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Feuererbe

von Celia Jansson (Autor:in)
277 Seiten
Reihe: Lee und Caldwell, Band 1

Zusammenfassung

Jessie führt ein ganz normales Leben, bis er eines Tages erfährt, dass sein verschwundener Vater einer der mächtigsten Feuerelementare Englands ist und er dessen Gabe geerbt hat. Eine Gabe, hinter der nicht nur seine eigene entfremdete Familie, sondern auch ein skrupelloser Mörder her ist. Hilfe findet er in Allan Lee, Magier und Agent für Übernatürliches. Bald ist Allan für ihn mehr, als nur sein Beschützer. Doch ihre gemeinsame Zeit ist begrenzt, denn nicht nur Jessie schwebt in Gefahr. Der ganzen übernatürlichen Welt droht Unheil.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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1  Kapitel

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Hab Spaß, hatte Tammi gesagt. Du musst mal raus, Jess! Und sie hatte recht. Also gab Jessie sich alle Mühe, aber er konnte die Party nicht genießen. Seine Schwester war irgendwo auf der Tanzfläche verschwunden, wo die Menge zu den Kings of Leon explodierte. Jessie sah ihnen zu, ohne die geringste Lust, sich ihnen anzuschließen, und trank sein Bier aus. Wäre er mit Simon hier, er hätte Jessie längst zum Tanzen gebracht. Grinsend hätte er ihn hoch gezerrt. Aber er würde nie mehr mit Simon herkommen. Für einen Moment schloss Jessie die Augen. Es war jetzt vier Wochen her, der Tag an dem Simon ihm erklärt hatte, dass es für ihn nicht weiter ging, dass er nicht mehr genug Gefühle für ihn hatte.

Er sah Tammi, die ihm zuwinkte, aber er schüttelte den Kopf und sie verdrehte die Augen. Doch so schnell gab sie nicht auf. Sie kam zu ihm und beugte sich herunter, damit er sie über die laute Musik verstehen konnte. Ihre kurzen Haare kitzelten seine Wange.

»Komm schon, Jess! Tanz mit mir!«

Es war schwer, ihr etwas abzuschlagen, aber er war einfach nicht in der Stimmung zum Tanzen. Viel eher war ihm danach, sich besinnungslos zu betrinken. Doch das würde auch nicht helfen. Er hätte statt hierher besser zu einem Kampf gehen sollen. Irgendeinen Idioten im Ring verkloppen und seine Aggressionen loswerden. Aber er hatte Tammi versprochen, das sein zu lassen. »Was, wenn die Polizei eine Razzia macht und dich verhaftet? Schon mal daran gedacht?« Die Standpauke, die sie ihm gestern gehalten hatte, schrillte ihm noch in den Ohren. Gut, es war wahrscheinlich keine besonders schlaue Idee gewesen, sich an illegalen Boxwettkämpfen zu beteiligen, wenn man versuchte, nicht aufzufallen, weil man mit einer falschen Identität lebte. Aber es hatte sich so verdammt gut angefühlt, ohne Regeln zu kämpfen. Die blutende Nase und die schmerzenden Rippen zu ignorieren und es dem Muskelprotz, der sich so sicher gewesen war, gegen Jessie zu gewinnen, so richtig zu zeigen. Es war acht Jahre her, seit er einen Fehler gemacht hatte und angeschossen worden war – weil sie ihn gefunden hatten. Danach waren sie von Brighton nach London geflüchtet. Seitdem war nichts mehr passiert. Weil wir vorsichtig sind, würde seine Mutter sagen. Nur dass sie ihm immer noch nicht verraten hatte, wovor und vor wem sie sich eigentlich versteckten.

Jessie sah zu Tammi hoch, die immer noch vor ihm stand, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Sorry, Kleine. Heute nicht.«

Sie zog einen Schmollmund und er zuckte die Schultern. Seine Schwester gab sich wirklich alle Mühe, ihn abzulenken. Aber es half einfach nicht. Er wollte ihr nicht den Abend verderben. Vielleicht sollte er gehen. Doch bei Tammi bestand immer die Gefahr, dass sie es nicht mehr allein nach Hause schaffte. Also musste er warten, bis sie irgendwann beschloss, dass sie genug getanzt hatte. Währenddessen beobachtete er die Leute im Club. Jugendliche, die sich irgendwie hier reingeschlichen hatten, Studenten, und einige die er vom Sehen kannte. Aber alle eher Anfang zwanzig, einige Jahre zu jung für ihn. Tammi hatte gemeint, er bräuchte einfach mal einen guten One-Night-Stand. Vielleicht hatte sie recht, doch hier würde er niemanden dafür finden. Das hier war schließlich eine Rockbar und kein Schwulenclub. Jessie seufzte und dann trank er auch Tammis Bier aus, das sie bei ihm hatte stehen lassen.

Die Musik wurde immer schlechter und bereitete Jessie Kopfschmerzen. Er begab sich zu den Toiletten, die wie immer absolut widerlich waren. Kurz blickte er sich im Spiegel an. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, die Haut fahl, aber das konnte auch an dem kalten grellen Licht liegen – oder daran, dass er in letzter Zeit viel zu wenig geschlafen hatte. Er wischte sich die dunkelblonden Haare aus der Stirn und richtete seine verrutschten Hosenträger. Auf dem Rückweg zu seinem Platz sah er jemanden, der ihn innehalten ließ. Ein Mann mit schwarzen schulterlangen Haaren, groß und gutaussehend mit hohen Wangenknochen und leicht südostasiatischen Zügen. Er trug eine lässige Lederjacke und eine enge Hose, die seine langen Beine betonte. Jessie kannte die meisten Leute im Club vom Sehen. Aber dieser Mann war ihm noch nie begegnet, das hätte er sich gemerkt. Der Mann ließ den Blick über die Menge schweifen, als suchte er jemanden. Jessies Herz setzte für einen Schlag aus, als sich ihre Blicke trafen. Entschlossen kam er auf Jessie zu, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ein Prickeln durchfuhr ihn. Kurz fühlte er sich bedroht, wie eine Beute. Er blinzelte und der Mann war verschwunden. Wie konnte das sein? Eben war er noch da gewesen ... Jessie schob sich durch die Menge zu dem Platz, an dem er gestanden hatte. Keine Lederjacke weit und breit. Das war unmöglich! Der Mann konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Jessie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war plötzlich unheimlich heiß im Club. War die Klimaanlage defekt? Die anderen Leute schienen es nicht zu bemerken und tanzten weiter. Jessie fühlte sich, als würde er neben einem offenen Backofen stehen. Es wurde immer heißer. Er atmete schwer und kurz wurde ihm schwarz vor Augen. Dann flirrte alles, der Boden drehte sich. Er musste raus, an die kühle Nachtluft. Wie im Fieberwahn drängte er sich zur Tür durch, bis er endlich an die frische Luft kam. Aber auch hier war es heiß. Was stimmte nicht mit ihm? Ein Licht blendete ihn. Jessie hob den Blick und ihm stockte der Atem. Über dem Club schwebte ein Ring aus Feuer, mit einem Symbol in der Mitte. Flammen leckten am Dach, aber es brannte nicht. Jessie blinzelte. Träumte er? Er blickte zu den Leuten, die ebenfalls vor dem Eingang standen, rauchten und sich ganz normal, unterhielten. Sie sahen es nicht. Jessie stolperte einen Schritt zurück, unfähig zu fassen, was da vor sich ging.

Der Mann mit der Lederjacke stand auf der anderen Seite des Platzes und fixierte Jessie. Dann blickte er nach oben, zum Feuerring. Er murmelte etwas, das Jessie nicht hören konnte – und kam auf ihn zu. Panik lähmte Jessies Körper, dann brannte das Adrenalin in seinen Adern und er konnte sich wieder rühren. Er drehte sich um und rannte. Er rannte durch die Straßen von Soho, bis seine Lungen schmerzten und er auf dem Kopfsteinpflaster zusammenbrach.

***

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Beinahe hätte Allan sein Handy auf den Boden geschleudert. Seit Wochen nervte ihn sein Chef, dass er zurückkommen sollte, und wenn er ihn einmal brauchte, ging er nicht ran! Der Feuerelementar war so schnell verschwunden, dass er seine Spur verloren hatte. Ein Feuerelementar in London, vermutlich sogar zwei! Das konnte einfach nicht wahr sein. Allan rieb sich die Stirn und zwang sich ruhig zu atmen.

Nur weil er den Elementar gespürt hatte, war er überhaupt in diesen Club gegangen. Er hatte ihn beobachtet, wie er missmutig am Rand gesessen und sich betrunken hatte. Allan hatte schon geglaubt, dass er nichts im Schilde führte, bis der Feuerring aufgetaucht war. Ein mächtiger Gegenzauber, der den Schutz des Clubs aufgehoben hatte. Warum hatte der Elementar so erschrocken zum Feuerrring geblickt? Erst als er den Zauber, der den Schutz auflöste, gespürt hatte, war Allan klar geworden, dass zwei Feuerelementare im Club gewesen sein mussten. Denn der eine, dieser recht attraktive Mann mit Rockabilly-Look, der ausgesehen hatte, als lasteten alle Sorgen der Welt auf ihm, hatte sich nicht von seinem Platz gerührt. Wahrscheinlich hatte er Wache gehalten, aber warum hatte er Allan dann nicht angegriffen? Es machte alles keinen Sinn. So viele Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Was, wenn der andere Colin gewesen war? Wenn die Caldwells in London waren, hervorgekommen aus ihrem Versteck? Was wollten sie plötzlich hier, warum griffen sie einen Club an? Er musste mehr über diesen Mann herausfinden, der weggelaufen war. Hatte er nicht mit einer Frau geredet?

Wieder im Club war alles normal. Er spürte keinen Feuerelementar mehr in der Nähe. Aber er blieb wachsam. Die Menschen hatten keine Ahnung, dass sie angreifbar waren. Sogar die Fae und Wandler, die hier zu einer überraschend großen Zahl zur Rockmusik tanzten, schienen nichts mitbekommen zu haben. War der Club deshalb angegriffen worden, weil er bei übernatürlichen Wesen beliebt war? Das war schließlich auch der Grund, dass der Club überhaupt einen Schutz vor magischen Angriffen erhalten hatte.

Er wandte sich an die Sicherheitsleute am Ausgang. Einer von ihnen war ein Dämon, der andere ein Troll. »Der Schutzzauber wurde zerstört. Lasst keine Übernatürlichen raus, bis wir sie befragt haben!«, wies er sie an.

Sie murmelten Flüche, gehorchten aber. Allan hoffte nur, dass keine Panik ausbrach, bis die Verstärkung eintraf. Wenn einer der Besucher das Ziel des Täters war, oder wenn irgendjemand etwas gesehen hatte, mussten sie das wissen.

Zwei junge Magier sahen ihn an, wenigstens sie schienen das Fehlen des Schutzes zu spüren. Er erkannte sie. Vor drei Monaten hatte er ihnen wegen Besitzes illegaler Magierdrogen eine Verwarnung ausgesprochen. Automatisch griff er in seine Jackentasche, um seinen Dienstausweis zu zücken, doch die Tasche war leer. Schließlich hatte er den Ausweis vor zwei Monaten abgegeben. Und ausgerechnet jetzt brauchte er ihn. Doch die Jungs schienen ihn wiederzuerkennen.

»Was ist hier los?«, fragte der eine Junge, kaum älter als achtzehn.

»Ist euch hier irgendetwas aufgefallen?«

»Ich spüre den Schutz nicht mehr. Was ist passiert?«

»Der Schutz wurde aufgelöst.«

Der Junge sah sich panisch um.

»Keine Sorge. Es ist nichts passiert. Ist euch irgendeine verdächtige Person aufgefallen?«

Sie schüttelten die Köpfe.

»Ich muss eure Personalien aufnehmen, nur falls eure Aussage gespeichert wird.«

Sie gaben ihm ihre Ausweise und er fotografierte sie mit dem Handy ab.

Während er mit den Jungs sprach, sah er sich nach der Frau um, mit der der Elementar geredet hatte. Seine Freundin? Endlich fand er sie, als sie auf die Toiletten zuging.

»Entschuldige bitte«, hielt er sie auf.

»Ja?« Sie sah sich zu ihm um. Jetzt, da er ihr so nahe war, war er sich ganz sicher. Sie war ein Mensch. Er konnte nichts Übernatürliches an ihr wahrnehmen.

»Ich bin Polizist und muss dir Fragen zu dem Mann stellen, mit dem du vorhin geredet hast. Dein Freund?«

Ihre Miene verfinsterte sich.

»Polizist? Und wo ist dein Ausweis?«

»Ich bin ...  außer Dienst, aber ...«

»Dann hast du kein Recht, mich zu befragen!«

Sie stürmte an ihm vorbei, bevor Allan sie aufhalten konnte. Wenn sie nicht reden wollte, würde er ihr eben nach Hause folgen und so herausfinden, wer sie war. Sie lief zurück zum Platz, wo ihr Freund eben noch gesessen hatte und sah sich nach ihm um. Offenbar hatte er sie einfach zurückgelassen. Sie nahm ihre Jacke und lief zum Ausgang. Allan folgte ihr nach draußen. Doch als er in die kühle Frühlingsluft trat, war sie verschwunden. Erst ihr Freund, jetzt sie. Er sah sich um, aber nirgends nahm er ihre Aura wahr. Er schüttelte den Kopf und ging zurück in den Club. Es wäre ohnehin besser, wenn er hier wartete, falls der Angreifer zurückkehrte. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, dass die Fae oder Wandler hier das Ziel gewesen waren, aber es war besser vorsichtig zu sein. Zwei Elementare an einem Ort. Was wenn es ein Kampf zwischen den Clans war? Seit Jahrzehnten lagen die Caldwells und die Greenwoods in einem Konflikt, der zu den letzten beiden Kriegen geführt hatte. Aber seit dem Friedensvertrag hatte sich keiner von ihnen mehr in London gezeigt. Allan schloss die Augen und drängte die Bilder des Krieges zurück. Die brennenden Häuser, die vielen verkohlten Leichen. All die Freunde, die er verloren hatte, Violet ... War es zu viel verlangt gewesen? Ein paar friedliche Jahre mit seiner Tochter? Gerade als er geglaubt hatte, dass er dem Frieden endlich trauen konnte ... Der Gedanke, der Krieg könnte erneut ausbrechen, dass Zoe in Gefahr sein könnte, war einfach unerträglich. Erst jetzt bemerkte er, dass er die Zähne fest zusammen biss und die Fäuste ballte. Er atmete tief durch und konzentrierte sich auf einen Punkt an der Wand. Jetzt war keine Zeit, zu trauern.

Er suchte den Platz, an dem der Feuerelementar gesessen hatte und steckte die Bierflasche ein, aus der er getrunken hatte.

Als er auf sein Handy sah, hatte Tony ihm endlich geantwortet. Allan rief ihn zurück und erzählte ihm alles. Sein ehemaliger Chef hatte bereits Agenten losgeschickt, die fünf Minuten später eintrafen. Es waren die Leute aus Team zwei, mit denen er sonst nicht viel zu tun hatte. Er schilderte ihnen was vorgefallen war, und sie begannen mit der Befragung. Tony selbst wollte ebenfalls gleich dazu kommen. Allan wurde nicht mehr gebraucht. Er hatte schon vor Stunden zu Hause sein wollen und machte sich auf den Heimweg.

