Ihr das erledigt habt, was Ihr erledigen musstet.« Loke hasste Fanatiker und bereute, genau diesen Mann ausgewählt zu haben. Hoffentlich besaß er genug Enthusiasmus, um ihre Eltern in Sicherheit zu bringen.

»Bist du vom Blutadel?«, fragte Loke misstrauisch und maß ihn mit einem prüfenden Blick.

»Natürlich«, antwortete er und beugte demütig den Kopf. »Alle hier sind Blutadel. Meland hat uns aus unseren Häusern gezerrt und wie Vieh zusammengetrieben. Ihr, Königliche Hoheit, wart unsere letzte Rettung.« Sein brennender Blick ruhte auf Elko, der seine Arme unter ihre Mutter geschoben hatte und sich problemlos mit ihr erhob.

Elko nickte dem Mann zu und überreichte ihm den leblosen Körper. »Sorgt gut für sie.« Der Mann nahm sie entgegen und drückte sie an sich wie den größten Schatz, den er je in seinem Leben erhalten hatte. »Ich werde die ehrenwerte Thordis behandeln, wie es ihrer Stellung gebührt.« Sein Vater gesellte sich zu ihnen und strich ihr zärtlich über den Kopf. Flüchtig öffnete sie die Augen und blickte ihre Söhne liebevoll an. »Passt auf euch auf«, murmelte sie leise und sank gegen die Brust des Mannes.

»Wie ist euer Name?«, fragte Elko leise.

»Björn, Björn Haraldson.« Ehrfürchtig neigte Haraldson den Kopf.

»Björn Haraldson, mein Bruder und ich stehen tief in Eurer Schuld.«

Haraldsons glühender Blick fraß sich in Lokes Augen und er kam nicht umhin, den Mann misstrauisch zu mustern. Es gefiel ihm nicht, seine Eltern diesem Fanatiker anzuvertrauen, aber leider war die Auswahl an geeigneten Kandidaten begrenzt. Die anderen Befreiten hatten große Mühe, sich aufrecht zu halten und der Marsch durch die unterirdischen Gänge hatte ihre verbliebenen Kräfte aufgezehrt. Haraldson hatte vermutlich alle Hände voll zutun, die Truppe sicher an einen versteckten Ort zu bringen.

»Macht euch keine Sorgen«, wandte sich Haraldson an Loke, als er seinen forschenden Blick bemerkte. »Es gibt eine Gruppe, die gegen Meland vorgeht und Euch, Königliche Hoheit, als Odinson ehrt. Wir dienen Euch und dem Göttlichen.«

Elko nickte und lächelte den Mann huldvoll an. Kopfschüttelnd wandte sich Loke ab. Männer, die die Götter respektierten, waren gut für Elko und wenn es sogar eine Gruppe gab, die gegen Meland und den Rat vorging, war das ebenfalls von Vorteil. Aber Loke hatte so seine Probleme mit Fanatikern. Sie neigten dazu, ihren gesunden Menschenverstand außer Acht zu lassen. Sie waren gefährlich. Meland kam ihm erneut in den Sinn. Er verfolgte seine Sache genauso vehement wie diese Fanatiker. Aber sein Vorgehen folgte einem kühlen Plan, ohne lästige, Verstand ausschaltende Leidenschaft. Haraldson und diese Gruppe betrachteten Elko als einen Halbgott. Loke bezweifelte, dass dieses Ansehen dem Ego seines Bruders dienlich sein würde.

»Ich danke euch, Haraldson. Wir werden uns so bald wie möglich bei Euch melden und uns natürlich für Eure Dienste erkenntlich zeigen.« Elko drückte Haraldson in einer freundschaftlichen Geste die Schulter. Der Trottel aalte sich wie immer in der Ehrerbietung. Loke schnalzte missbilligend mit der Zunge.

»Komm, Bruder, die Zeit drängt.« Nicht nur die Zeit. Wenn Elko noch länger die Huldigungen genoss, würde Loke sich auf der Stelle übergeben.

Elko drückte noch einmal zärtlich die Hand seiner Mutter, schenkte seinem Vater ein freundliches Nicken und ließ seinen Blick über die Befreiten gleiten. Ihre glühenden Augen klebten an seiner imposanten Gestalt.

»Bringt euch in Sicherheit, folgt Haraldson, und ehrt die Traditionen. Wir werden euch so bald wie möglich aufsuchen.«

»Du hättest dich nicht so anschmachten lassen müssen«, zischte Loke und stapfte mürrisch durch die Dunkelheit. Sie folgten dem gleichen Weg, den sie vor wenigen Augenblicken mit den Befreiten gegangen waren.

»Ach was«, hörte er die gut gelaunte Erwiderung seines Bruders. Seine beschwingten Schritte und das fröhliche Tocktock seiner Stiefel brachten Loke zur Weißglut. Bei Odin, erkannte Elko denn nicht, wie gefährlich diese Anbetung war? Loke würde ihn später den Kopf zurechtrücken, damit er sich bei einer erneuten Begegnung mit Haraldson und seiner Gruppe besser im Griff hatte. Er durfte sich deren Glorifizierung nicht zu Kopf steigen lassen. Leichter gesagt als getan. Elko hüpfte begeistert durch die dunklen Gänge.

»Spürst du den Hammer wieder?«, lenkte Loke seine Aufmerksamkeit auf das Wesentliche. Wenn er sich konzentrierte, würde er hoffentlich mit dieser ätzenden guten Laune aufhören!

Elkos Schritte verstummten und er lauschte angestrengt in die Schwärze. Nach ein paar schweigenden Augenblicken schob er sich an ihm vorbei und drängte vorwärts. »Der Sog ist schwach, aber ich spüre deutlich seine Präsenz.« Der Klang seiner Stiefel nahm an Schnelligkeit zu und Loke passte sein Tempo dem seines Bruders an.

»Vorsicht, nicht zu schnell«, raunte er ihm hinterher und langte nach seiner Schulter. Doch Elko flog regelrecht den Gang entlang. Von einer unsichtbaren Schnur geleitet vergrößerte sich ihr Abstand stetig. Loke fluchte herzhaft und schoss jegliche Vorsicht in den Wind. Mit einer flüchtigen Handbewegung entzündete er die Fackeln, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebracht waren. Wenn sie weiterhin in diesem Tempo durch die Dunkelheit eilten, könnten sie sich womöglich noch den Hals brechen.

»Bruder, Vorsicht!«, zischte Loke und warf, während sie an Melands Labor vorübereilten, einen flüchtigen Blick auf die leicht angelehnte Tür. Moment mal? Hatten sie die Tür vorhin nicht geschlossen. Loke stoppte abrupt und drehte sich hastig um, während er im Vorbeilaufen die Tür schließen wollte. Seine Hand schwebte einen Augenblick über der Klinke und er schalt sich selbst einen Narren, dass er seinen jüngeren Bruder nicht zurückgerufen hatte. Hastig packte er die Klinke und zog die Tür energisch zu.

Seine Sinne explodierten in einer Kaskade leuchtender Warnsignale, doch er konnte nicht mehr reagieren. Sein Körper wurde von heftigen Zuckungen geschüttelt und unter dem schillernden Ansturm prächtiger Farben ging er in die Knie. Seine Sinne schrien nach einer Falle.

»Elko!«, schrie er mit letzter Kraft und sackte vor Schmerzen zusammen. Meland musste irgendeine teuflische Sicherung an seiner Labortür angebracht haben, dachte Loke dumpf. Warum hatte er diese Vorrichtung nicht bemerkt? War er etwa zu selbstsicher gewesen? So ein Fehler würde ihm nicht unterlaufen. Er hatte sich beim Scannen nach magischen Sicherungen genauestens an die Vorgehensweise gehalten und hätte die Falle erkennen müssen. Oder zumindest ein Gefühl der Vorahnung, das auf einen Eingriff mittels Magie hindeutete. Aber er hatte nichts dergleichen gespürt. Und er war gut in solchen Dingen. Das konnte nur eines bedeuten: Die Falle war nach ihrem kurzen Besuch in Melands Labor angebracht worden und das wiederum hieß, dass man sie entdeckt hatte. Man hatte sie absichtlich mit den Gefangenen entkommen lassen, um einen viel größeren Fisch zu fangen. Loke erbleichte, doch er war unfähig, sich zu bewegen. Sein Bruder tappte blindlings in die eigens für ihn gestellte Falle.

Seit sie die Katakomben unter dem Ratsgebäude betreten hatten, war der Sog ständig präsent gewesen. Die Macht des Hammers rief nach ihm und er konnte ihm nur schwer widerstehen. Er hatte sich ständig vor Augen führen müssen, dass die Gefangenen und seine Eltern oberste Priorität hatten. Loke hatte recht. Menschenleben standen über der mächtigen Waffe. Doch als Loke ihn aufgefordert hatte, dem Ruf zu folgen, stürzte die mühsam aufrecht erhaltene Selbstbeherrschung in sich zusammen. Unablässig folgte er dem Sog und überließ es seinen Füßen, ihn zum Hammer zu tragen.

Schon spürte er den Griff in seiner Hand, wie die Kraft ihn durchströmte und ihn wieder diese knisternde Spannung erfüllte. Er sehnte sich nach diesem Gefühl. Bei Odin, wenn er den Hammer erst einmal wieder in der Hand hielt, würde er das Ratsgebäude in Schutt und Asche legen. Sie würden für alles bezahlen, was sie seinen Eltern angetan hatten.

