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Princess Unchained: Winter's Choice

Winter's Choice

von Kitty Harper (Autor:in)
300 Seiten
Reihe: Princess Unchained, Band 2

Zusammenfassung

Alle Mädchen träumen davon, eine Prinzessin zu sein. Doch was passiert, wenn das Leben einer echten Prinzessin aus den Fugen gerät? Sollen Märchen dann immer noch wahr werden?

Endlich glaubt sich Prinzessin Katherine in Sicherheit. Doch um ihre Familie zu schützen, hält sie sich weiterhin versteckt. Nach einer leidenschaftlichen Nacht mit ihrem Retter, begeht sie einen verhängnisvollen Fehler. Nicht nur sie selbst, sondern auch die Menschen, die ihr am Herzen liegen, schweben in Lebensgefahr.

Kann Niels Winter sie und ihre Lieben ein weiteres Mal retten?

Princess Unchained – Winter's Choice ist der zweite Teil der spannenden und düsteren Dark Romance um eine eigensinnige Prinzessin und ihren schwarzen Ritter.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Princess Unchained

– Winter’s Choice –

Von Kitty Harper

 In meinem Leben gab es nicht viel, worauf ich stolz sein konnte. Der goldene Käfig, in den mich meine Eltern gesteckt hatten, ließ mir auch nicht gerade viel Freiraum. Umso stolzer war ich, Hawk – der Name des Piloten konnte unmöglich echt sein – davon abzubringen, den Hubschrauber direkt im Vorgarten der Villa meiner Eltern zu landen. Dorthin wollte ich nie wieder zurück. Auch wenn der Fürst von Montegrovien eine kleine Privatarmee sein Eigen nannte, würde ich mich dort nicht sicher fühlen. Ich meine, ich war dem Sicherheitsteam entwischt. Was sagte das über deren Fähigkeiten aus? Genau. Nichts Gutes. Dort fühlte ich mich absolut nicht sicher. Mal ganz abgesehen davon, dass meine Eltern mich nur wieder einsperren, mich entmündigen und ich höchstwahrscheinlich nie wieder Tageslicht erblicken würde.

Und was das Allerschlimmste war, ich würde Niels vermutlich nie wiedersehen – und das konnte ich nicht zulassen. Er hatte mich aus meinem persönlichen Albtraum befreit und jetzt war es an mir, sein Leben zu retten.

Zu Beginn des Fluges war ich noch fest davon überzeugt gewesen, dass ich ihn nie wiedersehen wollte. Immerhin hatte er mich auf die Insel gebracht und Dinge mit mir getan, die meine Situation nicht gerade verbessert hatten. Aber zurück zu meinen Eltern wollte ich auch nicht. Nein, ich musste mich um ihn kümmern, dafür sorgen, dass er wieder auf die Beine kam. Denn ich glaubte nicht, dass Dorian und der Prinz unsere Flucht einfach auf sich beruhen lassen würden. Nein, er würde alles daran setzen, mich in die Finger zu kriegen. Und Niels … daran wagte ich gar nicht zu denken. Ich hatte das Mädchen gesehen, wusste, wozu Dorian und seine Kunden fähig waren. Niels' Leben war längst verwirkt und ich würde – wenn ich eine Konfrontation mit Dorian überlebte – in Achmedins Harem landen. Nein, der Albtraum war noch lange nicht vorbei. Er hatte gerade erst begonnen.

Verbissen presste ich die Lippen aufeinander, während ich Niels' Hand hielt und akribisch darauf achtete, dass Hawk nicht in einem bewohnten Gebiet landete. Fehlte mir noch, dass ein aufmerksamer Bürger den Hubschrauber den Behörden meldete.

Als die Kufen auf einer staubigen Straße unweit des Highways aufsetzten, genoss ich das Glücksgefühl, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben – in Freiheit. Niels war während des gesamten Flugs nur kurz zu sich gekommen, doch jetzt brauchte ich seine Hilfe.

»Und du willst es dir wirklich nicht noch einmal anders überlegen?«, insistierte Hawk und sah mich eindringlich an. »Winter wollte, dass ich dich bei einer ganz bestimmten Adresse absetze.«

»Nein, ich gehe nie wieder dorthin zurück. Eher bitte ich dich, mich direkt in Achmedins Harem zu fliegen.«

Hawk lachte. »Das ließe sich einrichten. Der Prinz zahlt mir für deine Auslieferung sicher eine Menge Kohle. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mir keine Sorgen mehr um Dorian machen müsste.« Sein Blick ließ mich in die Polster zurückweichen.

»Du willst doch nicht …«

Hawk lachte erneut. »Nein, keine Sorge. Wenn es eines gibt, was ich noch mehr fürchte als Frank Menzies, dann ist es Niels Winter. Und außerdem schulde ich dem Kerl etwas. Er hat mir einmal das Leben gerettet. Da du sein Mädchen bist, sind deine Anweisungen so gut wie seine.«

»Ich bin nicht …« … sein Mädchen, wollte ich gerade entgegnen, doch ich schloss gerade noch rechtzeitig den Mund. Was, wenn Hawk aufgrund meines Widerspruchs doch noch seine Meinung änderte? Nein, das wäre gar nicht gut. Lieber ließ ich ihn in dem Glauben, Niels Winter wäre mein … Freund. Seltsamerweise machte es mir überhaupt nichts aus. Ganz im Gegenteil. Wärme, wie ich sie noch nie erlebt hatte, breitete sich in meinem Inneren aus und ich spürte, wie Hitze in meinen Kopf stieg. Verdammt, ich und Niels Winter. Was für ein absurder Gedanke. Ertappt berührte ich meine Wange und lächelte, knapp, bevor mein Blick auf Niels' bewusstlosen Körper fiel. Wenn ich ihn nicht durchkriegte, würde dieses Gefühl nur von kurzer Dauer sein.

Zärtlich tätschelte ich seine Wange. »Los, aufwachen, Dornröschen.«

Niels schlief nicht wirklich, der Blutverlust und die Anstrengungen der letzten Stunden hatten ihn so erschöpft, dass sein Körper den Betrieb eingestellt hatte. Trotzdem öffnete er träge die Augen und blinzelte mich an. »Ich habe nicht geschlafen«, krächzte er.

Ohne das ich etwas dagegen tun konnte, stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen. Niels' Kopf hatte während des gesamten Fluges auf meinem Schoß gelegen und ich hatte immer wieder meine Finger durch sein helles Haar gleiten lassen, als ob ich mich nicht dazu durchringen konnte, ihn loszulassen, als ob loslassen bedeutete, ihn zu verlieren. »Hey!«, machte ich und berührte sanft seine Stirn.

»Selber hey«, maulte er und richtete sich stöhnend auf. Sein Bein lag auf den Polstern, leicht erhöht, damit die Blutung zur Ruhe kam. War sie auch. Trotzdem sah es nicht gut aus. Doch sein Bein schien Niels' geringstes Problem zu sein. Mit klopfenden Herzen wartete ich darauf, dass er begriff, dass wir nicht im Garten meiner Eltern gelandet waren.

»Wo zur Hölle sind wir?«, donnerte er und nahm Hawk ins Visier. Der Pilot hob abwehrend die Hände.

»Hey, dafür bin ich nicht verantwortlich. Deine Süße hat mir gesagt, ich solle irgendwo in der Wüste landen.«

»Wie bitte?!« Niels drehte sich erstaunlich schnell für jemanden um, der noch vor ein paar Minuten bewusstlos auf meinem Schoß gelegen hatte. »Ich hatte Hawk genaue Anweisungen gegeben. Was zur Hölle denkst du dir eigentlich dabei?«

Pah! Wütend sein konnte ich auch. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und stierte ihn an. »Dass ich ganz alleine bestimmen kann, wohin ich gehe, mit wem ich zusammen bin und ob ich wieder zurück zu meinen Eltern will.«

Niels fuhr sich genervt durch die Haare. »Dort bist du sicher!«, fauchte er, seine Stimme schwankte. Mich zusammenzustauchen kostete ihn ziemlich viel Kraft. Mir egal. Ihn zwang ja niemand, sich mit mir anzulegen.

