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Siehe, ein fahles Pferd...: Band 1

von Haro Behrwind (Autor:in)
140 Seiten
Reihe: Die Rückführung, Band 1

Zusammenfassung

Zum Inhalt der Serie… • Eine geheime, riesige unterirdische Forschungsanlage • Ein seit Jahren herrschender Krieg in einem fernen Land • Soldaten, die eigentlich nicht existieren dürften • Eine der gefährlichsten Mafiaorganisationen Europas • Der grausame Mord an einer Frau • Die Rückkehr eines geheimnisvollen Mannes ohne Vergangenheit • Eine Mordserie in den Reihen des organisierten Verbrechens • Und die Frage für die Ermittler, wie all dies zusammenhängt

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Siehe, ein fahles Pferd…

von

Haro Behrwind

…und der daraufsaß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach.

- Neues Testament –

(Offenbarung des Johannes 6,8; Luther Bibel 1912, gemeinfrei)

Zum Inhalt der Serie…

• Eine geheime, riesige unterirdische Forschungsanlage

• Ein seit Jahren herrschender Krieg in einem fernen Land

• Soldaten, die eigentlich nicht existieren dürften

• Eine der gefährlichsten Mafiaorganisationen Europas

• Der grausame Mord an einer Frau

• Die Rückkehr eines geheimnisvollen Mannes ohne Vergangenheit

• Eine Mordserie in den Reihen des organisierten Verbrechens

• Und die Frage für die Ermittler, wie all dies zusammenhängt

Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um eine Romanreihe, deren einzelne Bücher aufeinander aufbauen.

Erstes Buch

Die Rückführung

Military men are dumb, stupid animals to be used as pawns for foreign policy.

„Soldaten sind dumme, blöde Tiere, die man als Schachfiguren in der Welt der Außenpolitik benutzt.“

Henry Kissinger

(January - February 2003; Edition of Eagle Newsletter)


Prolog

Nichts…

Und dennoch etwas.

Aber ein etwas ohne Substanz. Ohne eine greifbare Wirklichkeit.

Schmerzen…

Aber ohne definierte Körperlichkeit.

Wer war er?

Was war er?

Wo war er?

War er überhaupt?

Er verspürte Kälte, ohne zu frieren. Angst, ohne sich zu fürchten.

Er glaubte zu leben, ohne zu fühlen, dass er existierte.

Etwas zerrte an ihm.

Etwas Schwarzes.

Etwas Bedrohliches.

Etwas unaussprechlich Wahnsinniges.

Er ahnte die Anwesenheit von etwas so Dunklem, Grausamen, dass sich alles von dem, was er war oder nicht war, dagegen sträubte, sich diesem Unaussprechlichem zu öffnen. Und dennoch wusste er, dass es bereits in ihm war. Dass es viel zu spät war, um sich dagegen wehren zu können. Das Schwarze, das Bedrohliche, war bereits zu einem Teil seiner selbst geworden, obwohl er keine Ahnung hatte, was er war.

Aber er wusste, dass etwas in ihm - ein Tor? eine Tür? - in eine Welt führte, die niemals aufgestoßen werden durfte, weil sie…weil sie…

Seine Vorstellungskraft reichte nicht aus, das Unvorstellbare begreifen zu können. Diese lebendige, wallende, sich bewegende Finsternis, in der das Unaussprechliche gleichermaßen Gegenwart und Vergangenheit war. Diese erstickende Finsternis, für die es in keiner Sprache jemals einen Namen gegeben hatte.

Ich weiß nicht, wer ich bin.

Ich weiß nicht, was ich bin.

Aber ich gehöre der Finsternis.


Kapitel 1

Dort sind die Welten der Dämonen die Regionen der tiefsten Finsternis.

-Upanischaden; zwischen 700 und 200 v. Chr

Dörte Biers sah durch die etwa einen Meter breite und knapp dreißig Zentimeter hohe, aus Sicherheitsglas bestehende Scheibe, in den dahinterliegenden Raum.

Wände, Decke und Boden bestanden aus kahlem, nackten Stahlbeton, grau und rissig und an vielen Stellen schwarz verfärbt. Unregelmäßig eingebrannte Muster, die auf abstrakte Weise das Ende so vieler Versuche zeichneten, dass sie schon vor langer Zeit aufgehört hatte, sie zu zählen.

Aber nicht alle Versuche hatten als schwarze Umrisse auf dem Beton geendet. Zwei aus den ersten Versuchsreihen hatten die Anforderungen bestanden, doch die nachfolgende Versuchsreihe gestaltete sich als ungleich schwieriger, wenngleich ihr Potenzial – ihr mögliches Potential, korrigierte sie sich in Gedanken – bis dato ungeahnte Möglichkeiten versprach, auch wenn die bislang durchgeführten Versuche allesamt negativ beschieden waren.

Ungefähr in der Mitte des rechteckigen Raumes befand sich eine Art metallener Liegestuhl, der, hydraulikgetrieben, verschiedene Sitz- und Liegepositionen einnehmen konnte. Auf dem Stuhl saß ein mit stählernen Schellen an Unterarmen und Waden gefesselter, nur mit einer grünen Shorts bekleideter, muskulöser Mann. Eine weitere stählerne Schelle, die über der Brust des Mannes verlief, fixierte zudem dessen Oberkörper. Die gesamte Konstruktion des Stuhls war so massiv und wuchtig, dass selbst der Mann mit einer Körpergröße von mehr als einem Meter achtzig und einem Gewicht von annähernd zwei Zentnern darin nahezu unscheinbar wirkte. Sein kahlgeschorener Kopf sowie große Bereiche seines Oberkörpers waren mit modernsten, kabellosen Haftsensoren bedeckt, die ihre Signale direkt in den Beobachtungsraum an die zwölf Hochleistungsrechner sendeten, die sämtliche Werte in Zahlen, Grafiken, Tabellen und Kurven darstellten und gleichzeitig auf eigenen Servern abspeicherten.

Das leise Piepen der Signale hatte Dörte bereits so sehr verinnerlicht, dass sie es kaum noch zur Kenntnis nahm. Nichts weiter, als rhythmische Akustik am Rande ihres Wahrnehmungsvermögens.

Von der Anhäufung modernster Technik einmal abgesehen, bestand auch der Beobachtungsraum aus der grauen Eintönigkeit nackten Betons. Lediglich die schwarzverfärbten Stellen fehlten.

Hinter sich vernahm sie die leisen Unterhaltungen der Ärzte, Genetiker, Molekularbiologen und Techniker, die an ihren zu einem Karree zusammengestellten Arbeitsplätzen saßen, während sie abwechselnd auf ihre Monitore und die drei großen Wandbildschirme starrten, die das Innere jenes Raumes wiedergaben, in dem sich der an den Stuhl gefesselte Mann befand.

Dörte hörte, wie sich die stählerne Tür öffnete, die schräg rechts hinter ihr in die massive Betonwand eingelassen war. Sie musste ihren Blick nicht von dem gefesselten Mann abwenden, der ruhig und regungslos und mit geschlossenen Augen dalag, um zu wissen, wer den Beobachtungsraum betrat.

Lothar war jedes Mal anwesend, wenn ein fehlgeschlagenes Experiment beendet wurde. Wenn ein weiterer Misserfolg als schwarzes, gezacktes Muster auf dem Beton seine Spuren hinterlassen würde.

Das zumindest musste man ihm lassen, dachte Dörte. Er war für seine Männer da, im Leben und im Tode…und auch dazwischen. Er war wahrhaftig kein Mann bloßer Lippenbekenntnisse, sondern stand zu dem, was er tat, wodurch er sich von den meisten Menschen abhob, auch wenn viele seiner Taten nicht ihre Zustimmung fanden, obgleich sie letztendlich alle mitgetragen hatte. Trotz der ganzen Misserfolge hatten sie bereits Geschichte geschrieben, auch wenn es nur eine Geschichte war, die im Verborgenen existierte und auf unabsehbare Zeit auch dort verblieb. Und das musste sie auch, zwangsläufig, wenn sie nicht riskieren wollten, dass die Welt im Chaos versank. Und genau das würde sie tun, wenn die falschen Leute Kenntnis von dieser Geschichte bekommen würden.

Mein Gott, dachte sie, wir waren so dicht dran

Und wie immer, wenn sie sich die Tragweite der Geschichte vor Augen führte, verspürte sie diese fast panikartige Furcht, die sich in ihr ausbreitete. Und welcher normale Mensch würde diese Angst nicht empfinden, wenn ihm klar war, dass sein Part in dieser Geschichte mit dazu beitragen konnte, dass sich die Menschheit auslöschte?