Es war still in der Wohnung. Die Tür zu Zoes Zimmer war angelehnt und Allan spähte hinein. Zoe schlief ruhig, ihr Haar lag in einem Kranz um ihren Kopf, ihr Chihuahua am Bettende. Ihr Zimmer sah bereits so aus, als lebte sie schon immer hier und nicht erst seit zwei Monaten. Mit den vielen Postern an den Wänden, überall verstreute Klamotten, dem kleinen Schminktisch mit den vielen Schmuck und Make-up darauf. Ihre Schulsachen auf dem Schreibtisch.

Leise schloss er die Tür und ging in die Küche. Zoe hatte die Reste vom Mittag aufgegessen, allerdings nicht aufgeräumt. Töpfe und Geschirr türmten sich in der Spüle. Ihre Schuluniform lag auf dem Boden im Badezimmer. Etwas quietschte unter seinem Fuß. Das Spielzeug ihres Hundes. Allan seufzte und hob es auf. Er hatte ein wenig unterschätzt, wie viel Arbeit ein Teenager machte.

Wie schnell er sich daran gewöhnt hatte, dass sie hier war, nicht mehr allein zu leben. Er konnte es sich gar nicht mehr anders vorstellen. Nur nach einer Nacht wie dieser fragte er sich, ob es ein Fehler gewesen war, sie bei sich aufzunehmen, anstatt sie bei ihrer Pflegefamilie zu lassen. Ob er sie nicht einer zu großen Gefahr aussetzte. Aber es gab kein Zurück mehr. Sie hatte seine magische Begabung geerbt und sie musste sie beherrschen lernen.

Er würde alles tun, damit ihr nichts geschah. Beim Gedanken daran, dass ihr etwas passieren könnte, zog sich sein Magen zusammen. Vielleicht sollte er mit ihr fortgehen, irgendwohin, wo es sicher war, wo niemand sie finden würde. Den Gedanken hatte er oft gehabt, aber er hatte es doch nie getan. Denn er wusste nur zu gut, dass der Traum von Sicherheit nur eine Illusion war. Weder in China bei seinen Eltern, noch auf irgendeiner karibischen Insel wären sie wirklich sicher. Wenn Colin sie finden wollte, oder Zoes Großmutter, dann würden sie sie auch finden.

***

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Am frühen Morgen stand Allan auf dem Dach des Clubs und half seinem Chef, den Schutzzauber zu erneuern. Er spürte, wie die Kraft aus ihm herausfloss, durch sein Blut, in die Fingerspitzen und in den Zauber, den er zusammen mit Anthony zeichnete. Ein komplexes Symbol aus Kreisen und keltischen Zeichen. Auch wenn er eigentlich beurlaubt war, sah er das als seine Pflicht an. Einen anderen Magier, der dazu fähig war, gab es bei der Agency im Moment nicht.

»Das heißt nicht, dass ich zurückkomme.«

Das hier war nur ein Gefallen für die Agentur. Als Wiedergutmachung dafür, dass ihm der Täter entkommen war. Anthony seufzte und stellte sich neben ihn. Er legte seine kräftige Hand auf Allans Schulter.

»Irgendwann kommst du zurück. Sie ist vierzehn, nicht vier. Und ich weiß, du willst die verlorene Zeit wiedergutmachen. Aber so funktioniert es nicht. Glaub mir, ich hab drei davon großgezogen.«

Allan zog die Augenbrauen hoch. Tony hatte vier Kinder von drei Frauen. Zwar lebten die Kinder bei ihren Müttern, dennoch hatte Tony wohl mehr Ahnung von pubertierenden Mädchen als er. Doch Allan würde seine Meinung nicht ändern. Er hatte zu viel Zeit mit Zoe verpasst.

»Danke für deine Hilfe.« Anthony sah ihn mit ungewohnt warmem Blick an. Als Allan mit zwanzig angefangen hatte, für die Agency zu arbeiten, war Anthony sein Mentor gewesen. Ein wenig wie ein fürsorglicher aber strenger Onkel.

»Wir haben Mel und Krish auf die Suche nach dem Übeltäter geschickt. Die anderen sind mit den Wölfen beschäftigt.«

»Immer noch?«

»Machen ziemlichen Ärger. Und jetzt werden wir mal deinem Feuerelementar von letzter Nacht einen Besuch abstatten. Leihst du mir deinen Kläffer aus?«

»Nur, wenn ich mitkommen darf.«

Tony seufzte. »Also schön, aber nur das eine Mal.«

Allan fühlte sich nach dem Erneuern des Schutzes ziemlich ausgelaugt, er musste dringend etwas essen. Aber für einen Findezauber reichte seine Energie gerade noch aus. Zoes Chihuahua hatte er unten angebunden. Er kläffte jeden an, der vorbei kam. Zoe erzog ihn nicht richtig. Am liebsten hätte er das Biest mit Magie dazu gebracht, zu gehorchen. Leider verstieß das gegen das Gesetz und Zoe würde ihn dafür hassen. Immerhin war der Hund einmal nützlich.

»Los, Lucy, such.« Er hielt ihr die Bierflasche unter die Nase. Der Zauber würde Lucy helfen, dem Geruch zu folgen. Es funktionierte. Das Biest stürmte los.

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2. Kapitel

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Ein Geräusch weckte Jessie auf. Er murrte und wollte sich unter der Decke verkriechen. Doch sie wurde ihm erbarmungslos weggezogen. Tammi stand mit verklebten kleinen Augen und wilder Frisur vor seinem Bett. Sie trug eine Jogginghose und ihr Iron-Maiden-Shirt.

»Also echt Jessie! Ich weiß, du bist depri wegen Simon. Aber einfach abhauen? Ich hab mir Sorgen gemacht!«

Sie sah ihn vorwurfsvoll an.

»Sorry«, murmelte er verlegen. Er wusste, es war mies von ihm gewesen, ihr nicht einmal eine Nachricht zu schreiben, dass er zu Hause war.

»Du hast Glück, dass ich gestern zu müde war, um dir eine zu verpassen. Außerdem hast du wie ein Baby geschlafen und ziemlich scheiße ausgesehen. Ich war heute früh schon mit Rocky draußen. Bitteschön.«

Sein Boxermischling saß am Bettende und sah Jessie vorwurfsvoll an. Jessie kraulte ihn und versuchte eine Erklärung für Tammi zu finden.

»Ich ...«

Er konnte ihr nicht sagen, was los war. Sie würde es nicht glauben. War das alles wirklich passiert? Der Feuerring, den nur er sehen konnte? Wurde er verrückt?

»Jessie ...«

Verdammt, Tammi stand direkt vor ihm und sah ihm in die Augen. Es war sinnlos sie anzulügen, weil sie es sofort merken würde. Aber die Wahrheit konnte er ihr nicht sagen. Er wollte nicht, dass sie ihn so ansah, als glaubte sie, dass er am Durchdrehen war.

»Ich hatte einfach zu viel getrunken.«

Tammi schnaubte. »Mann, da hat mich gestern ein Typ im Club angequatscht und nach dir gefragt. Er behauptet, er wäre Polizist, konnte sich aber nicht ausweisen. So ein ziemlich hübscher großer Typ.«

»Was?« Jessie richtete sich auf und starrte seine Schwester an. Das konnte nicht ... »So ein Typ in einer Lederjacke, mit langen Haaren?«

»Ja ganz genau. Du kennst den? Mann Jessie, der hat mich vielleicht erschreckt. Ich bin weggelaufen. Was war da los?«

»Ich ... keine Ahnung.«

»Ich hoffe sehr, dass das nichts war. Denn wenn es was mit der Sache zu tun hat ...«

Die Sache, war, dass sie ihre Identität geändert hatten, dass sie sich vor irgendetwas versteckten. Aber wenn Tammi den Mann auch gesehen hatte, dann hatte er sich ihn nicht eingebildet. Jessie schwirrte der Kopf.

»Ich muss jetzt los. Treff mich mit Fiona und dann arbeite ich spät. Judas Priest.«

Tammi arbeitete als Sicherheitskraft bei Veranstaltungen, oft bei Konzerten. Manchmal besorgte sie ihm Karten. Man sah es ihr nicht sofort an, aber sie konnte zwei Meter große, kräftige Kerle mit einem Wurf auf den Boden befördern.

»Wie spät ist es?«, fragte er und rieb sich die Stirn.

»Zehn. Musst du nicht heute auch arbeiten?«

Verdammt, das hatte er völlig vergessen. Matt würde sauer sein, wenn er zu spät kam.

Tammi verschwand in ihrem Zimmer und erschien nach fünf Minuten fertig angezogen in ihrer Arbeitskleidung und geschminkt. Währenddessen hatte Jessie sich aus dem Bett gequält und Kaffee gekocht. Er reichte ihr einen To-Go-Becher.

»Bye«, sagte sie, und küsste ihn auf die Wange. Gerade, als sie die Tür öffnen wollte, klopfte es laut dagegen. Ging die verdammte Klingel mal wieder nicht? Und wer klopfte an einem Samstagmorgen an seine Tür? Wieder klopfte es kräftig. Tammi sah durch den Spion.

»Fuck, das kann nicht wahr sein! Der Typ von gestern und der andere sieht echt aus wie ein Bulle. Was hast du angestellt, Jessie?«

»Nichts!«

»Wir könnten durchs Fenster abhauen.«

»Und dann? Ich habe nichts angestellt, wirklich nicht.«

»Vielleicht wegen deinen bescheuerten illegalen Boxkämpfen!«

Das glaubte er nicht. Er hatte dort nie seinen Namen genannt oder eine Adresse angegeben.

»Dann sehen wir mal, was sie wollen.«

Sie wussten beide, wenn sie versuchen würden, ihn zu verhaften, konnten sie sich wehren. Und dann würde er abhauen. Aber das würde heißen, dass er sein komplettes Leben hier aufgeben müsste und das ließ sein Herz schwer werden.

Als Tammi die Tür öffnete, konnte Jessie seinen Augen nicht trauen. Dort stand wirklich der Mann von gestern Nacht!  Diesmal trug er keine Lederjacke, sondern einen schwarzen Mantel über einer ebenfalls schwarzen Jeans. Ein bisschen erinnerte er ihn an Keanu Reeves in Matrix, wenn der lange Haare gehabt hätte. Der hatte auch so ausdruckslos geguckt. Jessies Herz klopfte heftig. Der Mann war real, er hatte ihn sich nicht eingebildet! Aber was zur Hölle wollte er hier?

Der andere Mann trug einen Trenchcoat und sah wirklich nach einem Bullen aus. Er war um die fünfzig, schwarz und kräftig gebaut. Tiefe Falten zwischen den Augen zeugten von einem sorgenvollen Leben. Sein Blick machte deutlich, dass man sich lieber nicht mit ihm anlegte. Nun zückte er auch seinen Dienstausweis und hielt ihn Jessie unter die Nase.

»Jessie Wheeler?«

»Ja ...«

»Wir müssen Sie bitten mit uns aufs Revier zu kommen. Wir möchten Sie zum Vorgang von letzter Nacht befragen.«

»Letzte Nacht?«

»Sie waren doch in der Crobar an diesem Abend, oder?«

Jessie starrte die Polizisten an. Was hatte das zu bedeuten? Sie konnten sich doch nicht auf das Feuer beziehen. Das Feuer hatte er sich eingebildet ...

»Sie verhaften mich?«

»Nein, keineswegs. Wir möchten Sie lediglich befragen. Es wäre einfacher für uns, wenn Sie uns kurz zum Revier begleiten. Es wird nicht allzu lange dauern.«

Tammi sah ihn besorgt an. Dreißig Jahre lang hatte er es geschafft, nicht aufzufallen, niemals verhaftet zu werden und jetzt standen da diese Bullen. Sein Blick glitt zum Fenster hinter ihm. Tammi schüttelte unmerklich den Kopf. Kurz war er versucht, zu antworten, dass er nur etwas sagte, wenn sie ihn vorluden. Aber was hatte er für eine Wahl? Er musste sich eingestehen, dass er auch neugierig war. Der Lederjackentyp war ihm einige Antworten schuldig. Er musste einfach wissen, was letzte Nacht passiert war.

»Worum geht es?«, fragte Tammi. »Brauchst du einen Anwalt?«

»Nein! Im Club gestern, da habe ich, glaube ich, etwas gesehen. Das ist alles. Kannst du dich um Rocky kümmern?«

»Okay. Aber ruf mich an, wenn was ist, ja?« Er verstand das Ungesagte dabei. Sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, wenn es Probleme gab. Und er war ihr dankbar. Die Polizisten ließen ihm gerade noch genug Zeit, sich Schuhe anzuziehen und seinen Rucksack zu schnappen. Auf der Fahrt zum Revier sagten sie nichts. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich das Ziel erreichten. Das nächste Revier wäre um die Ecke gewesen, aber sie fuhren weiter bis nach Whitechapel. Jessie bekam ein mulmiges Gefühl. Am Ende waren das gar keine Polizisten und sie wollten ihn beseitigen ... er schüttelte den Kopf. Diese Angst hatte seine Mutter ihm eingepflanzt. Traue keinem Polizisten.

Das Auto hielt vor einem unscheinbaren alten Backsteingebäude.

»Kommen Sie.«

Jessie folgte ihnen in den dritten Stock und in ein Büro hinter einer gepanzerten Tür, die sich hinter ihm automatisch schloss. So einfach würde er hier nicht wieder rauskommen. Das loftartige Polizeibüro war überraschend modern eingerichtet. Neue Computer standen auf den Schreibtischen, eine Glaswand trennte den Raum vorne ab, der leicht erhoben lag. Wahrscheinlich das Büro des Revierchefs.

»Setzen Sie sich. Ich bin DI Ellis. Das ist Detective Lee. Möchten Sie etwas trinken?«

»Nein, danke.« Er war nicht blöd. So einfach würde er es ihnen nicht machen, von ihm Fingerabdrücke und DNA zu bekommen. Dabei hatte er eigentlich nichts zu verbergen. Aber seit er denken konnte, hatte seine Mutter ihm diese Sachen eingebläut und nachdem dann tatsächlich einmal auf ihn geschossen worden war, hatte er sie auch ernst genommen. Er setzte sich auf den zugewiesenen Stuhl am anderen Ende des Tisches in einem Verhörraum und achtete darauf, nichts anzufassen, behielt seine Hände an seiner Jeans.

»Worum geht es denn jetzt?« Seine Geduld war langsam am Ende.

»Nun, Mr. Wheeler, erst einmal wollen wir die Fakten überprüfen. Ihr Name ist Jessie Wheeler. Sie sind am 21. 4. 1989 geboren. Korrekt?«

»Ja.«

»Sie leben in London, zusammen mit Ihrer Schwester?«

»Ja. Aber jetzt sagen Sie mir endlich, was das alles soll! Du ...« Er sah den Mann an, der offenbar Lee hieß. »Du hast das auch gesehen, oder? Das Feuer?«

»Wir werden Ihnen alles erklären. Aber erst mal müssen Sie uns die Wahrheit sagen.« DI Ellis blickte ihn streng an. »Was haben Sie gestern gemacht? Bitte fangen Sie morgens an.«

»Morgens?« Jessie kratzte sich an der Stirn. »Ich weiß nicht mehr genau. Ich habe gefrühstückt. Dann war ich einkaufen. Dann war ich zu Hause und habe Gitarre gespielt.«

»Wann haben Sie das Haus wieder verlassen?«, fragte Lee, der sich die ganze Zeit Notizen machte.