»Bin ich nicht. Wenn Dorian es drauf anlegt, wird er mich dort finden und entführen. Sicher bin ich nur bei dir.« Mir wurde erst so richtig klar, was ich gerade gesagt hatte, als die Worte auch schon ausgesprochen waren. Sicher bin ich nur bei dir. Niels brauchte längst nicht so lange, um sie zu begreifen. Sein Blick wurde weich und er holte tief Luft.

»Bei mir? Melody, ich kann nicht mal stehen, geschweige denn fahren. Es wäre wirklich besser, wenn du vernünftig bist.«

Trotzig schob ich die Unterlippe vor. »Nein, heute nicht. Und jetzt beweg dich raus aus diesem Hubschrauber, wir müssen hier verschwinden.«

Niels verzog schmerzhaft das Gesicht, als ich meine Hände gegen seinen Rücken stemmte und versuchte, ihn von der Rückbank zu schieben. Aber meine Bemühungen beeindruckten ihn ungefähr so viel, als würde ich versuchen, einen zehn Tonnen schweren Felsklotz zu bewegen. »Niels, bitte! Hawk muss hier weg.«

»Okay, okay«, hob er abwehrend die Hände und ließ sich von uns beiden aus dem Hubschrauber schieben. Langsam glitt er sich von dem Polster. Hawk hatte sich Niels' Arm bereits um die Schulter gelegt, sonst wäre er auf der Stelle zusammengesackt, als hätte jemand sämtliche Knochen aus seinem Körper verschwinden lassen. Stöhnend an Hawk gelehnt und sich mit einer Hand an der Kabinentür abstützend stand Niels da und kämpfte gegen die Ohnmacht.

»Und was genau machen wir jetzt, wenn du nicht zurück zu deinen Eltern gehst?«, empfing er mich, als ich aus der Kabine geklettert war, barfuß im blutverschmiertem Kleid, ohne Höschen.

Ich beachtete seinen bissigen Kommentar nicht weiter, brauchte ich auch nicht, denn so wie er aussah, würde Niels sowieso gleich wieder ohnmächtig werden. »Rufst du uns ein Taxi, bitte?«, wandte ich mich an Hawk und nahm ihm Niels ab, damit er telefonieren konnte. Mein großer Retter stützte sich mit aller Kraft auf meine Schultern.

»Hey!«, protestierte ich, was ihm aber nur ein dümmliches Grinsen entlockte.

»Stell dich nicht so an. Schließlich hast du dir dieses Problem – nämlich mich – selbst aufgeladen. Wenn du zu deinen Eltern gehen würdest, wärst du mich los. Ein für alle Mal.« Sein Tonfall erregte meine Aufmerksamkeit. Er klang nicht so, als wäre das sein Wunsch. Irgendwie bekam ich den Eindruck, dass auch Niels Winter mich nicht gerne gehen ließ. Egal, im Augenblick hatte ich keine Zeit, mir über seine Gefühle Gedanken zu machen. Erst einmal musste ich ihn in ein Bett kriegen und dann sahen wir weiter.

»Was du nicht sagst«, murmelte ich und wartete darauf, dass Hawk das Telefonat beendete. Niels legte müde seinen Kopf auf meine Schulter und begann, schon wieder abzudriften. Na klasse.

»Taxi kommt. Und du bist sicher, dass ich dich wirklich mit ihm alleine lassen kann?« Hawk nahm Niels' anderen Arm und gemeinsam schafften wir es, ihn am Straßenrand abzusetzen.

»Na klar. Bring du deine Familie in Sicherheit. Ich bin dir wirklich sehr dankbar für deine Hilfe.«

Hawk verzog das Gesicht. »Nichts für ungut, aber dein Freund hier hat mich mit einer Waffe bedroht. So ganz freiwillig war meine Unterstützung nicht.«

Ich lächelte. »Na ja, du hättest uns die letzten zwei Stunden einfach über dem offenen Meer entsorgen können, was du aber nicht getan hast. Also, danke.«

Hawk lächelte. »Ich wünsch dir alles Gute, Melody. Auf nimmer wiedersehen!«

Ich wartete, bis der Hubschrauber sich in die Lüfte erhoben hatte, bevor ich mich zu Niels hockte und den Sonnenaufgang beobachtete. Glücklich lehnte ich mich gegen ihn. Noch nie hatte ich einen schöneren Sonnenaufgang betrachtet, noch nie hatte ich mich befreiter gefühlt. Ich war Dorian entkommen und war bei dem einzigen Mann, bei dem ich mich jemals – abgesehen von meinem Vater – sicher gefühlt hatte. Was konnte es Schöneres geben? Okay, Niels' Bein sah nicht gut aus, aber mal abgesehen davon?

Niels kippte zur Seite und lehnte sich gegen mich, kämpfte mit aller Kraft gegen die Bewusstlosigkeit und als er sprach, lallte er, als hätte er zu tief ins Glas geschaut.

»Sag mal, Kleines, warum hat er dich eigentlich meine Süße genannt? Gibt es da etwas, was ich wissen müsste?«

 

 

 Wenn Menschen schlafen, sehen sie anders aus. Sagt man jedenfalls. Noch nie habe ich jemanden beim Schlafen beobachtet, noch nie völlig entspannte Züge genossen, noch nie … einem Mann dabei zugesehen, wie er sich langsam erholte.

Das Fieber war endlich gesunken. Seit einem halben Tag schlief Niels ruhig, die Albträume hatten aufgehört und seine Stirn fühlte sich kühl an, ohne den allgegenwärtigen kaltfeuchten Schweiß, ohne das Zittern, ohne das unverständliche Stammeln. Was er gesagt hatte, ängstigte mich zutiefst und ich wollte die Gedanken daran so schnell wie möglich verdrängen. Nicht länger darüber nachdenken, was alles passiert war, welche Schrecken wir gemeinsam durchlitten hatten. Nein, ich wollte mich nur noch neben ihn legen und gemeinsam mit ihm ausruhen. Aber ich konnte nicht. Das war alles zu viel.

Die letzten Tage hatten mich komplett überfordert. Das hohe Fieber, Niels' Wunsch, ihn auf gar keinen Fall in ein Krankenhaus zu bringen, keine Antibiotika, das schäbige Motelzimmer, schlechtes Essen … schlicht gesagt war ich am Ende meiner Kräfte und sehnte mich nach jemandem, der mich einfach nur in den Arm nahm und mir sagte, dass alles wieder gut werden würde. Seit sich seine Stirn endlich kühl anfühlte, begann ich tatsächlich daran zu glauben, dass dieser Albtraum endlich ein Ende haben würde.

Vorsichtig streckte ich die Hand aus und fuhr federleicht mit den Fingerspitzen über sein Kinn. Auf seinen Wangen spross ein kratziger Bart, kitzelte meine Haut. Ein Lächeln – das erste Lächeln seit … Tagen, Wochen? – glitt über meine Lippen, als Niels' Nase sich kräuselte. Der Schlaf verlieh ihm ein jugendliches Aussehen, die Ringe unter seinen Augen hatten sich verzogen und der allgegenwärtige grimmige Gesichtsausdruck war verschwunden. Kurzum, er war … schön. Irgendwie. Selbst die Narbe an seinem Kinn störte den Eindruck nicht.

Innerlich wollte ich laut auflachen. Niels Winter und schön? Nie im Leben. Aber ich tat es nicht, denn … sein Anblick tat weh. Das, was er getan hatte, tat weh. Und doch hatte ich mich die letzten Tage um ihn gekümmert, obwohl er mich fortschicken wollte. Konnte er nicht. Weil er ans Bett gefesselt war.