Elko hörte ein Raunen durch seinen Geist dringen, doch der stetige Sog des Hammers überlagerte jedes andere Gefühl. Wo war Loke? Egal, er würde ihm schon folgen! Er musste sich nur beeilen! Ungeduldig beschleunigte er seine Schritte und flog geradezu um die nächste Ecke. Als sich vor ihm eine schier undurchdringliche Mauer an Soldaten aufbaute, lächelte er finster. Diese Spielzeugsoldaten würden ihn nicht aufhalten. Ein Griff über seinen Rücken und er hatte das mächtige Breitschwert in der Hand. Mit nur wenigen Streichen würde er ihre Mauer durchdringen. Instinktiv wusste er, dass Meland hier den Hammer aufbewahrte. Warum auch sonst sollte er seine persönliche Leibgarde zur Bewachung abstellen.

Die sich vor ihm befindlichen Soldaten gehörten nicht den prächtig gekleideten Gardisten an, sondern trugen die schwarze Standarduniform der Akademie. Lange, weite Beinhosen, ein eng anliegendes Oberteil, zudem maskiert, glichen die Krieger sich wie ein Ei dem anderen. Elko ließ seinen Blick prüfend über die Reihe gleiten, doch er konnte den Anführer der Gruppe nicht ausmachen. Egal. Die Macht des Hammers war so nahe, dass er ihn bereits in seinen Fingern spüren konnte. Das Gefühl, das die Nähe des Hammers in ihm hervorrief, reichte aus, um ihm den Weg zum Kraftgürtel zu zeigen. Mit seiner Hilfe würden die Krieger umknicken wie Grashalme im Wind. Nein, wie im Sturm! Einen Sturm, den er entfesseln würde.

Ein markerschütternder Schrei der Entschlossenheit löste sich tief aus seiner Brust und er schwang das blau glühende Breitschwert wie eine Sense vor den Augen von Melands Kriegern! Ein Hauch Bedauern minderte seine Entschlossenheit. Wieder würde sein Streben nach dem Hammer Menschenleben kosten, doch die Wucht seines Hiebes wurde dadurch nicht geschmälert. Die Angst stand den Kriegern ins Gesicht geschrieben und da fiel auch schon der vorderste Soldat seinem wütenden Ansturm zum Opfer.

Elko setzte einen Hieb nach links, wirbelte um die eigene Achse und versetzte dem daneben stehenden Mann einen Schlag mit dem Knauf des Schwertes. Der nächste ging in die Knie, als er einen Ausfallschritt nach rechts vollführte. Während er sich durch die Masse an Fleisch kämpfte, bemerkte er interessiert, dass er die Männer gar nicht berührte. Die glühende Klinge stieß sie mühelos zurück und die Leiber wurden von zuckenden Blitzen geschüttelt. Ein flüchtiges Lächeln huschte über Elkos Züge. Er gönnte sich einen Moment der Ruhe und ließ seinen Blick durch den kreisförmigen Raum schweifen. Ein fast identisches Abbild des Ratssaales, nur dass hier keine Alkoven für die zwölf Mitglieder im Mauerwerk eingelassen waren. Der Raum musste sich direkt unter dem Zentrum befinden. Elko hätte vielleicht sogar bemerkt, dass die Krieger ihn nicht weiter behelligten, sondern sich zurückzogen. Doch er hatte nur Augen für das Objekt im Zentrum und schaltete jegliche Vorsicht aus. Gierig klebte er an dem göttlichen Werkzeug, sog seinen Anblick in sich auf, während von ihm unbemerkt in seinem Rücken ein dunkel gekleideter Mann erschien, über dessen Züge ein eiskaltes und berechnendes Lächeln glitt.

Elkos rechte Hand krampfte sich zusammen und löste sich unablässig, so als würde er bereits den Griff des weichen Leders spüren. Angezogen vom Hammer, setzte er einen Fuß vor den anderen, so als wolle er den Moment auskosten, ihn vorsichtig genießen und auf gar keinen Fall mit seiner Hast zerstören. Als er das Podest erreichte, stieg er langsam die Stufen hinauf und betrachtete ihn ehrfürchtig. Ein sehnsuchtsvolles Lächeln erhellte seine Züge. Langsam hob er die Hand und streckte sie nach dem mit weichem Leder umwickelten Griff aus. Die Schlaufe am Ende des Griffs baumelte sacht von der ihn umgebenden Energie. Der Hammer pulsierte im Schlag seines Herzens und wartete nur darauf, endlich wieder mit ihm vereint zu sein. Sie atmeten gleich. Und er spürte die Sehnsucht, die von dem mächtigen Werkzeug ausging und ihn rief. Der Sog war so stark, dass er ihm nicht länger widerstehen konnte, auch wenn er den siegessicheren Moment noch eine kleine Weile länger ausgekostet hätte.

Sein Arm ruckte, die Rechte schoss hervor und dann waren sie wieder vereint. In dem Augenblick, als ihn die köstliche Macht, das Gefühl, alles und jeden vernichten zu können, durchströmte, durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Der Hammer verschwand vor seinen Augen und ein paar lederne Manschetten schlossen sich um seine Handgelenke. Keuchend ging er in die Knie und rang um Atem. Er fühlte, wie seine Kraft von den ledernen Fesseln gebannt wurde. Nein, er glaubte fast, dass er spüren konnte, wie sie das Leben aus ihm heraussaugten.

Noch während er einfach nur versuchte, zu atmen, traten schwarze Stiefelspitzen in sein Blickfeld. Elko hob langsam den Kopf.

»Nun sieh mal einer an, wer uns da in die Falle getappt ist.« Halldor Meland lächelte genüsslich auf ihn herab und beugte sich ohne Hast zu ihm. Seine Hand fuhr blitzschnell hervor und fuhr ihm fast zärtlich durchs Haar. Elko glitt trotz des brennenden Schmerzes ein eiskalter Schauer über den Rücken. Wenn er die Kraft gehabt hätte, wäre er vor Ekel zurückgewichen, doch Meland schien den Reflex zu spüren und packte ihn grob beim Schopf. Langsam zog er seinen Kopf so weit nach hinten, dass er kaum atmen konnte und beugte sich zu ihm. Sein nach Knoblauch und Wein stinkender Atem fuhr ihm über den Hals und er konnte einen flüchtigen Blick auf Melands vor Hohn verzogenes Gesicht erhaschen.

Elko keuchte und starrte nach Atem ringend in die graublauen Augen des Telepathen. Die Schmerzen in seinen Armen verblassten vor dem Hass, den er auf diesen ekelerregenden Magier empfand und er nahm das Pochen, das Melands gewaltsamer Griff in seinem Haar hinterließ, kaum wahr.

»Ich bin wirklich überrascht, Euch hier zu sehen, Hoheit!«, verhöhnte er ihn. Vor Elkos Augen tanzten bunte Blitze. Übelkeit erfasste ihn und er spürte, wie sein Sichtfeld, von Schwärze eingerahmt, zusammenschrumpfte. Meeresrauschen gleich dröhnten seine Ohren und ein leiser Pfeifton kündigte die drohende Bewusstlosigkeit an. Halldor Meland klatschte ihm unsanft ins Gesicht und holte ihn mit erneutem Schmerz an die Oberfläche seines Bewusstseins zurück.

»Ihr habt die Explosion überlebt, Glückwunsch. Ich wusste, wenn ich mit der Neuprogrammierung warte, würdet Ihr, falls Ihr noch lebt, hierher kommen. Und hier seid Ihr. Seid dem Ruf gefolgt wie ein liebeskranker Trottel. Mein Glück, würde ich sagen. Ihr und Euer Kraftgürtel werdet mir gute Dienste leisten!«

Angewidert ließ Meland ihn los und Elko sank kraftlos zu Boden, spürte den kalten Stein. Um Atem ringend starrte er an die Gewölbedecke. Der Schmerz in seinen Handgelenken verebbte zu einem dumpfen Sog und die Fesseln pulsierten im Rhythmus seines Herzens. Sie zapften ihn an und ließen ihn ausbluten. Elko fluchte, doch kein Laut drang über seine Lippen. Meland ging neben ihm in die Hocke und hantierte an den Fesseln herum. Selbst, als er seine Arme anhob und mit irgendetwas verband, konnte er nicht genug Kraft aufbringen, um den Kopf zu drehen. Das stetige Pochen nahm an Intensität zu und die Kraft floss nur so aus ihm heraus. Elko stöhnte, er wusste, das dies hier sein Gefängnis sein würde.

Vermummte Gestalten traten in sein Sichtfeld. Er spürte die schmerzhafte Berührung harter Stiefelspitzen, wie sie ihn anstießen, um noch eine Reaktion aus ihm herauszukitzeln. Doch Elko starrte nur blicklos in die Leere, konzentrierte sich einzig und allein auf den immer stärker werdenden Sog in seinen Handgelenken und darauf, sich nicht der Bewusstlosigkeit zu ergeben. Er keuchte hilflos auf, als der Schmerz erneut aufflammte. Nur einen Moment, nur einen winzigen Moment dieser Pein entfliehen ...

Sein Blickfeld wurde immer kleiner und er flüchtete sich dankbar in die schwarze Umarmung der Bewusstlosigkeit, hieß sie willkommen wie eine Geliebte. Claire! Oh, nein! Er konnte nicht einfach so aufgeben. Claire! Er hatte ihr doch ein Versprechen gegeben. Er würde zurückkommen und dann würden sie einen Weg finden, ihr Verlangen in den Griff zu bekommen. Mit etwas Glück hatte Sigrid schon eine Möglichkeit gefunden und dann ... Elko zuckte unter den Schmerzen der Handfesseln zusammen. Nun, vielleicht brauchten sie keine Lösung mehr für Claires Gier! Vielleicht besaß er dann schon keinen einzigen Tropfen Energie mehr, den sie ihm aussaugen konnte.