Am Anfang war es ausschließlich das Geld gewesen, das den Hauptantrieb für ihre Bereitschaft dargestellt hatte, sich auf ein Abenteuer einzulassen, das sie viel zu blauäugig angetreten hatte. Um ehrlich zu sein, hatte sie an den Erfolg niemals wirklich geglaubt, und vor allem nicht an die Konsequenzen, die den Misserfolg begleiteten. Für ein Zurück war es jedoch zu spät gewesen. Genau genommen war ein Zurück in ihr gewohntes Leben von dem Zeitpunkt an unmöglich geworden, als sie auf Lothars Angebot nach einem nur flüchtigen Überlegen mit einem schlichten ja geantwortet hatte.

Letztendlich war sie jedoch deshalb dabeigeblieben, weil die Möglichkeiten, die sich ihnen im Falle eines Erfolges boten, in ihren Auswirkungen unermesslich waren. Sogar für sie. Also stand auch sie wieder hier vor dieser Scheibe, wie bereits unzählige Male zuvor und versuchte sich einzureden, dass dieser Mann nicht mehr als ein weiterer Misserfolg war. Nur eine Nummer in einem gewaltigen, großen Spiel, die nicht von Bedeutung war. Nicht von Bedeutung sein durfte, wenn man dem großen Ganzen einen zusätzlichen Schritt näherkommen wollte.

Dörte atmete tief ein und aus. Sie hatte ihr Gewissen vor geraumer Zeit verkauft. Sie war sich nur noch nicht darüber im Klaren, ob an den Teufel oder eine strahlende, überwältigende Zukunft. Aber wie auch immer, jetzt musste sie nur noch dafür sorgen, dass es endgültig und unwiderruflich verstummte, so wie es bei Lothar der Fall war. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass er nicht einmal mehr wusste, was der Begriff Gewissen überhaupt bedeutete.

Nachdem Lothar den Raum betreten hatte, grußlos und unnahbar, wie es seiner Art entsprach, waren sämtliche Unterhaltungen verstummt und die Männer und Frauen hinter ihr widmeten sich wieder ausschließlich ihren Monitoren. Sie musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass es so war. Sie hatte es schon oft genug miterlebt.

Lothar stellte sich wortlos neben sie und legte die Hände auf den schmalen Sims vor der Beobachtungsscheibe. Sie roch den dezenten Duft seines Rasierwassers, und obwohl sie ihn nun schon seit vielen Jahren kannte, war sie doch immer wieder erstaunt über jene Aura der Autorität, die ihn wie einen unsichtbaren Schild umgab und dafür sorgte, dass es kaum einen Menschen gab, der in seiner Nähe in unangemessener Weise seine Stimme hob, egal, wie wütend und ungehalten er auch sein mochte. Nicht einmal sie, und es hatte Situationen gegeben, in denen sie so dermaßen stinkig auf ihn gewesen war, dass es in keiner Sprache der Welt ausreichend kräftige Worte dafür gab, um ihre Empfindungen auch nur annährend wiedergeben zu können.

Und dennoch…

Sie kniff die Lippen zusammen und stierte durch die Scheibe, und obwohl es sie danach drängte, ihn anzusehen, vermied sie es, den Kopf zu drehen.

Plötzlich öffnete der Mann auf dem Stuhl seine Augen. Dörte wusste, dass die Beobachtungsscheibe verspiegelt war, so dass der Mann sie nicht sehen konnte, dennoch zuckte sie vor Überraschung leicht zusammen.

Der Blick des Mannes fixierte sie. So eindeutig, als wüsste er genau, wo sie stand. Als könne er sie tatsächlich sehen.

Und woher willst du wissen, dass es nicht so ist? Was, wenn er hinsichtlich seiner Fähigkeiten gelogen, ihnen nicht alles mitgeteilt hatte? Wenn sie trotz all der ihnen zur Verfügung stehenden, modernsten Technik nicht alles hatten in Erfahrung bringen können, zu was dieser Mann fähig war?

Sie versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen.

„Er weiß, dass wir hier sind und ihn beobachten“, flüsterte Dörte schließlich, ohne Lothar dabei anzusehen. Wie so oft in seiner Nähe, redete sie einfach nur um des Redens Willen. Im Gegensatz zu ihm konnte sie das Schweigen, das sich regelmäßig zwischen ihnen aufbaute, nur schwer ertragen.

Wie erwartet, berührte ihn die Stille nicht. Ruhig und reglos stand er neben ihr, den Blick durch die Scheibe starr auf den Mann gerichtet. Als sie schon nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte, sagte er schließlich mit nicht ganz so leiser Stimme wie sie, aber doch noch in einem gedämpften Tonfall, so dass ihn außer ihr niemand verstehen konnte: „Natürlich weiß er es. So wie all die anderen vor ihm es auch gewusst haben. Es wäre naiv anzunehmen, dass wir von all ihren Fähigkeiten Kenntnis haben und dass sie uneingeschränkt mit uns zusammenarbeiten würden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass nicht einer von ihnen hundertprozentig kooperiert hat.“

Abermals breitete sich nach seinen Worten Schweigen aus. Ein Schweigen, das sie in zunehmendem Maße als kalt und belastend empfand. Unpersönlich. Ein Schweigen, dem Lothar mit der ihm eigenen Gleichgültigkeit begegnete, die fast schon an Desinteresse grenzte. Als ob es ihm egal war, ob sie redeten oder sprachen. Ob sie sich wohl oder unwohl fühlte.

Vielleicht war sie sogar selber daran schuld. Schließlich ist sie es gewesen, die darauf bestanden hatte, dass sie ihre Beziehung – falls man ihre gelegentlichen Treffen überhaupt als solche bezeichnen konnte – geheim hielten. So geheim, dass sie sich in der Öffentlichkeit auch trotz ihrer jahrelangen beruflichen Bekanntschaft noch immer siezten. Vielleicht hatte sie es einfach übertrieben mit ihrem Anspruch an Professionalität und Distanz und den Aufbau einer wirklichen, echten Beziehung dadurch von Anfang an unterlaufen. Möglicherweise waren seine Gleichgültigkeit und Unnahbarkeit nur eine Reaktion auf ihr Verhalten und kein eigener Schutzmechanismus, mit dem er seinerseits Menschen auf Abstand halten wollte.

Dörte hatte einen Doktortitel in Psychiatrie und einen weiteren in Psychologie, und dennoch hatte sie manchmal das Gefühl, das sie nicht einmal ansatzweise in der Lage war, Männer wie Lothar richtig zu verstehen. Zugegebenermaßen war Lothar kein Mann wie jeder andere, sonst hätte er kaum ihr Interesse errungen, aber immerhin war er ein Mann mit einer normalen psychischen Struktur und somit kein Vergleich zu jenem Mann, der in dem Raum jenseits der Scheibe an den Stuhl gefesselt war.

Wie konnte sie sich anmaßen, eine so komplexe und außergewöhnliche geistige Struktur begreifen zu wollen, wenn sie nicht einmal den Mann verstand, mit dem sie das Bett teilte?

Sie blendete das Ärgernis dieser Frage aus und konzentrierte sich wieder auf den Mann, der vollkommen ruhig und regungslos lag, so, als hätte er sich schon vor geraumer Zeit in das Unvermeidliche ergeben. Seine ganze Haltung signalisierte lockere Entspannung, obwohl ihm sicherlich klar war, was ihn erwartete. Aber Dörte wusste auch, dass dieser Zustand trügerisch sein konnte. Sie hatte auch das gegenteilige Verhalten des Mannes erlebt, dass ihr im Nachhinein noch kalte Schauer erzeugte. Wie all die Männer vor ihm, so war auch er vollkommen unberechenbar und extrem gefährlich. Ein wildes, verletztes und in die Enge getriebenes Tier war dagegen ein Kandidat für den Streichelzoo.