»Das war wohl gegen elf. Ich bin mit Tammi, meiner Schwester los, um in den Club zu gehen. Wir sind mit der Bahn bis nach Tottenham Court Road gefahren. Dann waren wir eine Weile im Club. Warum wollen Sie das so genau wissen?«

»Mr. Wheeler, wir glauben, dass Sie im Club etwas beobachtet haben. Erzählen Sie uns bitte alles.«

Jessies Herz schlug schneller. Würden Sie ihm wirklich glauben?

»Ich war nicht richtig in Stimmung zum Feiern. Und ich hatte zu viel getrunken. Also bin ich früher nach Hause. Ich glaube, gegen zwei war das. Es wurde irgendwie immer heißer im Club.«

Ellis sah auf und runzelte die Stirn.

»Ich bin raus und dann ...  ich weiß nicht, vielleicht hab ich den Alkohol nicht vertragen und mir das eingebildet, aber  da war dieser Feuerring über dem Club. Und niemand schien ihn zu sehen. Außer dir!« Er zeigte auf Lee und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Lees Mundwinkel zuckten, als würde er ein Lächeln unterdrücken. Machte er sich über ihn lustig?

»Sie haben das Symbol gesehen und sind weggerannt«, fuhr Ellis fort. »Wir würden gerne wissen, warum. Wir glauben, dass entweder Sie selbst hier eine Show abziehen und das selbst waren, oder Sie wissen, wer das getan hat. Es kann ja wohl kein Zufall sein, dass Sie als Feuerelementar am Tatort waren, während dort jemand unseren Schutz niedergebrannt hat.«

»Was?«

»Tun Sie nicht so naiv. Sagen Sie uns einfach, welcher Ihrer Verwandten sich derzeit in London aufhält und uns provoziert. Dann lassen wir Sie vielleicht gehen.«

»Aber ...«

Sie hatten gesagt, sie wollten ihn nur als Zeugen befragen. Und was meinte er mit Verwandte? Die Polizisten zuckten nicht mit der Wimper, als würden sie ihn fragen, warum er ein Auto gestohlen hätte.

»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen.«

»Ihre Entscheidung. Aber es wäre besser für Sie, wenn Sie kooperieren.«

»Werfen Sie mir irgendetwas vor?«

»Wenn Sie keine bessere Ausrede vorbringen, Verstoß gegen das 2003er Abkommen und illegales Auflösen von Schutzzaubern der Agentur.«

Warum begriffen die nicht, dass er absolut keine Ahnung hatte, wovon sie sprachen?

»Wovon zur Hölle reden Sie?«, fragte er, doch der Polizist ignorierte ihn.

»Nur damit Sie sich nachher nicht beschweren, lese ich Ihnen Ihre Rechte vor.« Er fuhr fort, ihm seine Rechte herunter zu rattern, aber Jessie hörte kaum zu.

»Fragen?«

»Ja. Was wollen Sie von mir? Wollen Sie testen, ob ich verrückt bin?«

»Mr. Wheeler, machen Sie es uns doch nicht so schwer ... bisher waren wir sehr freundlich zu Ihnen. Wir können Sie auch mit anderen Mitteln zum Reden bringen.«

Jessie wich ein Stück zurück.

»Schon gut.« Lee legte eine Hand auf Ellis’ Schulter. »Ich glaube, er sagt die Wahrheit. Oder, Mel?« Das letzte rief er laut.

»Ja, bis auf die erste Frage«, antwortete eine Frauenstimme.

Ellis seufzte schwer. »Verdammt. Das kann doch einfach nicht sein.« Er musterte Jessie mit einem unzufriedenen Blick.

»Du kannst gehen.« Lee deutete zur Tür.

»Was? Aber das ... Sie können mir doch nicht erzählen, dass Sie von dem Feuer wissen, dass ich mir das nicht eingebildet habe ...«

»Beruhige dich.«

Ellis kratzte sich den Bart. »Ich glaube, es wäre unter diesen Umständen das Beste, ihn aufzuklären. Ob er nun was weiß oder nicht. Das ganze kann kein Zufall gewesen sein. Und jemand wie er, der nicht weiß was er ist, könnte sich selbst und andere gefährden. Übernimm das, Allan.«

Ellis verließ das Zimmer. Der Mann, der offenbar Allan mit Vornamen hieß musterte Jessie mit undeutbarer Miene. Im Club war er Jessie aufgefallen, weil er äußerst attraktiv war. Die ebenmäßigen Züge, die schmale Nase und die fein geschwungenen Lippen. Die langen Haare, die schlanke aber athletische Figur. Sein Alter konnte er schlecht schätzen, doch er tippte darauf, dass er nicht viel älter war, als er selbst. Jetzt jedoch wusste er nicht, was er von ihm halten sollte. Dann wurde Allans Ausdruck sanfter.

»Das ist blöd gelaufen. Es tut mir wirklich leid. Aber ich denke, Anthony hat Recht. Da du nun schon einmal hineingezogen wurdest, solltest du wissen, was los ist. Es gibt wohl keine schonende Art, das zu sagen. Was du gesehen hast, war real. Ja, es gibt Magie, und es gibt viele Dinge, die die Wissenschaft nicht erklären kann. Wir versuchen so gut es geht, die Bevölkerung davor zu schützen. Normale Menschen können sie nicht sehen, weil sie durch den Glamour verborgen werden. Du hast die Gabe, diese Dinge zu sehen. Ist dir das denn vorher noch nie aufgefallen?«

Jessie schluckte. Wieso kamen ihm diese seltsamen Bilder aus seiner Kindheit? Eine kleine Elfe, die sein Freund gewesen war, sein Vater, der ein Feuer in seiner bloßen Hand hielt, tief in seinem Unterbewusstsein vergrabene Erinnerungen. Und wieso überraschten ihn diese Worte jetzt so wenig? Als hätte er das doch irgendwie schon immer gewusst?

»Und du bist ein Feuerelementar.«

»Ich bin was?«

»Normalerweise hättest du das von deinen Eltern erfahren sollen. Zumindest eines deiner Elternteile muss ein Feuerelementar gewesen sein. Das bedeutet, du verfügst über eine besondere Gabe und ich spüre, dass sie stark in dir ist. Nur wurde sie offenbar noch nicht ausgelöst. Das ist mir wirklich ein Rätsel. Sie hätte in deiner Pubertät ausbrechen müssen.«

»Ich ... ich kenne meinen Vater nicht.« Warum hatte er das gesagt? Er hatte schon zu viel verraten. Vertraue ihnen nicht ... wieso verspürte er dann den Drang, Allan alles zu sagen? Er hatte ihn beschützen wollen, aber vielleicht wollte er nur sein Vertrauen gewinnen.

»Das würde die Sache erklären«, sagte Allan

Jessie verfluchte seinen Vater, wie er es schon so oft getan hatte. Warum war er gestorben, ohne ihm etwas zu erklären? Warum wusste Jessie von all dem nichts? Es konnte einfach nicht wahr sein.

»Du solltest wissen, dass Feuerelementare nicht unbedingt gut angesehen sind in der magischen Welt. Sie haben die letzten beiden Kriege ausgelöst.«

»Kriege?« Jessie schwirrte der Kopf. Er sollte magische Kräfte haben? Wieso wusste er dann nichts davon?

»Heißt das, dass sie böse sind? Jagt ihr sie?«

»Nicht direkt. Einige sitzen wegen Kriegsverbrechen im Gefängnis, andere sind geflohen und werden gesucht. Aber sie sind nicht böse, nicht mehr als normale Menschen. Es kommt darauf an, was sie mit ihren Kräften tun, nicht darauf, was sie sind.«

»Und was genau sind sie, ich meine ich?« Die Frage zu stellen kam ihm aberwitzig vor. Glaubte er wirklich, dass es stimmte? Dass sein Vater ihm irgendeine Art Magie vererbt hatte? Aber es abzustreiten kam ihm sinnlos vor. Zu viel würde sich damit erklären lassen.

»Eine spezielle Art von Magiern, einige sagen die mächtigsten. Elementare können ihre Energie aus der Umgebung ziehen, meist aus einem bestimmten Element, Metallen. Und gleichzeitig die Beschaffenheit beeinflussen. Daher werden sie auch Former genannt. Ich glaube, dass du ein Eisenformer bist.«

»Wie bei Avatar?«

Allan schmunzelte das erste Mal. »Nicht ganz.«

Jessie starrte ihn an und in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

»Du bist mir gefolgt, als du mich im Club gesehen hast.« Und Jessie hatte naiverweise angenommen, er hätte Allan gefallen, dass er deshalb auf ihn zugekommen war.

»Ich habe einen Feuerelementar in der Nähe wahrgenommen, aber es fiel mir schwer, ihn genau zu orten. Deshalb bin ich ihm in den Club gefolgt. Ich weiß nicht, ob ich dich oder den Täter gespürt habe. Wahrscheinlich hat er versucht, seine Spur zu verbergen. Erst als ich in deiner Nähe war, habe ich deine Fähigkeit gespürt, doch es war schwer, sie in der Menge an dir festzumachen. Als du plötzlich rote Haut bekommen hast, bin ich dir nach draußen gefolgt.«

»Rote Haut?« Richtig, ihm war so heiß gewesen. Er hatte das Feuer gespürt, als wäre es direkt neben ihm gewesen. Aber er hatte sich nicht verbrannt, hatte sich noch nie in seinem Leben verbrannt, fiel ihm auf.

»Und dann hat der Schutzzauber gebrannt und du konntest es auch sehen. Aber da du vorher im Club gewesen warst, war mir klar, dass du es nicht gewesen sein konntest.«

»Wie hast du mich gefunden?«

»Ich habe deine Bierflasche mitgenommen und meinen Hund mit einem Findezauber belegt. Ich muss schon sagen, du und deine Schwester verfügt über ein ungewöhnliches Fluchttalent.«

Im Stillen dankte Jessie Detective Miller, er hatte ihm und Tammi damals beigebracht, wie sie Verfolger abschüttelten. Aber das hatte ihm in diesem Fall auch nichts genützt.

»Tut mir leid, ich musste meinen Kollegen davon berichten. Ich musste sichergehen, dass du mit der Sache nichts zu tun hast und ob du irgendwas weißt.«

»Und du erwartest jetzt, dass ich diesen ganzen Scheiß einfach so glaube?«

Allan zuckte die Schultern. Richtig, was blieb Jessie auch anderes übrig? Allan hielt seinem Blick stand, sein Ausdruck wirkte ehrlich . Etwas an ihm brachte Jessie dazu, ihm einfach zu vertrauen, und das, obwohl er sonst nie jemandem vertraute, den er nicht länger kannte.

»Ich denke, du hast eine Menge Fragen, die ich dir jetzt nicht alle beantworten kann. Ich habe hier einen Prospekt, der dir erst mal weiter helfen wird. Du kannst mich anrufen, wenn irgendetwas ist.« Er reichte Jessie einen Prospekt mit dem Titel: »Die übernatürliche Welt für Einsteiger.«

»Lies es bald.« Und dann noch eine Visitenkarte, auf der er seine Handynummer notierte. Allan Lee. Detective Sergeant der Supernatural Agency. Also gab es so etwas wirklich, wie es immer im Fernsehen gezeigt wurde, in diesen ganzen Serien? Jessie konnte es einfach nicht glauben.

»Heißt das, ich kann gehen?«

»Ja. Meide in nächster Zeit lieber den Club. Und ruf mich ruhig an.«

Allan lächelte und Jessie erhob sich. In der Tür drehte er sich um und öffnete den Mund, aber sein Kopf war so voll, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Wie sollte er das alles Tammi erklären? Und dann kam ihm ein Gedanke. Seine Mutter! Sie musste von all dem gewusst haben! Und hatte es vor ihm geheim gehalten! Nie hatte sie eine richtige Erklärung dafür gehabt, was mit seinem Vater war, und warum sie ihre Identität gewechselt hatten. Er würde die Wahrheit aus ihr herausbekommen. Diesmal würde er sich nicht mit den Lügen zufrieden geben, die sie ihm seit fünfundzwanzig Jahren auftischte.

***

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Allan sah Jessie nach, der aus der Agency stürmte. Ein ganz schönes Temperament, der Gute. Aber Allan konnte verstehen, dass er sauer war. Wenn er die Wahrheit gesagt hatte, dann hatte er von der Überwelt, ihrer Welt, tatsächlich keine Ahnung, wusste nicht einmal, was er selbst war. Er hatte oft genug erlebt, wie normale Menschen reagierten, wenn sie plötzlich mit dem Übernatürlichen konfrontiert wurden. Die meisten waren verwirrt und hatten Angst. Jessie Wheeler dagegen schien vor allem wütend.

Aber nachdem was er letzte Nacht gesehen hatte, hätte er sich immer gefragt, ob er sich das eingebildet hatte. Und einmal mit dem Übernatürlichen in Kontakt gekommen, hätte er den Glamour, der ihre Welt vor den Menschen verbarg, immer öfter durchschauen können. Es war besser, wenn sie ihn gleich aufklärten. Es würde ab jetzt nicht einfacher für ihn werden. Er hatte kurz überlegt, Tony nichts von ihm zu erzählen, ihn anhand der Bierflasche, die er im Club an sich genommen hatte, alleine zu finden. Ihm sein normales Leben zu lassen, wenn er nichts wusste. Aber ein Feuerelementar, der nicht wusste, was er war, das konnte nicht ewig gut gehen. Und er wüsste nur zu gerne, was dahinter steckte. Auch wenn Jessie ihm leid tat, er hatte doch keine andere Wahl gehabt, als ihn Tony zu melden.

»Wirklich außergewöhnlich«, murmelte Tony neben ihm. »Wie ein Feuerelementar  es schaffen konnte, unter dem Radar zu leben und nichts von unserer Welt zu wissen, ist mir schleierhaft. Es scheint doch fast so, als hätte ihn jemand verstecken wollen, meinst du nicht? Und ich wüsste gerne, warum.«

»Ich auch. Doch viel mehr interessiert mich der andere, der den Zauber zerstört hat.«

»Ich werde Crystal sagen, dass sie Jessie Wheeler beobachten soll. Vielleicht führt uns das auf eine Spur.«

Allan hätte das lieber selbst getan. Aber er war nicht im Dienst und Crystal war die Beste für den Job. Auch wenn sie sich im Moment nicht gut verstanden, vertraute er ihr in dieser Hinsicht.

»Du weißt, wenn du beim Fall ermitteln willst, dann kannst du das jederzeit. Hier. Nicht in deiner Freizeit«, sagte Tony in scharfem Ton und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Okay«, sagte er, aber ohne es wirklich zu meinen.

Er verließ Tonys Büro und ließ die Tür zufallen. Er musste wissen, was los war. Wer sich in London aufhielt, wer sie provozierte und viel wichtiger, was sie geplant hatten. Und Jessie würde da hineingezogen werden, ob er wollte oder nicht. Leider hatte Anthony recht. Wenn es irgendeinen Hinweis gab, dass es Colin war, dass er sich in London aufhielt, dann musste er es wissen. Er würde niemals aufgeben, niemals vergessen. Irgendwann würde er herausfinden, was mit Zoes Mutter passiert war. Er wusste nur, dass sie kurz vor ihrem Tod zu Colin Kontakt gehabt hatte. Dem Feuerelementar aus Schottland, ihrem Oberhaupt. Der Mann, der den letzten Krieg ausgelöst hatte. Allan hatte keine Angst vor ihm. Er wartete seit Jahren auf eine Gelegenheit, ihm ins Gesicht zu sehen. Ihn dazu zu bringen, endlich zuzugeben, was er mit Violet gemacht hatte. Aber jetzt hatte er Zoe und er konnte sich nicht einfach auf einen Rachefeldzug begeben. Außerdem wusste er schon länger, dass Rache keine Befriedigung brachte. Das war es nicht, was er wollte. Nur die Wahrheit.

