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Im Norden ist man dem Himmel näher

von Hanna E. Lore (Autor:in)
432 Seiten

Zusammenfassung

Sarah ist ein Workaholic. Ein Schicksalsschlag in ihrer Kindheit hat ihr den Glauben an Gott geraubt. Sie verabscheut nichts mehr als Kinder, weil sie Chaos in ihr strikt durchgeplantes Leben bringen. Ein Burn-out und der damit verbundene „Zwangsurlaub“ an der Ostsee treffen sie hart. Umso härter ist es, als man sie aufgrund eines Wasserschadens in ihrer Unterkunft beim örtlichen Pastor einquartiert. Und wäre all das nicht schon schlimm genug, hat dieser zwei Töchter. Doch bald merkt Sarah, dass das Leben mehr zu bieten hat als nur Arbeit. Einen attraktiven, verwitweten Pastor zum Beispiel.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum:

Hanna E. Lore // Sandra Klammer, MA

5620 Schwarzach im Pongau

https://hannaelore.wordpress.com/

hanna.lore@gmx.at

Hanna E. Lore

Im Norden ist man dem Himmel näher

Für Mama

Danke, danke, danke. Für alles.

Diese Geschichte ist frei erfunden und fiktiv. Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Ich habe mich einzig und allein von meinem Masterarbeitsthema inspirieren lassen und ja, ich habe dasselbe studiert wie Sarah. Das sind jedoch die einzigen Parallelen zur Realität.

KAPITEL 1

Nicht einmal Sonnenschein konnte sie noch glücklich machen.

Kein Wölkchen in Sicht, das heute den strahlend blauen Himmel trüben könnte, und dennoch war Sarah unzufrieden. Weswegen, wusste sie selbst nicht genau. Sie wusste nur, dass sie sich früher über dieses traumhafte Wetter gefreut hätte. Sie hätte die Mittagspause draußen, vielleicht am nahen Mozartplatz, verbracht und sich bei den warmen Juni-Temperaturen ein Eis gegönnt. Nachdem sie abends das Büro verlassen hätte, wäre sie noch zu einer kurzen Joggingrunde entlang der Salzach aufgebrochen. Danach hätte sie es sich mit einem guten Buch auf ihrer Terrasse gemütlich gemacht und beobachtet, wie das Tageslicht schwand, während künstlich erzeugter Schein Salzburg bei Nacht erhellte.

Jetzt verspürte sie keine Lust dazu. Nichts von alledem interessierte sie. Schon seit Monaten nicht mehr.

Mit steif vor der Brust verschränkten Armen und mürrischem Gesicht schaute sie dem dichten Gedränge auf dem Residenzplatz zu. Manche Leute flanierten gemütlich über den Platz, andere legten auf den paar Bänken eine Rast ein, sofern man um diese Zeit überhaupt noch ein freies Plätzchen ergattern konnte. Touristen taten, was sie am besten konnten: abrupt stehen bleiben, staunen und fotografieren. Der Residenzbrunnen war ein beliebtes Motiv. Wie vielen Blitzlichtern die Meerrosse im Lauf der Jahrzehnte wohl schon ausgesetzt waren? Sie hatten alles stumm und wasserspeiend ertragen.

Straßenkünstler machten Musik oder hielten Szenen und Gesichter – Momentaufnahmen – ewig auf Papier gebannt fest. Über alldem warf der imposante Dom aus weißem Untersberger Marmor seinen Schatten. Sarah hatte ihren Vorgesetzten immer um diese prachtvolle Aussicht mitten ins historische Herz der Altstadt beneidet. Seit drei Jahren war sein Büro nun das ihre, seitdem sie die Leitung des Salzburger Stadtmuseums übernommen hatte. Doktor Sarah Hollmann, zweiunddreißig Jahre jung und überaus erfolgreich in dem, was sie tat. Sie hatte den Job, den sie unbedingt hatte haben wollen. Sie leitete das Museum, das sie schon seit Studienzeiten bewundert hatte. Nur Mozarts Geburtshaus in der Getreidegasse verzeichnete mehr Besucher als ihr Museum.

Ihr Vorgänger hatte das Potential der ehrgeizigen Geschichtsabsolventin erkannt und sie zu seiner Assistentin gemacht. Er hatte sie quasi von Anfang an darauf vorbereitet, die Lücke, die seine Pensionierung hinterlassen würde, zu schließen.

Doch Sarah merkte, dass seit ungefähr einem Jahr ihre frühere Leidenschaft für ihren Beruf kontinuierlich abnahm. Von Tag zu Tag kam sie schwerer aus dem Bett oder wäre am liebsten erst gar nicht aufgestanden. Sich allein in ihrer Wohnung zu verkriechen, war eine Verlockung, der sie bisher dennoch nie verfallen war. Aber die Versuchung wurde jeden Tag größer. Und genau das belastete sie. Wo war ihr Tatendrang geblieben? Was war aus ihrer blinden Arbeitswut, die sie jahrelang zu Höchstleistungen angetrieben hatte, geworden? Warum war sie ständig müde, erschöpft und antriebslos? Konnte sich ein grippaler Infekt derart lange hinziehen, wenn man sich die Zeit zum Auskurieren nicht gönnte?

Besonders heute fühlte sich Sarah überhaupt nicht wohl: schlapp, schwindelig und übel war ihr auch. Kopfschmerzen plagten sie und brachten ihren Schädel fast zum Bersten. Sarah wandte sich vom Fenster ab und ging auf unsicheren, wackeligen Beinen zurück zu ihrem Schreibtisch. Kraftlos ließ sie sich auf ihren Drehstuhl sinken und seufzte missmutig. Vor ihr türmten sich Papiere, die abzuarbeiten waren, und ihr E-Mail-Postfach war leider zu reichlich mit dringenden Aufgaben gefüllt. Einen Blick auf ihren übervollen Terminkalender wollte Sarah gar nicht erst werfen.

Rund um den Bildschirm und überall, wo die Tischplatte noch freie Flächen bot, klebten bunte Post-its, um sie in Stichworten an Dinge zu erinnern, die unbedingt und bald zu erledigen waren. Für einen kurzen Moment schloss Sarah die Augen und massierte sich die Schläfen. Doch es half nichts. Der Druck in ihrem Kopf und das beengende Gefühl überall in ihrem Körper ließen nicht nach.

Die Leitung des Museums erfüllte sie längst nicht mehr. Sie kümmerte sich um Leihverträge, Presseaussendungen und Personalfragen. Sie managte und verwaltete ein Haus, statt die Besucher durch die Ausstellung zu führen oder diese gar selbst zu organisieren und zu gestalten. Das übernahmen stattdessen ihre Mitarbeiter. All das, was sie sich von der Museumsarbeit erhofft und erwartet hatte, war in ihrem Leben nicht mehr präsent. Sie saß in ihrem kleinen Büro im Dachgeschoss und verwaltete, abgeschirmt vom bunten, spannenden Treiben in den Stockwerken unter ihr. Dort, wo die Geschichte lebendig gemacht wurde, hatte sie keinen Zugang mehr.

Ein Klopfen ließ sie erschrocken aus ihrem Stuhl hochfahren. Weil Sarah Angst hatte, dass ihre Beine nachgeben könnten, klammerte sie sich mit beiden Händen so stark an der Tischplatte fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Gabriel, ihr Assistent, der nur ein paar Jahre jünger, aber bei Weitem weniger kompetent und fleißig war als sie, stand in der Tür. Ihr Herein hatte er wie immer erst gar nicht abgewartet.

„Deine Kopien sind fertig“, sagte er in gewohnt herablassendem Tonfall und wedelte mit dem Stapel.

Sarah nickte bloß. Er kam auf sie zu und warf die Blätter lässig auf ihren überfüllten Schreibtisch. Dann musterte er seine Chefin abschätzend. „Geht es dir gut?“, erkundigte er sich.

Stand da Besorgnis in seinen Augen? Eher nicht. Ihr Assistent fragte bloß anstandshalber nach, wie man es vom Neffen des Bürgermeisters zu erwarten hatte. Man konnte Gabriel viel vorwerfen – Faulheit, Egoismus und eine Vorliebe für teure Anzüge – aber höflich war er. Meistens jedenfalls.

„Natürlich!“, entgegnete Sarah scharf.

Abwehrend hob er die Hände und trat sarkastisch grinsend einen Schritt zurück. „Entschuldige, dass mir dein Wohlergehen am Herzen liegt.“

„Kümmere dich lieber ordentlich um deine Aufgaben anstatt um mich. Seit wann braucht man so lange, um ein paar Seiten zu kopieren?“

Seine lasche Arbeitseinstellung nervte Sarah. Wie sie damals gerackert hatte, um ihren Chef zu beeindrucken! Warum hatte man ihr nur einen derart unfähigen und faulen Assistenten zur Seite gestellt? Die Antwort war ebenso einfach wie ernüchternd: weil das Salzburger Stadtmuseum eine Einrichtung der Stadt war und unmittelbar in das Ressort des Bürgermeisters fiel, der leider auch Einfluss auf Personalentscheidungen nehmen durfte – zum Nutzen seines Neffen. So funktionierte Politik in Österreich. Familie und Freunde vor Leistung und Können.

„Ich habe nicht studiert, um für dich den Kopierburschen zu spielen.“

Sarah verkniff sich den Kommentar, dass es ein offenes Geheimnis war, wie er seine Abschlüsse in Geschichte und Kunstgeschichte erlangt hatte: mit Geld. Die Frage war nur, wer für seine Titel bezahlt hatte. Sein Onkel oder sein Vater? Irgendjemand von beiden musste Druck auf die Universität ausgeübt haben. Wie ein unfähiger Kerl wie Gabriel ansonsten zwei Studienabschlüsse mit ausgezeichnetem Erfolg meistern konnte, war Sarah schleierhaft.

„Alle müssen klein anfangen. Wenn du in dem, was du tust, gut wärst, könnte ich dir verantwortungsvollere Aufgaben übertragen, aber deine Einsatzbereitschaft lässt leider zu wünschen übrig.“ Sarah seufzte. Einerseits, weil sie diese Diskussion in letzter Zeit zu oft geführt hatte. Andererseits, weil sie inzwischen wirklich, wirklich erschöpft war. Dabei war es noch nicht einmal Mittag.

„Vor einiger Zeit hast du meinen Einsatz durchaus zu schätzen gewusst.“ Ein selbstgefälliges, eitles Grinsen machte sich auf Gabriels Gesicht breit.

Natürlich wusste Sarah, worauf er anspielte. Er hätte dieses eine Wort nicht extra betonen müssen. Aus heutiger Sicht hielt Sarah das, was damals vorgefallen war, für einen Fehler, aber auch sie hatte Bedürfnisse und zu wenig Gelegenheiten. Daran war sie sogar selbst schuld. Die Arbeit stand bei ihr immer an erster Stelle. Dass sie sich mit ihrem Assistenten während der Weihnachtsfeier auf der Toilette vergnügt hatte, beschämte sie inzwischen sehr. Seither versuchte Gabriel regelmäßig, ihre damalige Schwäche für seine Zwecke zu nutzen.

„Das ist über fünf Monate her. Die Sonderrechte, die du dir deswegen erhoffst, wirst du nicht bekommen. Deine Anstellung hier war nicht meine Entscheidung. Es gibt viele, die begeisterter, qualifizierter und kompetenter sind als du und die für deinen Job alles, wirklich alles geben würden“, erinnerte sie ihn schroff. „Wenn du in Zukunft mehr tun möchtest als Kopieren, musst du dich mehr anstrengen. Das hier muss für dich mehr als ein Beruf werden, Berufung nämlich.“

Sarah konnte selbst kaum glauben, dass sie diesen Satz wirklich gesagt hatte. Folgte sie denn noch ihrer Berufung? Hatte sie tagtäglich Lust dazu, ins Büro zu gehen?

Definitiv nicht.

Der dunkelhaarige Gabriel schenkte ihr ein charmantes Lächeln, das nicht hinter seine Fassade blicken ließ, ehe er ihr Büro mit den betont freundlichen, unterwürfigen Worten verließ: „Dann werde ich weiter intensiv an meiner Berufung arbeiten.“ Als er die Tür hinter sich schloss, schwor er sich, dass Sarah diese neuerliche Demütigung büßen würde. Bitter büßen.

Sarah war weder unsympathisch noch unattraktiv. Vermutlich hätte Gabriel auch mit ihr geschlafen, wenn sie nicht seine Vorgesetzte wäre. Er war ein Womanizer, der gern jede Gelegenheit nutzte, die sich ihm bot. Außerdem dachte er pragmatisch: Zusätzlich zum kurzweiligen Vergnügen könnte ihm dieses Tête-à-Tête am WC Vorteile bringen – zumindest einen Erpressungsgrund. Da Sarah ihm bisher keine Sonderstellung im Museum gewährt hatte, musste er sich also demnächst einen Plan B überlegen. Ihr Fehler war, dass sie auf seinem Posten saß. Noch. Es stand für ihn fest, dass er zu Höherem als zu diesem unwürdigen Assistenten-Dasein berufen war.

Als Gabriel auf dem Weg zu seinem winzigen Büro am Kopierer vorbeikam, bemerkte er, dass er ein paar Seiten im Ausgabefach vergessen hatte. Fluchend ergriff er die Blätter und ging zurück. Nach dem einmaligen Anklopfen riss er die Tür sofort auf. Verwirrt beobachtete er, wie Sarah ihn mit entrücktem Gesichtsausdruck anstarrte und es mit Mühe schaffte, ihren Ledersessel zu erreichen, ehe sie darin zusammensackte.

Das letzte, was Sarah sah, bevor ihr schwarz vor Augen wurde, war ein Lächeln auf Gabriel Gesicht. Vielleicht löste sich sein Problem gerade von selbst.

KAPITEL 2

Sarah trommelte mit ihren langen, nachtschwarz lackierten Nägeln ungeduldig auf die Bettdecke. Der Himmel war immer noch strahlend blau, selbst hier, am anderen Ende der Stadt. Man hatte sie nämlich nicht ins nahe Unfallkrankenhaus gebracht, sondern ins weiter entfernte Landeskrankenhaus verfrachtet. Verstehe einer diese Rettungssanitäter! Obwohl sie sich heftig gewehrt hatte, nachdem sie rasch wieder zu sich gekommen war, hatten sie darauf bestanden, sie zur näheren Untersuchung und Abklärung ihres Zusammenbruchs ins Krankenhaus einzuliefern. Angestachelt von Gabriel, dem ihre Unpässlichkeit gut ins Konzept zu passen schien.