„Wir sollten beim nächsten Probanden wieder verstärkt darauf achten, dass er nicht zu lange drüben war“, sagte sie in das ausgedehnte Schweigen hinein. Diesmal hatte sie in normaler Lautstärke gesprochen. Es war schließlich ein dienstlicher Hinweis. „Da waren die Ergebnisse ungleich besser und vielversprechender.“

„Sie wissen ebenso gut wie ich, dass uns nicht immer die Möglichkeit zum Selektieren gegeben ist, Frau Dr. Biers.“ Wie erwartet war seine Antwort knapp und unverfänglich und mit einem unüberhörbaren Hauch von Zurechtweisung versehen, gegen die sie von Mal zu Mal eine immer stärkere Aversion ausprägte, auch wenn er nicht ganz Unrecht hatte. Trotzdem war es nur die halbe Wahrheit. Sicherlich, nicht jeder Mann, den sie bekommen konnten, war geeignet, aber es gab auch viele, die zumindest formal geeignet wären, jedoch von Lothar zurückgewiesen wurden, was hauptsächlich daran lag, dass er mittlerweile mehr wollte, als das ursprünglich definierte Ziel. Viel mehr. Soviel mehr, dass es ihr selbst schon Angst bereitete. Und sie war sicher, dass er ihr seine wahren Absichten nicht einmal ansatzweise dargelegt hatte. Das, was sie wusste, war das, was er ohnedies nicht auf Dauer vor ihr verbergen konnte und ihr deshalb mitgeteilt hatte und das, was sie sich selbst zusammenreimte. Ausgenommen dem, was sie wissen musste, um ihre Arbeit vollumfänglich ausüben zu können, war sie zu einem großen Teil auf Mutmaßungen angewiesen, dessen war sie sich durchaus bewusst. Aber was für eine Psychologin wäre sie, wenn sie nicht auch aus dem Unausgesprochenen gewisse Rückschlüsse ziehen könnte?

Sie waren dabei, eine Tür aufzustoßen, ohne die geringste Vorstellung davon zu haben, was sich dahinter befand.

Dörte verspürte zum ersten Mal, seit sie das Projekt begleitete, wirkliche, tiefsitzende Angst. Es war, als säßen sie auf offenen Pulverfässern, während sie gleichzeitig mit lodernden Fackeln jonglierten, ohne dass Jonglieren tatsächlich zu beherrschen. Gleichsam war sie sich darüber im Klaren, dass es für Gewissensbisse und Bedenken zu spät war. Viel zu spät. Wenn dieses Projekt – aus welchen Gründen auch immer – schiefgehen würde, wenn auch nur irgendetwas von dem, was sie wirklich hier taten, diese Forschungseinrichtung verlassen würde, dann könnte es der erste Schritt hin zu einer globalen Katastrophe sein, wie sie die Menschheit noch nicht erlebt hatte.

Schon komisch, dass mir die Tragweite dieser Gedanken erst jetzt so richtig bewusst wird. Noch immer schaute Dörte dem Mann in die Augen. Irgendetwas lag in seinem Blick, das sie gefangen nahm. Das sie gleichermaßen faszinierte und abstieß. Etwas Wissendes. Etwas Warnendes. Etwas Dunkles. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Der Raum war zwar hell erleuchtet, aber die Distanz zwischen ihnen betrug gute vier Meter, war also viel zu groß, als dass sie in den Augen des Mannes tatsächlich etwas lesen könnte.

Aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war – und die meiste Zeit versuchte sie auch, es zu sein -, dann musste sie sich eingestehen, dass die Faszination ihrer Forschungen die aufkeimenden Bedenken noch immer überwog.

Was für unglaubliche Möglichkeiten noch vor ihnen lagen

„Ich wollte damit nur deutlich machen, dass wir uns wieder auf den ursprünglichen Zweck der Aufgabe konzentrieren sollten“, sagte Dörte, darum bemüht, sich ihre Verärgerung nicht anmerken zu lassen. „Ich habe das Gefühl, dass wir uns gerade in zu vielen unterschiedlichen Bereichen engagieren.“ Sie verschwieg dabei, dass es in den ganzen Forschungen nur einen einzigen Bereich gab, der sie interessierte. Alles andere waren Bereiche, die den militärischen Komplex betrafen und für sie selbst nur von rudimentärer Bedeutung waren, auch wenn sie, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, nicht minder faszinierend waren.

„Das Ziel jedweder wissenschaftlichen Forschung ist es, Antworten zu finden. Und uns bietet sich gerade die Möglichkeit, einige Fragen parallel beantworten zu können. Ich bin der Überzeugung, dass wir diese Chance nutzen sollten, auch wenn dies ein zugegebenermaßen schwieriger und intensiver Prozess ist. Außerdem wissen Sie ebenso gut wie ich, dass diese Einrichtung Ergebnisse liefern muss, wenn sie weiterhin bestehen soll. Die Leute im Hintergrund werden sich nicht ewig in Geduld üben.“

Ja, und wer immer diese Leute im Hintergrund auch sein mögen, der eigentliche Grund ist, dass du sie mit Ergebnissen hinhalten willst, die deine eigenen Ambitionen nicht tangieren, dachte Dörte. Für wie naiv hältst du mich eigentlich?

Nun, wenigstens nicht für so naiv, dass er den Faktor Geld mit ins Spiel brachte, denn auch wenn diese Forschungsstätte mit ihrer modernsten Technik und den äußerst luxuriösen Wohn- und Freizeitanlagen sowie den extrem großzügigen Gehältern und den allumfassenden Sicherheits-, Überwachungs- und Abschirmtechniken Unsummen an Geldern alleine pro Monat verschlang, war die Finanzierung in den vergangenen Jahren, die sie bereits hier tätig war, nie auch nur mit einem einzigen Wort erwähnt worden. Die einzige Grundlage für den Fortbestand dieser Einrichtung schien tatsächlich ausschließlich davon abhängig zu sein, ob die Puppenspieler im Hintergrund mit den erzielten Fortschritten in dem zugrunde liegenden Zeitfenster zufrieden waren oder nicht.

Die Sorge, die Dörte in diesem Zusammenhang hegte, war die ungeheure Machtfülle, die in den Händen dieser Leute konzentriert wäre, wenn ihre Forschungen mit Erfolg abgeschlossen würden. Eine Machtfülle, welche die bereits vorhandene noch einmal immens steigern würde.

Laut sagte sie, um einem möglichst sachlichen Tonfall bemüht, während sie Lothar von der Seite betrachtete: „Ich habe lediglich eine fachliche Einschätzung formuliert. Das gehört ja schließlich auch zu meinem Aufgabengebiet. Die emotionale Belastung der Probanden steigt exorbitant an, je länger sie drüben sind.“

Er nahm ihre Worte ohne erkennbare Regung hin, beinahe so, als habe er sie nicht gehört. Auch eine dieser Eigenarten, die sie nicht leiden konnte, ihm aber nachsah. Wie sie so vieles an seinem Verhalten ihr gegenüber ignorierte, dass sie eigentlich verletzte. Warum sind wir Frauen in solchen Belangen immer so nachsichtig, wenn uns ein Mann etwas bedeutet? Selbst dann, wenn wir uns nicht einmal sicher sind, ob unsere Gefühle überhaupt erwidert werden?

Sieh mich an, dachte sie. Bitte sieh mich an. Nur kurz. Nur für einen einzigen, winzigen Moment! Der latente Hauch emotionaler Verzweiflung, der sie plötzlich übermannte, überraschte sie selbst ein wenig. Sie wusste, dass sie überarbeitet war. Geistig und emotional ausgebrannt durch die Intensität ihrer Arbeit, während der Mann, mit dem sie zusammen war, sich ihr gegenüber so kalt und distanziert verhielt, dass er sie gefühlsmäßig nicht auffangen konnte oder wollte und einem Eisblock ähnlicher schien, als einem menschlichen Wesen. Wenn er doch nur einen kleinen Bruchteil jener Energie, die er in dieses Projekt investierte, in das Zusammensein mit ihr investieren würde, wäre sie schon zufrieden. Soweit habe ich meine Ansprüche also schon zurückgeschraubt. Ich giere nach einem kleinen bisschen Anerkennung, nach ein klein wenig Zuneigung, wie ein pubertierender Teenager in seiner ersten Verliebtheit. Du bist ganz schön tief gesunken, meine Liebe! Der Gedanke erheiterte sie im gleichen Maße, wie er sie traurig stimmte.

Vielleicht lag es ja daran, dass sie auf Mitte Fünfzig zuging und außer ihrer hervorragenden beruflichen Reputation nichts weiter vorzuweisen hatte. Von einem geradezu unverschämt hohen Gehalt einmal abgesehen. Die vergangenen elf Jahre – und nicht nur die beruflichen, sondern auch die privaten – hatte sie nur für dieses Projekt gelebt und gearbeitet. Elf Jahre, in denen sie die Männer, mit denen sie zusammen war, an einer Hand abzählen konnte und immer noch einige Finger frei hätte. Das Schicksal schien einen bösen Sinn für Ironie zu haben, dass ausgerechnet Lothar der Mann war, der dem Begriff Beziehung am nächsten kam. Vielleicht war das der Preis, den zu zahlen man bereit sein musste, wenn man die Chance bekam, an so einem Projekt mitwirken zu dürfen. Einsamkeit und emotionale Abgeschiedenheit als Folgeerscheinung des Arbeitsverhältnisses. Keine allzu tiefen familiären Bindungen, kaum Verwandte, keine wirklichen Freunde, nur flüchtige Bekanntschaften. Ein Leben an der Oberflächlichkeit menschlichen Miteinanders.