Einzig der Gedanke an Claire ließ ihn noch einen kurzen Moment länger durchalten! Nein!, schrie er, als er ihre Präsenz spürte und ihm bewusst wurde, dass sie den Schmerz mit ihm teilte. Er wollte sich aufbäumen, sich wehren und sie vor den Qualen schützen. Doch die Schwärze hatte ihn bereits fest in ihren Klauen und ließ ihn nicht mehr los.

Kapitel 4

Die Dunkelheit hüllte sie ein wie eine warme Decke. Mühsam versuchte Claire, die Augen zu öffnen, doch auf ihren Lidern lastete bleischwere Finsternis. Die Zunge klebte an ihrem Gaumen, ihr Atem ging schwer und ein metallischer Geschmack – Blut? – zwang sie, zu würgen. Was zur Hölle? Sie fühlte die Präsenz schwerer Schuhe vor ihrem Gesicht. Tritte, die ihr die Luft zum Atmen nahmen und Schmerzen. Unglaublich starke Schmerzen. Claire schnappte nach Luft und fasste neben sich. Frische Laken. Sie hatte das Bett direkt nach ihrer Rückkehr aus dem Bunker neu bezogen, doch in ihrer Nase hing nicht wie erwartet der Geruch nach frischer Wäsche. Stattdessen nahm sie einen fauligen Gestank wahr. Muffig und abgestanden, wie ein alter Keller. Vage erinnerte sie sich daran, dass sie gestern Abend in ihrem Bett eingeschlafen war. Nicht sofort und erst, nachdem sie sich stundenlang hin und her gewälzt hatte. Die Sorgen um Elkos Sicherheit kreisten in ihrem Kopf und schenkten ihr allerhand schillernde Versionen seines Ablebens.

Letztlich war Claire mit der Gewissheit eingeschlafen, dass er zurückkommen würde. Er hatte es versprochen und er war ja schließlich unkaputtbar. Das Echo ihres Lächelns lag noch immer auf ihren Lippen, als sie die Schmerzen in ihren Handgelenken spürte. Überrascht fuhr sie auf und griff verstört nach ihrer Hand. Das tat höllisch weh!

»Nein!« Der Schrei löste sich aus ihrer Kehle, doch er klang tief und so ... unweiblich. Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund und verharrte entsetzt. Sie kannte die Stimme! Oh Gott!

Schlagartig setzte der Schmerz wieder ein, vibrierte in ihren Knochen und drückte sie in die Kissen. Das war doch nicht möglich. Claire stöhnte und wälzte sich zur Seite. Hastig presste sie ihre Hände zwischen die Schenkel. Doch der Schmerz hörte nicht auf. Die Schlafzimmertür wurde aufgestoßen und Sigrid stand mit zerzauster Mähne in der Öffnung, eingerahmt vom gleißenden Licht aus dem Flur.

»Was ist passiert?!« Sigrids Blick flog hastig durch den Raum, suchte nach einem Angreifer, nach jemandem, den sie attackieren konnte, dem der tiefe Bass gehörte. Ihre Hände hatte sie weit von sich gestreckt, so als wolle sie in Harry-Potter-Manier angreifen! Doch sie konnte – natürlich – niemanden finden.

»Ich war das«, keuchte Claire. »Meine Arme!«, schrie sie. Sigrid zögerte nicht. Alarmiert lief sie zu Claire und sank neben ihr auf die Matratze. Ihre Hände glitten suchend über ihren zu einer qualvollen Kugel zusammengerollten Körper.

»Schhh«, murmelte Sigrid beruhigend und löste langsam ihre Hände, zog sie vorsichtig zwischen ihren Schenkeln hervor. »Lass mich sehen.« Mit gerunzelter Stirn fuhr sie über Claires Handgelenke.

»Ahhhh«, stöhnte Claire und wollte Sigrid ihre Hand wieder entreißen, doch die Schmerzen hatten sie kraftlos und mit tauben Gliedern zurückgelassen.

»Hast du schlecht geträumt?« Zärtlich fuhr die ältere Frau mit dem Daumen über Claires gerötetes Handgelenk und betrachtete es stirnrunzelnd im kalten Licht der Neonbeleuchtung.

»Wenn das ein Traum war, war er ziemlich real!«, keuchte Claire erschöpft.

Sigrid zuckte mit den Schultern und ließ ihren Arm los. »Ich habe eine Salbe, die gegen die Rötung hilft ...« Sigrid verschwand im Bad.

Ausgelaugt sank Claire in die Kissen und starrte an die Decke. Der Traum war so echt gewesen. Der Schmerz pochte in ihren Handgelenken. Die Verbrennungen konnte sie ebenso wenig erklären. Sie konnte sich jedenfalls nicht erinnern, sie gestern Abend schon gehabt zu haben. Und die Angst. Der Druck auf ihrer Brust war unerträglich gewesen. Als Sigrid zurückkehrte und sich neben ihr niederließ, setzte sich Claire auf und musterte sie forschend.

»Der Schrei ...«, begann sie nachdenklich und suchte in Sigrids Zügen nach einem Zeichen. Claire hatte das untrügliche Gefühl, Sigrid wusste Bescheid. Doch die Miene der Telepathin blieb unergründlich. Sie wich ihrem Blick nicht einmal aus. Entweder sie hatte ihre Gefühle unter Kontrolle oder ...

»Das war nicht deine Stimme, ich weiß.« Sigrid tauchte die Finger tief in den flachen Tiegel und verteilte die Salbe großzügig auf Claires Handgelenk. Der Schmerz ließ fast sofort nach und Claire streckte ihr auch die andere Hand hin, damit Sigrid sie der gleichen Behandlung unterziehen konnte.

»Hast du die Stimme erkannt?« Claire schloss die Augen. Mit der Erinnerung an den schrecklichen Schrei kam die Gewissheit. Natürlich hatte sie ihn erkannt, aber ob Sigrid ihn auch erkannt hatte ... Claire biss die Zähne zusammen, als Sigrid die Salbe verteilte. Der Kontakt war im ersten Moment unangenehm, doch bald setzte die kühlende Wirkung ein. Nur Augenblicke später sank Claire entspannt in die weichen Kissen. Erleichtert schloss sie die Augen und genoss für einen Moment das Gefühl, frei atmen zu können und keinen bewusstseinsraubenden Schmerz in den Armen zu spüren.

»Du etwa nicht?« Claire blinzelte verwirrt und schluckte, als Sigrids Frage ihr tief in den Magen sackte.

»Was hat das zu bedeuten?« Claires Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern.

Sigrid krabbelte zu ihr aufs Bett und lehnte sich an die Kopfstütze. »Ihr, Elko und du, habt eine einzigartige Verbindung, es wäre durchaus möglich, dass du sein Erlebnis geteilt hast. Du warst bei ihm, als er diese Schmerzen erlitten hat. Das war seine Stimme ...«

»Nein!«, unterbrach Claire sie abrupt. »Du weißt es nicht. Du hast keine Ahnung, ob das seine Stimme war ...« Claire ließ hilflos die Hände sinken und starrte die ältere Frau an. »Du kannst es nicht wissen ...«

Sigrid lächelte schmerzvoll und schüttelte den Kopf. »Natürlich kann ich es nicht wissen, aber der Schmerz in deinen Händen ... der Schrei ... die Rötungen ...« Claire rieb sich fröstelnd über die Arme.

»Könnte das denn eine Vision gewesen sein?« Claire ließ sich auf die Bettkante sinken, schob ein Bein unter das andere und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Wenn die Bilder ihr die Vergangenheit gezeigt hatten, war Elko in großer Gefahr! Wenn dies die Zukunft war, gab es vielleicht eine Möglichkeit, sie zu verhindern? Aber wenn sie die Gegenwart gefühlt hatte, war es möglicherweise schon zu spät. Ganz egal, ob ihr die Vision die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft gezeigt hatten, sie musste etwas unternehmen.

»Gibt es denn so etwas wie Visionen?« Sigrid hatte immer wieder gesagt, dass ihre Fähigkeiten erst am Anfang standen und sie nicht wussten, was sie noch alles erwarten würde. Die Schmerzen waren so real gewesen, dass sie den Wahrheitsgehalt ihrer Empfindungen durchaus in Betracht zog.

»Ja, ich habe von so etwas gehört. Aber auch in unserer Kultur sind Visionen, oder das Zweite Gesicht, wie wir diese Gabe nennen, eher dem Wahnsinn zuzuordnen.« Claire verzog den Mund. Sah sie etwa wahnsinnig aus? Herausfordernd streckte sie ihre Handgelenke vor. Sigrid lächelte und hob beschwichtigend die Hände. »Keine Sorge, ich glaube nicht, dass du dem Wahnsinn verfallen bist. Vielleicht ein klein wenig übereifrig, aber auf gar keinen Fall wahnsinnig.«

»Vielen Dank«, entgegnete Claire. »Also könnte es durchaus eine Vision gewesen sein. Ich befand mich in absoluter Dunkelheit. Nur diese Schmerzen und dieser Schrei ...« Sigrid zuckte mit den Schultern.

»Ich kenne mich in diesen Dingen nicht aus, um die Bilder zu deuten ...« Doch Claire ließ sich nicht beirren. Selbstsicher fuhr sie fort.