Wenigstens hatte Sarah ein Zimmer für sich allein. Zumindest machte sich ihre Zusatzversicherung bezahlt. Die Gegenwart von kranken Fremden und belanglose Gespräche hätte sie erst recht nicht ertragen. Es war schon schlimm genug, dass man sie gegen ihren Willen hier festhielt.

Sie überschlug die Beine unter der Decke, seufzte genervt und ließ den Kopf ins Kissen sinken. Nicht einmal aufstehen konnte sie, obwohl es ihr schon wieder deutlich besser ging. Man hatte sie an irgendeinen Tropf gehängt, um ihren Kreislauf zu stabilisieren. Wegen eines kleinen Zusammenbruchs, pah! Sogar Gefängnisinsassen gewährte man mehr Bewegungsfreiheit! Das grenzte an Freiheitsberaubung! Dabei hieß es immer, Österreich wäre ein demokratischer Rechtsstaat. Von wegen!

„Guten Tag!“

Sarah war innerlich so aufgewühlt und verärgert, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass ein Arzt das Zimmer betreten hatte.

Wahnsinn! Verdammt attraktiv!, dachte sie, Sehen Ärzte nicht nur in Fernsehserien so aus?!

Dieser Typ machte jedem TV-Weißkittel heftige Konkurrenz: sehr groß, braun gebrannt – was durch den Kontrast zu seiner Arbeitskleidung natürlich zusätzlich verstärkt wurde – kurze braune Haare, glatt rasiert. Und irgendwie kam er ihr vage bekannt vor.

Er musterte sie amüsiert und sein Lächeln wurde breiter. So breit, bis es beinahe von dem einen hintersten Backenzahn zum anderen reichte. Jetzt fiel es Sarah wie Schuppen von den Augen.

„Die männliche Julia Roberts!“, platzte es aus ihr heraus.

Breiter konnte sein Grinsen nicht mehr werden. „Du kannst dich an meinen alten Spitznamen erinnern. Dann muss ich mich also nicht vorstellen.“

„Jens! Was machst du hier?“

Er deutete mit beiden Händen auf sein weißes Outfit. Damit hatte sich ihre Frage erübrigt. An seiner rechten Hand blitzte ein goldener Ehering auf, was Sarah sofort ins Auge stach.

„Du bist wirklich Arzt geworden“, sprach sie das klar Erkennbare aus.

„Doktor Hauser. Klingt doch nicht schlecht, oder?“ Er lächelte auf seine unnachahmliche und unwiderstehliche Weise.

„Ich leite das Salzburger Stadtmuseum.“ Natürlich konnte sie sich diesen Satz nicht verkneifen. Wenn man im Leben etwas erreicht hatte, sollte man damit auch entsprechend prahlen dürfen. Die Leute sollten wissen, mit wem sie es zu tun hatten.

„Chapeau!“ Er zog einen imaginären Hut. „Dann ist aus uns beiden tatsächlich etwas geworden. Tja, bei dir und deinem unbändigen Ehrgeiz war ohnehin nichts anderes zu vermuten.“

Er zog einen Stuhl heran und ließ sich mit überschlagenen Beinen darauf nieder. Sarah zuckte lächelnd mit den Schultern.

„Wir arbeiten beide in derselben Stadt“, fuhr Jens fort, „Warum haben wir uns aus den Augen verloren?“

Peinlich berührt senkte Sarah den Blick. Sie war der Grund. Sie hatten sich während des Studiums kennengelernt und angefreundet, diversen Studenten-Partys sei Dank. Mit Jens hatte man sich im Vergleich zu den vielen Alkoholleichen immer angeregt unterhalten können. Er war der Mensch, der wohl am meisten über sie wusste. Und genau das hatte Sarah Angst eingejagt. Viel hatte sie ihm anvertraut. Nach ihrem Abschluss hatte Sarah den Kontakt absichtlich einschlafen lassen. Jens Anrufe und Nachrichten hatte sie häufig ignoriert und seine Einladungen abgelehnt, bis er irgendwann aufgegeben hatte. Sie hatte sich einzig und allein auf ihre Karriere konzentriert. Das war damals alles gewesen, was für sie gezählt hatte. Und ihre Prioritäten hatten sich bis heute nicht verschoben.

Manchmal gab es wirklich seltsame Zufälle im Leben. Ausgerechnet ihn hier wiederzutreffen, hatte sie nicht erwartet.

„Wahrscheinlich war ich nicht beharrlich genug“, sagte er jetzt, „In einem Krankenhaus anzufangen, ist fordernd. Es bleibt wenig Zeit für anderes. Da kam es mir ehrlich gesagt gerade recht, dass du mich dauernd abgewiesen hast. Später kam Andrea, meine Frau. Wir haben drei kleine Mädchen. Da verschieben sich die Prioritäten.“

„Gratuliere!“ Sein privates Glück freute Sarah aufrichtig. Er hatte das erreicht, wovon er schon zu Studienzeiten geträumt hatte.

„Du bist vermutlich mit deinem Job verheiratet?“

Sarah nickte knapp.

„Dachte ich mir.“ Er sagte das in keinster Weise abfällig, weil er wusste, wie sehr sie ihre Freiheit liebte und stolz auf ihre Unabhängigkeit war. Alles, was mit Kindern zu tun hatte, war weder vorhersehbar noch planbar. Kinder bedeuteten Chaos und Kontrollverlust. Beides konnte Sarah nicht ausstehen. Es gab nichts Schlimmeres für sie, als die Kontrolle zu verlieren oder ein Leben, das außerhalb ihrer geregelten Bahnen verlief. Kinder und eine dauerhafte Beziehung, in die man investieren und für die man eventuell auch Kompromisse eingehen musste, kamen in Sarahs Lebensplanung nicht vor.

„Du warst immer schon unnahbar“, meinte Jens breit grinsend.

„Pah!“ Sarah schnaubte. „Blödsinn.“

„Nein, wirklich! Ich weiß nicht, ob du es je bemerkt hast, aber ich stand total auf dich. Aber du hast jeden Versuch meinerseits, aus unserer Freundschaft mehr werden zu lassen, sofort abgeblockt.“

Das war Sarah neu. Tatsächlich war ihr das nie aufgefallen. Sie hatte nie mehr als Freundschaft für Jens empfunden. Dass er gerne mehr gewollt hätte, überraschte sie. Über Gefühle zu sprechen, war ihr generell unangenehm. Ein Themenwechsel musste her, aber rasch.

„Tja, inzwischen ist dieser Zug sowieso abgefahren.“ Sie deutete auf seinen Ehering.

Er betrachtete das goldene Schmuckstück und lächelte. „Stimmt.“

„Dann kommen wir zu meinem unfreiwilligen Aufenthalt hier. Warum bin ich da und – viel wichtiger – wann darf ich endlich gehen?“ Mit jedem schroffen, herrischen Wort kehrte Sarahs Selbstsicherheit zurück. „Außerdem bist du gar nicht mein Arzt. Mich hat ein Kollege von dir untersucht.“

„Doktor Hofer, ja. Er hat mich zu Rate gezogen.“

„Toller Arzt“, meinte Sarah zynisch, „Kann nicht einmal selbstständig eine Diagnose treffen.“

„Du bist kein leichter Fall.“

Jetzt wurde Sarah doch etwas mulmig zu Mute. Unruhig rutschte sie im Bett hin und her.

„Du hast über Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit geklagt. Dazu kommt noch allgemeine Erschöpfung. Außerdem warst du einige Minuten lang ohne Bewusstsein.“

„So viel Tam-Tam wegen einer klitzekleinen Ohnmacht?“, spielte sie ihre Symptome herunter.

„Das kann alles ganz harmlos sein oder auf eine ernsthafte Erkrankung hindeuten. Und da komme ich ins Spiel. Wir haben deinen hübschen Dickkopf durchleuchtet. Doktor Hofer wollte mich dabei haben, weil ich ein Experte auf diesem Gebiet bin. Abgesehen davon hatte er ein bisschen Angst vor dir. Du musst ihn ziemlich eingeschüchtert haben. Er wollte sich absichern und keine Fehldiagnose stellen.“

„Das sollten Ärzte grundsätzlich nie“, konterte Sarah schnippisch.

„Stimmt, aber manchmal kann das eben passieren. Wir sind auch nur Menschen und keine Götter in Weiß. Vier Augen sehen mehr als zwei. Das ist doch auch für die Patienten besser, oder nicht?“

„Was habt ihr denn gesehen?“, drängte Sarah.

„Nichts. Alles in bester Ordnung da oben.“ Jens tippte sich seitlich an den Kopf.

Erleichtert atmete Sarah aus und merkte erst jetzt, dass sie vor Anspannung die Luft angehalten hatte.

„Wir warten noch auf die Blutergebnisse, aber auch die werden keine Klarheit bringen, vermute ich.“

„Dann ist doch alles super“, sagte Sarah fröhlich.

„Nein, ist es nicht. Wir wissen nämlich nicht zu hundert Prozent, was dir fehlt“, entgegnete er.

„Nichts. Mir fehlt nichts. Das hast du selbst gesagt.“

„Wir haben nichts gefunden. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Ein gesunder Mensch leidet nicht einfach so an Kopfschmerzen und Übelkeit. Man kippt auch nicht einfach so vom Stuhl.“

Ganz unrecht hatte der Arzt damit nicht, obwohl Sarah das natürlich nie zugeben würde.

„Ich habe eine Theorie“, fuhr Jens fort, „Deine Symptome sind nicht physischer, sondern psychischer Natur. Psychosomatisch, quasi. Ich habe mit einem Psychologen gesprochen, der…“

„Bitte nicht!“ Sarahs attraktives Gesicht nahm einen schmerzverzerrten Ausdruck an. „Ich habe in meiner Kindheit viel zu viel Zeit mit diesen Seelenklempnern verbracht. Ich habe genug davon!“

Abwehrend hob Jens die Hände. „Ich weiß. Und du hasst Krankenhäuser. Das kann ich dir nicht verübeln. Ich kenne deine Geschichte. Daher weiß ich auch, dass du keine Minute länger bleiben wirst, als unbedingt nötig ist. Und, dass du eher auf mich hören wirst als auf irgendeinen Kollegen.“

„Du kennst mich wirklich gut“, gestand Sarah kleinlaut.

„Du hast dich einfach nicht verändert. Ich möchte dir ein paar Fragen stellen. Bitte tu‘ dir und deiner Gesundheit den Gefallen und antworte ehrlich. Okay?“

Mürrisch stimmte Sarah zu. Was blieb ihr denn anderes übrig? Andernfalls würde man sie hier wohl nicht so schnell rauslassen. Oder man schickte wirklich nach einem Psycho-Doktor. Da war Jens die bessere Alternative, um einer baldigen Entlassung näherzukommen.

Er zog einen Kugelschreiber und einen kleinen Notizblock aus seiner Brusttasche. Die Fragen, die er ihr stellte, klangen wie aus einem Psychologie-Lehrbuch. Damit kannte sich Sarah bestens aus. Leider.

Jens erkundigte sich nach ihren Hobbys und ob ihr genügend Zeit dafür blieb. Er wollte wissen, ob sie öfters grundlos erschöpft war und morgens leicht in den Tag startete. Hatte sie noch Freude an ihrem Job? War das ihr einziger Lebensinhalt? Empfand sie noch Lust und Leidenschaft für irgendetwas, das sie tat? Warum hatte sie keine Beziehung? Fehlte ihr die Zeit dazu oder hatte sie Angst, sich auf jemanden einzulassen? Vertraute sie nur sich selbst? Hielt sie sich für eine Perfektionistin?

„Unternimmst du viel mit Freunden?“

„Nein.“

„Hast du viele Freunde?“

Genau genommen hatte Sarah überhaupt keine Freunde. Diese Erkenntnis entsetzte sie zwar nicht, aber keine Sozialkontakte zu pflegen, warf in den Augen eines Arztes bestimmt kein gutes Licht auf sie. Sie überlegte – einmal mehr – Jens anzulügen, tat es aber dann doch nicht. Er hätte es sofort gemerkt, wenn sie geflunkert hätte.

„Sehr wenige“, sagte sie gedehnt.

„Wie wenige?“

„Null.“

Er sah von seinen Notizen auf und lächelte das breite Julia-Roberts-Lächeln. „Du hast einen Freund. Den hast du zwar heute erst wieder gefunden, aber hey, das war nicht die Frage. Außerdem wird ein zu großer Freundeskreis sowieso völlig überbewertet.“

Er zwinkerte ihr zu und ein schmales Schmunzeln stahl sich auf Sarahs Gesicht.

„Ich glaube, ich habe sie alle vergrault so wie dich. Bei mir steht eben der Job an erster Stelle“, rechtfertigte sie sich.

Jens nickte wissend, aber nicht verständnisvoll. „Hast du einen E-Reader?“

„Was?“

„Eine Art Mini-Computer, auf dem du digital tausende Bücher speichern und lesen kannst.“

„Ich weiß, was ein E-Reader ist“, antwortete Sarah spitz, „Ich frage mich nur, was das mit meinem Gesundheitszustand zu tun hat.“

„Beantworte einfach nur die Frage.“

Sarah zog argwöhnisch beide Augenbrauen nach oben und runzelte die Stirn.

„Hast du einen?“

„Nein, habe ich nicht.“

„Warst du inzwischen schon einmal dort in Norddeutschland? Wie hieß der Ort nochmal? Da, wo dein Diplomarbeitsthema-Typ gelebt hat.“

„Gelting“, sagte Sarah sofort. „Nein, ich habe es bisher nicht geschafft. Warum willst du das wissen?“

„Es war immer dein großer Traum, irgendwann auf den Spuren dieses Kerls zu wandeln.“

„Jakob Hansson hieß er“, unterbrach Sarah ihn.

Sie hatte sich in ihrer Magisterarbeit mit dem Reisebericht dieses Seemanns auseinandergesetzt. Jens hatte Recht. Sie hatte damals unbedingt in seine Heimatgemeinde gewollt. Einfach so, um zu sehen, was Jakob gesehen hatte. Um die Luft zu atmen, die auch er eingeatmet hatte. Und um den Wind zu spüren, den auch Jakob gespürt haben musste, damals zu seinen Lebzeiten zwischen 1755 und 1830.