Unwillkürlich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Seit jenem verhängnisvollen Tag auf der Insel, als er vor den Augen anderer Männer Dinge mit mir getan hatte, die ich mir vorher nicht einmal im Traum hatte vorstellen können, wollte ich wissen, wie er schmeckte. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ich mich über ihn beugte, meine Fingerspitzen die Kontur seines Kinns nachfuhren und ich seinen Duft inhalierte. Die Stelle zwischen meinen Schenkeln erinnerte sich noch genau an seine Berührungen und zog sich erwartungsvoll zusammen, doch ich musste ihr eine Abfuhr erteilen. Du bekommst heute nichts von Niels.

Ich wollte so dringend wissen, wie seine Lippen sich anfühlten. Länger konnte ich nicht mehr warten. Und dann gab es da noch die winzige Tatsache, dass ich damals – auf der Insel – wehrlos gewesen war. Er hatte mich gehabt, und ich hatte nichts dagegen tun können. Ich fand es nur fair, mir einen Kuss von ihm zu stehlen, wenn er schlief. Er war damals trotz allem gut zu mir gewesen. Das wollte ich auch sein.

Sanft legte ich meine Hand an seine Wange, beugte mich über ihn und berührte mit unendlicher Zärtlichkeit seine Lippen. Ein sanfter erster Kuss, eine hauchzarte Berührung, so leicht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings und er fühlte sich gut an. Sehnsüchtig schloss ich die Augen und verlor mich in dem Kuss, sehnte mich nach Zuneigung, nach einer Umarmung, nach Geborgenheit.

Niels schmeckte herrlich, herb, männlich, erdig – und nach mehr. Als ich mich wieder von ihm löste, hämmerte der Puls mir in den Schläfen und das Blut rauschte durch meine Ohren. Als ich ihn so betrachtete, legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. War er etwa wach? Oh mein Gott! Das war ja oberpeinlich … oder auch nicht. Niels rührte sich nicht, er lächelte zwar, tat aber immer noch so, als ob er schlief. Doch ich hatte das Lächeln gesehen. Der Kerl war definitiv wach. Was gar nicht so schlecht war. Wollte ich einem Schlafenden einen Kuss stehlen oder wollte ich mehr? Wenn er wach war, hatte ich hiermit deutlich meine Absichten bekundet und die Antwort auf die Frage, die ich mir selbst gestellt hatte, fiel eindeutig aus.

Hastig schob ich alle bohrenden Zweifel beiseite, beugte mich erneut über ihn und küsste ihn noch mal. Diesmal stürmischer, verlangender, versuchte, seine Lippen mit meiner Zunge zu zerteilen. Überrascht starrte ich ihn an, als er tatsächlich nachgab und mich einließ. Wie von selbst schob sich meine Hand in seinen Nacken, die andere in sein Haar, während ich ein Bein über seine Hüfte legte und mich auf seinem Bauch niederließ. Vorsichtig, Niels hatte sicherlich noch immer Schmerzen.

Der Kuss intensivierte sich, er seufzte leise und begann zu meiner grenzenlosen Überraschung, ihn zu erwidern. Seine Hände legten sich auf meine Hüften, zogen mich enger an sich und dann geschah etwas Seltsames. Statt sich von mir küssen zu lassen, übernahm er die Führung, mühelos und ohne, dass mein Körper etwas dagegen zu haben schien. Nein, ich genoss es, wie er zurück küsste, ließ zu, dass er meinen Mund erkundete und gab mich ihm seufzend hin.

Doch irgendwann musste ich den Kuss unterbrechen, sonst wäre ich erstickt. Ich hielt ihn fest und löste mich von ihm, brachte ein paar Zentimeter Abstand zwischen unsere Lippen, um ihn ansehen zu können. Niels' Lippen waren gerötet, seine Atmung beschleunigt und seine Augen starrten mich voller Überraschung an.

»Was tust du da, Melody?«, krächzte er heiser.

»Nichts?«, schlug ich vor. Niels' Augenbraue wanderte nach oben. Wirklich? Er beherrschte die wortlose Kommunikation echt perfekt. »Du hast zurückgeküsst!«, wehrte ich mich.

Seine Mundwinkel zuckten. »Ich konnte nicht widerstehen. Warum hast du mich geküsst, Melody?«

Ertappt sah ich ihn an, spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg, doch genauso bemerkte ich, wie meine Finger zärtlich durch sein Haar glitten und ich überhaupt nicht das Bedürfnis verspürte, von ihm herunter zu klettern. Aber das war nicht die Antwort auf seine Frage. »Weil ich … wissen wollte, wie du schmeckst. Und weil ich fand, dass mir ein Kuss zusteht.«

Amüsiert hob er eine Augenbraue. »Dir steht ein Kuss zu?«

»Ja«, entgegnete ich und beugte mich wieder über ihn. »Du hast mich bereits dort geküsst, wo ich dich nicht schmecken kann. Ich wollte dich auch einmal küssen.«

Niels lachte leise. »Das stimmt. Ich hatte bereits das Vergnügen. Aber du solltest das wirklich nicht tun, Melody. Nicht mit mir. Ich bin es nicht wert, dass ein Mädchen wie du, eine Prinzessin, einen Kerl wie mich küsst.«

Was? Verblüfft starrte ich ihn an. »Wieso denn nicht? Du weißt, in welche Schwierigkeiten mich meine Menschenkenntnis gebracht hat.«

»Deine Menschenkenntnis hat uns beide in ziemliche Bedrängnis gebracht.« Niels verzog das Gesicht. Er schien Schmerzen zu haben.

Ich ging nicht weiter auf seine Bemerkung ein, sondern rutschte etwas tiefer, von seinem Bauch herunter, weiter weg von dem Verband um seine Taille. Niels richtete sich alarmiert auf. »Nicht …«, keuchte er, doch da war es schon zu spät. Überrascht weiteten sich meine Augen, als ich die unleugbare Härte unter mir spürte und meine Mitte sich sofort erwartungsvoll zusammenzog.

»Was ist?«, fragte ich mit einer Unschuldsmiene, die ihn sofort die Augen verdrehen ließ. »Das fühlt sich aber nicht so an, als ob ich dich kalt lassen würde.«

Niels rollte mit den Augen. »Natürlich lässt du mich nicht kalt. Du küsst mich, sitzt auf mir und machst dieses Ding mit meinen Haaren …«

Meine Augen weiteten sich. »Du magst das alles?«

Niels wandte den Blick ab und zuckte nichtssagend mit den Schultern. »Nicht, Melody …«, murmelte er und ich beugte mich erneut über ihn, inhalierte seinen Duft und genoss das Gefühl seiner Härte, die sich gegen meinen Eingang presste. Nichts sehnlichster wünschte ich mir, als dass sich die Stoffschichten, die uns noch voneinander trennten, in Luft auflösten und ich ihn endlich spüren konnte. Das war doch total absurd! Niels war derjenige gewesen, der mich hatte kommen lassen, vor den Augen unzähliger widerlicher Kerle. Ich sollte ihn dafür verachten. Und doch sehnte ich mich jetzt danach, dass er beendete, was er begonnen hatte. Verdammt, mir war wirklich nicht mehr zu helfen.

»Du hast damals auf der Insel etwas angefangen …«, begann ich zögernd. Niels wandte sich mir wieder zu, blickte mich forschend an.

»Das … ich dich … geleckt habe?« Seine Stimme war nur noch ein heißeres Flüstern, sein Blick so intensiv, dass ich mich unbehaglich wand. Zitternd schloss er die Augen. »Bitte, Melody …«

Ich hielt inne. »Ja … soll ich mich nicht bewegen?«

Niels schüttelte heftig den Kopf.

»Weil …?«, hakte ich nach.