»Zeigen sie die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft?«, murmelte sie abwesend und rieb sich immer wieder die schmerzenden Handgelenke. »Und wenn es eine Zukunftsvision war, können wir sie verhindern?« Ihre Gedanken fuhren Karussell. Gab es so etwas überhaupt? Wenn es die Zukunft war, konnte man sie verändern? Und wenn ja, was würde das beeinflussen? Sie wollte ihren persönlichen Judgement Day nicht erleben. Filme, in denen die Zukunft in der Vergangenheit geändert wurde, gingen sowieso meist nicht gut für alle Beteiligten aus. Wenn diese Vision nur deutlicher gewesen wäre!

Claire atmete tief durch und versuchte, sich auf Elko zu konzentrieren, ihn irgendwo zu finden. Selbst wenn er nicht bei ihr war, hatte sie immer noch seine Präsenz gespürt. Wie den Hauch eines Abdrucks, wie die noch warme Stelle im Bett neben sich. Doch seine Seite war kalt.

Resigniert öffnete sie die Augen und sah Sigrid fragend an. »Können wir denn gar nichts tun? Pendeln? Oder in Teeblättern lesen?«

Sigrid nahm ihre Hände und drückte sie. »Warten, Claire, das, was Frauen zu allen Zeiten getan haben. Sie warten auf ihre Männer.« Sie nickte verstehend. »Wir haben den ganzen Tag versucht, etwas über Tommys Verbleib herauszufinden und niemand konnte uns etwas sagen.« Lehmann war indessen losgezogen und versuchte herauszufinden, wo sich sein bester Freund aufhielt. Sigrid seufzte.

»Selbst wenn du recht hast und diese Vision zeigt im besten Fall die Realität, dann sind wir handlungsunfähig. Loke und Elko sind über die Grenzen von Raum und Zeit von uns getrennt. Mit meinen beschränkten Fähigkeiten können wir ihnen nicht dorthin nicht folgen.«

Die eisige Kälte des Mauerwerks fuhr ihm durch Mark und Bein und grub sich in die schmerzende Stelle zwischen seinen Schulterblättern. Seine Wange ruhte auf dem feuchtkalten Untergrund und stetige Nässe zwang ihn zu blinzeln. Unfähig, sich zu bewegen, oder gar den Kopf wegzudrehen, konzentrierte er sich auf das Wesentliche: Atmen. Als das Atmen einigermaßen sicher funktionierte, kehrte mit dem Sauerstoff in seinen Lungen auch die Bewegungsfähigkeit zurück. Stück für Stück eroberte er sich die Herrschaft über seinen Körper zurück. Ein Ruck ging durch seine Muskeln und er setzte sich auf.

Lokes Kopf schwirrte. Wirre Fetzen hastig gerufener Worte schwammen ihm durchs Bewusstsein. Stöhnend klemmte er sich den Kopf zwischen die Beine und verharrte bewegungslos. Wenn nur endlich das Karussell in seinem Kopf anhalten würde!

Loke hob den Kopf und ließ ihn kraftlos gegen die Mauer sinken. In einem Anflug von Größenwahn öffnete er die Augen und starrte in das grelle Feuer einer Fackel, die direkt über ihm brannte und winzige Partikel glühender Asche auf ihn herabregnen ließ. Loke hätte sich nur zu gerne weggedreht, aber dann müsste er den Kopf bewegen und das Karussell verlor gerade ein wenig an Schwung.

Wo war er eigentlich? In einem Keller, so viel stand schon mal fest. Wo sonst würden Fackeln an den Wänden brennen? Vorsichtig wandte er den Kopf nach rechts, dann nach links. Der Gang erstreckte sich, so weit er sehen konnte in jede Richtung. Seine Hand fuhr zur Seite und er fühlte etwas Hölzernes, vollkommen anders in der Struktur als das Mauerwerks hinter ihm. Interessiert ließ er den Blick nach rechts schweifen und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Melands Labor! Elko! Der Keller! Ihre Eltern! Falle!

Sein Kopf protestierte wild, aber Loke schwang sich so schnell wie möglich auf die Beine, stieß die Tür mit seiner Schulter auf und wankte in das Labor des Telepathen. Noch einmal würde er den Fehler nicht begehen und den Türgriff berühren. Dieser Hurensohn hatte Summer installiert und ihn damit außer Gefecht gesetzt. Wo immer Elko war, Loke würde sich erst erholen müssen, ehe er nach ihm suchen konnte. Erschöpft sank er auf die Knie und rang keuchend nach Atem. Sein Blick wanderte über die kalten Steine und blieb am Portal hängen. Seine Chance zu entkommen.

»Flieh!«, rief es. »Bring dich in Sicherheit!« Loke fluchte lästerlich. Früher einmal wäre er dem Ruf dieser Stimme gefolgt, seinen eigenen Hals zu retten; nicht bereit, sich einem unkalkulierbaren Risiko zu stellen. Aber nicht nach den letzten Vorfällen. Er wollte seine zweite Chance nicht einfach verpuffen lassen. Er würde um Elko kämpfen.

Mühsam rappelte er sich auf die Beine und warf dem Portal einen letzten Blick zu. Das hier war ihre Lebensversicherung und er würde sie nur mit seinem Bruder zusammen betreten ... oder gar nicht.

Betörend drang der Duft des frisch gebrühten Tees in Claires Nase und beruhigte ihre angespannten Nerven. Der Nachhall der Vision – sie nannte es der Einfachheit halber so – klebte noch immer an ihr wie der Schweiß der ausgestandenen Furcht. Sie spürte Elkos Präsenz in ihrem Nacken wie den Hauch einer Berührung. Der Tee – Sigrids Geheimrezept – half. Nicht nur ihr. Sigrid stand der Schreck genauso ins Gesicht geschrieben.

»Sigrid?«, murmelte Claire und schloss die Finger um die dunkle Keramik. Hastig zog sie sich wieder zurück. Die Flüssigkeit war noch viel zu heiß.

»Mh?« Die ältere Frau nahm ihr gegenüber Platz und stellte ihre Tasse auf den Tisch. Der Dampf stieg in sanften Wellen auf. Allein die Betrachtung setzte eine Ruhe frei, die sie nur ungern mit Worten zerstören wollte. Die letzten Tage waren so aufwühlend und ereignisreich gewesen, dass sie kaum Zeit gehabt hatte, mit Sigrid zu reden. Zumal sie auch keinen besonders guten Start hatten, der ein solches Gespräch überhaupt ermöglichte. Heute, vor allem diese Nacht, als Sigrid ihr beigestanden hatte, fühlte sich Claire ihr so verbunden, wie noch nie zuvor. Zugegeben, sie kannten sich vielleicht eine Woche, keine Zeit, in der man ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnte. Aber die gemeinsam durchlebten Höhen und Tiefen, Vertrauen, Misstrauen, Verachtung und schließlich die Hingabe, mit der Sigrid sich für Elko aufgeopfert hatte, schafften eine Basis, die Claire bestimmte Fragen erst ermöglichte.

Während Claire ihren Gedanken nachhing, schloss Sigrid abwartend die Finger um ihre Tasse. Erst als sie sie anhob, sah Claire auf und lächelte. Die Erinnerung an die Vision stand ihr noch deutlich ins Gesicht geschrieben. »Woher, glaubst du, kommen diese Fähigkeiten? Was bin ich? Ich dachte immer, ich sei vollkommen normal!«

Sigrid seufzte und stellte die dampfende Tasse wieder ab. Nachdenklich faltete sie die Hände unter dem Kinn und legte die Finger unter ihre Nasenspitze. »Du bist alles andere als normal und schon gar kein Mensch.« Sie sprach die Worte ohne Hast, so als wolle sie sicherstellen, dass Claire sie verstand.

»Aber ... was bin ich dann?«

Sigrid ließ die Hände sinken und legte sie auffordernd auf den Tisch. Claire folgte dieser Geste und gab ihr ihre eigenen. »Ich glaube, meine Liebe, dass du Asenblut in dir hast, vielleicht sogar Vanenblut. Oder beides. Hättest du nur eine Fähigkeit, sagen wir mal, die Heilung, dann würde ich auf eine starke Vanen-Heilerin in deiner Ahnenreihe tippen.«

»Vanenblut? Asenblut?« Claire runzelte fragend die Stirn.

»Nun, die Vanen sind für ihre Heilerfähigkeiten bekannt, während uns Asen mehr die telepathischen Fähigkeiten zugesprochen werden. Da du beide Fähigkeiten in dir trägst, besitzt du möglicherweise beide Blutlinien. Du sagst, deine Mutter betreibt eine Physiotherapie?«

Claire nickte.

»Sie wird der Träger des Vanenblutes sein«, murmelte Sigrid und fuhr fort. »Deine telepathische Fähigkeit spricht für Asen in deiner Ahnenlinie.«

»Mein Vater ist LKW-Fahrer«, erwiderte Claire so, als würde das alles erklären.