„Man hat nicht immer genug Zeit, um Träumen hinterherzujagen.“

„Blödsinn! Auch ein Workaholic wie du muss irgendwann Urlaub machen.“

„Das kommt sehr selten vor“, gab sie zähneknirschend zu.

Jens musterte sie lange. Sein Lächeln war verschwunden. „Wenn das so ist, wundert es mich nicht, dass du hier liegst.“

„Was soll das heißen? Was fehlt mir? Du vermutest doch etwas!“ Jetzt wurde Sarah ungeduldig.

„Wir müssen deine Blutwerte abwarten. Wenn auch diese ohne Befund sind, was ich glaube, gibt es nur eine plausible Erklärung für deine Symptome.“

„Nämlich?!“ Sarah erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, so schrill klang sie.

„Burn-out“, meinte Jens sachlich, erhob sich und schnippte gegen ihren Infusionsbeutel, um den Durchlauf zu überprüfen, „Zumindest bist du auf dem besten Weg dorthin. Aber mach dir keine Sorgen. Das wird schon wieder.“ Jens schenkte ihr ein beruhigendes Ärzte-Lächeln. Vermutlich lernte man das während der Ausbildung als allererstes. Egal, wie übel die Diagnose ausfiel, immer aufmunternd lächeln. Auch, wenn man ein Todesurteil überbrachte. Bei Jens fiel dieses Lächeln selbstverständlich breiter aus als bei seinen Kollegen. Die männliche Julia Roberts konnte gar nicht anders.

Mit dieser unerfreulichen Neuigkeit ließ er sie allein. Wieder ein typisches Ärzte-Verhalten. Wenn man sie bräuchte, weil man sie mit Fragen löchern wollte, gingen sie einfach.

Als er schon bei der Tür angekommen war, hatte Sarah das verhängnisvolle Wort Burn-out verdaut. Erstens war es bisher nur eine Vermutung, mehr nicht. Zweitens war es immer noch eine bessere Option als ein Gehirntumor oder eine unheilbare Nervenkrankheit oder … oder … Oder?!

Plötzlich traf sie eine andere Erkenntnis siedend heiß. Es war nur logisch, immerhin arbeitete er hier.

„Hast du mich nackt gesehen?“

Die Panik und das Zittern in ihrer Stimme waren nicht zu überhören. Sarah hasste sich selbst für die Schwäche, die sie jetzt nicht verbergen konnte. Auch wenn sie früher zu Studienzeiten befreundet gewesen waren, änderte es nichts daran, dass Jens ein Fremder für sie war. Sarah ließ prinzipiell niemanden näher an sich heran. Gefühle, Freundschaften oder gar Liebe sorgten nur für Probleme und Ablenkung von den wirklich wichtigen Dingen im Leben.

„Ich habe dich nicht untersucht. Daher kann ich dich beruhigen: Ich kenne dich nur bekleidet.“

Sarah konnte ein erleichtertes Ausatmen nicht unterdrücken. So sehr sie auch immer nach Perfektion strebte – es gab Stellen an ihrem Körper, die nicht perfekt waren. Sie würden nie makellos sein, egal was sie tat. Deshalb vermied sie es, diese Regionen anderen zu präsentieren. An ihren eigenen Anblick im Spiegel hatte sie sich im Lauf der Jahre gewöhnen müssen.

„Wäre es denn so tragisch, wenn ich einen Blick darauf geworfen hätte?“, fragte Jens ruhig, „Ich kenne deine Geschichte. Du hast sie mir selbst erzählt. Und ich bin Arzt. Ich kann mir vorstellen, wie dein Körper aussieht.“

„Nein! Niemand kann das!“, fiel sie ihm schroff ins Wort und schwieg dann, bis er das Zimmer verlassen hatte.

Einige Stunden später kehrte Jens mit ihren Blutwerten zurück. „Wie erwartet ohne Auffälligkeiten. Rein physisch betrachtet, fehlt dir nichts.“

„Burn-out?“, wiederholte sie seine Vermutung und er nickte.

„Das ist keine Erkrankung, sondern eine Modeerscheinung der Gegenwart“, sagte Sarah spöttisch. Wer seinen Urlaub längst aufgebraucht hatte, aber sich noch mehr freie Zeit erschleichen wollte, ließ sich von irgendeinem Quacksalber Burn-out bescheinigen. Sie hatte das wirklich nicht nötig!

„Du bist ausgebrannt, Sarah. Und du bist klug. Du kannst mir nicht erzählen, du hättest in letzter Zeit nicht bemerkt, dass etwas mit dir nicht stimmt.“

Ertappt kaute Sarah auf ihrer Unterlippe. Er hatte Recht, aber das würde sie nicht laut aussprechen.

„Was bedeutet das für mich? Wie geht es weiter?“, erkundigte sie sich stattdessen.

„Es gibt keine einheitliche Therapie. Ich bin kein Psychologe, aber ich habe mich mit einem beraten. Weil ich dich kenne, weiß ich, dass du keine Sekunde freiwillig länger hier bleiben wirst.“

„Richtig!“

„Schonung, Erholung, Entspannung. Kein Stress.“

Sarah lachte höhnisch. „Sehr witzig. Ich leite das am zweithäufigsten besuchte Museum hier in Salzburg. Wie soll das gehen?!“

„Du wirst es mindestens ein Monat lang nicht leiten. Mindestens, hörst du?“

Ihre braunen Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die Aussicht, ein Monat lang nichts zu tun und bloß auf der faulen Haut zu liegen, machte sie erst richtig krankt. „Das würde meine Psyche eher zerstören, als sie zu heilen.“

„Das denkst du jetzt. Sarah, du brauchst dringend Erholung. Dein Körper schreit förmlich danach. Du musst deine Akkus aufladen.“

Sarah lächelte spöttisch. „Wie stellst du dir das vor? Urlaub?! Wie soll man im Museum ohne mich klarkommen? Nichts wird klappen ohne mich!“

„Jeder ist ersetzbar“, sagte Jens schulterzuckend, „Zumindest kurzzeitig. Vier Wochen sind keine Ewigkeit, Sarah. Das wird ohne dich schon gehen. Und du kannst dich endlich erholen. Das hast du bitter nötig. Sonst wirst du irgendwann viel länger ausfallen.“

Sarah war nicht überzeugt. Sie prustete verächtlich.

„Vier Wochen Urlaub – das hast du dir verdient und – so, wie ich dich kenne – noch nicht aufgebraucht. Ich kann dich auch krankschreiben, aber ich glaube, dir ist die Urlaubsvariante lieber. Schonender für deinen Ruf, hm?“

Sie widersprach ihm nicht. Unglaublich, wie gut dieser Mann sie kannte!

„Machst du so weiter wie bisher, werden wir uns zukünftig öfter sehen. Ich schätze, dass sich deine Zusammenbrüche häufen werden. Es würde mich zwar sehr freuen, dich häufiger zu sehen, aber nicht auf diese Weise.“ Er schenkte ihr sein breites, aufheiterndes Julia-Roberts-Lächeln.

Pragmatisch wog Sarah die Möglichkeiten, die ihr blieben, ab.

„Das Krankenhaus regelt diese Angelegenheit mit meinem Arbeitgeber, damit mein Ansehen in der Öffentlichkeit nicht leidet?“, erkundigte sie sich, doch es klang mehr nach einer Forderung.

„Niemand, der es nicht unbedingt wissen muss, wird je erfahren, dass auch du manchmal Schwäche zeigen darfst“, versicherte er ihr. „Abgesehen davon, ist das nichts, wofür man sich schämen müsste.“

Sarah bedachte ihn mit einem bösen Blick.

Kapitulierend hob er beide Hände. „Okay, okay! Schon verstanden.“

Erst jetzt fiel Sarah die blaue Papiertüte in seiner rechten Hand auf. Die Zeit war reif für einen Themenwechsel.

„Was ist da drin?“, fragte sie und bemühte sich, desinteressiert zu klingen.

„Das ist für dich.“ Jens stellte das Sackerl zwischen ihren Füßen auf dem Bett ab.

„Aha.“ Argwöhnisch hob Sarah beide Augenbrauen und verschränkte die Hände vor der Brust.

Da sie keine Anstalten machte, einen Blick auf sein Mitbringsel zu werfen, hielt Jens es nicht länger aus. „Wenn du irgendwann Lust verspürst, dir den Inhalt dieser Tasche näher anzusehen, wirst du unter anderem einen E-Reader finden.“

„Wozu soll ich so etwas brauchen? Wenn ich Bücher lese, will ich umblättern, die Seiten und das Gewicht spüren. Außerdem riechen frisch gedruckte Bücher außerordentlich gut. Ist dir das eigentlich schon einmal aufgefallen?“

„Ich lese weder gern noch viel. Aber gerade, wenn man Bücher regelrecht verschlingt wie du, ist so ein Teil praktisch: tausende von Büchern mit im Gepäck, dennoch leicht und handlich. Ideal, wenn man verreist.“ Er machte eine Pause, um den letzten Satz sacken zu lassen.

„Ich verreise ganz bestimmt nicht!“, stellte sie klar.

„Denkst du etwa, du kannst dich entspannen und erholen, wenn du in Salzburg bleibst? Ich habe alles organisiert und schon für dich gebucht. Überraschung!“

Sarah musterte ihn so finster, als würde sie ihn am liebsten gleich töten. Dennoch wagte er es, sich lässig mit einem Bein zu ihr aufs Bett zu setzen. „Alle nötigen Unterlagen findest du da drin, genauso wie einen Reiseführer für die Ostseeküste.“ Er nickte breit grinsend in Richtung der blauen Papiertüte. „Diesmal ausnahmsweise nicht digital. Das Format ist handlich und irgendwie finde sogar ich es komisch, beim Erkunden eines Urlaubsziels ständig auf einen Bildschirm zu starren.“

„Ostseeküste“, wiederholte sie nachdenklich.

„Mhm, Schleswig-Holstein.“

„Du willst mich nach Gelting schicken. Dorthin, wo Jakob einst gelebt hat“, schlussfolgerte Sarah.

„Du hast nicht nur ein hübsches, sondern auch ein überaus schlaues Köpfchen.“ Jens zwinkerte ihr frech zu. „Wenn du deine Haare nicht so streng aus dem Gesicht kämmen würdest, wärst du bestimmt lockerer. Es sieht so aus, als würde es weh tun. Meinst du nicht, du…“

„Das konntest du in der kurzen Zeit nicht alles organisieren“, unterbrach sie ihn.

„Stimmt.“

Sarah atmete erleichtert aus und ließ sich ins Kissen sinken.

„Ich hatte Unterstützung“, fuhr Jens munter fort, „Viele Patienten sind der Meinung, dass sie uns Ärzten etwas schulden. Das ist Schwachsinn. Erstens ist Helfen unser Beruf und zweitens helfen wir gerne. Normalerweise nutze ich solche Angebote des Entgegenkommens nicht, aber dieses Mal habe ich eine Ausnahme gemacht. Ein ehemaliger Patient von mir hat ein Reisebüro und wollte sich unbedingt erkenntlich zeigen.“

„So hoch in den Norden willst du mich verbannen? Was ist, wenn ich das nicht will? Es ist mein Leben und ich habe keine Lust, stundenlang im Auto zu sitzen.“

„Musst du auch nicht.“

Misstrauisch runzelte Sarah die Stirn. „Willst du mich chauffieren?“

„Ich nicht, aber ich kann dich beruhigen. Du wirst nicht selbst fahren müssen. Das übernimmt ein Lokführer.“

„Ich soll mit dem Zug anreisen?!“ Wäre Sarah nicht in einem Krankenhausbett gesessen, wäre sie jetzt umgekippt. Die Art der Beförderung machte ihr nichts aus. Was sie daran störte, war die Dauer. „Wie lange werde ich im Zug sitzen? Neun, zehn Stunden?“

„Ungefähr elf Stunden, dreimal Umsteigen und danach noch eine einstündige Busfahrt von Kappeln aus“, antwortete Jens kleinlaut.

„Das ist unzumutbar!“, beschwerte sich Sarah und verschränkte wieder trotzig die Arme vor der Brust. Sie erinnerte ihn an seine Töchter, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen konnten. „Das kann gar nicht entspannend sein: mit Gepäck von einem Bahnsteig zum anderen hasten, Verspätungen, nervende Mitreisende.“

„Du musst eben lernen, dich trotzdem zu entspannen. Es darf dich nicht jede Kleinigkeit belasten und aufregen. Außerdem geht es bei dir in erster Linie darum, beruflich abzuschalten. Eine Anreise per Bahn ist bestimmt stressfreier als mit dem eigenen Auto.“

Argwöhnisch starrte sie ihn an. „Was kostet dieser Spaß eigentlich? Hast du daran gedacht, dass ich mir das vielleicht gar nicht leisten möchte?“

„Das soll nicht deine Sorge sein.“

„Was soll das heißen?“

„Betrachte dich als eingeladen.“

„Sicher nicht!“ Sie stützte sich mit den Händen auf der Matratze ab und stemmte sich hoch. Dennoch war Sarah in ihrer aufrecht sitzenden Position immer noch deutlich kleiner als Jens, der ebenfalls saß. „Ich kann mir meinen Urlaub sehr wohl selbst finanzieren, auch wenn es ein Zwangsurlaub ist!“

„Das weiß ich doch“, beruhigte er sie, „So war das auch gar nicht gemeint …“

„Wie denn dann?“, fuhr sie ihn schnippisch an.

„Leider gibt es viel zu viele todkranke, hoffnungslose Fälle. Wir Ärzte können nicht überall Wunder vollbringen. Aber es gibt auch Menschen, denen man helfen könnte, die das jedoch nicht wollen. Weil sie zu stolz sind oder weil sie sich selbst längst aufgegeben haben. Ich finde, das Leben ist zu kostbar und wertvoll, um es wegzuwerfen. Wenn ich irgendeine winzige Möglichkeit sehe, diese Leute zwangszubeglücken, tue ich das.“

„Ich schmeiße also mein Leben weg, ja?!“ Sarah lachte kalt, als Jens überzeugt nickte.