Aber wenn unseren Forschungen Erfolg beschienen ist, und vieles deutet darauf hin, dass es in nächster Zeit zu einem Durchbruch kommen könnte, dann wäre auch der Faktor Zeit etwas, das sie ein wenig großzügiger als bislang behandeln könnten. Dann wären all die investierten Jahre nur mit einem flüchtigen Wimpernschlag zu vergleichen und sie würde die Chance bekommen, Teile ihres Lebens neu gestalten zu können, die ansonsten verloren gewesen wären.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, während sie Lothars kantiges Profil betrachtete. In seinem sonnengebräunten und wettergegerbten Gesicht regte sich kein Muskel. Reglos wie eine Statue schaute er weiterhin unverwandt durch die Beobachtungsscheibe.

Nur ein einziger Blick, dachte sie. Nur ein einziger Blick, der mich erkennen lässt, dass dir etwas an mir liegt. Dass ich nicht nur ein angenehmer Zeitvertreib hier am Ende der Welt für dich bin.

Vollkommen starr stand er neben ihr, ein zu Stein gewordenes Abbild seiner selbst. Er fixierte den Mann auf dem hydraulischen Liegestuhl mit der gleichen Intensität, mit der dieser sie betrachtete.

Vielleicht, um mich nicht ansehen zu müssen. Dörte vermied es, über das Deprimierende, das in diesem Gedanken lag, näher nachzudenken. Auch wenn dem ersten Anschein nach Welten zwischen euch liegen, dachte sie mit leichter Verbitterung, so seid ihr euch doch ähnlicher, als du glaubst. Beide seid ihr in euren eigenen, zerstörten Welten gefangen. Der Mann auf der Liege, weil man ihm keine Wahl gelassen hatte und du, Lothar, weil du sie dir selbst erschaffen hast. Fragt sich nur, wessen Leid am Ende das größere gewesen ist.

„Wir wären dann so weit, Herr Oberst.“ – Die Stimme von Dr. Heinz Frensch klang ruhig und distanziert, eingebettet in jenen professionellen Tonfall, den Lothar als Militär so sehr schätzte. Dörte nahm an, dass der Biogenetiker inzwischen selbst schon zu einem halben Militär mutiert war, so wie alle anderen Mitarbeiter auch, obwohl er nie gedient hatte. Was ebenfalls auf alle anderen Mitarbeiter zutraf. In all den Jahren, die sie nun schon hier zusammen lebten und arbeiteten (so wie bei ihr hatte Lothar auch bei allen anderen Wert darauf gelegt, dass sie keine familiären oder sonstigen sozialen Bindungen aufwiesen; geniale Einzelgänger, denen der Begriff Einsamkeit ebenso fremd war wie Freundschaft), war es Dörte nie gelungen, zu einem anderen Mitglied des Teams mehr Verbundenheit aufzubauen, als jene lockeren, zwanglosen Gespräche, die man in der Freizeit führte, wenn man sich auf einen Kaffee oder ein gemeinsames Essen traf.

Im Gegensatz zu ihr schien Frensch sich, gleichsam wie die meisten anderen Personen, die in das Projekt involviert waren, mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen hervorragend arrangiert zu haben. Sie wusste, dass er und die meisten anderen Wissenschaftler – Männer und Frauen, wie Lothar ihr gegenüber einmal betont hatte – in Begleitung einiger Sicherheitsleute die Einrichtung verließen und in ein Sicheres Haus fuhren, in dem sie alle Bedürfnisse, die sie hatten, ausleben konnten. Und zwar ohne jedwede Einschränkung. Als Dörte ihn einmal danach gefragt hatte, welche Bedürfnisse denn im Speziellen (vom Sexualtrieb einmal abgesehen) damit gemeint wären, hatte er sie eine Weile schweigend angesehen und dann mit steinerner Miene und ausdruckslosem Tonfall gesagt: Alle. Es gibt keine Tabus und keine Gesetze, die im Wege stünden!

Das war der Moment gewesen, als ihr zum ersten Mal vollumfänglich bewusst geworden war, welche Machtfülle diese Einrichtung nicht nur innerhalb des Komplexes, sondern auch außerhalb in sich vereinigte. Sie hatte es nicht gewagt, weitere Fragen zu stellen, aus Angst vor dem, was sie vielleicht zu hören bekommen hätte. Sie wollte die möglichen Abgründe der Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete, nicht kennen. Nicht, wenn sich Abgründe auftaten, die weit jenseits dessen lagen, mit dem sie sich aus beruflichen Gründen bereits abgeben musste.

Die Auswahl der Mitarbeiter hat mich mehr als zwei Jahre meines Lebens gekostet, hatte Lothar ihr einmal gesagt und sie dabei mit jenem Lächeln bedacht, von dem sie nie wusste, ob es ehrlich oder vorgeschoben war. Vielleicht war es auch nur eine Maske, wie so vieles an ihm. Herausragende Wissenschaftler, empathisch betrachtet jedoch völlig unterentwickelt. Nichts weiter, als emotional verkrüppelte Genies, deren einziger Lebensinhalt ihre Arbeit darstellte. Wie sonst wäre es möglich gewesen, all die Jahre über, von der Welt dort draußen abgeschottet, berufliche Höchstleistungen zu erzielen, ohne dabei durchzudrehen? Und wenn man einmal ausbrechen musste, um von dem, was sie hier taten, Abstand zu bekommen, gab es ja noch das Sichere Haus.

Einen Moment lang war Dörte versucht gewesen, ihn danach zu fragen, ob er diese Auswahlkriterien auch auf sie angewandt hatte, aber dann hatte sie sich entschlossen, nichts zu sagen. Nicht, weil sie diesen seltenen Augenblick nicht zerstören wollte, in dem Lothar über etwas sprach, das für seine Verhältnisse schon persönlichen Charakter hatte oder weil sie die Antwort fürchtete. Sie hatte geschwiegen, weil sie die Antwort bereits kannte. Sie war auch eines dieser emotional verkrüppelten Genies ohne tieferen Bezug zu den Menschen, die sie umgaben. Aber sie war es nicht, weil sie nicht anders konnte. Sie war es, weil der Großteil der Menschheit es einfach nicht wert war, dass man sich mit ihm abgab. Die Menschheit war zu einer intellektuell deformierten Rasse verkommen, befreit von jedwedem Rückgrat, zu dumm, um eine eigene Meinung zu entwickeln und zu feige, um gegen die rasant fortschreitende Einschränkung ihrer Bürgerrechte zu protestieren. Willige und billige Arbeitsdrohnen, die das System am Laufen hielten. Zu erbärmlich, um ihnen mehr als abgrundtiefe Verachtung entgegenzubringen.

Ja, ich passe durchaus in dein Schema, Lothar, aber anders, als du denkst.

„Fangen Sie an!“ Lothars ruhige, emotionslose Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Knappe und präzise Worte, deren Intonation den Soldaten offenbarte, auch wenn er, wie jetzt, in Zivil gekleidet war. Worte, die ihr klar werden ließen, dass er ihre stumme Bitte um ein flüchtiges Zeichen seiner Zuneigung nicht erhören würde.

Dörte presste die Lippen zusammen und richtete ihren Blick wieder auf den Mann jenseits der Scheibe. Sie starrte auf den haarlosen, halbnackten Körper und auf die in den Betonboden eingelassenen Rillen, die zu dem in der Mitte des Raumes befindlichen, tiefergelegten Gully führten. In diesem Moment hätte sie selbst die Medusa lieber angesehen, als Lothar.

„Die Rückführung beginnt in zehn minus eins.“ Die Stimme von Mario Sink, dem Systemtechniker, läutete den Countdown ein.

Dörte hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass Rückführung in diesen Fällen immer Auslöschung bedeutete. Als ob die Belegung des Aktes mit einem schwächeren, unverfänglicheren Wort den Vorgang erträglicher gestalten könnte. Und vor allem für wen sollte es erträglicher werden? Von ihr selbst einmal abgesehen, gab es in diesem Raum niemanden, dem das, was nun geschehen würde, auch nur für eine einzige Sekunde den Schlaf rauben würde.