Sigrid schüttelte den Kopf. »Das, meine Liebe, halte ich für ein Gerücht. Wir sollten deiner Mutter bei Gelegenheit einen Besuch abstatten. Die Visionen bringen mich allerdings ins Grübeln. Es könnte an deiner Verbindung zu Elko liegen, dass du seine Erfahrungen teilst ... vielleicht ist es auch eine Fähigkeit, die von ihm kommt. Das ist schwer zu sagen. Fraglich ist auch, ob dieser Vorfall reproduzierbar ist ...«

Claire hörte Sigrid nicht zu. Was sie da gerade behauptet hatte, ließ sie grübeln. Wenn man Sigrids Gedanken zu Ende dachte, ging sie davon aus, das ihre Mutter eine Vanin war und ihr Vater ... Claire fröstelte. Vielleicht war ihr Vater gar nicht ihr Vater oder er war ein Ase. Das war doch absurd! Ihr Vater fuhr seit Jahr und Tag Lastwagen, er war bestimmt kein Ase. Hastig löste sie sich aus ihren Gedanken und wandte sich wieder dem eigentlichen Problem zu. Elko und diese Vision. »Also gehst du davon aus, dass ich seine Gegenwart gespürt habe? Dass das kein böser Traum war ... sondern die Realität?«

Sigrid nickte. »Wir werden es vielleicht nie erfahren.«

Während seiner Zeit bei der Bundeswehr hatte Thomas Meyer schon viele solcher Verhörräume in Augenschein genommen. Kahle Wände, mit etwas Glück ein Kellerfenster, das etwas Tageslicht hereinließ, kalte Neonbeleuchtung und spärliches Mobiliar. Aber dieser Raum, in dem ihn die Agentin des militärischen Abschirmdienstes nach zwei Tagen in einer winzigen Zelle gebracht hatte, war das absolute Übermaß an Spärlichkeit. Keine Fenster, die helle Beleuchtung stach ihm schmerzhaft in die Augen und nachdem er eine geschlagene Stunde mit Nichtstun verbracht hatte, glaubte er sogar, das Licht sei eine stupide Foltermethode, um den Delinquenten mürbe zu machen. Die Warterei zählte schon nicht mehr. So lange, wie er in der Zelle gesessen hatte, war ihm der kurze Weg zum Verhörraum wie ein Klassenausflug erschienen.

Der Tisch, an dem er mit Handschellen gefesselt war, sah eher nach einer liegenden Tür aus und der Stuhl konnte nicht einmal mit viel Wohlwollen als solcher durchgehen. Quietschend rutschte er zum wiederholten Male hin und her, fand aber keine bequeme Position. Sein Hintern war vom vielen Sitzen bereits taub und er rutschte unruhig hin und her, damit das Blut in seinen Pobacken wieder zirkulieren konnte. Das Quietschen nahm er als angenehme Abwechslung zur absoluten Stille gerne in Kauf. Rhythmisch wippte er auf dem Stuhl hin und her und versuchte, aus purer Langeweile heraus, eine Melodie zu kreieren. Einen passenden Takt würde er wohl noch zustande bekommen. Tommy lachte, doch bevor er seiner neuen Komposition einen Namen geben konnte, huschten seine Gedanken zu Agent Hannah Lindner und ihren Anschuldigungen. Tommy wurde schlagartig klar, dass er verdammt tief in der Klemme steckte.

Wenn er und Lehmann noch für die Regierung arbeiten würde, hätten sie sich vielleicht mit ein paar dienstlichen Floskeln aus der Situation winden können. Leider war Lehmanns Sicherheitsdienst privater Natur und sie hatten ohne jegliche offizielle Befugnis operiert. Verdammt noch mal! Wenn ihn Claire über die spezielle Natur ihres Muskelmannes nicht im Unklaren gelassen hätte, wäre Elko niemals im Krankenhaus gelandet. Tommy hätte nicht seinen eigenen Namen verwenden müssen, um den Kerl behandeln zu lassen. Stöhnend stütze er den Kopf in die Hände und dachte angestrengt nach. Verdammt noch mal! Seit zwei Tagen hatte er nichts anderes getan, als nachzudenken. Vermutlich lag genau darin Lindners Absicht. Ihn mit Warterei mürbe zu machen, sodass er das Verhör geradezu erbettelte. Aber letztlich hatte er nicht den blassesten Schimmer, was er Frau Lindner als Erklärung für die ominöse Blutprobe, die unter seinem Namen entnommen worden war, auftischen sollte. Die Wahrheit, dass Elko ein Asenprinz mit einer tiefen Stichwunde war, den man ja wohl nicht verbluten lassen konnte, kam absolut nicht in Frage. Tommy seufzte theatralisch auf und sehnte sich nach dem Telefonanruf, der ihm ja eigentlich als deutscher Staatsbürger zustand, oder? Aber seine Fragen danach wurden schlichtweg ignoriert. Er hatte geschrien und getobt und wurde mit Nichts belohnt! Wütend riss er an seinen Handschellen. Oh Mann!

Er wollte sich gerade ein weiteres Mal mit einer passenden Erklärung befassen, als die Tür des Verhörraumes aufgestoßen wurde und Hannah Lindner eintrat. Geschäftig studierte sie eine Akte und ließ sich ihm gegenüber nieder. Sie blickte nicht auf, sondern las interessiert die Einträge.

»Meyer, ja?«, fragte sie einsilbig und blätterte um.

Tommy nickte. »Thomas Meyer, ehemaliger Oberleutnant bei der Bundeswehr«, antwortete er enthusiastisch.

Lindner blickte kurz von der Akte auf und streifte ihn flüchtig. »Ehemalig? Warum haben Sie die Bundeswehr verlassen?«

Tommy zuckte mit den Schultern, endlich froh darüber, mit jemanden reden zu können. Auch wenn es sich bei seinem Gesprächspartner um die Lindner handelte. »Afghanistan«, entgegnete er nüchtern, als ob damit jede weitere Erklärung unnötig sei. Lindner nickte. »Und zur Zeit?«

»Lehmann Security«, murmelte Tommy und rüttelte an den Handschellen. »Sind die wirklich notwendig?«

»Nun, Herr Meyer, bis ich nicht Ihre Identität geprüft habe, werden Sie wohl oder übel mit ihnen vorliebnehmen müssen. Es sei denn, Sie möchten lieber betäubt und in eine Gummizelle verfrachtet werden? Ich dachte, zwei Tage in absoluter Stille, hätten Ihnen gezeigt, wozu wir fähig sind.« Die Agentin starrte ihn herausfordernd an.

»Sie? Wer sind Sie überhaupt?«, blaffte Tommy angriffslustig.

Lindner lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Hannah Lindner, Agent des Militärischen Abschirmdienstes, kurz MAD, Abteilung 9.«

Tommy schluckte. Er dachte, der MAD sei nur eine Verwaltungsbehörde, aber anscheinend hatte die Bundesregierung auch ihre Geheimorganisationen. »Ich habe nichts getan! Außerdem habe ich Rechte! Ich bin deutscher Staatsbürger!«

»Was genau Sie sind, versuche ich noch herauszufinden. Fakt ist, Ihre Blutprobe weißt Anomalien auf, die kein deutscher Staatsbürger haben dürfte.«

Tommy winkte lässig ab. »Ach was, die Probe ist vermutlich verunreinigt.«

»Meinen Sie? Waren Sie denn am 5. September diesen Jahres in der MediClin Seidel-Klinik in Bad Bellingen?« Konzentriert runzelte Tommy die Stirn und legte sich eine passende Antwort zurecht. Natürlich kannte sie das Krankenhaus, wo er Elko hingebracht hatte. Der Ase hatte so stark geblutet, dass er nicht gewagt hatte, weiter als unbedingt erforderlich zu fahren. Er hatte gehofft, ein so winziges Krankenhaus hätte geringere Sicherheitsstandards, um Kosten zu sparen oder so. Obwohl er diese Klinik kannte und damals befürchtete, erkannt zu werden, war ihm nichts anderes übrig geblieben und in seiner Erleichterung, dass er Claires Freund lebendig übergeben konnte, hatte er nicht an mögliche Folgen seiner Falschanmeldung gedacht. Er hatte eigentlich darauf gezählt, dass sie sie einfach übersehen würden. Aber dass ihn der MAD aufsuchen würde und hier einkerkerte, damit hätte er niemals gerechnet.

»Drei Uhr in der Früh?«, half ihm Lindner auf die Sprünge, nachdem sie ihm ihrer Meinung nach genügend Zeit zum Nachdenken eingeräumt hatte. Tommy nickte mechanisch.

»Der Bericht des diensthabenden Oberarztes beschreibt eine tiefe Stichverletzung in der Nierengegend, aber glücklicherweise wurden keine Organe beschädigt. Ist das korrekt?« Wieder nickte er stupide. »Sagen Sie mir, Herr Meyer, wie haben Sie sich die Verletzung zugezogen?«

Tommy seufzte und versuchte sich an einem unverbindlichen Lächeln. »Meine Waldhütte liegt ganz in der Nähe und ich habe mich bei den Reparaturarbeiten verletzt.«

Lindner musterte ihn argwöhnisch und er wusste, noch ehe sie zu einer Erwiderung ansetzte, dass sie seine Lüge problemlos enttarnen würde. Sie war Ermittlerin, Agentin des MAD und er nur ein schnöder Bundeswehr-Leutnant außer Dienst. Sie hätte ihn nur bitten müssen, die Verletzung zu zeigen.

»Eine Stichverletzung bei Reparaturarbeiten und dann an dieser Stelle? Herr Meyer, ich bitte Sie! Verkaufen Sie mich nicht für dumm!« Sie lächelte ihn süffisant an und spielte genüsslich ihren nächsten Triumph aus. Dass sie ihn nicht bat, sich zu entkleiden, deutete darauf hin, dass sie noch viel wirkungsvollere Beweise hatte. Ein Foto, dass ihn vor dem Kaffeeautomaten zeigte.

»Erklären Sie mir mal, wie Sie das gemacht haben? Stichverletzung und Bewusstlosigkeit laut Arztbericht. Und dann haben die Überwachungskameras Sie vor dem Kaffeeautomaten aufgenommen?« Das Mädel hat weiß Gott ihre Hausaufgaben gemacht, dachte er entmutigt und starrte auf seine Gestalt, die sogar die Jacke von Lehmann Security trug.