Wenn er wieder in den Dienst musste, um die Stadt vor Colin zu schützen, um Zoe zu schützen, dann würde er das tun. Aus keinem anderen Grund.

»Weißt du, was es mit ihr machen würde, wenn sie dich auch noch verliert?«, die Stimme seiner Cousine So-ri hörte er immer wieder. »Sei für sie da, Allan. Immer. Dann kannst du das schaffen.«

So-ri hatte sich um ihn gekümmert, nachdem Violet gestorben war, hatte ihm geholfen, in ein normales Leben zurückzufinden und den Kontakt zu Tony hergestellt. Sie hatte ihn auch ermutigt, Zoe aufzunehmen und ihr ein richtiger Vater zu sein, während seine Eltern nie an ihn geglaubt hatten. Leider war sie vor einem Jahr zu ihrem Mann nach Australien gezogen und seitdem telefonierten sie nur gelegentlich miteinander. Sie hatte ihm gesagt, sie wüsste, dass er Zoe ein guter Vater sein konnte, dass er es schaffen würde. Inzwischen war er Anfang 30 und keine 17 mehr, er war bereit für die Verantwortung, dafür, das Sorgerecht für Zoe zu übernehmen.Nur hatte er dabei nicht damit gerechnet, wöchentlich von der Schule angerufen zu werden. Anscheinend hatte Zoe schon wieder etwas an ihrer Kleidung, was nicht den Regeln entsprach. Er verstand diese bescheuerten Regeln ja auch nicht. Aber sie tat das nur, um zu provozieren und sie wusste genau, dass er dafür keine Zeit hatte. Geduld. Du musst Geduld haben. Sie wird dich testen. Sie muss lernen, dir zu vertrauen, hatte So-ri gesagt. Ja, nur war das alles nicht so einfach, wie es klang. Seufzend stieg er in seinen Wagen, einen schwarzen Mercedes von der Agency und fuhr zur Schule.

Zoe saß im Zimmer der Vertrauenslehrerin zusammengesunken auf ihrem Stuhl.

»Ich hab doch nur die Kette von So-ri umgehabt.«

»Und deine Schuhe angemalt.« Die Lehrerin sprach freundlich aber mahnend.

»Warte draußen, okay?«

Sie schlurfte raus und Allan schloss die Tür. Das war wirklich das letzte, was er heute brauchte.

»Ich kenne Ihre Situation, Mr. Lee. Deshalb war ich bisher nachsichtig mit Zoe. Doch langsam muss sie die Regeln lernen. Wir können nicht immer eine Ausnahme für sie machen.«

»Ich weiß. Machen Sie keine mehr. Sie haben recht, sie muss es lernen.«

»Ich denke, eigentlich macht sie das nur, weil sie Grenzen braucht. Und die müssen wir ihr immer wieder geben. Auch wenn es erst mal nicht leicht ist. Sie ist im Grunde ein liebes Mädchen und wird sich schon daran gewöhnen. Sie hat eine starke Persönlichkeit und möchte sich abgrenzen. Das ist eine verständliche Entwicklung. Aber sie muss auch lernen, sich einzufügen.«

»Ich weiß.« Er mochte nicht, wie die Lehrerin seine Lederjacke musterte. War er ein schlechtes Beispiel? Sollte er vor Zoe nur noch im Anzug auftreten? Dann wäre er nicht er selbst und was wäre er dann für ein Beispiel?

»Vielen Dank«, verabschiedete er sich.

Er gab Zoe ihr anderes Paar schwarzer Schuhe.

»Du weißt, dass die teuer waren. Wenn du deine Schuhe anmalst, kannst du dir in Zukunft deine neuen Schuhe selbst verdienen.«

»Allan!«

Er sah sie streng an und sie senkte den Blick.

»Und jetzt geh wieder in den Unterricht.«

Allan sah ihr nach und seufzte erneut. Warum hatte er sie ausgerechnet jetzt aufnehmen müssen, als sie gerade in ihrer schlimmsten pubertären Phase zu sein schien?

Aber auch das würde er ertragen. Sie war seine Tochter und dass sie so war, war seine Schuld. Also würde er sich nicht beschweren. Er versuchte die Farbe, anscheinend Nagellack, von den Schuhen zu kratzen. Mit Magie hätte er sie einfach wegbekommen. Aber Zoe musste etwas lernen. Wenn sie soweit war, konnte sie das selbst versuchen.

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3. Kapitel

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Einführung in die Welt des Übernatürlichen für Einsteiger

Wenn Sie dieses Dokument lesen wollen, unterschreiben Sie diesen Vertrag mit der Agency.

Ich erkläre, dass ich dieses Dokument niemandem aushändige oder lesen lasse, dem es nicht von der Agency persönlich übergeben wurde.

Jessie runzelte die Stirn. Er öffnete den Flyer, aber das Papier war weiß. War das ein Versehen? Hatten sie ihn verarscht? Ja sicher. Es gab keine Magie, keine Werwölfe und ...  er nahm einen Kugelschreiber und unterschrieb an der vorgesehenen Stelle. Dann, mit zittrigen Fingern, öffnete er den Flyer erneut. Seitenlanger Text erschien. Er drehte und wendete das Dokument, doch es gab keine weißen Seiten mehr.

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Wenn Sie dieses Dokument erhalten haben, hat die Agency es für sinnvoll gehalten, Sie über die Welt des Übernatürlichen aufzuklären. Diese Informationen werden wahrscheinlich Ihr gesamtes Weltbild verändern. Oder hatten Sie vielleicht schon kleine Berührungen mit unerklärlichen Dingen oder Menschen aus dieser Welt? Vielleicht in Ihrer Kindheit?

Jessie hielt inne. Er hatte es verdrängt, es für kindliche Einbildung gehalten, nur dass er sich nie Dinge einbildete und diese Bilder in seinem Kopf viel zu real waren. Sein Vater, den er nicht klar vor sich sah, es war eher ein Gefühl an das er sich erinnerte. Aber dieser eine Tag hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Er konnte nicht älter als fünf gewesen sein, denn kurz darauf war sein Vater verschwunden. Sie hatten draußen gestanden und aus der Hand seines Vaters war eine Flamme gewachsen und dann hatte er ihr Haus in Brand gesteckt. Und sie hatten daneben gestanden und zugesehen, wie es abbrannte. Tammi hatte geweint. Seine Mutter hatte ihn auf dem Arm gehalten und ihn an sich gepresst. Später hatte sie behauptet, ihr Haus sei durch einen Blitzeinschlag abgebrannt. Aber das hatte er nie ganz geglaubt. Er musste mit ihr reden. Es war höchste Zeit, dass sie ihm endlich die Wahrheit sagte.

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Die Welt des Übernatürlichen, die Überwelt, beinhaltet alles, was wissenschaftlich nicht erklärbar scheint. Da es viele Elemente gibt, die die Gesellschaft gefährden können, gibt es die Agency. Sie schützt die Menschen vor diesen Elementen und sorgt dafür, dass das Wissen um diese Welt nicht öffentlich wird. Vielleicht fühlen Sie sich jetzt manipuliert. Doch bedenken Sie einmal was geschehen würde, wenn jeder wüsste, was es in dieser Welt alles gibt. Die jahrhundertelange Erfahrung hat gezeigt, dass dies keine Welt ist, in der wir leben wollen. Einige wenige der übernatürlichen Elemente verfügen über enorme Macht, die sie nicht immer zum Wohle der Allgemeinheit einsetzen. Die Agency kümmert sich um diese Elemente. Sie sorgt für den Schutz öffentlicher und vielbesuchter Gebäude vor Dämonen und anderen Elementen der Nacht. Ebenso schützt sie aber auch alle wohlgesinnten Elemente vor Entdeckung und Missbrauch durch die Menschen und kümmert sich um die Wahrung des Friedens innerhalb der Überwelt.

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Im weiteren einige Fakten:

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Als übernatürliche Elemente bezeichnen wir alle Menschen und Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten. Dazu gehören Magier, Hexen, Medien, Werwesen, Vampire, Feenwesen, Dämonen, Gnome, etc.

Es gibt ca. 3.000 übernatürliche Elemente in London und ca. 20.000 in England.

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Wichtig! Wenn Sie einem übernatürlichen Element (ÜE) begegnen, und Sie vermuten keine Gefahr, interagieren Sie wie mit jedem anderen Menschen auch. Wähnen Sie sich selbst oder andere in Gefahr, versuchen Sie sich aus der Situation zu ziehen und kontaktieren Sie uns umgehend! Versuchen Sie unter keinen Umständen, die Gefahr selbst zu eliminieren. Für ÜE gelten die gleichen Gesetze wie für NE (nicht übernatürliches Element/ normale Menschen). Sie werden jedoch von eigenen Gerichten verhandelt. Ebenfalls, wenn sich ein NE gegenüber einem ÜE strafbar macht. Im Abkommen von 1951 wurde festgelegt, dass alle ÜEs Personenstandsrecht erhalten.

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Was Sie über die einzelnen Spezies wissen sollten:

Magier/Hexen: verfügen über vielfältige Fähigkeiten. Es ist ihnen untersagt, ihre Fähigkeiten zur Vermehrung des eigenen Reichtums, der Manipulation oder der Einmischung in politisches Geschehen zu verwenden.

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Vampire: Seltene Nachtwesen, die in ihren eigenen kleinen Familienclans leben. Es gab seit zehn Jahren keine Toten mehr durch Vampire. Die meisten Vampire ernähren sich von Blutkonserven.

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Werwesen: So vielfältig, wie die Tierwelt. Werwesen, können sich willentlich in eine Tiergestalt wandeln. Meist Hundeartige (auch Bären, Robben etc.), Katzenartige sowie Primaten. Die Wandler leben gewöhnlich in Familien ihrer Arten und fügen sich in die Gesellschaft ein oder meiden diese.

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Feen und Dämonen: Wesen, die aus anderen Dimensionen gelegentlich in unsere Welt kommen. Die Fae, die häufigsten Feenwesen sind oft außergewöhnlich schön. Dämonen sind magisch begabte Nachtwesen. Besonders Halbdämonen leben häufig in unserer Welt. Beide Spezies haben eine Lebenserwartung von oft über zweihundert Jahren.

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Beim nächsten Absatz stutze Jessie und las dann schnell weiter.

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Elementare: Elementare oder auch Former sind eine besondere Art von Magiern. Sie verfügen über besonders starke magische Kräfte, die an ein Element gebunden sind. Gemeinhin wird von ihnen als Wasser-, Luft-, Erd-, Metall- oder Feuerelementaren gesprochen. Seit 1890 gab es vier große Kriege zwischen den Übernatürlichen, die alle durch Streitigkeiten zwischen den Elementarclans ausgelöst wurden. Die Elementare sorgen auch dafür, dass die normalen Menschen die Überwelt nicht wahrnehmen können.

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Warnhinweis: Sollten Sie einem der von der Agency als Kriegsverbrecher gesuchten Elementare begegnen, meiden Sie den Kontakt und informieren Sie umgehend die Agency! Sie erhalten eine Belohnung!

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Jessie keuchte. Sie hatten gesagt, er wäre einer von ihnen. Waren das alles Kriegsverbrecher?Seine Familie, sein Vater, gehörte er zu diesem Clan? Oder hatte seine Mutter versucht, ihn vor ihnen zu verstecken? Er hatte immer angenommen, dass sein Vater mit der Mafia im Bunde gewesen war, dass sie sich vor ihr versteckten. Aber in Wirklichkeit waren es diese Elementare. Es würde so viel erklären. Doch wieso hatte er dann diese angeblichen starken Kräfte nicht? Wieso führte er ein ganz normales Leben? Ein Leben, das wohl jetzt aufhörte, normal zu sein. Dass er mit niemandem darüber reden sollte, konnte er unmöglich einhalten. Er musste das Tammi sagen. Und seiner Mutter! Beinahe hätte er das Dokument zerknüllt, beherrschte sich jedoch rechtzeitig. Sie wusste es. Sie wusste alles, da war er sich sicher. So oft hatte er sie gefragt. Alles woran Tammi sich erinnerte, waren ihre richtigen Namen. Conrad Cadwalader Caldwell. Ein ungewöhnlicher Name, der sich leicht finden ließ. Und außerdem total bescheuert klang. Nicht so Jessie Wheeler. Oder Tamara Wheeler im Gegensatz zu Felicity Fernanda da Silva.

Es war nie etwas aus seiner Mutter herauszubekommen gewesen. Nur, dass sie niemals jemandem diese Namen sagen durften. Und das hatte er nie. Sie hatte ihnen eingetrichtert, dass sie nicht verhaftet werden durften, dass sie nie ihre Fingerabdrücke abgeben durften, dass sie nicht in sozialen Medien auftauchen durften, dass sie ihre Fotos nicht ins Internet stellten. Würden sie sich nicht daran halten, sei ihr Leben in Gefahr, besonders Jessies. Mit neunzehn hatte er genug davon gehabt und versucht, ein Rockstar zu werden. Nur ein einziges Video von einem Auftritt seiner Band war im Internet aufgetaucht und am nächsten Tag war er angeschossen worden. Seitdem hörte er auf seine Mutter. Er wusste, dass sie alles tun würde, um ihn zu beschützen. Auch wenn er inzwischen lange erwachsen war.

Die Angst, von der Polizei doch einmal erwischt zu werden, zu schnell zu fahren, irgendwo reinzugeraten, hatte ihn sein Leben lang begleitet. Nie wäre er betrunken gefahren. Nie hätte er Drogen in einem Club gekauft. Bei der Arbeit hätte er nie versucht eine der wertvollen Gitarren illegal zu verkaufen oder die Versicherung zu betrügen. Auch wenn er als Teenager öfter auf dumme Gedanken gekommen war. Und jetzt brachte das alles nichts mehr. Wenn die Agency ihn gefunden hatte, dann konnte er sich nicht mehr verstecken.

Er stopfte den Flyer in seine Tasche und stieg aus der U-Bahn. Matt hatte ihn schon drei Mal versucht anzurufen, wie er erst jetzt bemerkte. Kein Wunder, es war bereits zehn und er hätte seit einer Stunde auf der Arbeit sein sollen. Er schrieb ihm eine Nachricht, dass er gleich da sein würde und seufzte.

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»Du kommst spät!« Matt lehnte sich über den Tresen. Es war kein Vorwurf in seiner Stimme, nur eine Feststellung.

»Sorry Mann, ich habe im Club eine Prügelei beobachtet und musste eine Aussage bei der Polizei machen.«

Die Wahrheit durfte er ihm laut des Prospekts ja nicht sagen. Er hoffte, dass Matt seine Lüge nicht bemerkte. Jessie war gut darin, zu lügen, aber er hasste es, es bei seinem guten Freund und Chef zu tun.

Matt sah ihn mit gerunzelter Stirn an.

»Was denn? Ich war nur Zeuge! Es wäre ganz schnell vorbei gewesen, hätte ich eingegriffen.« Er grinste. Matt wusste genau, dass er in der Lage war, sich zu wehren. Immerhin machte er seit über zehn Jahren Kampfsport. Einmal hatte jemand versucht ihren Laden zu überfallen. War nicht gut ausgegangen für den Kerl.