Mit einem leisen Surren, das durch die installierten Mikrophone in den Beobachtungsraum übertragen wurde, entfalteten sich die zwei Hydraulikarme, die sich bislang außerhalb ihres Blickfeldes unmittelbar unter der kahlen Betondecke befunden hatten, bis sie sich zu beiden Seiten des Liegestuhls erstreckten. Beide Hydraulikarme gingen in zweieinhalb Meter lange Rohrleitungen über, die einen Durchmesser von etwa zwei Fingerbreiten aufwiesen und in denen sich jeweils ein Dutzend Düsen befanden. Als die Arme schließlich ihre endgültige Position eingenommen hatten, schloss der Mann plötzlich seine Augen.

Dörte atmete erleichtert auf, als der Blick des Mannes nicht mehr auf ihr ruhte, doch währte diese Erleichterung nur kurz.

„Zündung“, vernahm sie hinter sich die gleichgültige Stimme des Technikers, und noch bevor der Nachhall des Wortes im Beobachtungsraum verklungen war, schlugen aus allen vierundzwanzig Düsen bleistiftdicke, blau leuchtende Flammenstrahlen, die in Sekundenschnelle den gesamten Körper des Mannes einhüllten. Das fauchende Zischen der Flammen war so klar und deutlich zu hören, dass Dörte das Gefühl hatte, als stünde sie unmittelbar neben der Liege.

Sie hatte diesen Rückführungen schon so oft beigewohnt, dass sie schon vor Jahren aufgehört hatte, sie zu zählen, und auch wenn ein Teil von ihr sie immer noch als abstoßend und primitiv empfand, so war doch die Notwendigkeit, sie durchzuführen, zwangsläufig. Sie konnten, sie durften es nicht riskieren, dass die Experimente – auch wenn sie letztendlich fehlgeschlagen waren – frei herumliefen. Kaum vorstellbar, was passieren konnte, wenn irgendeine Regierung, die eigene Regierung eingeschlossen, von der Existenz dieser Männer Kenntnis bekäme.

Während der ersten Minuten lag der Mann ruhig und entspannt auf der Liege. Dörte wusste, was geschehen würde, hatte es in den vielen Versuchsreihen, die sie mit diesem Mann durchgeführt hatten, wieder und wieder erlebt und verspürte dennoch erneut dieses innere Kribbeln zunehmender Faszination, als sich die Haut des Mannes im Widerschein der über 1200°C heißen Flammen mit einem sanften, metallisch wirkenden Schimmer überzog, der die Flammen nicht nur abzulenken, sondern gleichermaßen zu absorbieren schien.

„Zusatz von DQ-17 in drei minus eins.“ Die sachlich-distanzierte Stimme des Technikers hätte auch von einem Band kommen können, so tonlos und emotional entfremdet hörte sie sich an.

Kurz darauf wurde aus Düsen, die sich in einem Geflecht aus Leitungen unterhalb der Betondecke befanden, eine fein verstäubte, grünliche Flüssigkeit versprüht, die sich, sobald sie mit den Flammen in Kontakt geriet, zu einem gleißenden, grellen Leuchten entzündete, das den gesamten Körper des Mannes sowie den metallenen Liegestuhl, auf dem er festgeschnallt war, wie eine dünne klebrige Schicht bedeckte.

Noch immer lag der Mann, der von dem Leuchten nun so umhüllt war, dass seine menschlichen Konturen kaum noch zu erkennen waren, vollkommen reglos, bis sich sein Körper so plötzlich und unvermittelt aufbäumte, dass Dörte, obwohl sie diese Reaktion erwartet hatte, zusammenzuckte. Armen und Beine verfielen in ein derartig heftiges Vibrieren, dass die stählernen Strukturen der Liege zu knirschen begannen. Abgehackte, brummende Laute drangen aus dem grünen Leuchten hervor, die kaum noch etwas Menschliches an sich hatten. Das Geräusch von reißendem Metall klang aus den Lautsprechern und der rechte Arm des Mannes vollführte auf einmal hektische auf- und ab Bewegungen, nachdem er die Armlehne des Stuhles abgerissen hatte.

Hinter sich vernahm Dörte die leisen, überraschten Ausrufe der Wissenschaftler, während sie selbst unbewusst einen Schritt von der Beobachtungsscheibe zurücktrat, als die metallisch knirschenden Laute intensiver wurden.

„Der Raum ist absolut sicher“, hörte sie neben sich Lothars Stimme, so ruhig und beherrscht wie immer. Sie hatte keine Ahnung, ob seine Worte dazu angedacht waren, sie oder die anderen Anwesenden zu beruhigen. Sie wusste nur, dass sie ihre Wirkung verfehlten, sowohl was sie betraf, als auch die Leute hinter ihr, wie sie an dem aufgeregten Getuschel erkannte, das sich an den Arbeitsplätzen erhob. Ein weiteres Knirschen übertönte das lauter werdende Brummen, das sich anhörte, als würde sich ein wildes Tier in dem Raum befinden…und vielleicht war es ja auch so, dachte Dörte mit aufkeimendem Entsetzen, als der Oberkörper des Mannes plötzlich in die Höhe schoss, während sich gleichzeitig Teile seiner Haut und seines Fleisches vom Körper lösten und in zähen Schlieren, die an geschmolzenes Plastik erinnerten, auf den Betonboden tropften, wo sie weiter vor sich hin glühten und langsam schmolzen, bis nur noch schwarze Flecken übrigblieben.

„Mein Gott“, flüsterte sie und hielt sich dabei die rechte Hand flach vor den Mund, als könnte sie auf diese Weise das angstvolle Zittern in ihrer Stimme unterdrücken. „Seine Kräfte sind unglaublich.“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Sie müssen sich in den vergangenen Wochen fast verdoppelt haben.“

„Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass jemand diesen Stuhl zerstören könnte.“

Täuschte sie sich oder war es tatsächlich ein Hauch von Unsicherheit, der in Lothars Stimme mitschwang? Dörte warf ihm einen raschen Blick zu. Er hatte seine Haltung nicht verändert, lediglich seine Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt. Die einzig sichtbare Reaktion auf das Unglaubliche, das sich gerade vor ihren Augen abspielte.

Abermals erklang das Geräusch reißenden Metalls und der Mann saß auf einmal auf der Kante des Liegestuhls, als der stählerne Brustring, der bislang seinen Oberkörper fixiert hatte, vollends abgesprengt wurde und von dem glühenden Leuchten umhüllt wie ein Komet durch den Raum flog und neben der Beobachtungsscheibe gegen die Wand prallte.

Die Konturen des Mannes zerflossen mehr und mehr. Haut und Fleisch bildeten schwarze Pfützen zu seinen Füßen. Ruckartig stand er schließlich auf und riss dabei den linken Arm nach vorne. Die letzte Schelle, die ihn bis dahin noch gehalten hatte, fiel mit Teilen der zerfetzten Armlehne klirrend zu Boden.

„Egal, was passiert, aus diesem Raum kommt er nicht mehr heraus. Der Raum ist absolut sicher.“ Für einen flüchtigen Moment erwiderte Lothar ihren angstvollen Blick, bevor er sich wieder der Gestalt im angrenzenden Raum zuwandte, die mit marionettenhaft anmutenden Schritten von den Überresten der Liege wegtaumelte und dabei wie ein Wesen aus einem Horrorfilm wirkte. Eine zerlaufene, matschige Masse, die selbst in ihren Umrissen kaum noch an einen Menschen erinnerte.

Dörte hatte das Gefühl, als wollte Lothar sich mit diesen Worten selbst beruhigen, auch wenn seine Stimme vollkommen beherrscht klang. Sie starrte wieder durch die Beobachtungsscheibe in den dahinterliegenden Raum, der zunehmend im Chaos versank. Aus den beiden noch intakten Hydraulikarmen fauchten nach wie vor die bläulich glühenden Flammenstrahlen, während aus den Düsen unter der Decke unablässig die grünliche Flüssigkeit versprüht wurde, die sich immer weiter über den Betonboden ausbreitete, wo sie zu einer lodernden Fläche entflammte, die bereits damit begonnen hatte, die obere Struktur des Feuerbetons aufzulösen.

„Schalten Sie doch endlich die Flammen aus und stoppen Sie das DQ-17!“ Lothar klang genervt, und Dörte wusste nicht zu sagen, ob es daran lag, dass der Techniker nicht fähig war, das Entgleisen der Situation an sich zu erkennen und entsprechend selbständig zu handeln, oder weil er mit etwas konfrontiert worden war, das er in dieser Weise weder erwartet noch vorausgesehen hatte.

Die inzwischen vollkommen von Flammen und Rauch umhüllte Gestalt torkelte zwei weitere Schritte auf die Beobachtungsscheibe zu, während sie sich immer weiter zu zersetzen begann. Ein zunehmender Strom von Schlieren aufgelöster menschlicher Strukturen tropfte brennend zu Boden, indes sich die brummenden Laute, die bislang aus der formlosen Masse hervorgequollen waren, zu einem schrillen Kreischen steigerten.