„Vielleicht sollte man es in deiner Situation nicht ganz so drastisch ausdrücken. Du lässt dein Leben an dir vorbeiziehen, weil du dich zu sehr auf die falschen Dinge konzentrierst. Karriere ist nicht alles. Es gibt daneben so viel mehr, das du verpasst.“

„Jaja, schon klar. Meine Karriere umarmt mich nachts im Bett nicht. Hast du noch mehr von diesen abgedroschenen Kalendersprüchen auf Lager?“, meinte sie abfällig.

„Das hast jetzt du gesagt, aber es stimmt. Niemand will allein schlafen. Jeder sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit. Selbst du, auch wenn du es niemals zugeben wirst. Keiner will allein sterben. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede. Wir erleben hier viele Abschiede mit.“

„Aber ich sterbe ja nicht“, konterte sie.

„Wenn du so weitermachst – ohne Pause, höher, schneller, weiter – kann ich in den nächsten Jahren für nichts garantieren. Man sollte die Psyche niemals unterschätzen. Irgendwann wirst du einfach nicht mehr können, obwohl du rein körperlich betrachtet in Ordnung bist.“

Sarah wusste nicht, ob stimmte, was Jens behauptete. Konnte Burn-out wirklich zum Tod führen? Sterben wollte sie so bald jedenfalls nicht. Nicht, solange ihr Museum nur das am zweithäufigsten besuchte war.

Ja, sie fühlte sich müde und ausgebrannt und das schon seit Monaten. Sarah wollte unbedingt wieder fit werden – und das so rasch wie möglich, um dann erneut durchzustarten. Wenn das eine vierwöchige Zwangspause voraussetzte, musste sie sich wohl oder übel darauf einlassen.

„Okay, du hast gewonnen. Ich gönne mir diese Auszeit in Gelting.“

Jens‘ Grinsen nahm erneut Julia-Roberts-Ausmaße an.

„Unter einer Bedingung: Du gibst mir deine Kontodaten. Ich werde dir das Geld für diesen Urlaub überweisen. Keine Widerrede, verstanden?!“

Jens hob kapitulierend beide Hände und nickte artig. „Allerdings habe ich auch ein paar Bedingungen.“

„Welche?“, fragte Sarah genervt.

„Du nimmst dir keinerlei Arbeit mit in den hohen Norden. Genieße es einfach, dort oben ungestört tun zu können, was du dir damals vorgestellt hast.“

Sarah beäugte ihn kritisch. Seine Forderungen gefielen ihr nicht. Während sie abwog, ob sie unter diesen Umständen überhaupt noch zustimmen sollte, fuhr Jens fort: „Es wäre ideal, wenn du dein Smartphone und deinen Laptop zu Hause lassen könntest.“

Sarah schnappte entsetzt nach Luft und wollte widersprechen, doch er kam ihr zuvor. „Aber ich fürchte, dann wirst du dich weigern, überhaupt zu fahren. Können wir uns wenigstens darauf einigen, dass du nur private Telefonate führst und keine Mails checkst – es sei denn, um mit mir in Kontakt zu bleiben? Versprochen?“

Sarah überlegte, wie er herausfinden wollte, ob sie sich tatsächlich an diese Abmachung hielt.

Jens hob Zeige- und Mittelfinger in V-Form zum Schwur. „Großes Prinzessinnenehrenwort?“

So rang er also seinen Mädchen Versprechungen ab. Sarah schmunzelte über dieses kindliche Verhalten. Sie folgte seinem Beispiel, formte ein V und sagte feierlich: „Großes Prinzessinnenehrenwort.“

Sie lächelte ihn beruhigend an, während sie dieselben Finger der anderen Hand unter der Bettdecke überkreuzte.

„Tu es für dich, nicht für mich“, redete der Arzt ihr ins Gewissen. Oder wäre es zielführender an Sarahs Vernunft zu appellieren? Weder noch. Vermutlich malte sie sich ohnehin längst aus, wie sie sein Verbot umgehen konnte.

„Es ist alles vorbereitet. Ich kümmere mich gleich um deine Entlassung und den Papierkram.“

Ein zufriedenes Lächeln huschte über Sarahs Gesicht.

„Ich sage einer Schwester Bescheid, damit man dir ein Taxi ruft. Dann musst du zu Hause nur noch deine Koffer packen. Nicht vergessen: langsam angehen. Du sollst dich schonen.“

Sarahs erfreute Miene verdunkelte sich.

KAPITEL 3

Wenn Jens eine Sache in Angriff nahm, dann gründlich und vor allem schnell. Schon zwei Tage nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus fand sich Sarah in Gelting wieder. Ihr war gar keine Zeit geblieben, zwischendurch kurz im Museum nach dem Rechten zu sehen. Der Kultur-Landesrat, sprich Gabriels Onkel, hatte sie telefonisch darüber informiert, dass sie sich ausgiebig erholen sollte und ihr eine baldige Genesung gewünscht. Sein Neffe würde während ihrer Abwesenheit das Salzburger Stadtmuseum interimistisch leiten. Ihr persönliches Erscheinen war ausdrücklich nicht erwünscht.

Glücklicherweise hatte Sarah noch andere – fähige – Mitarbeiter. Die würden schon dafür sorgen, dass Gabriel das Museum in den nächsten dreißig Tagen nicht in den Ruin wirtschaften konnte. Sie müsste die Misere nämlich danach ausbaden, weil sich Gabriel und sein Onkel sicher keiner Schuld bewusst wären. Naja, für Notfälle war Sarah während ihres Zwangsurlaubs zumindest telefonisch erreichbar.

Das wusste Jens selbstverständlich nicht. Er war nach wie vor der Meinung, sie würde ihr Smartphone ausschließlich privat nutzen. Wie leichtgläubig und naiv manche Menschen doch waren. Jens hatte ihr übrigens angeboten, dass seine Frau sich um Sarahs Blumen kümmern könnte. Welche Blumen? In Sarahs Wohnung gab es keine Pflanzen. Die Raumluft konnte man auch durch richtiges Lüften regulieren. Wozu dieser zusätzliche Aufwand? Für ihre Post hatte sie ein Urlaubspostfach angemietet – pragmatisch – wie sie war. Und jetzt war sie genervt.

Die letzten zwölf Stunden hatten es gewaltig in sich gehabt. Bahnreisen sollten weniger anstrengend sein als mit dem eigenen Auto zu fahren und stundenlang konzentriert hinter dem Steuer zu sitzen? Pah, völliger Unfug!

Sarah hatte dreimal umsteigen müssen und zweimal davon blieben ihr dafür wegen Verspätungen weniger als fünf Minuten Zeit. Sie hatte mit ihrem Gepäck zig Treppen nach unten hasten, sich einen Weg durch trödelnde Fahrgäste bahnen und dann wieder atemlos genauso viele Stufen nach oben rennen müssen. Das sollte erholsam sein?!

Lifte schienen an deutschen Bahnhöfen nicht zu existieren. Auf die Suche nach einem zu gehen, hätte sie ihren Anschlusszug gekostet und mehrere Stunden Wartezeit auf einem völlig überfüllten Bahnhof beschert.

Entspannung? Fehlanzeige! Dabei sollte sie sich auf ärztliche Anweisung hin eigentlich erholen. Das wollte sie Jens unbedingt gleich nach ihrer Ankunft in Gelting mitteilen. Immerhin hatte er sie selbst darum gebeten, sich zu melden, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte.

Zumindest hatte er bei der Organisation ihrer Reise daran gedacht, für alle Bahnverbindungen einen Sitzplatz zu reservieren. Doch auch das trug nicht viel zu Sarahs Gelassenheit bei. Es war voll und laut. Und man war nicht vor penetranten, aufdringlichen Sitznachbarn gefeit. Kurz nach München hatte eine ältere Dame neben ihr Platz genommen. Als sie bemerkte, dass Sarah in einem Reiseführer schmökerte, war diese weißhaarige Quasselstrippe nicht mehr zu bremsen. Sie wäre selbst schon häufig im hohen Norden gewesen. Sehr schön wäre es dort. Was Sarah denn in diese Ecke trieb?

Was ging sie das an?!

Doch Sarah musste gar keine Antwort geben. Die kleine Dauerrednerin gab sich völlig damit zufrieden, wenn man ihr zuhörte und gelegentlich nickte. Sarah fragte sich, wann dieser zierliche Körper Luft holte.

An Lesen war nicht zu denken, solange diese Frau neben ihr saß. Irgendwann hatte sie dennoch demonstrativ ihren E-Reader ausgepackt. Doch diesen Wink hatte die Plaudertasche nicht so verstanden, wie sie es eigentlich hätte sollen. Sie wechselte einfach kurzerhand das Thema und keifte über solche neumodischen Geräte, anstatt Sarah endlich in Frieden zu lassen.

Irgendwann ignorierte Sarah sie und begann einen Krimi zu lesen. Die Geschichte war brutal und düster, perfekt! Mit kitschigen Schnulzen konnte sie nämlich nichts anfangen. Solche Romane vermittelten jungen Mädchen und naiven Frauen nämlich ein völlig falsches Weltbild. Sie warteten vergeblich auf ihren Prinzen. Doch das Glück, einen echten Prinzen zu finden, hatten im echten Leben nur die wenigsten. Kate, Maxima und Meghan zum Beispiel.

Sarah lebte lieber nach dem Motto: selbst ist die Frau! Am allerbesten für die eigene Zufriedenheit war ein erfülltes Berufsleben. Dann hatte man erst gar keine Zeit für die Liebe und das war gut so. Solch ein Gefühlschaos war nichts anderes als ein Hindernis … und die Konsequenzen – ein Ehemann und Kinder – waren jeder vernünftigen Frau ein Klotz am Bein. Wie viele – eventuell sogar untreue – Männer steckten zum Wohle ihrer Familie denn ihr eigenes Ego zurück? Kaum welche, eben! Nach zu vielen vollen Windeln, Gebrabbel und Babybrei war der Karriere-Zug leider abgefahren.

Statt heiler Welt bevorzugte Sarah einen psychopatischen Serienmörder, der nachts in Schlafzimmer einbrach und mit seinem Messer-Set Massaker anrichtete.

Und das waren erst die Bahnfahrten. Darauf folgte noch eine einstündige Busfahrt! Die war auch nicht ohne und hatte zusätzlich an Sarahs strapazierten Nerven gezehrt.

Sarah hatte den fülligen Busfahrer gefragt, wo genau sie in Gelting aussteigen musste, um am schnellsten ihre Pension zu erreichen. Immerhin würde es in diesem Ort bestimmt mehrere Haltestellen geben. Der glatzköpfige Herr hatte ihr weiterhelfen können, doch das hatte gedauert. Er wollte partout nicht von seinem unverständlichen Plattdeutsch abweichen. Die Sprache des Nordens war für Sarah mehr als fremd. Das ärgerte sie, denn sie bemühte sich doch auch, nicht im breitesten Salzburger Dialekt zu reden.

Als sie den Satz, den er ihr schon etwa zehn Minuten lang unverändert mitteilte, endlich annähernd verstanden hatte, wartete das nächste Problem. Der Bus war völlig überfüllt. Wohin das Auge reichte, saßen oder standen Schüler. Sarah war hier offenbar der einzige Fahrgast, der nicht vom Unterricht nach Hause wollte. Es gab keinen einzigen freien Platz. Weder vorne noch weiter hinten. Das merkte Sarah, als sie sich mitsamt ihrem Gepäck schwitzend durch die eng beisammen stehenden Massen durch den Mittelgang quetschte. Ihre Aktion löste verärgertes Gemurmel aus und sie war froh, dass sie nicht alles verstand, was die Jugendlichen sagten. Freundlich klangen ihre Worte nämlich nicht.

Sie musste sehr verzweifelt gewirkt haben, denn ein großer, schlaksiger Junge mit raspelkurz geschorenen roten Haaren erbarmte sich ihrer. Er überließ ihr seinen Platz und hob sogar ihre Koffer auf die Gepäckablage über den Sitzen. Sarah, die jetzt inmitten dieser jugendlichen Clique saß, musste schmunzeln, denn seit ihrer eigenen Jugend hatten sich die Gesprächsthemen wenig verändert. Sie zogen über Lehrer und nicht anwesende Mitschüler her und diskutierten, ob die Party bei Peer am Wochenende ein Erfolg werden würde. Man erkundigte sich nach Hausübungen und wer wie viel für den Englisch-Test nächste Woche lernen würde.

Bald nahm Sarah all das nur noch unbewusst auf. Sie war ganz in den Bann der Landschaft gezogen. Der Bus fuhr an der grün schimmernden Schlei entlang, vorbei an weiß getünchten, reetgedeckten Häusern und holländisch anmutenden Windmühlen. Auf manchen saftig aussehenden Wiesen grasten Pferde. Wildpferde, wie sie im Reiseführer gelesen hatte? Diese Anblicke entschädigten Sarah zumindest ein bisschen für die Reisestrapazen. Sie merkte, wie sich allmählich Entspannung und Gelassenheit in ihr ausbreiteten. Doch diese ungewohnten Gefühle sollten nicht lange anhalten.

Nun, dreißig Minuten später, stand Sarah mitten im Zentrum von Gelting. Der von naturbelassenen Backsteinbauten und reetgedeckten weißen Häusern gesäumte, recht überschaubare Platz war wie ausgestorben, dabei war es erst kurz nach achtzehn Uhr. Wie war das möglich? In welchem Kaff war sie denn hier gelandet? So hatte sich Sarah den Ortskern nicht vorgestellt.

Die paar Schüler, die gemeinsam mit ihr den Bus verlassen hatten, waren sofort verschwunden, während Sarah noch mit ihrem Gepäck gekämpft hatte. Nach dem Weg zu ihrer Unterkunft hatte sie sich bei ihnen nicht erkundigen können.

Verloren und mutterseelenallein stand sie nun hier mit ihrem Gepäck herum und wusste nicht, wohin. Alle vier Himmelsrichtungen waren mit schmalen Gassen gepflastert. Im Grunde war jede Richtung möglich. Sarah hatte die Qual der Wahl, aber keine Ahnung.

Es war ein trüber später Nachmittag. Der Wind hatte merklich aufgefrischt. Sie zog ein dünnes schwarzes Jäckchen über ihr grün schimmerndes Satinblusenkleid, das knapp unter ihrem ausladenden Hintern endete. Ihre schlanken Beine steckten in einer Lederleggings, die so eng saß wie eine zweite Haut. Normalerweise hätte sie dazu High Heels kombiniert, doch das wäre bei einer so langen Reisedauer weder vernünftig noch bequem gewesen. Daher hatte sich Sarah für flache schwarze Ballerinas entschieden. Hin und wieder musste eben auch eine eigensinnige Frau wie Sarah Hollmann Kompromisse eingehen.