»Ich hatte Durst«, grummelte er verdrießlich und spielte ausweichend mit den metallenen Gliedern der Handschellen.

»Durst? Herr Meyer! Sie waren bewusstlos! Also bitte, entweder Sie führen mich hier ganz gewaltig vor oder Sie versuchen, jemanden zu beschützen! Ich habe noch ein paar weitere interessante Aufnahmen, aber ich möchte es von Ihnen hören. Um Ihnen die Möglichkeit zu geben, mir die Wahrheit zu sagen!« Was immer sie hatte, sie konnte ihn mit ihren Beweisen auch gleich hier auf den Tisch nageln. Tommy stöhnte und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Die Frau hatte ihn bei den Eiern!

»Herr Meyer!« Tommy linste durch seine Finger und fixierte die kleine Brünette mit den dunklen, kurz geschnitten Haaren nervös. »Stammt die Blutprobe von Ihnen?«

Tommy widerstand gerade noch so der Versuchung, einfach den Kopf zu schütteln, nur damit sie mit ihren bohrenden Fragen aufhörte und ihn wieder in seine Zelle brachte. Doch wenn es einen Gott gab, dann hatte er sein Flehen erhört. Denn just in diesem Moment wurde die Tür zum Verhörraum geöffnet und Cornelius Lehmann trat mit raumgreifenden Schritten ein. Gott sei Dank, die Kavallerie!

Er spürte die Schritte mehr, als dass er sie hörte. Die leichten Vibrationen ihrer schweren Sohlen wurden von dem feuchten Mauerwerk weitergeleitet, sodass die Stiefelstöße als dumpfe Schwingungen in seinen Handflächen widerhallten. Manche würden es Magie nennen, doch Loke hatte seine Sinne durch jahrelanges Training so geschärft, dass er die Vibrationen noch über hunderte Meter weit entfernt wahrnehmen konnte. Er hatte in den alten Geschichtsbüchern von Midgard über ein Volk gelesen, dass ähnliche Techniken beherrschte. Von wegen Magie! Loke hatte von Anfang an gewusst, dass ein Großteil ihrer Magie auf wissenschaftlichen Tatsachen beruhte. Nur das einfache Volk weigerte sich, diese Erkenntnisse anzunehmen und es war so viel einfacher, ihnen die Fähigkeiten als Magie zu verkaufen. Ungebildet war der Pöbel im Übrigen viel leichter zu lenken. Niemand käme auf die Idee, sich eine eigene Meinung zu bilden. Der Mob plapperte das nach, was der Rat und Halldor Meland vorbeteten. Und die wenigen, die sich erhoben, gingen in der schieren Masse einfach unter. Er hoffte inständig, dass die kleine Gruppe Royalisten seinem Bruder so weit ergeben war, dass sie ihre Eltern auf Händen trugen. Und dass er nicht ohne Elko zurückgehen musste. Nicht auszudenken, wenn er auf die Hilfe dieser Fanatiker angewiesen war.

Loke runzelte die Stirn und schloss die Augen. Diese feinen Wellen ritten auf den unsichtbaren Energiebahnen zu ihm und er konnte ihnen mühelos zu ihrem Ursprung folgen: In einem runden Raum im Zentrum des Gebäudes. Das konnte er an dem gleichförmigen Verlauf ihrer Ausbreitung erkennen. Er hatte auch schon so eine Ahnung, wo sie sich befanden. Ein siegessicheres Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er war schon im Begriff, die Hand nach der Tür auszustrecken, als ihn eine viel stärkere Druckwelle innehalten ließ. Die Intensität nahm deutlich zu, sodass er davon ausgehen musste, dass sich die Füße in der Halle verzehnfacht hatten. Den zuvor vier, vielleicht acht Stiefeln, waren rasch drei weitere Dutzend hinzugekommen. Loke knurrte unwillig. Egal, mit seinen Illusionen und magischen Tricks könnte er dorthin gelangen. Dank der Anzahl der Stiefel, brauchte ich seinen Bruder jedenfalls nicht lange Suchen. Elko zog Ärger magisch an und er konnte mit absoluter Sicherheit sagen, dass sich sein Bruder im Zentrum dieser Vibrationen befand.

Loke fingerte bereits an der Türöffnung herum, als er Schritte fühlte, die sich in seine Richtung bewegten. Nicht nur das, die Anzahl der Stöße auf den Steinen ließ ihn innehalten. Da kam eine kleine Armee auf ihn zu. Verdammt.

Loke wich von der Tür zurück, wirkte einen Blockade-Zauber und zog sich in den hinteren Bereich des Raumes zurück. Verborgen hinter dem Portal harrte er aus und lauschte. Es konnte sich nur um eine routinemäßige Patrouille handeln, die die Gänge nach den Gefangenen absuchte. Vielleicht hofften sie, den ein oder anderen verirrten Entflohenen aufzugreifen oder ... Lokes Überlegungen wurde ein jähes Ende bereitet, als heftig am Türgriff gerüttelt wurde.

»Verdammt! Dieser Trickser hat gesagt, dass seine Labortür offenstehen müsste. Der andere Bruder sei blindlings in seine Falle getappt und sollte eigentlich hier irgendwo rumliegen.« Unwillig verzog Loke das Gesicht. Ob das bedeutete, dass sie Elko bereits in ihrer Gewalt hatten? Vermutlich. Mehr traute er diesem grobschlächtigen Trottel nicht zu. Aber dann war es seine Pflicht als Bruder – und als Gefolgsmann – ihn zu befreien. Er hatte ihm die Treue geschworen. Nun, nicht seinem Amt und schon gar nicht diesem technisch hochgerüsteten Schnickschnack alias Gotteshammer, aber ihm als Bruder hatte er die Treue bis an sein Lebensende gelobt. Und selbst wenn er der größte Betrüger und Mörder diesseits des Bifröst war, diesen Schwur würde er nicht brechen. Nie wieder! Die Zeit der Grausamkeiten war vorbei. Jetzt begann die Zeit der Brüder!

Voller Inbrunst und im Brustton der Überzeugung trat Loke vor das Portal, zückte seine Saxe und machte sich bereit. Doch die schiere Anzahl der Gegner machte ihm Angst. Sein Blick glitt zu dem kurzen Schwert, nun, eher ein Messer mit doppelter Klinge, aber dennoch groß genug, um einen Braten zu schneiden. Und auch groß genug, um es in klebrige Eingeweide zu treiben. Ein paar würde er ernsthaft verletzen können, aber das waren Bagatellen. Mit ihrer schieren Masse würden sie ihn in die Enge treiben. Dieses Messerchen machte keinen Unterschied. Um diese Armee zu besiegen, war Kraft nötig, und ein Langschwert. Vorzugsweise mit der unerreichbaren Armlänge seines kleinen Bruders geschwungen.

Loke verzog das Gesicht und ließ entmutigt die Klinge sinken. Er könnte seinem Schwur folgen und sich hier und jetzt in die Arme ausgebildeter Gardisten stürzen ... oder aber ... Sein Blick glitt über seine Schulter und er maß das Portal prüfend. Ein Versuch jedenfalls war es wert.

»Was fällt Ihnen ein, meinen Mitarbeiter ohne einen Rechtsbeistand zu verhören!«, blaffte Cornelius Lehmann und zerrte sich geräuschvoll einen Stuhl um den Tisch herum, sodass er neben Tommy und gegenüber dieser unsäglichen Person in Form von Hannah Lindner Platz nehmen konnte.

Die junge Agentin lächelte süffisant. »Herr Meyer hat keinen Anspruch darauf gestellt. Und im Übrigen prüfen wir hier, ob Herr Meyer überhaupt die Rechte des deutschen Staates in Anspruch nehmen KANN, wenn Sie verstehen, was ich meine?« Ihr Lächeln war so frostig, dass Tommy glaubte, die Raumtemperatur würde bereits absinken.

»Was soll das heißen, Sie prüfen seinen Anspruch? Natürlich hat mein Mitarbeiter einen Anspruch auf die Rechte eines Staatsbürgers. Er besitzt einen gültigen Ausweis, hat einen festen Wohnsitz in der Bundesrepublik und einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz, nämlich bei mir!« Lehmanns Gesicht verfärbte sich vor Wut bereits puterrot und Tommy bedachte ihn mit einem nervösen Blick. Der Mann war die Coolness in Person, wenn es auf einem Schlachtfeld heiß her ging, aber wenn er sich mit Bürokratie herumschlagen sollte, verlor er die Beherrschung. Sie hatten doch einen Anwalt in der Firma. Warum hatte Lehmann den nicht geschickt? Ach ja, da war ja die nicht ganz unerhebliche Sache in Form von Elko Jörd, über dessen wahre Natur nur Lehmann, Claire und er Bescheid wussten.

Hannah Lindner lächelte Lehmann liebevoll an und deutete auf den Stuhl. »Bitte setzen Sie sich doch, Herr Lehmann, damit ich Ihnen in aller Ruhe die Sachlage erklären kann. Vielleicht haben Sie den ein oder anderen Fakt beizutragen?«

Lehmann atmete energisch aus und ließ sich auf den unbequemen Plastikstuhl fallen. »Bitte, fangen Sie an.«

Lindner schlug seine Akte auf und erläuterte nochmals, was Tommy schon wusste. Als Zusatz legte sie neben Tommys Bild vor dem Kaffeeautomaten noch ein Foto von Sigrid, wie sie den Rollstuhl mit dem bewusstlosen – aber das war auf dem Bild nicht zu erkennen – Elko schob. Ein Arzt und ein Pfleger wichen ihr geschickt aus.