Dörte spürte, wie das Entsetzen, einer riesigen Flutwelle gleichend, gegen sie brandete. Bislang hatten alle vorangegangenen Experimente ihre Rückführung in beinahe ruhiger Ergebenheit erduldet. Außer einem manchmal mehr, manchmal weniger heftigen Vibrieren der aus einer speziellen Legierung gefertigten Liege und einigen gequälten aber relativ schnell vergänglichen Schreien, hatte es keinerlei außergewöhnliche Vorkommnisse während des Prozesses gegeben. Ein Prozess, der zwar nie zur Routine aber doch zu einer Art gewohnheitsmäßigem Ritual geworden ist. Ein in Bezug auf den eigentlichen Akt in vielerlei Hinsicht durchaus akzeptabler Vorgang, mit dem man sich arrangieren konnte und der einem dabei geholfen hatte, einigermaßen zügig zur alltäglichen Arbeit zurückkehren zu können. Über gewisse Dinge durfte man eben nicht allzu intensiv nachdenken. Am Besten war es, wenn man überhaupt nicht darüber nachdachte.

Und nun dies.

„Mein…Gott“, stammelte Dörte. Sie hielt nun beide Hände flach vor den Mund gepresst, was ihre Worte zu einem kaum verständlichen Brummeln dämpfte. „Wie kann es sein, dass es sich noch immer aufrecht hält, dieses…dieses…“ Ding, wollte sie sagen, doch bevor sie jenes in seiner Unpersönlichkeit verhasste Wort tatsächlich aussprechen konnte, verfiel die mittlerweile um ein Viertel ihrer ursprünglichen Größe geschrumpfte, brennende und qualmende, grünliche Masse auf Auswüchsen, die keinerlei Ähnlichkeit mehr mit menschlichen Beinen hatten, in eine so schnelle Schrittfolge, das es fast einem Sprint glich. Die Schreie, die sie dabei ausstieß, nahmen eine derart schrille Intensität an, dass sie ihr in den Ohren zu schmerzen begannen.

„Stellen Sie endlich die verdammten Mikrophone aus! Muss man Ihnen denn jeden verfluchten Handgriff vorkauen, Sie elender Idiot!“ In einem für ihn ungewöhnlichem Maße hatte Lothar die Stimme erhoben, um das durchdringende, grelle Brüllen der Horrorgestalt übertönen zu können, das den Arbeitsraum mit schallendem Dröhnen flutete und dabei selbst das wilde, hektische Piepsen der Sensoren in den Hintergrund drängte.

Das unsichere Zittern, das in Lothars Stimme lag, ängstigte Dörte jedoch weit weniger, als die Beleidigung des Technikers. Seit sie ihn kannte, war Derartiges noch nicht vorgekommen. Sie hatte keine Ahnung, wie er mit seinen Untergebenen sprach, wenn sie nicht anwesend war, in der Öffentlichkeit hatte sie ihn bislang jedoch nie so ausfällig und unkontrolliert erlebt.

Die Situation überfordert ihn. Ein weiterer Gedanke, der nicht gerade dazu angetan war, die Furcht, die sich ihrer bemächtigt hatte, zu bändigen.

Was, um Gottes Willen, hatten sie hier losgetreten? Was hatten sie nur…

Ihre Gedanken brachen ab, als die von lodernden Flammen umhüllte, in sich zerfließende Gestalt mit einem dumpfen Pochen gegen die Beobachtungsscheibe prallte. In den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Lothar die Hände von dem schmalen Sims zurückriss, als wäre dieser plötzlich ebenfalls in Flammen getaucht. Etwas, das nur noch mit sehr viel Fantasie an den Stumpf einer Hand erinnerte, schlug gegen die Scheibe. Wieder und wieder mit einer Schnelligkeit und Wucht, die an einen Dampfhammer erinnerte. Ein zuerst leises, dann immer lauter werdendes Knirschen ertönte und Dörte dachte, dass der Techniker die Mikrophone noch immer nicht ausgeschaltete hatte, als ihr mit einem Male bewusst wurde, dass die Schreie aufgehört hatten und der Raum in Stille lag. Erst in diesem Moment begriff sie, dass das Knirschen seinen Ursprung direkt vor ihr hatte. Das es durch die Scheibe drang.

Wie sicher ist der Raum wirklich, Lothar?

Dörte trat zuerst einen, dann, etwas zögerlicher, einen weiteren Schritt zurück, während sie gleichzeitig ihren linken Arm in einer abwehrenden Geste nach vorne streckte, als könne sie dadurch verhindern, dass dieses deformierte Etwas, das noch vor wenigen Minuten ein menschlicher Arm mit einer ebenso menschlichen Hand gewesen ist, weiterhin gegen die Scheibe krachte.

„Wie, um alles in der Welt, in das möglich?“ Lothars Stimme war zu einem ungläubigen Flüstern herabgesunken.

Dünne, feine Risse zeigten sich in der verstärkten Panzerglasscheibe. Risse, die sich mit beängstigender Schnelligkeit auszubreiten begannen.

Dörtes entsetzte Blicke begegneten dem entgeisterten Starren Lothars. Es waren nicht mehr als ein oder zwei Sekunden, in denen sich ihre Augen trafen, und doch war es mehr als ausreichend Zeit für Dörte, um die Zweifel zu erkennen, die plötzlich in Lothars Blicken auftauchten und die bislang unerschütterlich wirkende Selbstsicherheit so nachhaltig verdrängten, als hätte es sie nie gegeben. Sein Gesichtsausdruck hatte die maskenhafte Starre verloren. Verwunderung prägte seine Züge.

„Ich…“ sagte er, als das Splittern zu einem Bersten wurde.

Dörte schrie auf und taumelte einen weiteren Schritt zurück. Unbewusst registrierte sie hinter sich überraschte und ängstliche Ausrufe und das hektische Scharren von Stühlen und Füßen, als sich die Wissenschaftler so völlig unerwartet mit den Auswirkungen ihrer Forschung konfrontiert sahen.

Der brennende, tropfende Stumpf ragte etwa fünfzehn Zentimeter in den Arbeitsraum hinein, und selbst über die Entfernung von einigen Schritten hinweg fühlte Dörte die enorme Hitze, die ihr entgegenstrahlte. Breiige Masse fiel, blasenwerfend, zu Boden, wo sie zu schwarzen Rückständen verbrannte und schließlich selbständig erlosch. Ein beißender, chemischer Geruch lag in der Luft.

Das flackernde Rotlicht des Alarmsystems zuckte durch die Räume, und am Rande ihres Bewusstseins, weit entfernt und wie durch Nebel gedämpft, vernahm sie das an- und abschwellende Heulen der Sirenen. Die automatischen Sicherheitssysteme waren bereits aktiviert worden. Im Moment wäre es unmöglich, aus den inneren Räumlichkeiten des Hochsicherheitsbereiches hinauszugelangen, da sämtliche Türen elektronisch gesperrt waren. In weniger als einer Minute würden zudem schwerbewaffnete Sicherheitsteams sämtliche Korridore sowie alle sicherheitsrelevanten Sektionen des gesamten Komplexes abgeriegelt und unter ihre Kontrolle gestellt haben. Doch all das waren nur entlegene Gedanken und Wahrnehmungen, die von der bestürzenden Erkenntnis überlagert wurden, das alle Personen hier im Raum diesem…diesem…Horrorwesen ungeschützt ausgeliefert waren, das mit brachialer Gewalt immer weiter durch das als nur schwer zerstörbar geltende Sicherheitsglas drängte.

Dörte schrie auf. Lauter und schriller als zuvor, als sie plötzlich von starken, unnachgiebigen Armen umklammert wurde. Sie wollte sich losreißen, doch ihre Arme waren wie in einem Schraubstock gefangen und eng an ihren Körper gepresst.

Sah so ihr Tod aus? Verbrannt und zerquetscht von etwas, das es eigentlich gar nicht geben durfte? Es dauerte eine Weile bis sie realisierte, dass sie weder Hitze noch Schmerz verspürte, obwohl sie sich nach wie vor nicht bewegen konnte. Weitere endlose Sekunden verstrichen, ehe sie der Stimme, die dicht an ihrem Ohr erklang, beruhigende Worte zuordnen konnte. Noch immer lag der durchdringende, chemische Geruch in der Luft, wurde jedoch in ihrer Nähe nach und nach von dem angenehmen Duft eines Rasierwassers verdrängt.