Kopfschüttelnd schaute sie sich um. Das war doch unfassbar und frustrierend! Auf diesem Platz sah sie weder Menschen noch irgendein Geschäft oder ein Lokal. Sarah seufzte. Sie war zwar vorbereitet – sie kannte die Adresse ihrer Pension auswendig – doch das nützte ihr wenig, wenn sie niemanden nach dem Weg fragen konnte. Schlagartig kehrte ihr Unmut über diesen unfreiwilligen Urlaub zurück. Wollte sie hier noch länger untätig warten? Worauf denn? Bis in zwei Stunden der nächste Bus Halt machte und sie entweder den Fahrer oder die wenigen Fahrgäste fragen konnte?

Die Gegend rechts von ihr sah vielversprechend aus. Die Zahl der Häuser dort nahm eindeutig zu. Also schlug Sarah bepackt mit zwei riesigen Hartschalenkoffern, einer prall gefüllten, umgehängten Reisetasche und ihrer großen Handtasche diese Richtung ein. Wenn das Glück auf ihrer Seite wäre, hätte sie die richtige Entscheidung getroffen. Wenn nicht, waren die Chancen vermutlich höher, auf Leben in dieser bebauten Einöde zu stoßen.

Nach einigen Schritten blieb sie überrascht stehen. Das war kaum zu glauben! Da! Diese winzige Gemeinde hoch im Norden Deutschlands war tatsächlich bewohnt!

Es sei denn, dieser Mann auf dem Fahrrad hatte sich ebenso ungewollt hierher verirrt wie sie.

Sarah ließ ihre Koffer los und winkte mit beiden Händen. „Hey! Sie da! Hallo!“

Er verringerte sein Tempo, bremste und kam neben ihr zum Stehen. Der Mann war etwa in ihrem Alter, blond und sehr groß. Obwohl er in gebückter Haltung die Hände an der Lenkstange abstützte, überragte er die 1,61 Meter kleine Sarah bei Weitem.

Er musterte die Unbekannte mit dem strengen, straffen Haarknoten abschätzend. „Lassen Sie mich raten. Sie brauchen Hilfe“, zog er die richtigen Schlüsse.

„So ist es“, sagte Sarah selbstbewusst. Orientierungslos zu sein, war eine Schwäche. Wenn sie sich auch dementsprechend unsicher verhielt, wäre sie demnächst das Gespött des Dorfes. Schaut, das ist die dumme Touristin, die sich in der Enge hier nicht zurechtfindet!

Achselzuckend begutachtete er sein Fahrrad. „Tja, wenn man selbst nicht so viel schleppen kann, sollte man weniger einpacken.“ Er verzog seine Lippen zu einem spitzbübischen Lächeln, das zu seiner Frisur passte. Seine Haare waren wild verwuschelt wie vom Wind zerzaust.

Beleidigt verengte Sarah ihre Augen zu Schlitzen und musterte den Mann finster. „Selbst ist die Frau“, zitierte sie forsch ihr Motto, „Auf Sie bin ich wirklich nicht angewiesen! Ich kann mein Gepäck sehr wohl selbst tragen!“

Ihr Ärger amüsierte ihn. Sein freches Grinsen wurde breiter. „Das war ein Scherz. Sie wirken auf mich alles andere als hilflos.“

„Aber ein schlechter“, gab sie sich unversöhnlich.

„Womöglich bin ich etwas aus der Übung. Weshalb haben Sie mich angehalten?“

Sarah nannte ihm Namen und Adresse ihrer Pension.

„Sie kommen bei den Holms unter? Gute Wahl.“

„Das war nicht meine Wahl“, erwiderte sie giftig. Gleich darauf tat es ihr leid. Er war nicht schuld an ihrer Misere. Wieso bekam er dann ihre Unzufriedenheit zu spüren? Wegen eines nicht witzigen Scherzes? Aber eine Entschuldigung kam für Sarah nicht in Frage. Dann hätte sie Schwäche gezeigt.

Er sah sich stirnrunzelnd um, so als suche er jemanden.

„Wie komme ich dorthin?“, fragte sie betont höflich.

Er schien nicht nachtragend zu sein, denn er erklärte ihr bereitwillig den Weg.

Natürlich, sie war in die falsche Richtung gelaufen. Warum sollte das Glück auch einmal auf ihrer Seite sein?! Sarah bedankte sich und drehte um.

„Nichts spricht dagegen, in Ihre ursprünglich eingeschlagene Richtung weiter zu gehen. In ungefähr dreißig Minuten würden Sie das Meer sehen.“

Sarah ging ein paar Schritte auf den Radfahrer zu. „Klingt verlockend, aber nicht heute. Ich war über elf Stunden unterwegs. Um das Meer zu sehen, habe ich in den nächsten Tagen noch genug Zeit.“ Sie rang sich zu einem kleinen Lächeln durch.

„Das müssen Sie unbedingt. Es ist wunderbar. Und bei elf Stunden Reisezeit hierher wohnen Sie bestimmt nicht direkt am Meer.“

„Stimmt“, antwortete sie zögerlich. Warum interessierte er sich so sehr dafür?! Er hatte ihr geholfen, sie hatte sich bedankt und fertig. Ende. Ab jetzt sollte jeder wieder seines Weges gehen beziehungsweise fahren. Wieso tat er das nicht einfach?

„Wie wäre es mit einer Gegenleistung?“

„Wofür? Für die Wegbeschreibung?“

Er nickte.

„Sie wollen Geld für einen Satz?!“ Sarah war empört.

„Ach, nein. Ich wurde christlich erzogen. Berechnend bin ich nicht.“

Sarah zog eine dünn gezupfte Augenbraue argwöhnisch nach oben.

„Ich will kein Geld von Ihnen, aber ich möchte Sie zum Abendessen einladen. Um zwanzig Uhr in Ihrer Pension?“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Oder besser etwas später? Sie brauchen vermutlich etwas Zeit, um sich in Ihrem Zimmer einzugewöhnen und frisch zu machen.“

Er konnte kaum glauben, dass er diesen Vorschlag wirklich laut ausgesprochen hatte. Aber jetzt war es zu spät, um es rückgängig zu machen. Er erinnerte sich an die Diskussion beim heutigen Frühstück. Ständig lagen sie ihm in den Ohren, sich endlich wieder mit einer Frau zu treffen. Dass er das nicht wollte, interessierte niemanden. So könnte er später zumindest einen Versuch vorweisen. Einen missglückten zwar, aber immerhin einen. Sein Gegenüber würde nämlich garantiert ablehnen. Da war er sich sicher. Sie war eindeutig eine Frau der unnahbaren Sorte. Was auch immer sie hierher verschlagen hatte, nach Gesellschaft sehnte sie sich bestimmt nicht. Außerdem war sie definitiv eine Touristin und die blieben nie länger als zwei oder drei Wochen. Sollte sie wider Erwarten doch zusagen, ging von ihr also keine Gefahr aus.

Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, als er hörte: „Ja. Warum nicht?“

„Wirklich?!“ Er war mehr als überrascht. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit. „Aber ist Ihnen das nicht zu stressig? Sie sind gerade erst angekommen“, versuchte er zu relativieren.

„Wollen Sie jetzt einen Rückzieher machen?“, durchschaute sie ihn sofort.

„Auf keinen Fall!“, flunkerte er.

„Gut, dann sehen wir uns um acht.“

Sarah schnappte sich ihre Rollkoffer, drehte sich um und stolzierte erhobenen Hauptes davon. Wer auch immer dieser Kerl war, er war attraktiv. Wieso sollte sie ein gemeinsames Abendessen mit einem sehr ansehnlichen Mann ausschlagen? Zum Lesen bliebe ihr an den anderen Tagen und Abenden noch genug Zeit. Außerdem würde Jens sie loben, wenn er davon erfuhr. So gab sie zumindest vor, diesen Zwangsurlaub zu genießen.

Sie ließ einen verwirrten Mann zurück, der ihr irritiert hinterher starrte. Was hatte er sich da eingebrockt?! Wenigstens würde diese Frau vermutlich in ein paar Wochen wieder aus Gelting verschwinden. Dann könnte er wenigstens behaupten, er hätte es probiert und sich ernsthaft bemüht. Aber leider hatte es nicht geklappt.

KAPITEL 4

So musste die aufgeschäumte Ostsee an einem trüben, regnerischen, stürmischen Tag aussehen. Zumindest stellte Sarah es sich so vor: grau mit vereinzelten blauen Spritzern. Nur, dass Sarah nicht am Strand stand und aufs wild tobende Meer schaute, sondern sich in ihrem Pensionszimmer umsah. Die Wände hatten genau diese Farbe und die Vorhänge ein langweiliges Hellgrau. Das hölzerne Bett, der Fußboden, der dünne Bettvorleger, die Hängeleuchte und die sonstige Einrichtung waren in Anthrazit gehalten. An der Wand hinter dem Kopfende des Bettes hingen acht abwechselnd in Schwarz und Weiß gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien in verschiedenen Größen. Das Birnen-Stillleben und ein Leuchtturm stachen unter den diversen Unterwasserwesen, hauptsächlich Quallen, hervor.

Lebten überhaupt Quallen in der Ostsee? Sarah hatte keine Ahnung. Sie war Historikerin und keine Biologin. Für Naturwissenschaften hatte sie noch nie sonderlich viel übrig gehabt.

Sarah gefiel ihr neues, vorübergehendes Zuhause gar nicht schlecht. Eigentlich hatte sie von einem einfachen Pensionszimmer irgendwo im Nirgendwo, am Rande der bewohnten Welt, Schlimmeres erwartet. Aber selbst sie konnte sich täuschen.

Es wirkte gemütlich und durchaus modern, auch wenn die dunkelblau-weiß-karierte Bettwäsche für Sarahs Geschmack ein wenig rustikal anmutete. Leider war die Aussicht wenig berauschend. Von ihrem Fenster aus schaute Sarah auf eine weitläufige grüne Wiese. Darauf befand sich ein großer, unspektakulärer Holzschuppen, in dessen Nähe sich ein alter Mann und ein kleiner Junge aufhielten. Klar, die Ostsee traf am anderen Ende des Ortes auf Land, aber etwas mehr als eine simple Wiese mit einer Holzhütte hätte man doch erwarten dürfen.

Sarah wandte den Blick von den beiden Personen draußen ab. Sie inspizierte den geräumigen Schrank und legte sich innerlich ein Konzept zurecht. Planung und Ordnung waren bekanntlich das halbe Leben. Sarah fand, dass man sich das Leben dadurch sehr erleichtern konnte. Also machte sie sich gleich daran, ihr Gepäck auszupacken.

Als Sarah aus dem Bad, das in exakt denselben Farben wie das Zimmer gehalten war, wo sie ihre unzähligen Beauty-Utensilien übersichtlich angeordnet hatte, zurückkehrte, begleitete sie eine Frage. Was sollte sie heute Abend anziehen? Einfach und leger in Jeans und T-Shirt? Ganz Businessfrau in Rock und Bluse? War ein Kleid zu aufreizend und könnte einen falschen Eindruck vermitteln? Die drei Outfits, die für später zur Auswahl standen, hatte sie nebeneinander auf dem Bett ausgebreitet. In allen dreien würde Sarah blendend aussehen. Das wusste sie. Reichte das aus? Wäre unnahbar oder bezaubernd besser?

Wie sollte sie dem Blondschopf gegenübertreten?

Es war kein Geschäftsessen und auch kein Date. Oder?

Nein, selbstverständlich nicht. Es war einfach nur eine nette Geste eines höflichen Einheimischen einer Fremden gegenüber. Mehr nicht. Wie kleidete man sich diesem Anlass entsprechend?

Sarah legte großen Wert darauf, immer passend und perfekt angezogen zu sein. Sie ließ sich niemals gehen. Das käme einem Kontrollverlust gleich. Selbst was Sarah zu Hause trug, war aufeinander abgestimmt und kein buntes Sammelsurium an ausgemusterten Stücken. Sogar wenn sie einmal nicht vorhatte, ihre eigenen vier Wände zu verlassen, trug sie dezentes Make-up. Sich aufzuhübschen konnte nie schaden und sein Spiegelbild erträglich zu finden, pushte das Selbstvertrauen.

Schließlich hatte Sarah sich für einen eng anliegenden schwarzen Pullover mit Rundhalsausschnitt und eine helle, ausgewaschene Röhrenjeans entschieden. So konnte sie zeigen, was sie hatte: große, runde Brüste; einen gut proportionierten Hintern und eine schlanke Silhouette mit Kurven an den richtigen Stellen. Sie liebte es, neidische Blicke auf ihren scheinbar perfekten Körper zu ziehen … solange sie angezogen war. Schlichte schwarze Pumps passten zum Outfit genauso gut wie ihr strenger Dutt. Auf ihren Hang zu großem, opulentem, glitzerndem Schmuck verzichtete sie heute und begnügte sich mit kleinen Perlen-Ohrsteckern und ihrer Armbanduhr. Den Lack ihrer Nägel musste sie idealerweise nicht ändern. Nachthimmel nannte sich diese Farbe – tiefschwarz mit silbernen Glitzerpartikeln. Der Klassiker, eine schwarze Handtasche, war selbstverständlich mit im Gepäck.

Zufrieden betrachtete sich Sarah im Spiegel. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Ihr blieben noch vierzig Minuten, bis sie erwartet wurde. Hier wurde sie bald erwartet, doch anderswo nicht gebraucht, was ihre Stimmung dämpfte. Weder Gabriel noch irgendjemand sonst aus ihrem Team hatten sich bei ihr gemeldet. Auch kein E-Mail aus dem Museum hatte sie erhalten. Den ersten Tag ohne sie hatte man dort offenbar gut überstanden. Wirklich freuen konnte sich Sarah darüber nicht. Lief es wirklich auch ohne sie?!

Wahrscheinlich nicht. Vermutlich war Gabriel einfach nur zu stolz und zu stur, um seine Chefin im fernen Gelting um Hilfe zu bitten. Diese Anweisung hatte er bestimmt auch an die Mitarbeiter ausgegeben. Das erklärte die Stille ihres Smartphones.