Lehmann starrte die beiden Fotos verblüfft an, bevor sein Blick zu Tommy wanderte. Wir sind im Arsch, sagte sein Blick ganz deutlich. Tommy seufzte und nickte theatralisch. »Meine Herren, ich habe den Arzt und den Pfleger auf diesem Foto ausfindig gemacht und befragt. Sie können sich weder an Sie, Herr Meyer, noch an diesen anderen Mann und diese Frau erinnern. Vielleicht können Sie mir auf die Sprünge helfen, wie die beiden heißen?« Geschäftig zückte sie einen Stift und lächelte ihn unverbindlich an. Puh, diese Frau hatte echt Nerven. Ihr Lächeln konnte noch so nichtssagend sein, aber ihre Augen verrieten sie. Lindner wusste ganz genau, wen er mit seinen Nichtaussagen schützte, aber sie gab ihm erneut die Gelegenheit – und natürlich Lehmann – seine Aussage zu revidieren. Sein Erscheinen vor dem Automaten, die nicht erklärbare Stichverletzung, jetzt das Bild mit Elko und Sigrid, Lindner war nicht dämlich. Sie konnte sehr wohl eins und eins zusammenzählen und wusste, wen er schützte. Ihr Blick fiel aufmunternd auf Elko im Rollstuhl.

»Wie ist sein Name, Herr Meyer?«, fragte sie nachdrücklich und deutete mit dem Stift auf Elko.

»Daniel Kirby«, keuchte Lehmann und fuhr sich angespannt durchs schüttere Haar.

»Herr Lehmann«, erwiderte die Agentin und durchbohrte ihn mit Blicken. »Wenn der Name dieses Mannes wirklich Daniel Kirby ist, hätte ihn Herr Meyer auch mit seinen Unterlagen im Krankenhaus anmelden können. Wozu die Scharade? Ich habe Ihre Anfragen beim BND geprüft und Sie haben nach einem Daniel Kirby gesucht. In Zusammenhang mit der vermeintlich von Ihnen stammenden Blutprobe, bin ich auf Ihre ungewöhnliche Anfrage aufmerksam geworden und habe selbst ein wenig nachgeforscht. Eine Person diesen Namens ist nicht auffindbar. Also ersparen Sie uns das lästige Katz- und Mausspiel!« Unter den entsetzten Blicken von Tommy und Lehmann holte sie ein weiteres Blatt Papier aus der Akte und legte es auf den Tisch. Darauf waren verschiedene Werte eingetragen, die Tommy alle nichts sagten.

»Dies ist die Auswertung IHRER Blutprobe«, sagte Lindner betont und zeigte auf Tommys Namen am oberen Rand des Blattes. »Ihnen werden diese Werte nichts sagen, aber für mich ist offensichtlich, dass diese Person an massiven Strahlenschäden leiden muss. Im Labor in der Klinik befand sich zum Zeitpunkt der Untersuchung Ihrer Blutprobe ein Strahlenmessgerät. Zufällig führte ein Arzt dort eine Studie an Leukämiepatienten durch, sei es drum. Ihre Probe hat das Personal in helle Aufregung versetzt und es hat einige Zeit gedauert, bis sie als der Übeltäter für den Ausschlag des Gerätes verantwortlich gemacht werden konnte. Der Arzt, dessen Studie sich mit den Leukämiepatienten befasst, hat Ihre Probe eingehender untersucht. Er als einziger greifbarer Experte war hellauf begeistert. Aber ich bin es nicht. Seinen Ergebnissen zufolge weist die Probe eine um ein Vielfaches höhere Strahlendosis auf, als gut für den Spender wäre. Seinen Angaben nach, müsste der Träger dieser Strahlung tot sein, zumindest nach menschlichen Annahmen. MAD wurde unverzüglich informiert, aber bis wir eintrafen, waren Sie bereits verschwunden ... SIE und Ihre Begleiter. Im Übrigen ...« Lindner griff während ihrer letzten Worte in die Jackentasche und legte ein kleines, gelbes Kästchen mit einer grünen Digitalanzeige auf den Tisch.

»Herr Meyer, wenn Sie die Ursache der Strahlung wären, würde dieses Gerät hier wild piepsen. Also bitte! Wer sind – oder besser gesagt – wer waren Ihre Begleiter?!« Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf Lindners Gesicht aus und sie ließ sich genüsslich zurücksinken, während sie sich an Tommys schockierendem Gesichtsausdruck weidete.

»Chef?« Hilfesuchend sah er zu Lehmann, der noch immer mit sich kämpfte. Seine angriffslustige Miene sollte Tommy beruhigen. Er würde das Mäuschen vom MAD ungespitzt in den Boden rammen. Tommy hoffte nur, dass Lehmann sachlich bleiben konnte.

»Haben Sie irgendeine Befugnis, meinen Mitarbeiter hier in Gewahrsam zu nehmen? Schutz- oder Präventivfunktion?« Oh, da war er, Cornelius Lehmann in Angriffslaune, auch wenn sich Tommy in Anbetracht von Lindners Gesichtsausdruck nicht wirklich in Sicherheit fühlte.

»Lieber Herr Lehmann, ich unterstehe keiner richterlichen oder polizeilichen Gewalt. Heißt, ich benötige weder eine richterliche Anordnung noch eine Straftat von Herrn Meyer, um ihn bis auf Weiteres festzuhalten. Beim MAD 9 reicht der begründete Verdacht einer nichtmenschlichen Existenz, die mit der Blutprobe hinreichend gewährleistet ist. Die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigen zusätzlich, dass sich Ihr Mitarbeiter zumindest an einer Verschwörung beteiligt hat. Jeder Richter stellt mir einen Haftbefehl aus, wenn ich nur mal so nebenbei das Wort Terrorismus erwähne. Also wenn Sie ihn wiederhaben wollen, sind Sie zur Kooperation gezwungen.« Lehmann schluckte und zuckte hilflos mit den Schultern. Dennoch wagte er einen erneuten, verzweifelten Vorstoß.

»Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren und anschließend vor Gericht Einspruch gegen diese Festnahme einlegen.«

»Gewahrsam, Herr Lehmann, Gewahrsam.« Sie lächelte ihr süßestes Mädchenlächeln. Tommy schmunzelte, dieses kleine Biest ließ sich nicht so leicht einschüchtern.

Aber dann änderte sich schlagartig Lehmanns Miene und er fletschte angriffslustig die Zähne. »Es gibt gar keine Abteilung 9 beim MAD. Für wen arbeiten Sie?!«

Lindner verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich gibt es die. Nur wissen Sie nichts davon! Das ist ja das, was einen Geheimdienst ausmacht. Nicht jeder dahergelaufene Sicherheits-Heini weiß von seiner Existenz. Sie kommen hier nicht raus, es sei denn, Sie kooperieren mit uns. Ich kann Sie so lange festhalten, wie es mir beliebt. Und wenn Sie handgreiflich werden, wird der nette Mann hinter dem Einwegspiegel eine ganze Reihe gefährlicher Agenten hierher beordern.«

»Ich könnte Sie einfach als Geisel nehmen und hier raus spazieren«, murmelte Lehmann grimmig. Die junge Frau hätte vermutlich wirklich keine Chance. Immerhin waren sie zu zweit und brachten locker das Dreifache von ihrem Körpergewicht auf die Waage. Aber dass man sich vom äußeren Erscheinungsbild seines Gegners nicht täuschen lassen durfte, zeigte Claires Beispiel. Sie schickte Elko ständig auf die Bretter, und dabei wog er locker das Doppelte und war um mehr als einen Kopf größer als sie.

Lehmann zuckte seufzend mit den Schultern. Auf seinen verzweifelten Blick hin wurde Lindners Blick weicher.

»Herr Lehmann, Herr Meyer, ich bin nicht Ihr Feind! Ich arbeite für die Regierung, für die gleiche, die Sie zu schützen geschworen haben. Sie beide!« Lindner lehnte sich zurück und wartete auf die Wirkung ihrer Worte. In den beiden Männern arbeitete es und sie rangen sichtlich mit sich. Lehmann warf Tommy einen fragenden Blick zu, den dieser mit einem flüchtigen Schulterzucken beantwortete. Als ob ihm die Entscheidung zustand, über Elkos Identität Auskunft zu geben. Würde Lindner ihnen überhaupt glauben? Sie sah nicht wie ein Nerd aus, der an übernatürliche Fähigkeiten oder die Existenz einer Stadt namens Asgard glaubte.

»Und Sie wollen uns beide hierbehalten?«, fragte er Lindner direkt.

Die Agentin nickte. »So lange, bis Sie einlenken!«

»Ich weiß nicht, ob ...«, begann Tommy zögerlich, doch ein paar energisch geschmetterte Gitarrenriffs unterbrach seine einführenden Worte und er warf Lehmann einen irritierenden Blick zu.

»Sorry«, murmelte dieser leise und kramte in seiner Jackentasche nach dem Mobiltelefon.