Konzentriert biss er sich auf die Unterlippe. »Weil ich das nicht aushalte …«

Alarmiert richtete ich mich auf und verlagerte damit unbewusst noch mehr Druck auf seine empfindliche Stelle, spürte, dass er richtig hart wurde und zuckend gegen mich drängte.

»Nein!«, schnappte er und wollte sich aufrichten, doch seine – und meine Position – war so ungünstig, dass er erschöpft zurück in die Kissen sank. Ich stützte mich auf seiner Brust ab und sah ihn überrascht an.

»Du bist total … hart«, keuchte ich und konnte nur mit Mühe dem Drang widerstehen, mich an ihm zu reiben. Ich hatte so etwas noch nie gefühlt, diese Hitze, die sich unaufhörlich in mir ausbreitete und bewirkte, dass ich total scharf wurde. Dorian hatte mich bereits gefingert und Niels mich geleckt, aber das alles waren Momente gewesen, in denen ich keine Kontrolle gehabt hatte. Das hier war anders. Niels war erregt, wegen mir. Weil ich auf ihm saß, weil ich entschieden hatte. Das hier war mein Verdienst, meine Lust, dieser Moment gehörte mir und ich war nicht gewillt, aufzuhören.

Meine Mitte zog sich zusammen und glühte förmlich, fühlte sich genauso an wie auf der Insel, als Niels … Himmel, das hatte so gutgetan. Trotz der Blicke hatte ich mich sicher gefühlt.

Niels griff nach meinen Händen und wollte sie von seiner Brust schieben, doch das Fieber hatte seine Kräfte erschöpft und so musste er sie dort belassen, wo sie waren. »Noch mal zu dem, was auf der Insel passiert ist. Dir hat es gefallen? Also …«, stammelte er und fuhr sich durchs Haar, »das, was ich getan habe?«

Meine Wangen brannten. »Ja.«

Niels Augen weiteten sich. »Und das, was da … unten passiert … gefällt dir das auch?« Ich hatte Niels Winter nicht für einen Typen gehalten, der allein beim Gedanken an Sex rot wurde. War er vermutlich auch nicht, schließlich arbeitete er in einem Nachtklub für einen Zuhälter, der Mädchen wie Ware behandelte. Aber sein Gestammel war irgendwie … süß.

Ich schloss die Augen und gab dem Drang nach, rutschte mit dem Hintern hin und her. Das sollte ihm Antwort genug sein. Hätte ich natürlich auch sagen können, aber ich wollte es ihm lieber zeigen. Wieso das Unangenehme – die Worte – nicht mit dem wirklich Angenehmen verbinden? Außerdem wollte ich ihn noch mehr reizen.

Niels' Augen wurden noch größer. »Mädchen, du spielst ein gefährliches Spiel.«

»Wenn ich es aber will …«, murmelte ich und sah zur Seite.

Niels grunzte und drückte sich etwas gegen mich, sodass ich ihn noch fester spürte. »Das willst du?«

Ich biss mir unwillkürlich auf die Unterlippe und … nickte. »Ja.«

»Kind, ich bin nicht der Typ, an den du deine Jungfräulichkeit verschwenden solltest.« Kind? Ich war kein verdammtes Kind mehr!

Wütend starrte ich ihn an. »Ach, aber an einen saudischen Prinzen hätte ich sie verschwenden sollen?«

»Melody …« Sanft legte Niels seine Hand an meine Wange und wischte die Tränen der Verzweiflung, die der Gedanke an Achmedin Jameel heraufbeschworen hatte, weg.

»Sag meinen Namen nicht so. Ich will selbst bestimmen, mit wem ich schlafe und jetzt will ich dich!« Ich klang wie ein trotziges, aufsässiges Mädchen. Vielleicht war ich das auch, aber ich musste es tun, ich musste fühlen, dass ich selbst die Zügel in der Hand hatte, dass ich über mein Leben bestimmte, dass ich Dorians verdammter Insel entkommen war. Und das bedeutete, dass ich mit Niels schlief, weil ich es wollte!

»Tu das nicht. Ich bin es wirklich nicht wert«, murmelte Niels, als ob er meine Gedanken gelesen hätte.

»Doch, bist du!«, widersprach ich. »Bei dir fühle ich mich sicher, du hast mir auf der Insel Schutz gegeben und ich meine nicht diese haarsträubende Flucht. Du hast mich gehalten und durch diese schrecklichen Minuten im Salon geführt. Mit dir will ich den nächsten Schritt machen und dieses Trauma überwinden. Ich kann das nur, wenn ich die Kontrolle darüber habe, mit wem ich schlafe. Verstehst du?«

Niels' Blick wurde weich und er lächelte mich sanft an. »Okay.«

Irritiert erwiderte ich seinen Blick. »Was … okay? Okay okay?«

Er lachte leise. »Ja.«

»Bedeutet ja, dass du mit mir schläfst?« Ich konnte es nicht fassen.

Niels schmunzelte. »Ja, auch wenn du die meiste Arbeit übernehmen musst, ja, ich schlafe mit dir. Oder eher … du mit mir.« Er lachte leise.

»Heißt das, ich darf … dich anfassen und … alles tun, was ich will?«

Niels rollte mit den Augen. »Ja, ich überlasse es dir. Du sollst dich nicht länger hilflos fühlen. Ich gebe mich in deine Hände.«

Ich schluckte trocken und beugte mich wieder über ihn. »Danke«, hauchte ich ergriffen und küsste seine Wange. »Danke, danke, danke«, murmelte ich immer wieder, während ich tausend Küsse auf seinem Gesicht verteilte.

Niels lachte und schloss die Arme um mich. »Na ich habe zu danken. Wenn kriegt man schon eine Prinzessin dazu, einem die Hosen auszuziehen?«

Zärtlich knuffte ich ihn in die Seite. Schmerzhaft verzog er das Gesicht, da ich im Eifer den Verband gestreift hatte. »Du bist so ein Idiot!«

»Ja, ja«, keuchte er. »Sei bitte zärtlich. Ich bin ein alter Mann.«

 

 

 Zärtlich malte ich kleine Kreise auf seine Brust, die zwar erhitzt war, aber nicht vom Fieber. Niels' Atmung ging stoßweise und er brauchte lange, bis er sich wieder erholte. Seine Haut glänzte feucht, sein erschlaffter Penis ruhte neben meinem Oberschenkel, den ich ihm über das gesunde Bein geschoben hatte. Das andere Bein sah noch immer furchtbar aus und die Anstrengungen hatten es mit einer hässlichen roten Färbung überzogen.

»Tut mir leid«, murmelte ich, mein Kopf ruhte an seiner Schulter und er hatte den Arm um mich gelegt, seine Hand umschloss meinen Hintern.

»Mach dir keine Gedanken«, zerstreute er meine Sorgen und packte zu, zog mich an sich. Ich lächelte zufrieden.

»Du bist längst noch nicht wieder fit und ich kann an nichts anderes als an Sex denken.«

»Es war mir eine Freude, dein erstes Mal mit dir zu teilen.«

Scherzkeks. Eigentlich wollte ich ihn in die Seite knuffen, aber sein Schwanz sah so verführerisch aus, dass ich lieber danach griff und meine Hand besitzergreifend auf ihn legte. Niels sog scharf die Luft ein.