Allerdings hatte sie einen Anruf zu tätigen. Pflichtbewusst meldete sich Sarah bei Jens, um ihm mitzuteilen, dass sie gut im hohen Norden angekommen war. Natürlich konnte es sie nicht unterlassen zu jammern: über die gar nicht erholsame, sondern beschwerliche Anreise und die menschliche Leere im Ort.

„Das ist doch ausgezeichnet!“, schwärmte Jens, „Du brauchst Ruhe. Wo, wenn nicht dort?“

Sarah prustete verächtlich, was Jens zum nächsten Kommentar veranlasste: „Außerdem wolltest du immer schon einmal unbedingt dorthin. Also beklag‘ dich jetzt nicht, wenn es nicht deinen Erwartungen entspricht, sondern mach‘ das Beste daraus.“

Ganz Unrecht hatte er damit nicht.

„Gefällt dir wenigstens dein Zimmer?“

„Es ist in Ordnung“, stapelte Sarah tief. Sie wollte Jens nicht die Genugtuung gönnen, dass ihre Unterkunft für die nächsten Wochen durchaus erträglich war. Eine andere Nachricht wollte sie ihm allerdings nicht vorenthalten. „Ob du es glaubst oder nicht: Ich habe in dreißig Minuten ein Date mit einem sehr attraktiven Kerl.“

Date war zwar übertrieben, doch das wusste Jens ja nicht. So erweckte sie zumindest den Eindruck, sich amüsieren zu wollen und die Zeit hier zu genießen.

„Wow, das ging ja schnell! Wie heißt denn der Glückliche?“

Sarah wäre beinahe das Telefon aus der Hand gefallen. Das war eine gute, berechtigte Frage, die sie nicht beantworten konnte. „Keine Ahnung.“

Jens lachte. „Du gehst mit einem Typen aus, von dem du nicht einmal den Namen weißt?“

„Ja!“, entgegnete Sarah überzeugt, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen, „Aber er existiert! Willst du ein Beweis-Selfie von uns?!“

„Bloß nicht. Verschrecke ihn nicht gleich. Genieß es, einfach mal nicht an die Arbeit zu denken. Denk lieber an dich und deine Bedürfnisse.“

„Was meinst du damit?“

„Auch du sehnst dich tief in deinem Inneren nach Liebe.“

„Meine Güte!“, meinte Sarah genervt, „Du bist so übertrieben romantisch. Das ist völlig weltfremd.“

„Weil ich an die Liebe glaube, die auch dir jederzeit begegnen könnte?“

„Ich gehe mit jemandem essen, mehr nicht.“ Mit der Bezeichnung Date hatte sie sich ein dummes Eigentor geschossen. „Ich kenne hier niemanden. Alles ist besser, als allein zu essen.“

„Wenn du meinst.“ Sarah konnte sein breites Julia-Roberts-Lächeln aus diesem Satz förmlich heraushören. „Auch du hast ein Recht auf Liebe, Sarah. Wenn sie einem begegnet, muss man dieses Glück aber auch zulassen und das Geschenk dankbar annehmen.“

„Mir ist die Liebe nicht begegnet“, antwortete sie scharf.

„Ach? Tja, dann viel Spaß beim zwanglosen Abendessen mit einem Fremden.“

Jens war einfach unverbesserlich.

„Wow!“, sagte die große, schlanke Brünette, die hinter der Rezeption stand.

Alexandra, die Frau des Pensionsbesitzers, die fast für sämtliche Belange der Gäste zuständig war, mustere anerkennend Sarahs Outfit. Sie redete gern und viel. Viel zu viel für Sarahs Geschmack. Das hatte sie beim Einchecken leidvoll erfahren müssen. Sie wollte daher nur schnell weg. Dummerweise befand sich Alexandras kleines Reich hinter der halbrunden, hölzernen Rezeptionstheke sehr zentral und mit bestem Blick in Richtung Tür und ins Restaurant.

„Sie sehen scharf aus. Zum Anbeißen. Mit Kurven an den richtigen Stellen. Ich bin leider nicht so gesegnet – weder vorne noch hinten.“ Sie schaute mit einem schiefen Lächeln an sich hinab.

Was sollte frau darauf erwidern? Glücklicherweise ersparte ihr Alexandra eine Antwort.

„Wen suchen Sie denn?“, fragte sie neugierig, als sie bemerkte, dass Sarah sich suchend umsah.

Notgedrungen beschrieb Sarah den Mann, mit dem sie verabredet war. Ein überraschtes Lächeln huschte über Alexandras schmales Gesicht, löste sich aber sehr bald in ein höchst erfreutes Grinsen auf.

„Ah!“, summte sie, „Und mir wollte er partout nicht verraten, was er hier so ganz allein macht.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Tja, vor mir kann man aber nichts verbergen.“

„Er ist also schon da?“ Sarah verrenkte sich, um in das Lokal zu spähen, konnte ihn aber nicht entdecken.

„Kennen Sie sich eigentlich schon länger?“, wollte Alexandra wissen und lehnte sich mit verschränkten Armen auf den Holztresen.

„Wir sind uns vorhin zufällig begegnet.“

„So, so“, sinnierte sie, „Fühlen Sie sich geehrt. Mit Roland auszugehen, wünschen sich hier viele Single-Frauen.“

Roland, so hieß der große, blonde Unbekannte also.

„Und das passiert nicht oft, oder wie?“

„Sehr, sehr, sehr selten.“ Das letzte sehr klang sehr gedehnt. Jetzt wurde diese Unterhaltung für Sarah richtig interessant. Offenbar traf sich Roland nicht häufig mit Frauen. Von Beziehungen hielt er anscheinend nicht viel. Exzellent. Das entsprach genau Sarahs Idealen. Sie würde heute mit ihm essen, aber sie wollte in diesem Kaff keinen anhänglichen Mann fürs Leben finden. Sie brauchte keinen Klotz am Bein, der ihre Karriere zunichtemachen könnte, sobald er sich Nachwuchs in den Kopf gesetzt hätte. Oder Schlimmeres. Vielleicht müsste sie sogar hierher ziehen, wenn er hier fest verwurzelt wäre. Nie im Leben!

„Ich esse also nicht mit dem Dorf-Womanizer zu Abend“, schlussfolgerte Sarah und setzte sich in Bewegung.

„Ganz sicher nicht.“ Alexandra kicherte. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend mit unserem Pastor!“ Pastor?!

Sarah hatte Mühe, auf ihren Pumps nicht zu stolpern.

Dann entdeckte sie ihn. Er saß an einem Tisch direkt an der großen Fensterfront. Dahinter erstreckte sich das satte Grün vieler Bäume. Man blickte hinaus in einen überschaubaren, gepflegten Garten. Auch er hatte sie bemerkt und erhob sich lächelnd, als sie den schwarzen Tisch erreichte. Nichts, absolut nichts deutete darauf hin, dass es sich bei diesem Kerl um einen Mann Gottes handelte.

„Hochwürden“, begrüßte sie ihn amüsiert über die unvorhergesehene Wendung, die dieser Abend brachte.

Sie reichten sich förmlich die Hände. Sein Händedruck war warm und fest, seine Hände waren weich. Sarah wusste auch, warum. Körperlich anstrengende Arbeiten gehörten nicht unbedingt zu seinen Aufgaben. Ein bisschen predigen, ein wenig Trost spenden und gelegentlicher Religionsunterricht, damit die Jugend nicht vom rechten Weg abkam – das war das Jobprofil eines Priesters. Ob evangelisch oder katholisch war in dieser Hinsicht egal.

„Ein katholisch erzogenes Mädchen.“ Er grinste. „Niemand hier nennt mich Hochwürden“, sagte er, während er ihr den dunkelgrauen Armlehnstuhl neben seinem zurecht rückte.

Abwehrend hob Sarah die Hände. „Danke, aber das schaffe ich alleine.“ Selbst war die Frau!

„Okay.“ Wenig überrascht von ihrer Reaktion trat er zurück und setzte sich wieder. Er sah gut aus in der dunkelblauen Jeans und dem weißen Wollpullover. Die Blässe des Oberteils ließ seine gebräunte Haut noch mehr strahlen.

„Das hatte ich erwartet.“

„Was?“, hakte Sarah nach, während sie sich niederließ. Jetzt bereute sie, dass sie so stur gewesen war. Der Stuhl war schwerer, als er aussah.

„Dass Sie sich ungern helfen lassen. Es sei denn, Sie müssen gezwungenermaßen jemanden nach dem Weg fragen.“ Er beobachtete belustigt, wie sie sich mit dem Sessel abmühte.

Als Sarah endlich bequem saß, lehnte sie sich lässig zurück und schenkte ihm ein sarkastisches Schmunzeln. „Dürfen Sie das eigentlich?“

„Was denn?“

„Ohne Ihr Kollar aus dem Haus gehen.“ Sie musterte seinen Hals – weit und breit kein schwarzer Priesterkragen mit weißem Quadrat in Sicht, sondern nur gebräunte Haut und weiße Wolle.

„Wir handhaben das nicht so streng wie ihr Katholiken. Es weiß ohnehin jeder hier, wer ich bin. Sogar Sie sind inzwischen eingeweiht.“

„Verraten Sie mir Ihren Namen oder soll ich Sie weiterhin Hochwürden nennen?“

„Roland Callsen.“

„Doktor Sarah Hollmann“, stellte sie sich steif vor.

„Soll ich Sie im Gegenzug Frau Doktor nennen?“

„Sarah reicht völlig.“

Er wollte sich gerade erkundigen, ob sie Ärztin war oder woher ihr Titel ansonsten stammte, als Gertrud neben ihnen stand.

„Pastor Callsen, was darf ich Ihnen und Ihrer Begleitung zu trinken bringen?“ Die junge, schlanke, blonde Kellnerin reichte ihnen die in dunkles Leder gebundenen Speisekarten und entzündete die weiße Stabkerze im silbernen Leuchter.

Das ist kein Date, rief sich Sarah in Erinnerung, auch wenn Alexandra und dieses junge Ding offenbar anderer Meinung waren. Ein Blick durch das ziemlich leere Lokal zeigte ihr allerdings, dass jeder Tisch gleich dekoriert war: mit weißen Stabkerzen und einem großen, runden Blumenarrangement in der Mitte. Gelbe Tulpen, blauer und weißer Flieder sowie irgendeine violette Pflanze, die Sarah noch nie zuvor gesehen hatte, bildeten das sommerlich duftende Set.

„Meine übliche Wahl. Der Chardonnay, bitte.“

Gertrud nickte lächelnd und schaute Sarah abwartend an.

„Wein ist immer gut. Ich nehme denselben, wenn Hochwürden ihn empfehlen kann.“

„Definitiv, Frau Doktor.“

Die Blondine runzelte die Stirn, nickte abermals und setzte sich in Bewegung.

„Weißwein – also wollen Sie Fisch?“, erkundigte er sich.

„Ich weiß es noch nicht.“

Sarah öffnete die Speisekarte und schmökerte darin. Manches klang unbekannt, aber das meiste dennoch ausgezeichnet. Traditionelle, deftige nördliche Hausmannskost – das würde keine leichte Entscheidung werden.

Sarah war der Meinung, dass man sich durchaus etwas gönnen durfte, wenn man die überschüssigen Kalorien danach wieder verbrannte. Eine Frau musste nicht fasten und sich ständig mit neuen Diäten quälen, wenn sie stattdessen einfach ein wenig Sport machte und gelegentlich auf ihre Linie achtete.

Suppen und Eintöpfe waren hier beliebt, aber für Sarah passten solche Gerichte eher in die kalten Wintermonate als zu Juni-Abenden. Fleisch, rote Bete, Kartoffeln, Bohnen, Speck, Birnen und Fisch waren in unterschiedlichen Variationen hauptsächlich auf der Speisekarte zu finden. Ein paar wenige Gerichte, die nicht ganz so klassisch und einheimisch wie Mehlbüddel oder Schnüsch klangen, fielen Sarah auf. Man versuchte aus den üblichen, altbewährten Zutaten, Neues zu zaubern, was Sarah verlockend erschien.

Roland entschied sich recht bald für Süßsaure Gänsekeule, einer Geflügelspezialität in süß-saurer Soße mit Bratkartoffeln.

Sollte sie Fisch nehmen? War man als Nicht-Küstenbewohnerin im hohen Norden nicht fast dazu verpflichtet, sich im Urlaub quer durch die Fischgerichte zu kosten? Sarah orderte den Barsch in Salzkruste.

Sie hatte die richtige Wahl getroffen. Es schmeckte herrlich und auch der Weißwein war ausgezeichnet. Deshalb wunderte es Sarah umso mehr, dass sie immer noch fast allein im Lokal waren.

„Ist das Restaurant nur für Pensionsgäste?“, fragte sie.

„Oh, nein. Hier darf jeder essen. Nur essen die meisten an einem Donnerstagabend eben zu Hause. Warten Sie, was morgen und übermorgen hier los sein wird. Und am Sonntag erst. Sie sind nicht der einzige Gast. Wir haben den Massenansturm ihrer Mitbewohner heute zum Glück verpasst.“ Er tauchte ein Stück Fleisch tief in die Soße und stopfte es sich genüsslich in den Mund. Dabei fiel Sarah sein dunkelbraunes Lederarmband auf, das er am linken Handgelenk trug und das halb über den Pullover rutschte.

„Sehr häuslich“, sagte sie geringschätzig und genehmigte sich einen Schluck.

„So ist das Landleben“, entgegnete Roland achselzuckend, „Woher kommen Sie?“

„Salzburg.“

„Uh, ehemaliges Fürsterzbistum, eine Hochburg des Katholizismus.“ Jetzt klang er nicht weniger abfällig.

„Diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Leider liegt ein Großteil der Macht aber immer noch in den Händen Einzelner. Unser Bürgermeister vergibt wichtige Posten und Aufträge liebend gern an Freunde und Familie. Mein Assistent ist zwar unfähig, aber leider sein Neffe.“

„Vetternwirtschaft wird man nie ausrotten können“, antwortete Roland resignierend. „Sie haben sogar einen Assistenten, wow. Was machen Sie denn beruflich?“

Gewohntes Terrain. Sarah schob den leeren Teller von sich weg und tupfte sich die Lippen vorsichtig mit der blütenweißen Serviette ab, um ihren roten Lippenstift nicht zu verwischen. Dann erzählte sie stolz, dass sie das am zweithäufigsten besuchte Museum in der Stadt Salzburg leitete. Sie berichtete ausführlich über die aktuellen Ausstellungen und ihre Pläne für die nächsten Jahre, um das Salzburger Stadtmuseum an die Spitze der Besucherstatistik zu führen.