„Alles ist gut. Es ist vorbei. Beruhige dich bitte wieder.“ Eine immer wiederkehrende, monotone Litanei, die beharrlich auf sie einwirkte. So lange, bis sich ihr verkrampfter Körper tatsächlich zu entspannen begann und sie in den Armen, die sie umfangen hielten, zusammensackte. Sie bekam kaum mit, dass sie rückwärts geführt und sachte auf einen gepolsterten Stuhl gesetzt wurde.

Langsam drangen die Worte in ihr aufgewühltes Bewusstsein, verknüpften sich mit Sinn und Aussage. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie auf die an manchen Stellen völlig zerstörte Scheibe, die an ihren schartigen Rändern durch die einwirkende Hitze noch immer leicht qualmte und teilweise geschmolzen war. Auf dem schmalen Sims und dem Fußboden befanden sich schwärende und noch immer kokelnde schwarze Flecken, doch die klumpige, formlose und brennende Gestalt, die noch vor wenigen Minuten ein menschliches Wesen dargestellt hatte, war verschwunden.

Nicht verschwunden, dachte sie. Nicht wirklich verschwunden. Die schwarzen, klebrigen Stellen waren das, was von ihr übriggeblieben ist. Geschmolzener, stinkender Brei auf nacktem, kahlem Beton.

Sie starrte mit leerem Blick auf Lothar, der vor ihr stand und sich zu ihr hinabgebeugt hatte, wobei er sich auf die Armlehnen des Stuhls stützte. Sein Gesicht befand sich so dicht vor dem ihren, dass sie noch immer sein Rasierwasser riechen konnte. Sie wollte die Arme heben und ihn berühren, aber sie konnte es nicht. Ihre Hände lagen ineinander verkrampft in ihrem Schoß, schwer wie Blei und vollkommen gefühllos, so, als gehörten sie nicht zu ihr.

Sie registrierte, dass das Heulen der Alarmsirenen plötzlich aufhörte, obwohl das zuckende, rote Licht weiterhin durch die Räume flirrte und das Lothar sich auf einmal nicht mehr vor ihr befand. Stattdessen stand ein in Weiß gekleideter Mann neben ihr, der von einer Frau begleitet wurde, die einen kleinen schwarzen Koffer trug, den sie aufgeklappt vor ihrem Oberkörper hielt. Die Stimme des Mannes drang an ihre Ohren. Eine angenehme, dunkle Stimme. Mühsam wandte sie den Kopf nach rechts und sah ihn an. Sie kannte das bärtige Gesicht. Sie kannte auch den Namen des Mannes, wusste, dass er einer der Ärzte war, aber sein Name wollte ihr partout nicht einfallen.

Einige Meter neben ihm sah sie Lothar, der von drei schwerbewaffneten Männern des Sicherheitsdienstes umgeben war und auf eine Weise auf sie einredete, die sie so auch nicht von ihm kannte. Er gestikulierte mit Armen und Händen, während die Männer reglos vor ihm standen und schwiegen. Einer der Männer trug einen breiten Kanister auf dem Rücken, der über einen Schlauch mit einer langen, klobigen Waffe verbunden war, deren Mündung zu Boden zeigte.

Ich habe ihn noch nie so stark schwitzen sehen, dachte Dörte abwesend, als sie die dunklen Flecken unter seinen Ärmeln sah. Sie atmete hektisch und keuchend und ihr Herzschlag hämmerte in wildem Stakkato gegen ihren Brustkorb. Sie bekam kaum noch richtig Luft. Ihr wurde heiß und ihr Kopf fühlte sich an, als würde er glühen.

Der Mann mit dem Kanister auf dem Rücken hob plötzlich den Kopf und sah zu ihr hinüber. Sein Blick war kalt und beherrscht und trotz der chaotischen Umstände seltsam teilnahmslos und distanziert. Speziell ausgebildete Männer, die nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen waren. Alles ehemalige Elitesoldaten und Söldner oder ehemalige Angehörige von Spezialkräften der Polizei.

Dekontaminationseinheit, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie dachte daran, wie knapp sie alle einer Katastrophe entkommen waren, und ein erstickter, weinerlicher Laut drang über ihre Lippen.

Sie hätte es kommen sehen müssen. Hätte wissen müssen, wie gefährlich diese neue Entwicklung war, die Lothar vor geraumer Zeit eingeleitet hatte. Sie hob die Hand in Lothars Richtung, wollte etwas sagen und bemerkte dabei, dass nicht nur ihre Hand unkontrolliert zitterte, sondern ihr ganzer Arm. Ein Zittern, das nach und nach auf ihren gesamten Körper übergriff und das sie nicht mehr beherrschen konnte. Ihre Augen verschwammen in Tränen und verzerrten die Konturen des Raumes und der anwesenden Personen zu verschwommenen Bildern. Sie wusste, dass sich ihre Lippen bewegten, dass sie Worte formulierte…doch sie hörte sie nicht. Ein zunehmendes Rauschen, das sich wie Meeresbrandung anhörte, überlagerte alle anderen Geräusche. Sie konnte nicht einmal sagen, was für Worte sie sprach.

Ihr Blick war auf Lothar fixiert, der ihr in diesem Moment den Rücken zukehrte und sich einem Mann zuwandte, der gerade den Raum betrat. Er schien sie vollkommen vergessen zu haben. Warum kümmerst du dich nicht um mich, jetzt, wo ich deine Hilfe am Nötigsten habe? Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, und begann hemmungslos zu schluchzen. Lothar

Ein kurzer, leichter Stich in ihren linken Unterarm lenkte sie von Lothar ab…dann verschwamm die Umgebung in Dunkelheit.

Kapitel 2

Nicht die Gläubigen erreichen Höheres, sondern die Zweifler.

-Hermann J. Elling-

„Und du willst tatsächlich so weitermachen wie bisher? Ich meine, ist dir nicht klar, dass dieses Experiment völlig gescheitert ist? Dass wir unglaubliches Glück hatten, so glimpflich davongekommen zu sein?“ Dörte schüttelte konsterniert den Kopf. Sie hatte ganz vergessen – nein, nicht vergessen, lediglich verdrängt -, wie stur und uneinsichtig Lothar sein konnte. Eineinhalb Tage waren seit dem Vorfall vergangen, und sie hatte immer noch Probleme, einzuschlafen, obwohl sie elendig müde war. Immer wenn sie die Augen schloss, sah sie diese Bilder, wie in einer Endlosschleife in ihr Bewusstsein eingebrannt. Dieser grünliche, brennende Armstumpf, von dem schwarzverfärbte Schlieren tropften, wie er auf das Sicherheitsglas einhämmerte, wie er es schließlich durchschlug und in ihre Richtung drängte. „Das in dem Raum, das war kein Mensch mehr, Lothar, ist dir das nicht bewusst? Das war kein menschliches Wesen mehr.“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern.

„Ach nein?“ Er zog fragend die Augenbrauen nach oben. „Was soll es denn sonst gewesen sein?“ Die Frage sollte leichthin und unverfänglich klingen, doch der Ausdruck in seinen Augen verriet Anspannung…und Interesse. Es war dieses hintergründige Flackern in seinem Blick, das ihn verriet. Das ihr offenbarte, dass sich seine Gedanken und Überlegungen in die gleiche Richtung bewegten, wie die ihren.

„Ich…ich weiß es nicht, Lothar. Es ist nur so ein Gefühl.“

„Und was sagt dir dieses Gefühl?“

Dörte atmete tief ein und aus, bevor sie antwortete: „Das…“ Sie zögerte einen Moment, weil sie wusste, wie sich das, was sie sagen wollte, für ihn anhören musste, doch dann gab sie sich einen Ruck und sprach es aus. „Das etwas mit ihm zurückgekommen ist. Etwas, das am Ende die Kontrolle übernommen hatte.“

Sie hatte erwartet, das tadelnde, spöttische Grinsen in seinem Gesicht zu sehen, mit dem er auf ihre Worte reagierte, so wie er es immer tat, wenn ihm etwas unglaubwürdig oder lächerlich erschien, doch der Ausdruck seiner Mimik blieb ernst…und sogar ein wenig angespannt, wie sie meinte.

„Du willst damit also sagen, dass er nicht mehr er selbst war.“

„Du weißt doch genau, was ich damit sagen will.“ Sie starrte ihn verkniffen an. „Und ich bin mir ziemlich sicher, dass du ebenfalls schon daran gedacht hast.“

„Weißt du was? Wir sollten darüber reden, wenn du die Sache verarbeitet hast, findest du nicht auch?“ Er sah sie mit einem sanften Lächeln an. Sie wünschte, es wäre ein ehrliches, ein besorgtes Lächeln, aber sie kannte ihn zu gut, um derart naiv zu sein. Andererseits hatte er sie direkt nach dem Vorfall in sein Quartier bringen und dort weiter behandeln lassen, anstatt sie einfach in ihren Räumlichkeiten unterzubringen.