»Rede nicht so geschwollen. Ich hätte warten müssen. Du hast dich völlig verausgabt.«

»Ich würde dir gerne noch sehr viel mehr geben. Wenn ich gekonnt hätte, würdest du unter mir liegen und ich würde dich in den Arsch …«

»Ich weiß nicht, ob ich das je kann«, unterbrach ich ihn. »Unter dir liegen, meine ich. Die Insel hat mein Vertrauen erschüttert. Ich meine, es liegt nicht an dir«, beeilte ich mich hinzuzufügen. Nicht das Niels meine Bemerkung in den falschen Hals bekam. »Ob ich je jemandem die Kontrolle übergeben kann, weiß ich nicht. Vielleicht irgendwann. Aber ich kann dir nicht sagen, wie lange es dauern wird.« In Gedanken versunken ließ ich ihn wieder los und malte sanfte Kreise um seinen Bauchnabel. Niels hatte am ganzen Körper einen rotblonden Flaum, der um seinen Bauchnabel deutlich dunkler wurde und das krause Haar weiter unten war fast so rostrot wie mein eigenes.

Niels nahm meine Hand, legte sie sich auf die Brust und begrub sie mit seiner eigenen. »Die Insel ist meine Schuld und ich werde tun, was ich kann, damit du sie vergessen kannst. Und wenn das bedeutet, auf ewig unter dir zu liegen, dann werde ich das tun. Mir genügt es vollkommen zu wissen, dass du in Sicherheit bist.« Ergriffen füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich wollte sie zurückhalten, aber es ging nicht. Die Verzweiflung der letzten Wochen, das Gefühl, endlich gehalten zu werden, ließ die Mauern aus Eis, die ich um meine Emotionen errichtet hatte, zerbersten. Ein nicht enden wollender Strom erlösender Tränen lief mir über die Wangen, befeuchtete Niels Brust. Hektische Schluchzer schüttelten meinen Körper, während er mich einfach an sich zog und hielt, mir sanfte Worte zuflüsterte oder mein Haar küsste.

»Weine nur«, murmelte er beruhigend und tätschelte meinen Rücken. »Du warst für uns beide stark. Hast mich mit deinem Sturkopf am Leben gehalten. Jetzt ist es an mir, dir etwas davon zurückzugeben. Wenigstens für ein paar Stunden brauchst du nicht mehr stark sein.«

Dieser Mann war unglaublich. Obwohl ich insgeheim wusste, zu was er fähig war, fühlte ich mich in seinen Armen so sicher, dass ich hemmungslos weinen konnte, ohne mich schlecht zu fühlen. Irgendwann versiegten die Tränen und zurückblieb eine endlose Leere, gefüllt mit Nähe und … Zuneigung. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich Niels Winter liebte, aber ich mochte ihn und es fühlte sich gut an, von ihm gehalten zu werden.

»Apropos Sicherheit«, begann er irgendwann. Draußen dämmerte es bereits. Wir hatten den ganzen Nachmittag beieinandergelegen. Geredet hatten wir nicht viel, nur die Nähe des anderen genossen. Als Niels so unvermittelt die Stille durchbrach und sich seine Muskeln spürbar anspannten, machte sich ein flaues Gefühl in meinem Magen breit. Er meinte die nächsten Worte definitiv ernst.

»Ich bin in Sicherheit«, wandte ich ein, »bei dir.«

Niels atmete tief durch. »Bist du nicht. Nicht, wenn ich tue, was du willst.«

Ich hob den Kopf und blickte ihn forschend an. »Was ich will?«

»Die anderen Mädchen«, erinnerte er mich und sah zur Seite. »Ich hätte schon viel früher etwas tun müssen, aber ich habe mir immer eingeredet, dass sie es ja wollen.« Er lachte beißend auf. »Sich ermorden zu lassen ist garantiert nichts, was sie wollen.« Er spielte damit auf die Leiche des toten Mädchens an, die wir im Keller gefunden hatten. Ich kannte nicht mal ihren Namen. »Dorian hat damit eine Grenze überschritten. Ich will damit nicht sagen, dass ich nicht auch schon einen Mord begangen habe, aber jemanden zu töten, weil es einem Lust verschafft, ist krank. Die Kerle, deren Leben ich ausgelöscht hatte, haben es definitiv verdient. Jahrelang war ich der Meinung gewesen, in Frank Menzies Schuld zu stehen. Er hat mich aufgenommen, als ich am Boden war und ich fühlte mich ihm verpflichtet. Töten war das Einzige, was ich konnte, also habe ich für ihn die Drecksarbeit erledigt. Aber diese Mädchen … Melody, du hattest recht auf der Insel. Als du sie befreien wolltest. Wir konnten sie nicht mitnehmen, aber das wird sich jetzt ändern.« Niels atmete tief durch. »Melody, deine Familie hält dich für tot, nur damit Dorian dich an einen saudischen Prinzen verkaufen kann. Das war so falsch und ich muss etwas dagegen tun. Mein Gewissen reinwaschen, wenn es so etwas überhaupt gibt.«

Ich versteifte mich unwillkürlich. Natürlich erinnerte ich mich an meine Worte, aber wenn das bedeutete, dass sich Niels in Gefahr brachte, dann … dann konnte ich damit nicht umgehen. Ich würde sterben vor Sorge. »Du willst dich in Gefahr bringen, oder?«

Niels gab einen undefinierbaren Laut von sich. Das war wohl seine Antwort auf meine Frage. Nicht sehr aussagekräftig. Wütend ballte ich die Hand auf seiner Brust zur Faust. Ich wollte nicht, dass er sich in Gefahr brachte, aber genauso gut wusste ich, dass ihm nichts anderes übrig blieb, wenn er etwas gegen Dorians Machenschaften unternehmen wollte. »Nein, ich will nicht, dass du dorthin zurückgehst.« Wenn ihm etwas zustieße, würde ich mir das nie verzeihen. »Wir könnten einfach zu den Behörden gehen und … die Wahrheit sagen«, schlug ich vor. »Es ist nicht nötig, dass du dich in Gefahr bringst …«

Niels versteifte sich. »Ich und die Behörden? Träum weiter. Wenn ich mich beim FBI blicken lasse, buchten sie mich gleich wieder ein. Aber du, du hast ganz andere Möglichkeiten. Außerdem wärst du in Sicherheit, wenn du …«

Niels brauchte die Worte nicht laut aussprechen, ich wusste auch so genau, worauf er hinauswollte. Wenn ich zu meinen Eltern ginge, könnte ich dem FBI von Dorian Menzies' Insel des Grauens erzählen. Doch mit meiner Wiederauferstehung würde ich zu meiner Familie gehen. Aber wollte ich das? Wieder in das Leben, das ich vor der Insel geführt hatte, zurückkehren? NIEMALS! »Nein«, begehrte ich auf. »Ich werde nicht zurückgehen.«

»Nicht mal, wenn es die Mädchen rettet?«

Damit hatte Niels einen wunden Punkt getroffen, doch ich konnte nicht. »Für meine Eltern bin ich tot und ich möchte es dabei belassen. Das mag in deinen Augen herzlos klingen, aber ich kann nicht dorthin zurück. Was, wenn Dorian genau das erwartet. Er wird uns bereits suchen und dann …? Soll ich meine Eltern in Gefahr bringen? Nein, es muss einen anderen Weg geben.«

Niels grunzte abfällig. »Ihr kehrt in euer Fürstentum zurück und ich kümmere mich um Dorian«, knurrte Niels in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. »Die Koordinaten der Insel müssten in meinem Telefon gespeichert sein, das GPS war aktiv. Wenn ich wieder laufen kann, werde ich jemanden aufsuchen, der diese Daten ermitteln kann. Und wenn nicht, prügele ich so lange auf Dorian ein, bis er mir die Koordinaten freiwillig nennt. Und dann hole ich die Mädchen. Alleine.« Aber das wiederum konnte ich nicht akzeptieren. Nie wieder, ob von Madame Renard auf der Insel oder von meinen Eltern noch von Niels würde ich mir Vorschriften machen lassen. Niemals.