„Langweile ich Sie?“, fragte Sarah schnippisch, als sie sein schwaches Lächeln bemerkte.

Roland war aufgefallen, dass die Begeisterung, mit der sie sprach, ihre rehbraunen Augen nicht erreichte. Nüchtern listete sie auf, was sie in ihrem Alter – knapp über dreißig, schätzte er – schon alles erreicht hatte und was sie noch vorhatte. Neben ihm saß eine Frau, deren Beruf alles für sie bedeutete. Wenn man ihr das nähme, bliebe nichts mehr. Irgendwie überkam Roland das Gefühl, dass sie schon sehr nahe am Abgrund, kurz vor dem tiefen Fall ins dunkle Nichts, stand, das aber geschickt zu verbergen versuchte. Viele hätte sie mit ihrer geheuchelten Leidenschaft täuschen können, aber nicht ihn. Als Pastor hatte er oft genug mit geschundenen Seelen zu tun. Auch mit Leuten wie Sarah, die nicht wollten, dass man sie durchschaute. Nur keine Schwäche zeigen, war wohl auch ihr Motto. Dabei konnten Ehrlichkeit und ein Zuhörer befreiend sein.

„Sie langweilen mich nicht“, sagte er ruhig, „Ich frage mich nur, was Sie ausgerechnet in diese Ecke treibt. Findet in der Nähe eine Historikerkonferenz statt?“

„Urlaub. Ein paar freie Wochen sind selbst mir hart arbeitender Person vergönnt“, erwiderte sie kühler als beabsichtigt.

Er schwieg, bis Gertrud das Geschirr abgeräumt hatte. Ein Dessert wollten beide nicht, Weinnachschub schon.

„Schön. Das ist eine schöne Gegend. Hier können Sie abschalten.“

„Das habe ich auch vor!“, meinte Sarah giftig. Sie schloss kurz die Augen und rief sich in Erinnerung, dass er nicht die Schuld an ihrer Misere trug. Roland war ein netter Kerl, der ein bisschen Smalltalk betreiben wollte. Es gab keinen Grund, ihn so anzufauchen. Aber auch keinen, sich zu entschuldigen.

Er musterte sie eindringlich. Das nagende Gefühl, dass sie nicht gern hier war, ließ ihn nicht los.

Unruhig rutschte Sarah auf ihrem Stuhl hin und her. Roland schaute einen beim Reden und Zuhören immer direkt in die Augen. Jetzt fixierte er sie regelrecht mit seinen stechend blauen Augen und fesselte sie damit an den Sessel. Es war, als würde er tief in ihr aufgewühltes Inneres blicken, und Sarah konnte sich nicht dagegen wehren. Sie merkte, dass er kurz davor war, ihre Deckung zu durchbrechen. Und das gefiel ihr gar nicht. Betont munter fuhr sie fort: „Der Grund, warum ich ausgerechnet hier gelandet bin, heißt Jakob Hansson.“

„Und trotzdem sitzen Sie mit mir hier?“, meinte er schmunzelnd.

„Ja, weil Jakob seit 1830 tot ist. Glauben Sie mir, wenn ich in die Vergangenheit reisen könnte, würde ich mich sehr gerne mal einen Abend lang mit ihm unterhalten.“ Sie erzählte ihm vom abenteuerlichen Leben dieses Mannes, dem sie ihre Abschlussarbeit an der Universität gewidmet hatte.

„Spannend“, kommentierte Roland und Sarah zweifelte keine Sekunde daran, dass er es ehrlich meinte. „Sie sollten mit Hinnerk Holm sprechen. Dieser Kerl ist ein wandelndes Geschichtsbuch. Er weiß alles über diese Gegend.“

„Holm“, wiederholte sie stirnrunzelnd, „Hat er …?“

„Ja, hat er. Er hat mit den Holms, wo sie untergekommen sind, zu tun. Jahrzehntelang hat er diese Pension geführt. Inzwischen sind dafür sein Sohn und seine Schwiegertochter zuständig.“

„Alexandra von der Rezeption.“

„Richtig. Wenn Sie sich für die Geschichte der Region interessieren …“ Er klatschte sich sanft an die Stirn. „Natürlich tun Sie das. Sie sind Historikerin. Sie müssen sich unbedingt mit Hinnerk unterhalten.“

Gertrud stellte erneut gut gefüllte Weingläser vor ihnen ab. Amüsiert schaute Sarah der jungen Blondine hinterher.

„Was erheitert Sie so?“, wollte Roland wissen.

„Ich frage mich, was sie wohl gerade denkt.“

„Gertrud?“ Er musterte seine Begleitung irritiert.

„Zwei attraktive Menschen beim gemeinsamen Abendessen in einem halbleeren Restaurant. Noch dazu: verschiedene Geschlechter.“

Sarah forderte sich innerlich zu mehr Beherrschung auf. Zu viel Alkohol benebelte die Sinne. Das war die einzige Erklärung, warum sie solche Gedankengänge überhaupt hatte und diese dann auch noch laut aussprach. Peinlich und beschämend war das.

„Sie gehen selten mit Frauen aus“, schoss sie dennoch nach und biss sich sofort auf die Lippen. Jetzt ist genug, Sarah!, ermahnte sie sich selbst, Vom Wein und mit diesem Blödsinn!

„Erst seit ein paar Stunden da, aber schon bestens informiert“, murmelte er.

Sarah glaubte, ein wenig Ärger aus seiner nicht allzu tiefen Stimme herauszuhören, obwohl er das zu verbergen versuchte. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, ihn zum Lächeln zu bringen, was ihr mit dem nächsten Satz auch prompt gelang: „Dürfen Sie das überhaupt, mit einer Frau gemeinsam essen?“

Vergnügt prostete er ihr zu. Zwei makellose weiße Zahnreihen blitzten auf, ehe sich seine Lippen um den Rand des Glases schlossen. Was war nur los mit ihr? Warum erregte sie dieser Anblick? Wieso wünschte sie sich, diese Lippen auf ihrer Haut zu spüren? Ihr letztes Mal lag etwa ein halbes Jahr zurück. Und was hatte ihr dieses kurze Intermezzo mit Gabriel auf der Toilette gebracht? Überhöhte Forderungen seinerseits. Was sollte daran verlockend sein, mit einem Mann Gottes zu schlafen? Vielleicht war es aber genau das, was sie so sehr reizte. Kombiniert mit mehr Weißwein, als gut für sie war.

Ob er beim Orgasmus wohl oh, Gott rief?

„Essen müssen wir alle. Besser in Gesellschaft als allein. Das ist ein ganz unverfängliches Miteinander. Und wenn nicht, täten wir auch nichts Verbotenes. Mich schränkt kein Zölibat ein. Abgesehen davon haben sich nicht einmal Ihre Erzbischöfe und schon gar nicht einige Päpste daran gehalten.“

„Sie schätzen die katholische Kirche nicht besonders, oder?“ Das war für Sarah nicht tragisch. Sie selbst war nicht sehr gläubig. Nicht mehr, zumindest.

„Ich mag keine Scheinheiligkeit. Aber lassen wir das. Die Vergangenheit ist dazu da, um aus ihr zu lernen. Widmen wir uns lieber der Zukunft. Wie lange bleiben Sie?“

„Vier Wochen.“

„Vier Wochen?“, wiederholte er überrascht. „Kommt man denn im Museum ein Monat lang ohne die Chefin aus?“

„Noch dazu, wenn mein Assistent interimistisch die Leitung übernommen hat?“, versuchte sie zu scherzen.

„Der unfähige Neffe?“

„Genau der!“

„Oh, je! Dennoch sitzen Sie kilometerweit entfernt gelassen bei einem Glas Wein. Oder nein, das wie vielte ist das inzwischen?“

Da Gertrud das benutzte Geschirr immer gleich entfernte, hatten die beiden den Überblick verloren. Von ihnen unbemerkt war längst die Dämmerung hereingebrochen. Es war dunkel draußen. In der großen Fensterfront vor ihnen konnte man ihr Spiegelbild erkennen. Wenn man sich sehr anstrengte, sah man, wie sich die Äste der Bäume im Wind bewegten.

Sarah zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das gilt auch für Salzburg. Ich weiß nicht, wie es funktionieren soll, aber es muss. Irgendwie muss es einfach.“ Die Begeisterung von vorhin – auch wenn sie nicht ganz aufrichtig gewesen war – war nun gänzlich aus ihrer Stimme verschwunden. Stattdessen schwangen Traurigkeit und Verbitterung mit.

„Sie sind nicht ganz freiwillig hier, richtig?“, wagte er einen sanften Vorstoß.

Wieder hatte sie das Gefühl, dass Rolands Augen ihr tief in die Seele blickten. Er beherrschte seinen Job wirklich ausgezeichnet. Ein Pastor als Seelsorger, im wahrsten Sinne des Wortes. Irgendetwas hatte er an sich, das es einem erleichterte, sich zu öffnen. Seine ruhige Art; das Nachhaken, ohne Zwang oder Druck auszuüben; die verlässliche Bereitschaft zuzuhören.

Kurz machte sich Sarahs rationale Seite bemerkbar. Sie überlegte, wie man vier Wochen Urlaub am Stück in so einer verantwortungsbewussten Position wie der ihren – noch dazu mit einem äußerst inkompetenten Nachfolger wie Gabriel – logisch erklären könnte. Ihr fiel keine plausibel klingende Lüge ein. Außerdem würde dieser stechende Blick etwaige Unwahrheiten gleich im Keim ersticken. Sie musste sich nichts vormachen. Roland war erfahren genug, um sofort zu merken, wenn man flunkerte. Außerdem: Was konnte es schaden, wenn sie ihn einweihte? Sollte er sie doch für schwach halten. Nach vier Wochen würde sie diesem Ort für immer den Rücken kehren. Danach krähte kein Hahn mehr nach der übermüdeten Museumsdirektorin aus dem fernen Salzburg.

„Müssen wir in den Beichtstuhl? Oder ist das auch hier, bei gutem Wein, möglich?“ Wie immer, wenn sie unsicher war, überspielte sie es mit Ironie.

„Meine Wirkungsstätte ist an keine Kirche gebunden. Das Beichtgeheimnis gilt aber überall. Daran halte ich mich felsenfest.“ Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, bei dem sich die Fältchen rund um seinen Mund vertieften.

„Mein Beruf ist mein Leben“, begann sie, „Meine Leidenschaft dafür hat in den vergangenen Monaten immer mehr abgenommen. Das wollte ich lange nicht wahrhaben, aber es ist leider so. Bis ich vor ein paar Tagen zusammengebrochen bin… Burn-out lautet die Diagnose. Mir wurde dieser Zwangsurlaub verordnet. Nur deshalb bin ich hier.“

Ihr Geständnis verblüffte ihn kaum. So etwas hatte er erwartet. Sarah war ein Workaholic. Das war eindeutig, auch wenn man sie nicht näher kannte. Niemals würde sie sich freiwillig ein Monat lang zurückziehen und das Feld einer ungeeigneten Vertretung überlassen.

„Auch wenn Sie jetzt noch nicht den Sinn begreifen, für etwas wird diese Auszeit gut sein. Gottes Wege sind unergründlich.“

„Gott?!“ Sarah lachte bitter und ertränkte ihren Kummer und ihre Wut mit einem Schluck Wein.

„Sie hadern mit Gott?“ Seine Frage klang mehr nach einer Feststellung, ohne Vorwürfe. Vermutlich war sie nicht die erste, die ihm begegnete und nicht viel von seinem Chef hielt.

„Oh, ja! Ich hadere!“ Krampfhaft umklammerte Sarah das Glas. Roland befürchtete kurz, dass das fragile Element unter dem erbarmungslosen Druck ihrer Finger zerbrechen würde. Schließlich stellte sie es ab und er entspannte sich wieder.

„Das einzig Positive daran ist, dass ich einen alten Bekannten aus Studienzeiten wieder getroffen habe. Jens ist inzwischen Arzt und hat mich hierher geschickt.“

„Dann lassen Sie uns auf Jens trinken und ihm danken.“ Er hob sein Glas und prostete ihr zu. „Er hat sie dorthin beordert, wo Ihr Jakob einst gelebt hat und ich heute lebe. Ihnen wäre ein Abendessen in bester Gesellschaft entgangen.“

Sie stießen an. Als das Gläserklirren verebbt war, fragte sie süffisant: „Ist Hochmut denn keine Sünde?“

„Keine sehr große. Über Hochmut in Maßen sieht Gott hinweg.“

„Sie sind der Experte“, kommentierte sie breit grinsend. Plötzlich, vermutlich berauscht vom hervorragenden Wein, überkam es sie, eine Frage zu stellen. Zuvor musterte Sarah nochmals kurz unauffällig seine Hände. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht.

„In Liebesdingen sind Sie offenbar weniger ein Experte. Sie sind Single, oder? Und jede Frau im Umkreis hat es laut Alexandra auf sie abgesehen.“

Damit hatte sie ihn überrascht. Sein Lächeln erstarb schlagartig. Seine Stimme klang nicht mehr so fest wie zuvor, als er sagte: „Ich bin verheiratet.“

„Ach?!“

Warum führte er sie dann zum Abendessen aus? Sofort erinnerte sich Sarah selbst daran, dass ihre Zusammenkunft völlig harmlos und unverfänglich war. Er war Pastor und einfach nur ein netter Kerl, der sich aus purer Nächstenliebe einer einsamen Fremden angenommen hatte.

„Sie tragen keinen Ehering.“ Dieser Satz klang vorwurfsvoll.

„Das habe ich nie. Wie so viele andere Männer auch nicht.“

„Die hiesige Damenwelt macht sich also völlig unbegründet Hoffnungen?“

Schade, dachte Sarah und ein klein wenig Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Die Chance, dass dieser attraktive, sympathische Mann ihr den Urlaub gelegentlich versüßte, war schlagartig dahin.

Gelting war eine winzige Ortschaft. Sie würde es sowieso erfahren. Warum sollte er es ihr dann nicht gleich persönlich mitteilen? Außerdem täte es bestimmt gut, es jemanden zu erzählen. Genau das predigte er seiner Gemeinde regelmäßig. Eine Frau, die nach einem Monat wieder fort war, einzuweihen, konnte niemandem schaden. Schließlich hatte sie sich ihm auch anvertraut. Es war nur fair, dasselbe zu tun.