Jessie öffnete die Tür mit der Aufschrift Personal, hinter der ihre kleine Küche lag und kochte Kaffee. Als er Matt eine Tasse reichte, wurde dessen Ausdruck milder und er schien ihm zu verzeihen. Matt hatte die Statur eines Grizzlys und den entsprechend langen Bart und lange Haare. Er trug ausnahmslos weite Jeans und schwarze T-Shirts und er spielte E-Gitarre wie kein anderer. Außerdem war er der gutmütigste Mensch, den Jessie je kennen gelernt hatte. Seit drei Jahren arbeitete er in seinem Laden und er konnte sich keinen besseren Chef vorstellen.

»Die Gibson ist heute gekommen.« Matt hob ein Paket ganz vorsichtig auf den Tresen und öffnete es. Jessie konnte es kaum abwarten, sie endlich in Echt zu sehen. Er hatte sie für einen Kunden bestellt, der sie bald abholen würde.

»Holy Shit, Mann.« Sie war so wunderschön, dass er blinzeln musste. Mahagonifarben und glänzend. Die Linie elegant aber nicht übertrieben. Er streckte die Hand danach aus und Matt schlug sie weg. »Nicht anfassen!«

Jessie brummte enttäuscht. Matt holte die Handschuhe unter dem Tresen hervor. »Nicht ohne die.«

»Danke!« Jessie zog sie über und fuhr die Linie nach, berührte die Saiten.

»Ich hab nicht gesagt, dass du sie spielen darfst!«

»Ich muss. Wir müssen doch wissen, ob sie funktioniert, oder?«

Er grinste und legte sich ein Tuch über das Knie, bevor er die Gibson darauf stützte und sie an den Verstärker anschloss. Natürlich war sie nach dem Transport verstimmt, doch sogar die schiefen Töne klangen fantastisch. Er stimmte sie und dann spielte er Scarborough Fair. Der Klang war unglaublich. Rein und warm.

Matt trommelte auf den Tresen und wippte mit dem Kopf. »Fantastisch. Gib sie mir auch mal!«

Jessie spiele noch eine Weile, bis er sich durchringen konnte, sie Matt zu übergeben. Der zog sich die Handschuhe über und spielte nur einige Akkorde.

»Dafür mache ich diesen Job. Wir können uns so etwas wie diese Schönheit niemals leisten, aber wenigstens können wir sie einmal anfassen.«

Er legte sie wieder zurück und polierte sie blank. Dann schloss er den Koffer und legte sie in den Safe.

Morgens erledigten sie meist Papierkram und Bestellungen. Ihre Kunden kamen eher später. Es gab aber ein paar Stammgäste, die nie etwas kauften, aber von ihnen die Erlaubnis hatten, hier zu üben.

Wie beinahe jeden Tag kam Alice, ein fünfzehnjähriges Mädchen, nach der Schule in den Laden.

»Na, hast du dir das Video angesehen, das ich dir geschickt habe?«, fragte Jessie. Letzte Woche hatte sie ihn nach Hilfe bei einem Stück von Metallica gefragt und er hatte ihr einen Link mit hilfreichen Video-Anleitungen gegeben. Obwohl sie keine eigene Gitarre zu Hause hatte, lernte sie verdammt schnell und war inzwischen recht gut dafür, dass sie erst seit einem halben Jahr spielte.

»Ja, hab ich. Das war super!«

Sie lächelte und zog sich die Baskenmütze tiefer in die Stirn. Er wusste nicht, warum sie ihr hübsches Gesicht immer unter diesem langen Pony versteckte. Irgendetwas war heute anders an ihr, aber er wusste nicht was. Ihre Stirn schien vor seinen Augen zu verschwimmen, er konnte sich nicht darauf fokussieren. Jessie blinzelte und rieb sich die Augen. Es war nur da, wenn er auf ihre Stirn blickte. Sie sah zu ihm auf und zog sich die Mütze beinahe über die Augen, wandte sich dann ab und betrachtete die neuen Gitarren. Jessie schüttelte den Kopf. Das musste er sich eingebildet haben. Seit er Alice kannte, sah sie immer gleich aus, hatte immer die gleiche Frisur, einen braunen Bob mit Pony. Sie wartete darauf, dass er ihr die Übungsgitarre anschloss, damit verzog sie sich in die Ecke, setzte die Kopfhörer auf und spielte. Einen Moment später kam Henry, ein weiterer Stammgast, der auch nie etwas kaufte und sich immer nur die neuesten Gitarren ansah. Er erzählte ihnen immer die abenteuerlichsten Geschichten aus seiner Jugend mit einer Punkband, von denen Jessie nie wusste, ob sie stimmten oder erfunden waren.

»Hast du nicht was von ner Gibson von 1960 gesagt? Wo ist sie?«

»Die ist im Safe, Henry und dich lasse ich sie bestimmt nicht anfassen!«

»Ach komm schon, nur mal ansehen!«

Er bettelte zehn Minuten lang und dann wurde Matt doch weich, hielt sie aber in einem Abstand von einem Meter von Henry weg.

»Ist die nicht wunderschön?«, fragte Jessie. Am liebsten hätte er den ganzen Tag darauf gespielt.

Auch Alice unterbrach ihre Übung und sah die Gitarre ehrfurchtsvoll an.

»Ist so eine sehr teuer?«

»Kleine, davon gibt es nur hundertsechs auf der Welt. Ein Sammlerstück. Und daher geht sie auch gleich zurück in den Safe.« Matt packte sie behutsam wieder ein.

Henry seufzte und Alice sah der Gitarre verträumt nach. Es war Jessie ein Rätsel, warum sie immer nur hier übte. Sie hatte es ihm nie verraten. Vielleicht waren ihre Eltern der Meinung, dass Musik machen etwas Unmoralisches war oder sie hatte zu Hause keine Zeit für sich. Er hatte ihr mal eine günstigere Gitarre schenken wollen, doch sie hatte abgelehnt. Sie liebte die einfache rote E-Gitarre, auf der sie übte heiß und innig, aber offenbar konnte sie sie sich nicht leisten. Während sie auf echte Kunden warteten, unterhielt Henry sie mit einer Geschichte über seine Band und ihrer Tour durch Indien, aber Jessie hörte kaum zu. Er dachte an nichts anderes als an den Besuch bei dieser Pseudo-Polizei und den Prospekt für eine angebliche übernatürliche Welt. Immer wieder versuchte er, seine Mutter anzurufen, dann fiel ihm ein, dass sie über das Wochenende zu einer Freundin gefahren war und offenbar ignorierte sie ihr Handy. Er war sich sicher, dass sie ihm seine Fragen beantworten konnte und wenn sie wieder versuchen würde, ihm etwas von der irischen Mafia zu erzählen, konnte sie was erleben. Wahrscheinlich lag sie gerade völlig betrunken am Strand und schwelgte in alten Zeiten. Typisch Debra. Wenn er sie einmal brauchte, war sie nicht zu erreichen.

***

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Allan hatte kaum geschlafen. Immer wieder hatte er daran denken müssen, dass sich ein Feuerelementarin der Stadt aufhielt. Einer, der mächtig genug war, ihre Schutzzauber zu zerstören. Dennoch war er mit Zoe aufgestanden, um sicher zu gehen, dass sie sich an die Regeln der Schuluniform hielt und pünktlich losging.

Er war kaum dazu gekommen, eine Portion Ramen  zu essen, als sein Handy klingelte. Es war Tony. Hatte er etwa eine Spur, was den Täter von vorletzter Nacht anging?

»Es gibt Neuigkeiten«, sagte Tony.

»Was ist passiert?«

»Offenbar war die Crobar nicht der einzige Club, bei dem der Schutz aufgelöst wurde. Davor war es ein Club in Chelsea, der ebenfalls viel von Übernatürlichen frequentiert wird. Es gab einen Mord. Die Leiche liegt in einer Seitengasse, daher wurde sie erst jetzt gefunden. Ein junger Mann, wir wissen noch nicht, was er ist.«

»Verdammt!« Es lief Allan eiskalt über den Rücken.

»Ihr braucht meine Hilfe?«

»Du könntest helfen, uns zu sagen, was er ist. Fiona von Team zwei meint, das sie seine Aura noch spüren kann, aber sie wird schwächer.«

»In Ordnung. Ich komme.«

Tony schickte ihm die Adresse und Allan machte sich auf den Weg.

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Als er die Leiche sah, verstand er, warum Tony so angespannt geklungen hatte. Aus Augen, Nase und Mund des Opfers war eine rötliche metallische Flüssigkeit ausgetreten. Sie hatte sein Gesicht verätzt, die Haut aufplatzen lassen, ihn von innen heraus verbrannt. Seine Kleidung war halb verkohlt, die Haut darunter mit Brandblasen übersät. Der Täter war eindeutig ein Feuerelementar. Sie beherrschten bestimmte Metalle und konnten ihre Temperatur beeinflussen. So auch die Metalle, die im menschlichen Körper vorkamen. Daher waren Eisenformer die gefährlichsten unter ihnen. Denn dieses Metall kam im menschlichen Körper in ausreichenden Mengen vor, um sie umzubringen, wenn es im Körper zum Glühen gebracht wurde. Zusätzlich benutzten die meisten das Metall wie Gewehrkugeln oder ließen es in flüssiger Form ihren Opfern in den Mund laufen und sie von innen verbrennen. Es war vierzehn Jahre her, seit er das letzte Mal eine so zugerichtete Leiche gesehen hatte. Tony legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ich weiß, es weckt Erinnerungen.«

»Schon gut.« Allan kniete sich neben die Leiche, es war ein Mann, Mitte zwanzig, leicht übergewichtig. Er trug ein Hemd und eine dunkle Hose, als wäre er gestern Abend direkt von der Arbeit in den Club gekommen. Allan hielt die Hand über sein Herz und schloss die Augen. Er konnte die Aura spüren, aber sie war sehr schwach. Auf jeden Fall war dies kein normaler Mensch.

»Magier, Elementar oder Wandler, ich bin mir nicht sicher. Habt ihr noch keine Identität festgestellt?«

»Er hatte keinen Ausweis bei sich, wahrscheinlich hat der Täter ihn mitgenommen«, erklärte Krish, ihr Forensiker, der dabei war, die Leiche zu untersuchen. »Ich schicke gleich eine DNA-Probe los.«

Allan kannte die Prozedur. Wenn dabei nichts herauskam, mussten sie warten, bis eine Vermisstenanzeige aufgegeben wurde und bei einem Erwachsenen, der allein lebte, konnte das eine Weile dauern.

»Ihr solltet morgen im Club fragen, ob ihn jemand kennt.«

»Was du nicht sagst.« Tony zog die Augenbrauen hoch. »Hör zu, Allan. Ich bin dir dankbar für deine Hilfe, aber wenn du weiter an dem Fall arbeiten willst, musst du zurückkommen.Überleg es dir.« Tony klopfte ihm noch einmal auf die Schulter. Damit war er hier entlassen. Er biss sich auf die Unterlippe und seufzte. Es half ja doch nichts. Er musste wissen, was es mit dem Elementar auf sich hatte, ob Colin in der Stadt war, und was hinter diesem Mord steckte. Und dieser Jessie Wheeler hing da auch irgendwie mit drin.

»Warte!«, rief Allan ihm hinterher. »Also gut, aber nur für diesen Fall!«

Allan holte zu Tony auf. Der griff in seine Jackentasche und hielt Allan seinen Dienstausweis hin. Allan nahm ihn und er musste zugeben, dass es sich gut anfühlte, ihn in den Händen zu halten. Hatte Tony ihn etwa die ganze Zeit dabei gehabt, seit Allan ihm den Ausweis vor zwei Monaten in die Hand gedrückt hatte? Als hätte er gewusst, dass Allan nicht lange aufhören würde. Typisch Tony. Allan seufzte und folgte Tony zurück zur Agency.

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Solange Krish mit der Autopsie der Leiche beschäftigt war und sie noch keine Identifizierung vom Labor erhalten hatten, gab es wenig, was sie in Bezug auf diesen Mord unternehmen konnten. Die anderen befragten bereits die Clubbesucher. Also forderte Allan die Daten von Crystals Beobachtung von Jessie Wheeler an. Wie immer war sie äußerst akribisch in ihren Notizen. Gestern hatte Jessie sich den Rest des Tages erstaunlich normal verhalten. Nur etwas ließ ihn stutzen. Sie hatte notiert: »Dämon hielt sich drei Stunden im Laden auf.« Ein Dämon? Der Jessie kannte? Hatte er doch nicht die Wahrheit gesagt? Kannte er etwa doch Übernatürliche? Aber sonst war da nichts. Jessie war arbeiten gegangen und anschließend ins Fitnessstudio. Das bestätigte seine Aussage. Mel hatte gesagt, dass Jessie nicht gelogen hatte, außer bei der ersten Frage. Also hatte er entweder seinen Namen oder sein Alter gefälscht. Allan tippte auf den Namen. Er lebte also unter einer falschen Identität. Mel hatte das bereits untersucht, aber nichts Auffälliges gefunden. Sein Chef, Matt Howler, war ebenfalls unauffällig. Ein paar kleinere Delikte in der Jugend. Besitz von Gras und Ähnliches. Jessie dagegen hatte nichts außer einem einzigen Ticket wegen zu schnellem Fahren. Keinerlei Präsenz im Internet, auf der Website des Ladens gab es kein Foto von ihm. Seine Privatadresse stand nicht im Telefonbuch. Keine Handynummer war auf seinen Namen registriert.

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Allan gab Tony die Papiere zurück. »Ich würde ihn gerne selbst beobachten. Ist Crystal noch bei ihm?«

»Ist sie. Meinst du, dass er  ein Ziel vom Täter sein könnte?«

»Ich weiß es nicht. Aber es wäre möglich. Die Macht, die ich in ihm gespürt habe, war stark, doch seltsam dumpf.«

»Dann finde heraus, was es damit auf sich hat.«

»Irgendeine Idee, was das mit dem Dämon sein könnte?«

Als Halbdämon hatte Tony die besten Kontakte in diese Richtung. Aber er zuckte nur die Schultern. »Entweder Jessie hat es geschafft, Mels Lügendetektor auszutricksen, oder er weiß nichts davon. Vielleicht hat der Dämon auch einfach nur eine Gitarre gekauft. Du solltest einfach mal mit ihm sprechen, vielleicht sagt er dir die Wahrheit.«

Sie wussten beide, dass das nicht Crystals Stärke war. Als Gestaltwandlerin hielt sie sich lieber im Hintergrund, was sie zu einer exzellenten Beobachterin machte. Doch dafür war es nicht ihre Stärke, mit Menschen umzugehen. Allan war zwei Jahre ihr Partner gewesen, aber seit er aufgehört hatte zu arbeiten, hatte sie sich nie bei ihm gemeldet.

Bevor er Jessie beobachtete, wollte er sehen, ob er nicht doch noch mehr über ihn herausfinden konnte.

Melody blieb abrupt stehen, als er in ihr Gemeinschaftsbüro trat und starrte ihn an.

»Hi, Mel«, begrüßte er sie und sie strahlte.