»Du kannst mich nicht zwingen.« Ich richtete mich auf und starrte trotzig auf ihn herunter. »Und das wirst du nicht, denn du hast gesagt, dass du das nie tun wirst.«

Niels hielt meinem Blick ohne mit der Wimper zu zucken stand. »Du hast es versprochen«, fügte ich hinzu. Es war unfair von mir, ihn an sein Versprechen zu erinnern. Als er es mir gegeben hatte, hatte er bestimmt nicht daran gedacht, dass es ein paar Dinge gab, zu denen er mich liebend gerne gezwungen hätte. Niels' Blick blieb noch ein paar angespannte Atemzüge hart, bevor er nachgab und nickte.

»Du hast ein mir unverständliches Talent, mich um den Finger zu wickeln.« Er legte den Kopf schräg und betrachtete meinen Busen, streckte die Hand danach aus und legte sie so unter meine Brust, dass sie schwer in seiner Hand ruhte. Dann fuhr er mit dem Daumen über die Brustwarze, bis sie sich vor Erregung zusammenzog.

»Wenn du damit aufhörst, mich wie ein kleines Kind zu behandeln, verzichte ich auf den Einsatz dieses Talents.« Ich schloss die Augen und ließ ein sehnsüchtiges Seufzen hören.

»Okay. Vielleicht hast du recht. So lange deine Eltern dich für tot halten, schweben sie etwas weniger in Gefahr.«

Seufzend ließ ich mich wieder neben ihn sinken. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr schmerzte der Gedanke. Klar, ich hasste meine Eltern dafür, dass sie mich mein Leben lang beschützt hatten. Doch irgendwie konnte ich sie auch verstehen. Ich war ihr einziges Kind, noch dazu die Thronerbin unseres Fürstentums. Konnte ich es ihnen da verübeln, dass sie mich in einen Käfig gesperrt hatten? Eigentlich nicht. Ihnen jetzt, wo ich frei war, nicht die Wahrheit zusagen, war irgendwie selbstsüchtig. Sie vor Dorian beschützen zu wollen, war nur eine fadenscheinige Ausrede. Niels wusste das, ich hatte das Verstehen in seinen Augen gesehen. Und doch, wenn ich zu ihnen zurückkehrte, würde das unweigerlich bedeuten, mich von Niels trennen zu müssen. Aber ihnen nicht zu sagen, dass ich noch lebte, war … verabscheuungswürdig. Verdammt, irgendwann würde ich wieder auftauchen müssen. Aber jetzt noch nicht. Ein paar Tage noch wollte ich den Traum der Freiheit genießen.

Niels schien meinen inneren Kampf gespürt zu haben, denn er verstärkte seinen Griff um meine Taille und zog mich enger an sich. »Alles wird gut.«

»Das glaube ich nicht.« Das schlechte Gewissen nagte an mir und ich wusste, dass ich es nicht länger aushalten konnte. Denn da gab es noch jemand anderen. Alexis. Meiner besten Freundin musste ich einfach die Wahrheit sagen. »Vielleicht … könnte ich mich bei meiner Freundin melden.«

»Das blonde dürre Ding, mit dem du im Klub warst?«

Ich nickte. »Wenn ich schon nicht meinen Eltern sagen kann, dass ich noch lebe, so muss ich mich zumindest bei ihr melden.«

Niels grunzte abweisend. »Das halte ich für keine gute Idee. Dein Einwand, Dorian würde dich bei deinen Eltern suchen, war nicht unberechtigt. Das Gleiche gilt allerdings auch für Alexis.«

Ich stockte. »Was hast du dann vor?«

Niels seufzte und schloss die Augen. »Schlafen, noch mindestens drei Tage. Und dann werde ich mit dem Telefon anfangen. Das ist die beste Chance.« Was Niels genau zu tun beabsichtigte, sagte er nicht mehr. Seine Atemzüge wurden ruhiger und er glitt in einen tiefen Schlaf. Ich hätte so gerne ebenfalls geschlafen, aber der Gedanke an Alexis ließ mich nicht los. Vorsichtig löste ich mich von ihm, zog mein Bein von seinem Oberschenkel. Dabei fiel mein Blick auf seinen Schwanz. Der Gedanke, was ich mit ihm getan hatte, ließ mich unwillkürlich auf der Unterlippe herumkauen. Ich könnte noch so viel mehr mit ihm machen, jetzt, später, wann immer ich wollte. Wenn ich seine Worte richtig deutete, wollte er mit mir zusammenbleiben und ich wünschte mir nichts sehnlichster als das. Wir sollten weggehen, einfach verschwinden, nach Kanada oder Mexiko oder Europa. Ganz egal, wohin.

Aber Niels hatte recht. Jedes Mädchen auf der Insel schwebte in Lebensgefahr und ich war die Einzige, die von dem Grauen dort berichten konnte. Ich durfte nicht schweigen. Auch wenn ich noch nicht zu den Behörden gehen konnte, so gab es vielleicht doch eine Möglichkeit, mein Wissen weiterzugeben, ohne Niels in Gefahr zu bringen.

So kam es, dass ich mich nach einer ausgiebigen Dusche an einen kleinen Tisch in unserem schäbigen Motelzimmer setzte, Niels' Smartphone vor mir positionierte, eine Aufnahme startete und meine Geschichte erzählte.

Zwei Stunden später saß ich mit Sonnenbrille und Hoodie in unserem Lieblingscafè und wartete darauf, dass Alexis sich wie jeden Dienstag – verdammt noch mal, es war ein ganz normaler Dienstag! – ihren Latte abholte. Ich hoffte, dass sie mein vermeintlicher Tod nicht so sehr aus der Bahn geworfen hatte, dass sie auf ihre Gewohnheiten verzichtete, dass sie nicht nach Hause geflogen war. Was, wenn das stimmte? Was, wenn sie wirklich fort war? Was sollte ich denn dann machen? Anrufen konnte ich sie nicht. Mein Telefon lag in Dorians Tresor, genau wie mein Reisepass. Fantastisch.

Ich grübelte noch, wie ich Alexis erreichen konnte, sollte sie nicht im Café auftauchen, als sich eine hoch gewachsene Blondine in die Schlange vor der Kasse einreihte. Ich hätte sie fast nicht erkannt. Mit Sonnenbrille und Kopftuch sah sie völlig anders aus. Doch jede ihrer Bewegungen kannte ich in- und auswendig. Schließlich waren wir zusammen aufgewachsen.

Hastig stand ich auf und schob mich hinter ihr in die Reihe. Die Proteste des Typen, dem ich damit seinen Platz streitig machte, ignorierte ich. Meine Güte, ich hatte eine Insel voller widerwärtiger Sextouristen überstanden, der soll sich mal wegen einer etwas längeren Wartezeit nicht ins Höschen machen. Und wenn Alexis mich erkannte, würde er sowieso zwei Plätze weiter vor rutschen.

Doch bis es so weit war, musste ich mich noch überwinden, sie endlich anzusprechen. Unschlüssig hob ich die Hand, wollte sie am Arm berühren, doch dann ließ ich sie wieder sinken. Was sollte ich auch sagen? Hi, Lexi, ich bin's, Melody, deine Freundin, die wieder von den Toten auferstanden ist. Bitte mach jetzt keine Szene! Na ja, das war vielleicht nicht mein bester Einfall, aber ich musste etwas unternehmen. Also raffte ich meinen Mut zusammen und berührte sie vorsichtig an der Schulter.

»Hey«, machte ich und wartete darauf, dass sie sich umdrehte. Alexis' Schultern zogen sich zusammen, sie versteifte sich. Seufzend entwich ihr die Atemluft. Das tat sie immer, wenn sie sich auf einen verbalen Angriff vorbereitete. Der dann wohl mir galt. Dem unwillkommenen Störenfried am Dienstagnachmittag.

»Hör zu, ich hatte einen echt miesen Tag, mein ganzes beschissenes Leben ist total mies und dann kommst du und setzt diesem miesesten aller miesen Tage noch einen drauf …!« Schwungvoll drehte sie sich um, gerade in dem Augenblick, als ich meine Sonnenbrille in einem verzweifelten Versuch abnahm, Erkenntnis in ihren Augen auszulösen. Meine Hoffnung wurde erhört.