Vielleicht sorgt er sich ja tatsächlich um mich. Vielleicht bedeute ich ihm doch mehr, als ich angenommen habe. Oder er wollte mich einfach nur unter Kontrolle haben, weil er glaubte, dass ich schwach geworden bin. Und, bei Gott, vielleicht bin ich das ja auch.

„Glaubst du, das ändert etwas an dem, was geschehen ist, Lothar? Wenn wir einfach mehr Zeit verstreichen lassen, so dass ich den Vorfall verarbeiten kann?“ Sie zog den wollenen, weichen Bademantel enger um ihren nackten Körper. Mit angezogenen Beinen saß sie auf der schwarzen Ledercouch und genoss das angenehm entspannte Gefühl, das sich bei ihr immer nach einem langen, ausgiebigen Bad einstellte. „Ich meine, das was geschehen ist, kannst du doch nicht einfach ignorieren.“

„Glaub mir, ich bin weit, verdammt weit davon entfernt, diese Sache zu ignorieren.“

Dörte hörte ein leises Klirren, als er ein Glas aus dem wuchtigen Eichenschrank nahm und einige Eiswürfel aus dem Spender hineinfallen ließ.

„Er hat dem DQ-17 länger standgehalten, als irgendjemand vor ihm.“ Sie starrte auf ihre nackten Füße, die unter dem Bademantel hervorlugten. Ich sollte mir mal wieder die Nägel lackieren. Ein absurder Gedanke in ihrer jetzigen Situation, und für einen flüchtigen Moment umspielte ein abwesendes Lächeln ihre Lippen.

„In der Tat ein Umstand, über den ich mir auch schon Gedanken gemacht habe.“ Ein schabendes Geräusch ertönte, als er eine Flasche aus dem Regal nahm. „Aber wir werden auch dafür eine Lösung finden. Auf keinen Fall sollten wir voreilig etwas in diese Sache hineininterpretieren.“ Da war sie wieder, diese unerschütterlich wirkende Selbstsicherheit. Der Vorfall hatte sie zwar kurzfristig ins Wanken, aber ganz offenkundig nicht endgültig zu Fall gebracht.

„Wenn er ein wenig länger standgehalten hätte, hätte er in den Raum eindringen können.“

„Dafür wäre der Rahmen der Scheibe zu schmal gewesen, und das weißt du auch.“

„Ich weiß nur, das der Mann sehr stark an Volumen verloren hat. Er hätte durchpassen können. Hast du dir auch mal darüber Gedanken gemacht, was dann alles hätte passieren können?“

„Nun, was den Sicherheitsaspekt anbelangt, hast du recht. Wir hätten darauf vorbereitet sein müssen. Aber ich kann dir auch versichern, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen wird.“

„Du weißt wirklich nicht, worauf ich hinauswill, Lothar, oder?“ Eigentlich hätte sie wütend sein müssen, dass Lothar das Offenkundige einfach nicht sah. Oder es einfach nicht wahrhaben wollte. Oder einfach nur kein Interesse hatte, gerade mit ihr darüber reden zu wollen. Aber für Wut war sie noch immer zu erschöpft. Sie fühlte sich so, wie ihre Stimme klang: unendlich müde und ausgebrannt.

„Da hast du völlig recht. Im Moment weiß ich tatsächlich nicht, worin genau das Problem besteht.“ Ein leicht gereizter Tonfall hatte sich seiner Stimme bemächtigt. Ihre Beharrlichkeit schien seinen Drang, wieder die vollständige Kontrolle über die Situation zu erlangen – und sei es auch nur im Nachhinein –, zu unterlaufen.

„Na ja, vielleicht liegt mein Problem gerade darin, dass ich beinahe von einem Probanden umgebracht worden wäre.“

„Ich sagte doch schon, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird. Was willst du denn sonst noch hören?“

„Hör auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln. Du weißt doch ganz genau, worauf ich hinauswill.“

„Und du weißt ebenso gut wie ich, dass ich das nicht tun kann. Wir sind in erster Linie Wissenschaftler, und Wissenschaftler lösen Probleme, wenn sie auftreten. Das ist die Aufgabe von Wissenschaftlern. Und hier an diesem Ort ist das unsere Aufgabe.“

Es war Dörte schon immer schwergefallen daran zu denken, dass Lothar promovierter Ingenieur war. Seit jeher hatte sie in ihm immer zuerst den Soldaten gesehen. War er Kämpfer und archaische Körperlichkeit für sie gewesen und nicht ein Mann des Geistes. Sie wusste, dass sie ihm mit dieser Sichtweise Unrecht tat, aber sie konnte nichts daran ändern.

„Probleme, die du selbst geschaffen hast, als du die Zielvorgaben geändert hast.“

„Manchmal muss man eben gewisse Risiken eingehen, um vorwärtszukommen.“ Seine Stimme klang wieder ein wenig ruhiger, beherrschter.

„Ja, aber die Risiken sollten überschaubar bleiben. Aber das, was du hier tust, ist schon lange nicht mehr überschaubar. Es wird von mal zu mal gefährlicher, und du weigerst dich, diese Gefahren wahrzunehmen. Manchmal verhältst du dich echt wie ein kleines Kind, das sich unter der Bettdecke verkriecht, weil es glaubt, dass der schwarze Mann es dann nicht sehen kann. Du machst einfach weiter wie bisher, ohne einen einzigen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden.“

Lothar lachte leise auf. Es war ein weiches, amüsiertes Lachen. „Netter Vergleich, Dörte. Aber du weißt ebenso gut wie ich, dass ich nicht mehr zurück kann. Dass wir nicht mehr zurück können. Komm‘ erst mal zur Ruhe. Entspann‘ dich und denk dann nochmal über alles nach. Ich bin sicher, dass du mir dann zustimmen wirst, dass die Risiken im Vergleich zu den Möglichkeiten, die sich uns bieten werden, vergleichsweise gering sind.“

„Ich glaube nicht, dass man sein Leben als zu gering einschätzen kann. Ich tue das für mein Leben zumindest nicht. Und ich bin mir sicher, dass die anderen das ebenso sehen.“

„Nun, von deinem Leben einmal abgesehen, interessiert mich das Leben der anderen herzlich wenig. Die sind nur wegen den wissenschaftlichen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, hier. Wegen der Forschung und nichts weiter. Die interessieren sich selbst für Geld nur rudimentär. Das sind Freaks. Zugegebenermaßen hochintelligente Freaks und absolute Genies in ihren jeweiligen Fachbereichen, aber doch nur Freaks. Die meisten von denen sind empathisch kaputt. Vollkommene Egoisten mit einem Innenleben, das man bestenfalls als völlig krank bezeichnen könnte. Du machst dir nicht die geringste Vorstellung davon, was die meisten dieser Typen im Sicheren Haus für Fantasien ausleben. Die sind total irre. Selbst nach meinen, zugegebenermaßen, etwas großzügigen Vorstellungen.“

„Ja, aber sie sind genau diese Art von Irren, die du brauchst.“

„Du hast recht, ich brauche sie. Und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich deswegen schon so manche schlaflose Nacht hinter mir habe. Ich bin wirklich nicht leicht zu beeindrucken, weder im Positiven noch im Negativen, aber einige dieser Typen haben mich beeindruckt. Und ganz sicher nicht positiv. Einige von denen gehören in die Geschlossene. Und wenn man der Menschheit darüber hinaus noch etwas Gutes tun wollte, sollte man nach deren Einlieferung den verdammten Schlüssel wegwerfen. Im Grunde genommen ist es ganz gut, dass die hier unten sind. Hier haben wir sie wenigstens unter Kontrolle.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752133523
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Krieg Abenteuer Mystery Soldaten Science Fiction

Autor

  • Haro Behrwind (Autor:in)

Haro Behrwind, Jahrgang 1966, wurde in Konstanz geboren und absolvierte nach seiner Bundeswehrzeit eine Ausbildung zum Chemikanten und später ein Studium zum Chemietechniker. Das Schreiben war neben dem Lesen seit frühester Jugend sein Hobby, dass er auch neben seiner beruflichen Tätigkeit im Schichtbetrieb, nie ganz aus den Augen verlor. Trotzdem entschloss er sich erst spät für eine Veröffentlichung.
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Titel: Siehe, ein fahles Pferd...: Band 1