»Allan! Ich habe gar nicht mit dir gerechnet. Tony hat gesagt, dass du zurückkommst, aber ich habe es nicht geglaubt.«

Er zuckte die Schultern. »Habe wohl keine andere Wahl.«

Sie lächelte und dann umarmte sie ihn so fest, dass er kaum Luft bekam. »Ich weiß, es ist nicht das, was du wolltest, aber ohne dich ist es nicht dasselbe.«

»Schon gut.«

»Komm erst mal an.«

Allan klopfte ihr auf die Schulter. Er musste sich eingestehen, dass er es vermisst hatte. Zu arbeiten, das Team, etwas zu tun zu haben. In den fünf Jahren, die er hier arbeite, waren seine Kollegen seine Freunde geworden. Mel, die immer fröhlich war, egal wie ausweglos die Situation schien. Ihre IT-Superkraft schaffte es immer, alle zusammen zu halten und einen zum Lächeln zu bringen. Niemand der sie mit ihren bunten Outfits und diesem unschuldigen Lachen sah, hätte je vermutet, dass sie die Gefährlichste von ihnen allen war. Keiner wusste, in was genau sie sie sich wandeln konnte und sie wollte nicht darauf angesprochen werden. Der Platz neben Mel war leer, weil sich ihr Medium immer noch im Winterschlaf befand. Mercy würde erst im März aufwachen.

Allan machte sich auf den Weg in die Lagerhalle, um seine Sachen zu holen, die er an seinem letzten Tag hier vor drei Monaten in einen Karton gepackt hatte.

Auf dem Weg sah er bei Krish vorbei, ihrem Experten für Spurensicherung, Medizin und viele andere Bereiche. Krish, eigentlich Krishante Singh, war hochintelligent. Mit zwanzig hatte er bereits einen Doktortitel erlangt. Übernatürliche Fähigkeiten hatte er trotz Magiern und Wandlern unter seinen Vorfahren dagegen nicht. Wahrscheinlich war ihm gar nicht aufgefallen, dass Allan weg gewesen war. Irgendwie war es beruhigend, dass hier alles immer noch genauso war wie früher.

»Hi Allan«, sagte Krish nur, als Allan den Kopf in sein Labor steckte, in dem er diverse Beweismaterialien lagerte und Experimente durchführte.

»Hey Krish. Hast du schon irgendetwas an der Leiche gefunden?«

Krish brummte. »Außer die Bestätigung, dass das was aus ihm herausgelaufen ist, Eisen war, und dass es keinen Kampf mit dem Täter gegeben hat? Ich prüfe, ob der Täter DNA hinterlassen hat, aber ich würde wetten, dass da nichts ist«

Das war zu erwarten gewesen. Immerhin würden diese Informationen ihnen helfen, den Täter zu finden.

»Schick mir den Bericht, wenn du etwas hast.«

Krish nickte. Dann sah er doch hoch. »Wie geht es Zoe?«

»Treibt ihre Lehrer zur Weißglut, aber sonst gut.«

Krish zeigte seine Zuneigung zu Menschen selten offen, aber Allan wusste, dass er Zoe mochte. Er hatte ihr immer bei den Mathehausaufgaben geholfen.

Allan ging wieder hoch, räumte seine Sachen zurück und richtete seinen Schreibtisch ein. Dann ging er zu Mel herüber.

»Jessie Wheeler. Was hast du für mich, Mel? Es muss einfach irgendetwas geben.«

Mel tippte rasend schnell auf ihrer Tastatur und auf ihrem Bildschirm ploppten Dokumente auf.

»Er ist so unauffällig, dass es schon auffällig ist. Scheint, als wollte er nicht, dass man etwas über ihn erfährt. Eigentlich unmöglich ...« Sie stockte. »Es sei denn, da ist ein Zauber im Spiel.«

»Du meinst ein Zauber, der ihn vor Kameras schützt? Aber er selbst kann ihn nicht gewirkt haben.«

»Seine Eltern? Könnte möglich sein.«

»Hat er sich eine falsche Identität zugelegt? Du hast gesagt, er hat bei seinem Namen gelogen.«

»Ich bin dran. Warte mal ...«

Sie öffnete die Dokumente. Sein Führerschein. Das einzige Foto von ihm. Er sah darauf wesentlich jünger aus und hatte schwarz gefärbte Haare. Die Gesichtserkennungs-Software hatte keinerlei Ergebnisse gebracht. So was gab es eigentlich nicht. Von jedem waren irgendwelche Fotos zu finden, oft merkte man nicht mal, wenn man fotografiert wurde. Dann postete das irgendein Tourist auf Facebook, während man im Hintergrund seine Chips aß und schon war man da. Nicht so Jessie. Wenige Treffer die ihn zu einer sechzigprozentigen Wahrscheinlichkeit zeigten. Fotos, auf denen ein Mann in seiner Größe zu sehen war, Haare im Gesicht, oder einen Hut in der Stirn. Keins davon verriet irgendetwas.

»Soll ich mit seinem Umfeld weiter machen?«

»Ja, aber sei vorsichtig. Wir gehen bisher davon aus, dass er selbst in Gefahr ist. Prüf die Schwester und die Mutter. Vielleicht haben sie irgendwann einen Fehler begangen. Und was ist eigentlich mit seinem Vater?«

»Der Mann auf der Geburtsurkunde starb einen Monat nach Jessies Geburt. Ein Jordan Wheeler. Die Eltern waren allerdings nicht verheiratet.«

»War er auch der Vater der Schwester?« Allan blickte Mel über die Schulter. Ihre langen Ohrringe klimperten und ihre aufgetürmtes schwarzes Haar mit den pinken Strähnen roch nach einer Tonne Haarspray.

»Guter Gedanke. Warte ... nein. Das war ein anderer. Sie ist zwei Jahre älter als er und ihr Vater ...  ist ebenfalls verstorben.«

»Entweder seine Mutter ist eine schwarze Witwe, oder das ist auch alles gefälscht. Versuch den richtigen Vater der Schwester zu finden, vielleicht finden wir so eine frühere Adresse.«

Wenn es da etwas gab, würde Mel es finden. Es hatte eine Weile gedauert, bis die Agentur sich der modernen Technik geöffnet und erkannt hatte, dass ein Hacker manchmal schneller war als ein Medium. Besonders, wenn das Medium sich im Winterschlaf befand. Allan sah auf den Kalender. In zwei Wochen sollte Mercy langsam aus ihrem Loch gekrochen kommen. Bis dahin musste er auf Mel vertrauen.

»Oh, das hier könnte was sein!«, rief sie und öffnete ein Video. »Ist schwer zu erkennen, ob er das ist.«

Rockmusik erklang, aufgenommen offenbar in einem engen Club von einem Fan. Die Band spielte einen schnellen recht guten Song, und der junge Mann an der Gitarre mit den schulterlangen Haaren, das könnte Jessie sein, mit zwanzig. Er spielte verdammt gut und das Publikum johlte. Seine Hände flogen nur so über die Saiten und er schien vollkommen in der Musik zu versinken. Erst als sein Solo vorbei war, hob er den Kopf und die Haare fielen zur Seite. Ja, das könnte er wirklich sein.

»Sechzig Prozent Wahrscheinlichkeit, dass er es ist, sagt meine Software. Hm, er arbeitet im Gitarrenladen. Wollte wohl mal Rockstar werden. Bisschen schlecht, wenn man versucht unauffällig zu sein.«

Da hatte sie allerdings recht. Bis auf Jessies Jugendträume verriet das Video jedoch nichts.

»Du könntest versuchen, die Bandkollegen zu finden. Aber ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was das bringen sollte. Er hatte damals schon den falschen Namen.«

»Interessant ist, dass die Familie zwei Monate, nachdem das Video veröffentlicht wurde von Cardiff nach London gezogen ist.«

Ein einziger Ausrutscher im Unsichtbarsein und schon hatte die Mutter sie zum Umziehen gezwungen? Oder hatte Jessie versucht seine Musikerkarriere in London zu verfolgen und war gescheitert? Er glaubte nicht, dass Jessie es ihm einfach so verraten würde. Also machte er sich auf den Weg, um Jessie persönlich zu observieren.

Er traf Crystal vor dem Laden, in dem Jessie arbeitete. Sie stand direkt vor der Tür an der Backsteinwand und war für jeden anderen unsichtbar. Aber Allan hatte gelernt, die kleinen Unebenheiten in der Umgebung wahrzunehmen und fand Crystal fast immer.

»Crystal?«

Einen Moment lang rührte sie sich nicht, und Allan glaubte schon, er würde mit der Wand reden. Doch dann ließ sie ihre Gestalt deutlicher werden. Eine zierliche kleine Frau mit platinblondem Bob erschien. Sie trug wie immer ihren praktischen schwarzen Kampfanzug und verzog keine Miene, als sie ihn ansah. Dass er sich eine Auszeit vom Job genommen hatte, hatte sie ihm übel genommen. Es war wohl wirklich zu viel erwartet, ein freundliches Wort von ihr zu hören.

»Ich löse dich ab. Also, irgendetwas Neues?«

»Er ist um neun zu Hause losgefahren, mit dem Fahrrad. Dann hat er sich einen Kaffee geholt und ist in den Laden gegangen. Bisher keine ÜE-Sichtung«, ratterte sie herunter.

»Gut. Schön, dich wiederzusehen, Crystal.«

Sie brummte nur und verschwand. Allan machte sich für andere unsichtbar. Wenn er Jessie beobachtete, wollte er nicht, dass dieser ihn bemerkte. Etwas sagte ihm, dass Jessie es spüren würde, wenn ihn jemand verfolgte.

Allan stellte sich eine Weile in den Laden, immer noch unsichtbar. Jessie stand hinter dem Tresen und gab etwas in den Computer ein. Er trug eine enge Jeans, und Hosenträger über seinem weißen T-Shirt. Das schien sein Style zu sein. Allan musste zugeben, dass er ihm gut stand. Einige Kunden kamen herein, die Jessie höflich behandelte. Einer fragte ihn eine halbe Stunde über eine Gitarre aus, kaufte sie dann aber doch nicht.

»Wetten, der bestellt die gleich im Internet? Idiot!«, murmelte Jessie und seine Miene verfinsterte sich. Dann schien er seinen Ärger jedoch wieder vergessen zu haben. Er spielte mit seinem Boxer, der unter dem Tresen lag und nun an einem Seil zerrte, das Jessie festhielt. Der lachte dabei so ausgelassen, als wäre das die lustigste Sache der Welt. Allan musste schmunzeln. In der Mittagspause folgte er Jessie zu einem Imbiss, wo er sich Fish and Chips bestellte und mit dem Verkäufer quatschte.

»Wie geht’s, Harry?«, fragte er.

»Gut. Hast du schon gehört, da drüben kommt jetzt ein Hundesalon hin. Kannst du den Rocky frisieren lassen.« Er lachte laut.

»Eher lass ich mir eine Glatze rasieren.« Jessie tätschelte Rocky, der vom Verkäufer ein Stück Bratwurst bekommen hatte.

Danach ging Jessie noch gegenüber ins Café. Er redete eine Weile mit der Kellnerin, die lachte und schüttelte den Kopf. Jessie holte sich einen Cappuccino und einen Donut mit rosa Zuckerguss. Er biss hinein und lächelte kauend. Wie alt war er nochmal? Amüsiert schüttelte Allan den Kopf. So wie er ihn bisher erlebt hatte, hatte er ihn nicht für einen so fröhlichen Menschen gehalten, der sich an so kleinen Dingen freuen konnte, wie ein kleines Kind. Ein Mann, der aussah wie ein Supermodel, das gerade von einem Fotoshooting kam, ging an Jessie vorbei und der schaute ihm nach und starrte ihm auf den Hintern. Als er ihn das erste Mal im Club gesehen hatte, hatte Allan ihn für schwul gehalten und als er erfahren hatte, dass die Frau bei ihm seine Schwester und nicht seine Freundin war, umso mehr. Aber nach seiner Flirterei mit der Verkäuferin eben hatte er schon gedacht, dass Jessie doch hetero sein könnte. Wieso war er erleichtert? Ob schwul oder bi wie er selbst, das sollte ihn überhaupt nicht interessieren.

Jemand hastete an Jessie vorbei, der immer noch vom Supermodel abgelenkt war und rempelte ihn an. Jessie drehte sich um. »Ey, pass doch auf! Idiot!«, rief er dem Mann nach. Allan runzelte die Stirn. Wenn Jessie versuchte, nicht aufzufallen, damit seine falsche Identität nicht aufflog, war das kein empfehlenswertes Verhalten. Jessie schüttelte den Kopf, dann verfinsterte sich seine Miene, als wäre ihm ein unangenehmer Gedanke gekommen. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und rief jemanden an. Jedoch schien niemand abzuheben. »Mom! Geh endlich ran! Ich muss mit dir reden!«, rief er ins Handy. Dann steckte er es seufzend wieder ein. Wollte er mit ihr über das sprechen, was er erfahren hatte?  Sie schien ihm ja eine Menge verheimlicht zu haben.

Am Nachmittag sagte Jessie jedoch nicht viel zu seinem Chef und schien irgendetwas bei der Arbeit falsch gemacht zu haben, weshalb sein Chef mit ihm schimpfte.

»Das war ein Mal, Matt! Nur ein einziges Mal habe ich das gemacht. Kein Grund, mir das ewig vorzuhalten«, rief Jessie aufgebracht. Allan hätte mit Tony niemals in so einem Ton geredet.

Matt grummelte etwas Unverständliches und die Sache schien sich erledigt zu haben. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Jessie nach dem, was er gesehen hatte, gar nicht mehr in der Lage wäre zu arbeiten. Aber er schien es relativ gut zu verkraften. Das beruhigte Allan. Er hatte befürchtet, Jessie würde nicht wissen, wie er damit umgehen sollte, plötzlich mit dem Übernatürlichen konfrontiert zu sein. So ging es vielen Menschen.

***

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Den ganzen Tag hatte Jessie nur einen Gedanken. Die Wut auf seine Mutter wuchs mit jeder Stunde. Er konnte es nicht abwarten, endlich Feierabend zu haben. Sobald Matt ihm sagte, dass er gehen konnte, lief er zu seinem Rennrad. Kurz meinte er, eine Bewegung hinter sich wahrzunehmen, aber als er sich umsah, war da nichts. Er wurde noch paranoid. Er setzte Rocky vorne in seinen Korb und fuhr so schnell es ging durch den Feierabendverkehr.

Seine Mutter öffnete ihm in einem lilafarbenen seidenen Morgenmantel, einer Zigarette in der einen und ein Glas mit Wein in der anderen.

»Hey Darling, was machst du denn hier?«

»Bist du halbwegs nüchtern? Wir müssen reden!«

Er betrat ihre Wohnung, und der wohlvertraute Geruch aus Zigarettenqualm und ihrem fruchtigen Parfum schlug ihm entgegen. Sie liebte Plüsch und Gold und so sah ihre ganze Wohnung aus. Ein pinker Flokatiteppich im gesamten Wohnzimmer, ein weiches Sofa mit Blumenmuster, goldene Bilderrahmen mit kitschigen Kunstdrucken darin. Und Fotos von ihr selbst aus ihrer Theaterzeit. Sie benahm sich immer noch so, als wäre sie eine Schauspielerin am Theater, obwohl sie seit ihrer Flucht nicht mehr auftreten konnte.

»Was gibt es denn nun?«, fragte sie und setzte sich.

Nachdem Jessie ihr alles erzählt hatte, sah seine Mutter ihn ausgenüchtert und ernst an. Sie zündete sich eine Zigarette an und leerte ihr Glas zum zweiten Mal. Und sie schwieg.