Lindner verzog missbilligend das Gesicht, als er das Gespräch annahm. »Das Telefon hätte Ihnen eigentlich beim Betreten des Gebäudes abgenommen werden müssen. Wir dulden gerade von Besuchern keine technischen Geräte.«

Lehmann winkte mit einer wegwerfenden Geste ab und wandte sich an seinen Gesprächspartner. Dabei erhob er sich und ging Richtung Spiegel. »Ja, ja, Claire. Alles in Ordnung, Tommy geht‘s gut ... Nein, ich fürchte, wir sind hier noch nicht fertig ...«

»Noch lange nicht«, brummte Tommy grimmig und stierte angestrengt auf sein Spiegelbild. Hinter dem Einwegspiegel standen mit großer Wahrscheinlichkeit mehr als nur eine Person und beobachteten jede ihrer Bewegungen genau. »Sie könnten es sich so einfach machen«, flötete Lindner und beugte sich etwas vor. »Wer ist der Kerl im Rollstuhl?«

Tommy zuckte mit den Schultern. »Ein Freund, der in der Klemme steckte und dem ich geholfen habe.«

Lindner verzog angesichts dieser neuen Erkenntnis das Gesicht. »Muss ein ziemlich guter Freund sein, wenn Sie für ihn sogar in den Knast wandern.« Pures Entsetzen spiegelte sich in Tommys Gesicht wieder, als Lindner damit begann, ihm ihre Vorgehensweise darzulegen. »Sehen Sie, Meyer, ich muss Sie und Ihren Chef nicht freilassen. Ich kann Sie problemlos mehrere Tage hier festhalten, zumindest so lange, bis ich eine neue Blutprobe von Ihnen erhalten habe und diese geprüft wurde. Und für die Auswahl des Labors bin ich zuständig.« Tommys Gesichtszüge entgleisten, als ihm dämmerte, worauf Lindner hinauswollte. »Ich könnte mir ein Labor in Kamtschatka aussuchen, das zu erreichen alleine mehrere Tage kosten würde und so lange kann ich Sie festhalten. Mindestens! Danach kommen wir erneut zu der Frage, wer Ihr großer Freund ist. Sie sehen also, ich habe hier die Fäden in der Hand und nicht ...«

Lindner unterbrach sich, als Lehmann wild gestikulierend durch den Raum tigerte und wütend ins Telefon fluchte. »Ich hab‘s gewusst! Das kann doch alles nicht wahr sein! Verdammt noch mal! Diese Vollpfosten! Seit wann ist er da ...?« Kurze Pause. »In Ordnung ... das geht nicht, wir kommen hier so schnell nicht weg.« Wieder lauschende Pause. »Ich weiß, tut mir leid.« Lehmanns Wut verrauchte. »Was hat er vor? ... Ja, dann müsst ihr ohne uns gehen. Ich auch, Claire, ich auch.«

Lehmann legte auf und setzte sich resigniert auf seinen Stuhl. Tommy warf ihm einen fragenden Blick zu, doch er schüttelte nur den Kopf, deutete mit dieser Geste an, dass er jetzt nicht über sein Gespräch mit Claire reden würde. Lehmann knirschte mit den Zähnen und stierte auf seine Hände, er rang sichtlich mit sich. Lindner nahm diese Geste lächelnd wahr, ihre ganze Haltung drückte äußerste Zufriedenheit aus.

»Ach, scheiß drauf!«, fluchte Lehmann und blickte Lindner direkt in die Augen. Tommy kannte diesen Ausdruck, wusste, dass die junge Agentin gewonnen hatte und sie wusste es auch.

»Claire war am Telefon«, begann Lehmann ohne weitere Erklärungen und wandte sich an Tommy. »Loke ist vor ein paar Minuten vor ihrer Wohnung aufgetaucht und hat von Elkos Gefangennahme berichtet. Der Rat hat ihn. Loke ist außer sich und zudem verletzt.« Tommy starrte ihn entsetzt an. Die Tatsache, dass Lehmann in Lindners Gegenwart so freimütig über den Asen plauderte, schockierte ihn. Lehmann lächelte gequält und wandte sich an Lindner.

»Hören Sie, Frau Lindner, es würde jetzt einfach zu lange dauern, Ihnen alle Details darzulegen. Ich könnte Ihnen anbieten, dass Sie uns begleiten. Unterwegs kann ich Ihnen alles erklären oder zeigen. Sie würden es mir sowieso nicht glauben, wenn Sie es nicht mit eigenen Augen sehen würden.«

Kapitel 5

Claire ließ das Telefon sinken und beobachtete Sigrid dabei, wie sie sich um den Verletzten kümmerte. »Was soll ich tun?«, fragte sie ruhig und erwartete die Anweisungen der Asin. Claire konnte auf mehrere Erste-Hilfe-Kurse zurückgreifen, aber das, was Sigrid tat, wurde in keinem Kurs vermittelt.

Nur wenige Minuten zuvor war Loke sprichwörtlich vor ihrer Wohnungstür aufgetaucht und kollabiert. Aus dem Nichts, mit einem lauten Knall!

Claire hatte das Poltern zunächst für ihre Nachbarin gehalten, die mit Müllsäcken kämpfte. Schmunzelnd war sie in den Flur geeilt, um Frau Schulze mit den schweren Säcken zu helfen. Sie hatte die Erinnerung an die Vision gerade abgeschüttelt und sich mit dem Gedanken angefreundet, dass es nur ein böser Traum war, ein Bauchgefühl, eine Ahnung. Was auch immer! Und dann war Loke aus dem Nichts und blutüberströmt direkt vor ihrer Tür zusammengebrochen.

Trotz seiner Verletzungen hatte Loke ein seliges Lächeln auf den Lippen gehabt. »Ich habe es geschafft!«, hauchte er stoßweise und brach auf dem Treppenabsatz zusammen. In alarmierender Geschwindigkeit breitete sich eine Blutlache unter ihm aus. Zwischen seinen Finger quollen dicke Tropfen dunkelroten Blutes hervor. Es sickerte in einem stetigen Strom aus der Wunde und drang in die dunklen Holzdielen vor ihrer Altbauwohnung. Claire zögerte nicht lange, und während sie nach Sigrid rief und neben Loke zu Boden sank, um sich um ihn zu kümmern, kam Bewegung in ihre Gedanken.

Wenn Loke hier war, wo war dann Elko? Hatte Lokes Verletzung vielleicht etwas damit zu tun? Wenn der eine Bruder hier war, schlussfolgerte ihr Verstand mechanisch, musste der andere auch hier sein. Sie waren zusammen fortgegangen, also würden sie auch zusammen zurückkehren.

Ihr Blick glitt nach links, dann nach rechts, die Treppe hinunter, hinauf. Nur langsam tröpfelte die Erkenntnis in ihren Verstand, das Elko nicht hier war. Loke war alleine zurückgekommen! Die Vision kam ihr erneut in den Sinn. Plötzlich ergab vor ihrem inneren Auge alles einen Sinn! Ihre Vision! Sie war vor einer Stunde aufgewacht, schweißgebadet und von Elkos Schmerzen paralysiert. Und kurz darauf tauchte Loke hier auf. Solche Zufälle gab es nicht.

»Wo ist Elko?!«, fuhr sie Loke ungeachtet seiner Verletzungen an. Sie musste es wissen!

Loke hob den Kopf und funkelte sie spöttisch an. Sie wartete schon auf die fürchterliche Geschichte, an deren Ende Elkos Tod lauerte. Wie konnte Loke nur hier ohne seinen Bruder auftauchen?!

»Loke!« Sigrids geschulter Blick erfasste seinen Körper, registrierte die Bauchwunde, noch während ihre Hände an seiner Kleidung herumnestelten.

»Nicht hier!«, presste Loke gequält hervor. Seine Antwort ließ Claire kurz taumeln, doch sie hatte sich schnell im Griff und ging Sigrid zur Hand.

Vor Schmerzen verzog Loke das Gesicht. Vorsichtig zog Sigrid seine Hand von der Wunde. Ein Schwall hellroten Blutes drang durch den Riss in dem aufgeweichten Stoff und rann wie ein kleiner Bachlauf an seiner blutdurchtränkten Kleidung hinab. Die Bauchwunde sah übel aus.

»Bringen wir ihn rein«, sagte Sigrid und schob ihre Arme unter Lokes Schultern. Claire nickte und legte sich seinen anderen Arm um die Schultern. Mit vereinten Kräften konnten sie ihn halbwegs auf die Beine stellen. »Wir müssen die Wunde versorgen, sonst stirbt er!«

Claire würde sich nicht als rachsüchtig charakterisieren, aber Lokes Taten forderten ihre gesamte Selbstbeherrschung. Am liebsten würde sie ihn so lange schütteln, bis er ihr endlich sagte, was mit seinem Bruder passiert war. Aber er konnte ihr schlecht Rede und Antwort stehen, bevor sie ihn nicht versorgt hatten.

Während ihres Telefonats mit Lehmann hatte Loke immer wieder trotz seiner Schmerzen Flüche und Beschimpfungen, adressiert an Halldor Meland, in das Gespräch eingeworfen hatte. Seine Wut verschleierte nicht die Sorge um seinen Bruder, die in seinen wüsten Beschimpfungen mitschwang. Später wollte Claire ihn auf ihre Vision ansprechen. Vielleicht konnte Loke etwas Licht ins Dunkel ihrer geistigen Ausflüge bringen.

Nachdem sie das Gespräch mit Lehmann beendet hatte, half sie Sigrid, ihn vorsichtig auf den Küchentisch zu legen. Loke ließ nur widerwillig seinen Bauch los. Ein erneuter Schwall frischen Blutes quoll aus der Wunde und floss als rotes Rinnsal auf den Küchentisch.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739499635
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Thor Asgard Liebesroman Urbane Fantasy Fantasy Bruderstreit Abenteuerroman Roman Abenteuer Humor Liebe

Autor

  • Danara DeVries (Autor:in)

Danara DeVries ist das Pseudonym einer nerdigen Mutter von zwei Nachwuchs-Nerds und der Ehefrau eines Ober-Nerds. Zusammen begeistern sie sich in trauter Nerdigkeit für alles, was auch nur im Entferntesten mit Fantasy, Mystik und Science Fiction zu tun hat.