Als hätte ein mächtiges Wesen höchstpersönlich die Zeit angehalten, konnte ich dabei zusehen, wie in Zeitlupe Wiedererkennen in ihrem Blick aufflammte, von Unverständnis abgelöst wurde und schließlich in Tränen zerfloss. »Melody?!«, keuchte Alexis und warf sich in einer ohnmächtigen Umarmung an meinen Hals.

»Ja, ich bin's«, murmelte ich und tätschelte ihren Rücken, während ich die herzerweichenden Schluchzer meiner besten Freundin aushielt. Vorsichtig zog ich uns beide aus der Reihe und warf dem Typen, vor den ich mich gedrängelt hatte, einen entschuldigenden Blick zu. Milde lächelnd nickte er mir zu.

»Wo warst du denn die ganze Zeit? Wir dachten, du wärst tot!«, raunte mir Alexis zu, als sie sich schließlich etwas beruhigt hatte, mich bei den Schultern hielt und vorwurfsvoll musterte. Als ob ich etwas dafür konnte, entführt worden zu sein. Säuerlich biss ich mir auf die Unterlippe. Okay, ich konnte tatsächlich etwas dafür und ich hatte Lexi zu meiner Mittäterin gemacht. Was musste sie für Höllenqualen ausgestanden haben.

»Tut mir leid«, murmelte ich und senkte schuldbewusst den Kopf. »Ich … war … auf einer Insel.«

Lexi schüttelte den Kopf. »Melody, du warst tot. Du warst auf keiner Insel. Ich habe die … Berichte gesehen, dein Vater hat mir alles gezeigt. Ich habe wochenlang versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, dass du abgehauen bist, weil du es nicht ausgehalten hast, wie sie dich behandelt haben. Und dann das … die Beweise waren erdrückend und …«

»Du hast ihnen die Wahrheit gesagt?«, fragte ich vorsichtig.

Lexi seufzte und nickte. »Ich hielt es nicht mehr aus, aber das FBI war fest davon überzeugt, dass du das warst. Die Tote im Kofferraum.«

»FBI?! Tote im Kofferraum?«, stammelte ich entsetzt.

»Du bist eine Prinzessin, die entführt wurde. Natürlich wurde das FBI eingeschaltet. Ehrlich gesagt wunderte es mich, dass nicht gleich der Secret Service im Vorgarten kampierte.«

Ich musste schmunzeln, die Vorstellung war wirklich amüsant, obwohl meine Eltern und die FBI-Agenten meinem Verschwinden wohl kaum etwas Witziges abgewinnen konnten. Verdammt, ich war tot gewesen. Dorian hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. »Dorian hat mich verschleppt und dann wollte er mich verkaufen.«

Lexis Kinnlade klappte herunter. »Dein Dorian hat was getan?«

»Er ist nicht mehr mein Dorian«, wehrte ich ab. »Ist jetzt nicht so wichtig, was er getan hat. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass es mir gut geht, dass ich am Leben bin und … dass es nicht deine Schuld war. Dass das alles so schief gelaufen ist, geht ganz allein auf mein Konto und ich habe teuer dafür bezahlt.« Lexi atmete tief durch.

»Ich habe mir entsetzliche Vorwürfe gemacht.«

Verstehend nickte ich. »Es tut mir so leid, was passiert ist …«

Sie winkte ab. »Du konntest nicht wissen, was Dorian vorhatte. Du bist einfach auf den falschen Kerl hereingefallen.« Sie nahm meine Hände und zog mich auf die Beine. »Jetzt komm, lass uns nach Hause gehen.« Lexi nahm meinen Arm, hakte sich unter und wollte mich Richtung Ausgang ziehen.

Abrupt stemmte ich die Fersen in den Boden, wehrte mich vehement dagegen, von Lexi abgeschleppt zu werden. »Nein«, sagte ich, allerdings dauerte es noch ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass ich nicht mitgehen wollte. Irgendwie hatte die Szene etwas aus einem Zeichentrickfilm, wie Lexi an meinem Arm zog und ich meinen Körper in die entgegengesetzte Richtung schob. Endlich schien ihr aufzufallen, dass ich ihre Absicht nicht teilte und sie hörte auf, an mir zu ziehen.

»Was ist los?« Verdutzt blickte sie mich an. »Du willst nicht mitgekommen?«

Ich schüttelte demonstrativ den Kopf. »Nein, ich kann nicht. Du hast doch erlebt, wie sie mich behandeln. Das Verhalten meiner Eltern war ja überhaupt auch erst der Grund, warum ich weglaufen musste. Ich habe es dort nicht mehr ausgehalten, eingesperrt in einen Käfig, von morgens bis abends bewacht zu werden. Fehlte nur noch, dass sie meine Toilettengänge dokumentierten. Nein, dahin kann ich nie wieder zurückkehren.«

Lexis Gesichtszüge entgleisten. »Aber sie sind deine Eltern. Sie lieben dich und sie würden alles für dich tun«, flüsterte Lexi fassungslos. Augenblicklich bereute ich meine Worte. Es gab einen Grund, warum Lexi bei uns lebte. Ihre Eltern hatten im Haushalt der Fürsten gearbeitet und waren vor Jahren, als Lexi noch ein kleines Mädchen gewesen war, bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Die Berge Montegroviens hatten ihr mit einer Lawine die Eltern genommen und ich spuckte auf die meinen. Lexi brauchte ihre Gedanken nicht laut aussprechen. In ihren feuchten Augen konnte ich sie lesen: Wenigstens hast du noch welche!

»Es tut mir leid«, sagte ich hastig. »Das hätte ich nicht sagen dürfen. Aber … ich kann nicht dorthin zurück. Und außerdem muss ich …« … zu Niels. Ich hatte ihn schon viel zu lange alleingelassen. Mittlerweile würde er aufgewacht sein und mein Fehlen bemerkt haben.

Lexi nickte seufzend. »Lass dich kurz bei ihnen blicken, sage ihnen, dass du am Leben bist. Deinem Vater geht es furchtbar schlecht. Und deine Mutter macht sich Vorwürfe. Ich denke, dass sich so Einiges ändern würde, wenn du zurückkommst. Aber wenn du das nicht kannst, werden sie es verstehen. Bitte, Melody, sie sind deine Eltern und sie lieben dich. Und ich vermisse dich.«

Das schlechte Gewissen nagte an mir. Lexi hatte recht, ich durfte meinen Eltern nicht einfach so den Rücken zukehren, ich musste wenigstens ein Lebenszeichen von mir geben. Und wenn mich Dorian dort erwartete?

Nachdenklich schloss ich die Augen und bemerkte plötzlich, wie sich ein Ziehen in meiner Brust ausbreitete und mich am Atmen hinderte. Meinem Vater ging es nicht gut? Und Mutter machte sich Vorwürfe? Noch vor zwei Monaten wären mir die Gefühle meiner Eltern scheißegal gewesen. Ich hätte alles dafür getan, von ihnen wegzukommen. Doch der Gedanke, dass sie mich begraben und um mich trauern mussten, bewirkte, dass ich allen Hass, den ich je auf sie gehegt hatte, verwarf, dass ich die Vorsicht in den Wind schlug und nickte. Meine Eltern litten, weil sie mich tot glaubten. Es zerriss mir fast das Herz, wenn ich daran dachte. Wie konnte ich nur so selbstsüchtig sein und glauben, es wäre für alle besser – vor allem für mich – wenn sie mich weiterhin tot glaubten? Ja, ich vergaß sogar Niels für den Moment, als ich schließlich nickte und Lexi hastig aus dem Café schob.