»Verdammt Mom, sag mir endlich die Wahrheit! Du wusstest das alles, oder?«

»Jessie ...  wenn ich es dir sage, dann kannst du nicht mehr zurück. Ich hab alles getan, alles, damit du sicher bist. Damit du und Tammi ein normales Leben haben könnt.«

»Normales Leben? Nennst du das ein normales Leben?« Jessie stand auf und ging im Raum auf und ab. So oft hatte er diese Diskussion mit seiner Mutter geführt, hatte sie immer wieder gebeten, ihm die Wahrheit zu sagen, aber sie war stur geblieben. Neben ihrem Alkoholproblem ein weiterer Grund dafür, dass sie sich nicht besonders nahestanden.

»Ich habe dich beschützt. Das weißt du genau!«

»Doch sie haben mich trotzdem gefunden. Diese Agency! Also sag mir die Wahrheit, Mom! Diese übernatürliche Welt, du weißt davon! Du wusstest es die ganze Zeit!«

»Verdammte Agency! Okay. Hör zu. Es stimmt. Dein Vater ist ein Feuerelementar. Natürlich wusste ich nichts davon, als ich ihn kennen gelernt habe. Ich hatte mit dem ganzen Mist nichts zu tun, bis mir dieser Mann im Theater nachgestellt hat. Weißt du, da wo wir damals die Show hatten. Er wirkte charmant, brachte mir Blumen und ich hätte auf mein Gefühl hören sollen. Dann wäre das alles nicht passiert, aber dann gäbe es auch dich nicht.« Sie hielt inne und Jessie platzte fast vor Anspannung. Würde sie ihm jetzt endlich alles sagen? So lange hatte er auf diesen Moment gewartet. Seine Mutter schenkte sich ein neues Glas Wein ein und leerte es, als wäre es Wasser.

»Ich ging mit ihm aus, dachte, ich könnte das eine oder andere Geschenk abstauben, was ich versetzen könnte. Und als er mich nach Hause brachte, da hat er mich plötzlich an sich gezogen und mich gebissen. Es war grässlich. Es schüttelt mich immer noch, wenn ich daran denke. Als würde alles Leben aus mir gesogen, alle Hoffnung ...  dann war es vorbei. Der Mann lag auf dem Boden und ich hörte jemanden sagen: »Sind Sie okay?« Das war dein Vater, Jessie. Er hat mich gerettet. Brachte mich zu sich nach Hause und hat mir irgendwie wieder Leben eingehaucht. Ich habe wohl eine ganze Weile geschlafen. Und als ich zu mir kam, war da der wunderbarste Mann, den ich je getroffen hatte. Er wollte mich nach Hause bringen, sagte mir, ich solle das Ganze vergessen. Aber das konnte ich natürlich nicht. Also habe ich ihn überredet, mir seine Nummer zu geben. Wir trafen uns wieder und er erklärte mir, dass ich großes Glück gehabt hatte, einen Moment länger und ich wäre tot gewesen. Dieser Mann, er war eine Art Sukkubus, saugt alles Leben aus seinen Opfern. Dein Vater sagte nur, ich müsse mir um den keine Gedanken mehr machen. Er hätte sich darum gekümmert. Er glaubte, ich wäre nur an ihm interessiert, weil er mich gerettet hatte. So ein Gentleman. Aber ich habe mich einfach Hals über Kopf in ihn verliebt. Du weißt, Tammis Vater war der größte Idiot. Deiner dagegen, ein Traummann. Dein Vater heißt Cornelius. Wir haben uns verliebt. Nicht lange und er zog bei uns ein. Tammi liebte ihn. Und dann wurde ich schwanger. Es war nicht geplant, aber ich wusste, er war der beste Vater für mein Kind, den ich mir wünschen könnte. Wir wollten heiraten ...«

Ihre Stimme zitterte und sie wischte sich über die Augen.

»Es war zu perfekt. Er hatte mich gewarnt, seine Familie, so hatte ich es verstanden, war kriminell. Ich dachte, irischer Mob. Doch es war viel, viel schlimmer. Er hat mir gesagt, was er ist. Ein Feuerelementar, ein Magier! Und ich war so fasziniert. Er konnte unglaubliche Dinge tun. Aber seine Familie hat alles zerstört. Sein Onkel Colin, das Oberhaupt der Familie, war durch irgendetwas geschwächt und wollte deine Kräfte für sich beanspruchen. Cornelius wusste, was sein Onkel für ein Mensch war. Ich habe ihn nur einmal gesehen und ich werde diesen Abgrund in seinen Augen nie vergessen. Wie der Teufel persönlich. Oh Jessie, wir mussten dich verstecken, vor ihm, verstehst du? Er darf dich niemals finden. Er würde dich zwingen, ihm deine Fähigkeiten zu geben und dann, dann wird ihn niemand aufhalten können.«

Jessie schwieg eine ganze Weile. So viele Informationen auf einmal.

»Aber ich verstehe das nicht. Ich habe doch gar keine Fähigkeiten. Ich meine, wenn ich Feuer beherrsche, dann hätte mir das doch auffallen müssen.«

»Wir dachten, es ist besser so. Dass er dich nicht finden wird, wenn du einfach ein ganz normaler Mensch bist. Wenn du nie etwas davon weißt.« Sie seufzte. »Doch ich wusste wohl immer, dass dieser Tag eines Tages kommen würde. Conrad Caldwell.« Als sie seinen Namen aussprach war ihr Ton sanft und liebevoll. Und Jessie traten Tränen in die Augen, als ihm bewusst wurde, was sie für ihn getan hatte. Wie hart es gewesen sein musste, seinen Vater zu verlieren.

»Du kannst versuchen, ihnen zu entkommen, verlass England, versteck dich irgendwo im Ausland.«

Jessie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie würden mich doch irgendwann finden, oder?«

»Sei vernünftig, Jessie! Du musst dich verstecken! Wir alle sollten fliehen ...«

»Und dann? Immer weiter fliehen? Das kann es doch nicht sein, Mom!«

Sie stellte ihr Glas ab und ergriff seine Hand. »Jessie, bitte! Sei vernünftig!«

Aber er wollte einfach nicht mehr fliehen. Er entzog seiner Mutter seine Hand.

»Irgendwas muss ich doch tun können.«

»Dein Vater hat eine Art Bann auf dich gelegt, damit deine Fähigkeiten nicht ausbrechen. Du musst ihn durchbrechen, du musst ein Feuerelementar werden. Dann kann er sie dir nicht mehr wegnehmen.«

»Aber wenn das so ist, warum habt ihr mich dann nicht gleich einer werden lassen?«

»Wir dachten, wenn Colin dich findet, wird er dich uns wegnehmen. Und wenn du jung wärst, hätte er dich aufgezogen und du hättest getan, was er wollte. Du hast recht, ich hätte dir die Wahrheit sagen können, als du erwachsen warst. Aber zu der Zeit ...«

Jessie erinnerte sich, wie er sich als Jugendlicher ständig mit seiner Mutter gestritten hatte. Er hätte beinahe alles riskiert und wenn dieser Onkel ihn dann gefunden hätte ... er schluckte.

»Zu der Zeit habe ich immer wieder versucht dich dazu zu bringen, mir die Wahrheit zu sagen! Gott, Mom! Ich versteh dich einfach nicht. Wie konntest du mir das alles verheimlichen? Du hattest so oft die Gelegenheit mir alles zu sagen! Aber nein, dir ging es doch nur darum, dass du dein Leben nicht ändern musst! Dass du das alles einfach ignorieren kannst!«

»Das ist nicht wahr! Du warst eine Pest zu der Zeit, das weißt du genau! Nur wegen dir sind wir nach London gezogen! Wegen diesem bescheuerten Video, weil du unbedingt Gitarrist werden wolltest!« Diese Geschichte schon wieder. Er wusste, dass sie ihm das ewig vorhalten würde.

»Wenn du mir damals die Wahrheit gesagt hättest, dann wäre das alles nicht passiert!« Jessie ballte die Fäuste. Dann seufzte er. So kamen sie nicht weiter.

»Ja, später hätte ich es dir sagen können. Ich hätte es dir sagen sollen. Aber du hast deinen Weg gefunden, du hattest damals die Beziehung mit Jonah und du warst so glücklich. Ich dachte ...  ich hoffte, dass sich vielleicht alles von selbst erledigt hätte. Dass du einfach dein Leben leben kannst ...  es tut mir leid, Jess.«

»Schon gut, Mom.« Er war oft genervt von ihr gewesen, wenn sie mal wieder nachts betrunken anrief, wenn sie sich mal wieder mit dem falschen Mann einließ. Wenn sie mal wieder Geld brauchte, weil sie ihren Job im Theater verloren hatte. Sie war nicht die beste Mutter gewesen. Aber sie hatte alles getan, um ihn zu beschützen.

»Was ist mit Dad passiert? Er ist wohl nicht bei einem Autounfall gestorben?«

»Nein. Damals haben wir uns getrennt. Er hat sich versteckt, weil wir dachten, das wäre sicherer für uns. Dass Colin uns so schwerer finden kann. Ich dachte, es wäre nur für kurze Zeit, höchstens ein Jahr. Doch er kam nicht zurück. Ich glaube, er lebt noch. Aber sicher weiß ich es nicht.«

»Er lebt?« Jessie konnte es nicht fassen. Wie oft hatte er sich als Kind ausgemalt, wie er gewesen war. Hatte ihn verklärt, sich so sehr gewünscht, er wäre noch da und jetzt erfuhr er, dass er tatsächlich lebte?

»Wie gesagt, ich weiß es nicht. Versteh doch, es wäre ein zu großes Risiko, wenn er Kontakt zu uns aufnehmen würde.«

Jessie schwieg eine Weile. Entweder sein Vater versteckte sich irgendwo oder er war schon lange tot und es gab keine Möglichkeit, zu erfahren, was aus ihm geworden war.

»Und der Onkel?«

»Er heißt Colin Caldwell. Er muss jetzt Mitte sechzig sein. Warte ...«

Sie stand auf und ging in ihr Schlafzimmer. Als sie zurückkam, hielt sie ein metallenes Kästchen in den Händen. Sie öffnete es mit einem Schlüssel und holte ein kleines Passbild heraus. »Das ist er.«

Jessie betrachtete den Mann auf dem Foto. Er blickte starr in die Kamera. Ergraute Haare ließen ihn älter aussehen als er sein musste. Ein kantiges Kinn, hohe Wangenknochen. Der Blick aus den eisblauen Augen starr. Etwas an ihm bereitete Jessie eine Gänsehaut. Dies war also der Mann, vor dem er sich sein Leben lang verborgen hatte. Er steckte das Foto in die Brusttasche. Dann sah er, dass seine Mutter in der Kiste noch mehr aufbewahrte.

»Hier. Du mit deinem Vater.« Sie reichte ihm ein Foto.

Das Bild traf Jessie wie ein Dolch ins Herz. Sein Dad, ein Mann mit dunklen Locken und dem wärmsten Blick den man sich vorstellen konnte, mit einem Baby auf dem Arm, lächelte, als wäre er der glücklichste Mann auf der Welt. Und er selbst lachte sein Babylachen, weiße Haare standen ihm wirr vom Kopf ab. Auf seinem Strampler stand Superbaby. Jessie schluckte, eine Welle von Emotionen überkam ihn. Sehnsucht nach seinem Vater, Trauer um das Leben, das sie zusammen hätten haben können. Und die Wut auf seine Familie, die ihm all das genommen hatte.

»Was sage ich Tammi? Ist ihr Vater auch so ein übernatürliches Wesen?«, fragte er schließlich.

»Nein. Er war ein normaler Idiot aus Cardiff. Er denkt, wir leben in Australien. Ich habe ihm eine ganze Weile Postkarten geschickt. Aber als er seine neue Familie hatte, hat ihn das wohl nicht mehr interessiert. Tammi hat mit all dem nichts zu tun. Haben sie dich bei der Agency über den Glamour aufgeklärt?«

»Nein.«

»Das ist das Werk der Fae. Es bewirkt, dass wir normalen Menschen nichts von der übernatürlichen Welt mitbekommen, dass wir einen normalen Menschen sehen, wenn es in Wirklichkeit ein Fae ist, oder was auch immer. Du konntest durch den Glamour blicken, als du klein warst. Tammi dagegen nie. Sie hat dir gesagt, du sollst keine Angst haben, dass du dir das nur einbildest. Für sie ist nur da, was sie sieht. Und irgendwann hast du ihr geglaubt und aufgehört, es zu sehen.«

Jessie schnaubte. Ja, so war Tammi. Sie glaubte nicht an Religionen, nicht an Geister oder Engel oder was auch immer. Sie nahm lieber Aspirin als irgendeine esoterische Medizin. Sie würde ihm kein Wort glauben, wenn er keine Beweise hatte.

»Danke, Mom. Für alles.« Er steckte das Foto ein und erhob sich. In der Kiste war noch mehr gewesen, aber seine Mutter hatte sie wieder verschlossen.

»Eins noch Jess, die Agency. Du kannst ihnen nicht vertrauen. Damals hatte Colin auch bei ihnen seine Leute.«

Auch nicht Allan? Wem dann? Jessie wollte widersprechen, doch seine Mutter sah ihn besorgt an.

»Ich kenne vielleicht jemanden, der uns helfen kann. Aber es könnte eine Weile dauern, bis er hier ist."

»Meinst du Miller?«

»Ja. Du erinnerst dich an ihn?«

»Natürlich. Er hat uns alles beigebracht.«

––––––––

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Detective Miller hatte ihnen gezeigt, wie man sich versteckte, Verfolger abschüttelte, sich bei Polizeikontrollen verhielt und vieles mehr. Wahrscheinlich hatte er auch ihre Dokumente gefälscht und ihnen ihre neue Identität gegeben. Jessie hatte immer vermutet, dass er beim MI5 war.

»Bis dahin musst du durchhalten. Vielleicht ist es doch das Beste, wenn wir hier alle verschwinden.«

Jessie schüttelte den Kopf. Er hatte genug Krimiserien gesehen um zu wissen, dass es zu spät war. Wenn sie jetzt verschwanden, würden sie sich nur verdächtig machen. Er wusste, wie er Kameras vermied, wie er unauffällig blieb. Sobald sie einmal ein Foto von Jessie hatten, würde aber auch all das Training nichts nützen. Dank der Anti-Terror Gesetze und NSA war es immer schwerer, sich zu verstecken. London war ein Teppich von Kameras. Wenn er sich auf dem Flughafen oder Bahnhof zeigte, würden sie ihn auch bis nach Thailand verfolgen können. Sicher könnte er von dort irgendwie verschwinden, aber was wäre das für ein Leben? Er wollte das was er hier hatte jetzt nicht verlieren.