»Okay, dann lass uns keine Zeit verlieren.«

 

 Die Schmerzen in meinem Bein klangen zusehends ab. Als ich aufwarte, war das Fieber fast völlig verschwunden. Melodys Geruch klebte noch an mir. Dieses kleine verrückte Frauenzimmer. Natürlich hatte ich mich danach gesehnt, mit ihr zu schlafen. Welcher Mann tat das nicht? Und dieser rote Teufel forderte jeden Kerl heraus, sie übers Knie zu legen und zu nehmen. Nur genau das hatte ich nicht getan. Aus zwei Gründen.

Zum einen war ich nicht gesund. Mein Bein hätte jede Verrenkung mit höllischen Schmerzen geahndet, bei denen mir die Lust auf Sex vergangen wäre. Und zum anderen weil sie es so wollte. Ja, verdammt. Ich, gefürchtetster Befehlsausführer in LAs Untergrund und Profikiller, ließ mich von einem kleinen Mädchen verführen, ließ mich von ihr nehmen, weil sie es wollte – und brauchte. Dass hier etwas ganz gewaltig schief lief, bemerkte ich erst, als mir ihr Duft ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Vorsichtig wälzte ich mich zur Seite, dort, wo sie sich an mich gekuschelt hatte und lächelte, wollte sie wachküssen und auf mich ziehen, in die Arme nehmen und meine Nase in ihrem roten Haar vergraben. Dümmlich grinsend öffnete ich die Augen und … fühlte förmlich, wie mir das Lächeln aus dem Gesicht direkt auf die kalte Matratze fiel. Dort, wo sie gelegen hatte, zeigte die alte, durchgelegene Matratze eine deutliche Kuhle. Vorsichtig, als ob ich die Spur, die ihr Körper dort hinterlassen hatte, mit einer zu hektischen Bewegung zerstören könnte, streckte ich meine Hand aus, berührte das Laken und schloss sehnsüchtig die Augen. Die Matratze war nicht einmal mehr warm, was bedeutete, dass sie schon etwas länger fort war. Ich lauschte, doch auch im Bad hörte ich sie nicht. Melody war tatsächlich fort.

Natürlich musste sie während der letzten Tage immer mal wieder rausgehen, musste Medikamente und Lebensmittel besorgen, frische Kleidung, denn wir waren hier ja nur mit dem gestrandet, was wir am Leib trugen. Und weder meine noch ihre Kleidung war besonders gesellschaftstauglich gewesen. Doch das war es nicht. Wann immer sie gegangen war, hatte sie mir eine Nachricht hinterlassen, wohin sie wollte, wann ich sie zurückerwarten konnte. Dieses Mal war der Block, den sie für derartige Nachrichten zu nutzen pflegte, leer und eine seltsame Gewissheit ergriff von mir Besitz.

Melody war fort und ich zweifelte ernsthaft daran, dass sie wiederkommen würde. Verdammt noch mal!

 

 

 

 Getrieben von einer inneren Unruhe hatte ich mich von der Matratze gequält, war ins Badezimmer gewankt und unter die Dusche gestiegen. Mein Kreislauf hatte ein paar Mal nachgegeben, aber es war erstaunlich, welch blockierende Wirkung kaltes Wasser auf eine drohende Ohnmacht hatte. Die Wahl der Wassertemperatur war vielleicht nicht besonders kreislauffördernd gewesen, doch zumindest sackte ich nicht bewusstlos in der Duschkabine zusammen und fühlte mich nach einer Stunde erfrischt und … etwas weniger tot.

Mein Bein schmerzte immer noch, aber drei Tabletten Schmerzmittel als Nachmittagssnack halfen, auch dieses Problem zu beseitigen. Und dann wusste ich nicht mehr, was ich machen sollte. Mein Bauchgefühl sagte mir eindeutig, dass Melody nicht zurückkommen würde, aber es sagte mir nicht, wohin sie gegangen war. Vielleicht verrieten mir ihre Worte, was sie vorhatte. Es war definitiv etwas, wo sie mich nicht dabeihaben wollte, etwas, was ihr wichtig war, etwas, was ich ihr ausgeredet hatte … oder nicht genug ausgeredet hatte. Ein Verdacht manifestierte sich in meinem Gedankenkarusell. Sie war zu ihren Eltern gefahren … nein, das konnte nicht sein. Sie hatte sich vehement dagegen ausgesprochen. Nicht im Traum wäre Melody eingefallen, genau dorthin zu gehen. Und was, wenn doch? Oder war sie zu einer Freundin gegangen? Oh verdammt noch mal. Das wäre genau die Art von Vorhaben gewesen, bei dem sie mich unmöglich dabei haben wollte. Ich meine, seien wir mal ehrlich. Mit meinen Tattoos und den kurz geschnittenen blonden Haaren, dem fiesen Blick und den niemals lächelnden Lippen sah ich genau so aus, wie ein brandgefährlicher Bastard, dem man nicht in einer dunklen Gasse begegnen wollte. Dass ich auch anders konnte, wussten nur die wenigsten. Und diese wenigen Menschen hatte ich bis vor Kurzem auf einem anderen Kontinent geglaubt. Melody war jetzt eine von ihnen und sie war hier, was mich verdammt verletzlich machte.

Ich hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als mein Smartphone auf dem Nachttisch die Ankunft einer neuen Nachricht ankündigte. Wenn ich wirklich gründlich gewesen wäre, hätte ich mein Telefon noch vor dem Verlassen der Insel vernichtet, aber ich nutzte eine nicht ortbare Spezialanfertigung, die ein solches Vorgehen unnötig machte. Melody hätte das Handy mitnehmen sollen, was sie nicht getan hatte. Säuerlich knirschte ich mit den Zähnen. Ein weiterer Beweis für ihr kopfloses Handeln.

So schnell mein verletztes Bein es zuließ, humpelte ich zum Nachttisch und griff nach meinem Telefon. Als ich den Absender der Nachricht las, blieb mir fast das Herz stehen, bevor es so heftig lospolterte, dass es mir aus der Brust zu springen drohte. Dorian Menzies, dieser verlogene Scheißkerl. Schnell entsperrte ich das Telefon und tippte auf die Nachricht. Dorian hatte mir ein kurzes Video geschickt. Hastig versuchte ich, einhändig, da ich die andere Hand brauchte, um mich am Bettpfosten festzuhalten, auf den waagerechten Pfeil zu drücken. Doch meine Hand zitterte so sehr, dass ich ihn nicht erwischte. Frustriert brüllte ich auf. Irgendjemand hatte aber schließlich doch ein Einsehen mit mir.

Erschöpft sank ich auf die Matratze, nahm das Telefon in die andere Hand und starrte sekundenlang auf das schwarze Quadrat. Eine innere Stimme sagte mir genau, was ich dort sehen würde. Melody, tot. Warum sonst sollte mir Dorian ein Video schicken? Dieser Scheißkerl liebte es, sich im Elend anderer zu suhlen. Das Einzige, was ihn dabei ankotzte, war die Tatsache, dass er nicht immer zusehen konnte, um sich – wie ich insgeheim vermutete – dabei einen runterzuholen. Ich holte tief Luft. Alles Zögern und Zaudern half nichts. Wenn ich Gewissheit über Melodys Verbleib haben wollte, musste ich das Video wohl oder übel ansehen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752109672
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Dreiecksbeziehung Dark Romance Starke Frauen Modernes Märchen Prinzessin liebesroman

Autor

  • Kitty Harper (Autor:in)

Kitty Harper ist das Pseudonym einer jungen Mutter, die gerne in sinnliche Erotik abtaucht, ohne dabei vulgär zu weden. Manchmal ein wenig SM, manchmal aber auch starke Frauen, die den Herren der Schöpfung zeigen, wo es langgeht. Kitty hofft, dass ihr genauso viel Spaß an ihren Geschichten habt, wie sie selbst.
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Titel: Princess Unchained: Winter's Choice