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4. Kapitel

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Jessie machte sich auf den Weg zur Arbeit. Von seiner Wohnung in Brixton zum Laden in Chelsea brauchte er fünfundzwanzig Minuten im furchtbaren Londoner Verkehr. Irgendwie kam ihm die Welt heute weniger grau vor, trotz des verregneten Londoner Wetters. Der Regen hatte ihn noch nie gestört. Seine Frisur würde das schon abkönnen. Hauptsache, die Bremsen seines Fahrrads versagten nicht auf der rutschigen Straße. Und er hatte das Gefühl, es wäre schwerer, ihn zu beobachten. Die letzten Tage war er ständig angespannt gewesen, hatte sich umgesehen und jeden Kunden für einen Spion Colins gehalten. So ging das nicht weiter. Nachdem er den Flyer der Agency noch fünf Mal gelesen hatte, war das alles immer noch nicht ganz real für ihn. Wie erkannte er einen Fae, oder gar einen anderen Elementar? Jeder Mensch, den er auf dem Weg zur Arbeit auf der Straße sah, könnte ein ÜE sein. Jessie zuckte zusammen, als er bemerkte, dass bei der Frau vor ihm große spitze Ohren aus der Mütze ragten. Das war ... sicher nur Cosplay, oder? Er navigierte durch den Verkehr. Mal wieder war überall Stau, aber er überholte die Autos einfach. Mit einem Quietschen bremste er abrupt und starrte in das Fenster eines roten Käfers. Der Mann darin hatte Fingernägel so lang, dass sie mehr wie Krallen aussahen, schwarz und scharf. Jessies Herz pochte. Er fuhr weiter und schüttelte den Kopf. Doch was er dann sah, ließ sich einfach nicht ignorieren. Ein Mann mit Lederjacke und Cowboystiefeln, roter Haut und schwarzen Augen stand an der Ampel neben ihm. Die rote Haut war aber nicht das Schockierendste an ihm. Das waren die etwa dreißig Zentimeter langen Hörner, die aus seiner Stirn wuchsen. Er blickte Jessie an und seine Augen verengten sich. Ein Quietschen vor ihm ließ Jessie den Blick wieder auf die Straße richten. Er wäre beinahe in ein Auto reingefahren, das gerade noch gebremst hatte. Der Fahrer gestikulierte aufgebracht und Jessie durchfuhr es kalt. Er zwang die aufkommende Panik zurück, fuhr weiter und versuchte, nicht mehr auf die Menschen oder Dämonen um sich zu achten.

Als er endlich im Laden ankam, pochte sein Herz immer noch. Matt war schon da und musterte ihn skeptisch.

»Hey Jessie, wie siehst du denn aus?«

»Ich ... ich hatte gerade beinahe einen Unfall.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Hemd klebte ihm nass am Rücken.

»Oh, alles okay?«

»Ja. Ist nichts passiert. Ich geh nur kurz ...«

Auf der Toilette klatschte er sich kaltes Wasser ins Gesicht. Es gibt kein Zurück. Jessie hatte keine Ahnung gehabt, was das wirklich hieß. Und er begriff es wohl noch immer nicht.

Während er die Buchführung machte und die ersten Kunden reinkamen, beruhigte er sich ein wenig. Wenigstens hier war alles normal. Doch dann kam Alice. In den letzten Tagen hatte er immer wieder gemeint, ihren Pony verschwommen zu sehen. Heute war etwas an Alice anders. Sie hatte Hörner auf der Stirn. Nicht so große wie bei dem Mann vorhin, sondern kleiner wie die einer Ziege. Jessie konnte nicht anders, als sie anzustarren, auch wenn er sich immer wieder ermahnte, es nicht zu tun. Zum Glück, bemerkte Alice nichts. Sie schnappte sich die Gitarre und verschwand in der Ecke.

»Hey, warum bist du so blass?«, fragte Matt.

Jessie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Blickte Alice an. Er kannte das Mädchen seit einem halben Jahr. Eine nette fünfzehnjährige Schülerin, mit einem Hang zu Baskenmützen und Doc Martens, die sie stets aus ihrer Tasche holte, und gegen ihre schwarzen Halbschuhe eintauschte, die die Schule vorschrieb. Er selbst trug seit Jahren Docs, schon lange bevor sie wieder in geworden waren. Alice war ein normales nettes Mädchen. Und ein Dämon. Was, wenn sie bemerkte, was er war, dass er sie sah. Jessie schüttelte den Kopf. Als ob er Angst vor Alice hätte.

»Nichts. Zu wenig geschlafen«, murmelte er und kippte sich den dritten Kaffee rein.

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Auf dem Heimweg nahm Jessie sich vor, einfach alle Übernatürlichen, die er bemerkte, zu ignorieren. Er wollte diese neue Welt nicht, sie sollte einfach wieder verschwinden. Er nahm die kürzeste Strecke Richtung Themse, an den Bahngleisen entlang, eine kleine Straße, mit einem sandigen Radweg daneben. Die Straße war vollkommen leer. Erleichtert atmete er tief ein und aus. Die kühle Abendluft war erfrischend und das schnelle Fahren lenkte ihn von allem anderen ab.

Ein Schrei ließ ihn zusammen zucken. Er sah sich um, konnte aber niemanden sehen. Wieder durchfuhr ein schrilles Schreien die Stille, es endete in einem nicht menschlichen quiekenden Laut. Jessie fuhr direkt auf das Geräusch zu und sah sich einer Gruppe Halbstarker gegenüber, die offenbar dabei waren, jemanden zu verprügeln. Oder etwas. Ihre Gesichter waren nicht menschlich. Fell bedeckte sie, die Augen leuchteten Gelb. Ihre Hände waren Klauen und ihre Füße Pranken. Sie trugen Lederjacken mit zahlreichen Aufnähern wie die Mitglieder einer Gang. Ein Kreis mit einem großen Bärensymbol in der Mitte. Jessie hätte umdrehen und wegfahren können. Vermutlich wäre es das Schlauste gewesen, so zu tun, als hätte er nichts gesehen. Aber das hatte er noch nie gut gekonnt.

Die Jungs ließen von dem wimmernden Etwas am Boden ab und sahen Jessie an.

In den letzten Tagen hatten sich eine Menge Aggressionen in ihm angestaut. Und er hatte keine Gelegenheit gehabt, sie beim Boxen rauszulassen. Irgendwann war das Maß einfach voll.

»Hey, was macht ihr da?«, rief er so laut, dass die Jungs es hörten. Einer von ihnen gab ein tiefes Knurren von sich.

Ein anderer kam lässig auf ihn zu und blieb einen Meter vor Jessie stehen. »Was bist du denn? Irgendsoein Magierbastardmischling ohne Fähigkeiten?« Er sah Jessie verächtlich an und der bemerkte jetzt, dass der Junge gar nicht so viel kleiner war, als er.

»Hat Wayne dich geschickt?«

Jessie hatte keine Ahnung, wer Wayne war, hielt es aber für schlauer, nichts zu sagen.

»Lasst uns ihn erledigen. Hab mal wieder Lust auf Mensch.« Der Junge, der das gesagt hatte, lachte und Jessie überlief es kalt. Wollten sie ihn etwa essen?

»Glaubt mir, ich schmecke nicht. Und jetzt lasst den da in Ruhe und verschwindet.«

Der Typ vor ihm lachte.

»Habt ihr das gehört?« Und dann hob er lässig eine Pranke und schlug damit nach Jessies Kopf. Jedenfalls hatte er das vorgehabt. Jessie wehrte den Schlag ab und landete seinerseits einen kräftigen Hieb in den Magen seines Gegenübers. Der wich überrascht zurück, fing sich jedoch sehr schnell wieder. Ehe Jessie sich versah, fand er sich im Kampf mit drei der Typen wieder, die erstaunlich schnell, jedoch keine besonders gut ausgebildeten Kämpfer waren. Das Problem war nur, dass die Tritte und Schläge in ihre behaarten Körper ihnen kaum etwas auszumachen schienen. Gegen ein oder zwei von ihnen hätte er vielleicht eine Chance gehabt, aber gegen drei ... ein kräftiger Schlag traf ihn gegen die Brust, als er dabei gewesen war, einen Angriff von hinten abzuwehren. Die Luft wurde aus seiner Lunge gepresst. Doch Jessie gab nicht so schnell auf. Er kämpfte weiter, aber er schaffte es nicht, einen von ihnen k.o. zu schlagen und nach einer Weile schritt der Vierte ein, der bisher bei dem Etwas am Boden gewartet hatte.

»Genug!« Zu Jessies Entsetzen zog er eine Pistole aus der Tasche und feuerte damit in die Luft.

»Keine Ahnung, was du hier verloren hast, aber wir brauchen keine Zeugen. Wenn du jetzt verschwindest, bringe ich dich vielleicht nicht um.«

»Und was ist mit dem da? Lasst ihr den laufen?«

»Nicht dein Problem.«

Es war wahrscheinlich ziemlich dumm, aber Jessie fand, dass es inzwischen schon sein Problem war. Wenn sie jemanden umbrachten und er es hätte verhindern können, würde er sich das nie verzeihen.

»Wenn ihr ihn laufen lasst, verschwinde ich ...«

»Der Typ nervt, knall ihn ab«, mischte sich einer der anderen ein. Der mit der Knarre zielte auf Jessie, der sich rasch auf dem Boden abrollte und ins hohe Gras floh. Über die Schulter warf er einen Blick zurück. Die drei Typen folgten ihm, während das Etwas am Boden, das anscheinend genauso ein Wesen war wie die drei Schläger, auf allen Vieren davon humpelte. Jessie hatte dummerweise vor dem Kampf sein Fahrrad liegen lassen und rannte nun durch die Grünanlage neben den Gleisen, in einen kleinen Wald und landete in einer dunklen Gasse. Wenn er weiter geradeaus lief, müsste er wieder in bewohnte Gebiete kommen. Er hörte die Typen dicht hinter sich. Also lief er bis er belebtere Straßen erreichte. Aber auch hier wäre er vor den Typen noch nicht sicher. Er hatte das so oft mit Detective Miller geübt. Nur dass es da nie Bärenmenschen gewesen waren, die ihn umbringen wollten. Er zog sich an einer Regenrinne auf ein niedriges Dach, von da aus sprang er auf ein höheres und noch einige weiter in der dicht bebauten Siedlung. Zum Glück hatte er Rocky zu Hause gelassen. Tammi hatte heute frei. Er wollte sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er auch noch Rocky vor den Bären hätte beschützen müssen. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und rief Allan an. Es dauerte eine ganze Weile, bis er abnahm.

»Oh Jessie. Ist dir ...«

»Hab gerade nicht viel Zeit. Da sind drei Bären hinter mir her.«

»Was?«

»Na so bärenartige Leute. ÜE. Hab die wohl verärgert.«

»Wo bist du?«

»Keine Ahnung. Irgendwo südlich vom Battersea Park, an den Gleisen, vor dem Tunnel.«

»Okay, behalte das Handy an. Wir sind gleich bei dir.«

Wie bescheuert. Nur drei Tage nachdem sie ihm die Ehre erwiesen hatten, in ihre Geheimnisse einzuweihen, brauchte er ihre Hilfe.

––––––––

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Jessie legte sich flach auf das Dach und horchte auf seine Verfolger. Er schien sie tatsächlich abgeschüttelt zu haben. Ihre kreischenden Stimmen entfernten sich, aber sie konnten jederzeit zurückkommen. Es dauerte tatsächlich nicht lange und er hörte etwas die Regenrinne hochkommen. Jessie machte sich auf den nächsten Kampf gefasst, doch dann sah er eine kleine athletische Frau mit einem blonden Bob und in einer Art Ninjaanzug, die sich elegant hoch schwang und Jessie musterte. Er hatte seine Hände noch oben, bereit zuzuschlagen.

»Ziel gesichert«, sagte sie. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Dann kam auch Allan aufs Dach.

»Jessie! Geht es dir gut?«, fragte er besorgt.

»Ja, ja, alles okay. Ich glaube, ich habe sie abgeschüttelt. Verdammt, was waren das für ...«

Und dann erkannte er, dass er sie doch nicht abgeschüttelt hatte, denn die Bärenmänner sprangen von allen Seiten auf das Dach und brüllten. Sie stürmten auf sie zu und Jessie konnte dem Schlag ihres Anführers nicht ausweichen. Er war zu schnell gekommen. Doch der erwartete Schmerz in seinem Schädel blieb aus. Stattdessen hatte Allan die Hand vorgestreckt und sagte etwas in einer asiatischen Sprache. Die Bären purzelten zurück, als hätte sie ein starker Wind getroffen. Zwei wehten vom Dach. Der stärkste, der An-führer, klammerte sich am Rand fest.

»Ich verfolge sie.« Die zierliche Ninjafrau sprang ihnen hinterher und sie waren allein mit dem Anführerbär.

»Agency-Mann. Verschwinde und dir passiert nichts. Das ist unser Territorium«, brummte er.

Allan wich nicht zurück und stand immer noch schützend vor Jessie.

»Wir lassen euch in Ruhe, solange ihr keine unbeteiligten Menschen umbringt.«

Anführerbär grollte wütend. Er schwang sich aufs Dach zurück und holte mit seiner Pranke aus. Jessie sprang vor und benutzte diesmal Jiu-Jitsu, das mehr darauf ausgelegt war, die Stärke des Gegners gegen ihn zu verwenden. Er schaffte es, ihm den Arm umzudrehen und ihm gegens Knie zu treten. Ein Mensch wäre davon zu Boden gegangen. Der Bär leider nicht.

»Jessie, zurück!« Allan führte schnelle Schläge nach vorne aus, die jedoch einige Zentimeter vor dem Bären stoppten. Aber sie hatten eine starke Wirkung. Er krümmte sich zusammen und hielt sich den Bauch.

»Scheiße, wieso wird er nicht ohnmächtig?« Allan wich zurück.

»Das frage ich mich die ganze Zeit.«

»Was hast du genommen, Obi? Du weißt genau, dass du Ärger mit deinem Vater bekommst, wenn er hiervon erfährt.«

Der Bär, der offenbar Obi hieß, grollte nur aggressiver. Er richtete sich wieder auf und holte aus. Ein Schlag traf Allan leicht an der Schulter, während er auswich.

»Zurück! Ich hatte keine Zeit, meine Waffen zu holen. Folg mir!« Allan lief zum Ende des Daches und sprang aufs nächste. Sie kletterten über Fenstersimse nach unten. Allan reichte Jessie seine Hand, als er zögerte, die letzten zwei Meter runter zu springen. Jessie nahm sie und sie landeten sanft auf dem Asphalt, als wäre er aus Gummi.

»Schnell!« Allan hielt Jessies Hand fest und zog ihn hinter sich her. Schon bald erklang das Schnaufen Obis hinter ihnen. Mit seiner beeindruckenden Windkraft schleuderte Allan einen Müllcontainer in seinen Weg. Sie liefen über enge Gassen und Hinterhöfe.

»Crystal! Bist du fertig?«, rief er. Wahrscheinlich hatte er so einen Knopf im Ohr. Oder Magier brauchten so was gar nicht.

»Crystal und Anthony treffen uns an der Kreuzung. Bis dahin müssen wir ihm nur ausweichen!«

Gerade als Allan das sagte, kam ihnen Obi mit enormer Geschwindigkeit entgegen. Allan zog ihn hinter sich her. Jessie war fit, aber dieser Sprint nach dem ganzen davor ließ seine Lungen schmerzen. Sie erreichten eine Kreuzung und Allan sprang auf einen Container und von dort aufs Dach. »Komm! Wir sind gleich da!«

Er zog Jessie hoch und sie liefen über das schräge Dach. Es musste der Convent Garden Market sein. Jessie rutschte auf dem glatten Belag und knallte gegen Allan. Hinter ihnen grölte Obi und schwang sich wie ein Gorilla hoch.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752119671
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Queer schwul Gay Romance London LGBT Urban Fantasy Liebesroman Liebe

Autor

  • Celia Jansson (Autor:in)

Celia Jansson wurde 1986 in Hamburg geboren, wo sie nach dem Soziologie-Studium in Bremen wieder lebt. In einem Umfeld voller Bücher aufgewachsen, hat sie bereits als Kind mit dem Schreiben begonnen. Vor einigen Jahren entdeckte sie das Genre Gay Romance für sich, schreibt aber auch gerne Fantasy und SF. Außerdem begeistert sie sich für Serien, Kunst, Musik und besucht leidenschaftlich gerne Konzerte.
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Titel: Feuererbe