„Ich war verheiratet“, korrigierte er sich, „Meine Frau starb vor drei Jahren.“

„Oh.“ Mehr kam Sarah nicht über die Lippen. Sie hasste Beileidsbekundungen, vor allem halbherzige, die man nur aussprach, weil sie in solchen Situationen von einem erwartet wurden. Damit hatte sie selbst leidvolle Erfahrungen gemacht. Sie konnte nicht ehrlich behaupten, dass ihr sein Schicksal Leid tat. Sie kannte ihn nicht lange genug und hatte seine Ehefrau überhaupt nicht gekannt. Was würde es ihm helfen, Mitleid zu heucheln? Außerdem brachte einem Mitleid keinen Schritt weiter. Mitleid holte verstorbene Angehörige nicht zurück ins Leben.

„Doris wurde beim Joggen am Gehsteig von einem Auto erfasst“, fuhr Roland fort, „Sie hatte schwere Kopfverletzungen und starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. An diesem Morgen war es düster und nebelig. Man konnte den Fahrer nicht ausfindig machen. Alles, was man herausfand, war, dass es ein silberner Wagen gewesen sein musste. Man hat Lackspuren an Doris‘ Kleidung gefunden. Das ist das einzige Faktum. Alles andere sind Spekulationen. Die Polizei hat vermutet, dass der Fahrer betrunken auf dem Weg nach Hause gewesen sein könnte. Womöglich ist er Schleichwege gefahren, um einer Kontrolle nicht ins Netz zu gehen. Oder er stammte nicht einmal aus der Gegend. Wie viele Menschen kommen Tag für Tag nach Hamburg? Unzählige.“

Roland atmete tief durch. Es tat gut, sich all das endlich von der Seele zu reden. Mit Leuten zu sprechen, die nicht unmittelbar in die Geschehnisse involviert waren oder ihm nahestanden, war einfacher, als sich Betroffenen, die selbst schwer mit ihrer Trauer kämpften, anzuvertrauen.

„Danach sind wir umgezogen. Hamburg, meine Geburtsstadt und meine Heimat, war plötzlich mit einem Makel behaftet. Wir konnten dort nicht länger bleiben. Gott sei Dank war diese Stelle in Gelting frei. Es liegt nahe genug, um nicht unsere Wurzeln zu verlieren, bot aber gleichzeitig den nötigen Abstand.“

Wenn Roland wüsste, wie gut sie seinen Verlust und seinen Kummer nachempfinden konnte.

„Wir?“, fragte Sarah, ohne ihre Fassade fallen zu lassen.

„Ich habe zwei Töchter.“ Ein warmes Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. „Julia ist fünfzehn und Nele sieben. Meine Mädchen haben mich damals gerettet. Ich musste funktionieren, unser Leben musste weitergehen. Für sie beide.“

Sarah schluckte schwer. Sie rechnete drei Jahre zurück. Wie jung waren die Mädchen gewesen, als sie ihre Mutter verloren hatten! Wie furchtbar musste ihr Tod für die zwei gewesen sein! Wie gut sie nachvollziehen konnte, was sie durchgemacht hatten! Leider.

„Die beiden liegen mir ständig in den Ohren, dass ich mich endlich wieder mit Frauen treffen soll“, sagte er achselzuckend und schmunzelte. Genau dieses Schmunzeln schien er nie lange abzulegen. Seine Miene war immer ein klein wenig verschmitzt.

„Sehr schmeichelhaft. Ich bin für Sie also ein notwendiges Übel, um Ihren Nachwuchs zufriedenzustellen“, meinte Sarah sarkastisch.

„Ich würde Sie eher als Trophäe bezeichnen. Darauf, dass Sie mit mir den Abend verbringen, können wir stolz sein. Irgendeine Dame aus dem Ort zu fragen, wäre ein Leichtes. Sie hingegen waren eine Herausforderung. Mit einem Ja von Ihnen hatte ich nicht gerechnet.“

Roland verschwieg ihr, dass er sie nur aus diesem einen Grund eingeladen hatte. Innerlich hatte er sie vor ein paar Stunden schon als vertane Chance verbucht. Eine Gelegenheit, die er zwar versucht hatte zu nutzen, aber dummerweise hätte es nicht geklappt. Tja, dennoch saß er jetzt hier mit ihr. Sein Plan war nicht aufgegangen. Vor allem, da er ihre Gesellschaft sogar genoss.

Dass er sie als Trophäe betrachtete, gefiel Sarah. Sie hasste es, Durchschnitt zu sein. Für Roland war sie offenbar mehr als das. Eine Herausforderung. Stolz nippte sie am Wein. Als Sarah ihr fast leeres Glas abgestellt hatte, wollte sie wissen: „Wieso hadern Sie nicht mit Gott? Nach allem, was Ihrer Familie zugestoßen ist? Er hat Ihnen das angetan. Das ist Ihnen doch bewusst, oder?!“

„Doris‘ Tod war nicht umsonst, so schwer es auch zu ertragen war. Gott hatte diese Aufgabe für mich, die ich meistern musste.“

Sie lachte höhnisch. „Das ist grausam.“

„Gott ist nicht grausam. Ganz im Gegenteil! Er ist gütig“, widersprach er ihr und sie las unerschütterliche Glaubenstreue in seinen blauen Augen. Daraus zog er seine Stärke. „Mit Doris‘ Tod hat Gelting nach Langem endlich wieder einen Pastor bekommen. Zuvor musste mein Kollege aus Nieby die Gemeinde mitbetreuen.“

Sarah deutete anklagend in Richtung Decke. „Ihre Frau musste also sterben, weil Ihr Chef da oben seine Schäfchen hier gut versorgt wissen wollte. Das ist nicht gütig. Doris hätte stattdessen beispielsweise ein Jobangebot, das sie gar nicht hätte ausschlagen können, bekommen können. Dann hätten Sie Doris bestimmt hierher begleitet. Auf diese Weise hätte Gelting auch einen Pastor bekommen, ohne zwei kleinen Kindern kaltherzig die Mutter zu nehmen.“

„Ihre Überlegung enthält zu viele hätte. Doris war Verkäuferin. Sie mochte ihren Beruf, aber eine steile Karriere war ihr nie wichtig. Wäre Doris noch am Leben, hätten wir Hamburg nie verlassen. Die Stadt war unser zu Hause.“

Sarah schüttelte den Kopf und prustete verächtlich. „Sie reden sich die Kaltblütigkeit Ihres Vorgesetzten schön, weil Sie nicht sehen wollen, wie bösartig er in Wirklichkeit ist.“

Nachdenklich runzelte Roland die Stirn. „Was hat Gott Ihnen – Ihrer Meinung nach – angetan?“

„Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie es Ihren Töchtern damals ging und wie es ihnen vielleicht auch heute noch geht. Gott ist ein Monster, der sich von unserem Leid ernährt. So habe ich ihn mir als Kind immer vorgestellt. Kein netter, alter Herr mit weißem Bart, der auf einer Wolke sitzt und das Weltgeschehen verfolgt, sondern er ist die Wolke selbst: eine riesige schwarze Gewitterwolke, die von Tag zu Tag noch größer wird. Ein Tsunami hier, ein Terroranschlag dort, bitterböse private Schicksalsschläge – all das genießt er. Er hat ein düsteres Herz und freut sich diebisch über den Kummer der Menschen.“

„Sie haben auch jemanden verloren“, stellte er fest.

Sarah schaute ihn finster an. „Wer hat Spaß daran, einem Kind die Eltern und den Bruder zu nehmen? Einem unschuldigen Kind?“, fragte sie zynisch, „Die Antwort ist ganz einfach: Ihr gütiger Gott.“

„Wie alt waren Sie?“

„Neun.“

Eine eiskalte Hand schloss sich um Rolands Herz. Kurz glaubte er, seiner Tochter Julia gegenüberzusitzen, der er erklären musste, warum Gott dafür gesorgt hatte, dass ihre Mutter sie nie wieder in die Arme nehmen konnte. Ihr nie wieder etwas vorlesen oder vorsingen konnte. Sie nie wieder trösten konnte. Sie hatte genauso wütend und verbittert reagiert wie Sarah. Egal, wie er versucht hatte, sie aufzuheitern. Julia hatte es nicht zugelassen.

„Wollen Sie darüber reden?“

„Nein!“

Genau wie Julia.

Sarah hatte mit diversen Therapeuten sprechen müssen, weil ihre Tante und ihre Ärzte darauf bestanden hatten. Jens war der einzige Mensch, dem sich Sarah Jahre später freiwillig anvertraut hatte. Und das war nur seiner Beharrlichkeit geschuldet. Irgendwann hatte sie ihm dann einfach vieles erzählt. Nicht alles, aber das meiste. Sie merkte, dass der Pastor und sie in dieser Hinsicht nie derselben Meinung sein würden und wollte sich den restlichen Abend nicht verderben. Er wusste ohnehin bereits viel mehr über sie, als sie ihm hatte sagen wollen.

Doch Rolands Missionarsgen war nicht so einfach ruhigzustellen. Wenn jemand Gott so sehr ablehnte, konnte er nicht einfach taten- und wortlos zusehen, auch wenn es sich dabei um eine Katholikin handelte.

„Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass Gott Ihnen damit einen Weg weisen wollte? Versuchen Sie, es doch so zu sehen. Der Tod Ihrer Eltern und Ihres Bruders muss für ihn einen Sinn gemacht haben.“

Seine Stimme klang sanftmütig, was Sarah noch mehr erzürnte.

„Ihr Tod war sinnlos!“, zischte sie.

„Kein Tod ist sinnlos. So zu denken, wie Sie es tun, ist falsch. Genau dieses starre Beharren auf Gottes Schuld bringt Sie nicht weiter. Sie können keinen Schritt nach vorne machen, wenn Sie immer noch mit einem Auge wutentbrannt in die Vergangenheit blicken. Sie müssen loslassen und ihm vergeben. Viel besser ist noch, wenn Sie begreifen, dass man ihm nichts vergeben muss, weil er sich bei Ihrem Verlust sehr wohl etwas gedacht hat. Gott wollte Sie als neunjähriges Mädchen bestimmt nicht bestrafen.“

„Dann liefern Sie mir doch eine Erklärung. Warum mussten meine Eltern und mein Bruder sterben? Er war übrigens erst fünf. Wieso reißt er einen unschuldigen, kleinen Jungen aus dem Leben?“ Sarah schaute ihn herausfordernd an.

„Ich kenne Sie zu wenig, um das beurteilen zu können. Ich kannte ihr Leben damals zu wenig.“

„Sie wissen es also nicht.“

„Sie müssen die Antwort finden. Hätten Sie einen anderen Weg eingeschlagen, wenn Ihre Eltern und Ihr Bruder noch am Leben wären? Wo sind Sie danach aufgewachsen? In einem Waisenhaus?“

„Bei der Schwester meiner Mutter. Am Anfang zumindest. Sobald es möglich war, hat sie mich ins Internat abgeschoben. Dort wurde sogar eine Ferienbetreuung angeboten. Ich habe meine Zeit kaum bei Tante Inge verbracht. Sie war ganz froh darüber, mich los zu sein. Sie mag Kinder nicht besonders gern.“

„Sie sind stark leistungsorientiert. Das hat vermutlich seinen Ursprung in Ihrer Zeit im Internat. Sie wollten es allen zeigen. Sich selbst und anderen, vor allem Ihrer Tante, beweisen, dass Sie gut und liebenswert sind. Mehr als gut. Überdurchschnittlich gut. Die Erfolgreichste von allen in allem.“

In jedem Pastor steckte ein Psychologe. Menschenkenntnis war eine Erfahrung in seinem Beruf, die mit jedem Gespräch stärker wurde.

„Ich arbeite viel und hart. Ich will immer die Beste sein.“ Je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr festigte sich die Meinung, dass Roland Recht hatte. Hatte sie vor dem Tod ihrer Familie auch so großen Wert auf schulische Erfolge gelegt? Sie strebte nach Erfolg und Perfektion, um es sich und der Welt zu zeigen. Vermutlich besonders Tante Inge. Doch das hätte Sarah niemals zugegeben.

„Sie wären heute nicht da, wo Sie sind, wenn Ihnen Gott nicht einen Grund geliefert hätte, der Sie antreibt.“

„Mit Burn-out in Gelting?“, fragte sie spöttisch.

„An der Spitze eines viel besuchten Salzburger Museums.“

„Vielleicht wäre ich auch anders glücklich geworden? Glücklicher sogar?“

„Das wissen wir beide nicht. Es macht keinen Sinn darüber nachzugrübeln. Wollen Sie meine Theorie hören?“

„Es wird mir wohl nicht erspart bleiben, nehme ich an.“ Sie bereitete sich mit einem Schluck Wein darauf vor.

Roland schmunzelte. „Ich weiß zu wenig über Sie und Ihre Situation – damals wie heute. Aus dem, was ich weiß und ahne, habe ich eine kleine Theorie gebastelt. Nageln Sie mich nicht darauf fest, falls ich völlig falsch liege. Sie sind eine Kämpferin. Menschen mit starkem Charakter müssen gefordert werden. Manchmal muss die Ausbildung dieser Stärke überhaupt erst gefördert werden. Sie waren für Gott wahrscheinlich so ein Fall. Ein behütetes Leben wäre für Sie zu wenig gewesen. Sie brauchten Steine, die Sie aus dem Weg räumen mussten. Das hat er gewusst und Ihnen gegeben. Sie sind an diesem Verlust gewachsen, so dumm es auch klingen mag.“

„Soll mich diese Erkenntnis jetzt trösten?“

„Jetzt nicht, aber irgendwann hoffe ich sehr wohl. Denken Sie einfach hin und wieder mal darüber nach. Auch wenn Sie es garantiert ungern zugeben werden, aber womöglich habe ich Recht.“

Sarah musterte ihn mürrisch. Seine Aussage half ihr kein bisschen weiter. Brachte das ihre Familie zurück? Nein, nichts würde ihre Eltern und Tobias wieder lebendig machen. Da half ihr die Sinnsuche eines Pastors nicht. Vielmehr stürzte sie sich in Sarkasmus. „Sie glauben vermutlich auch, dass Ihr Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat.“

„Man darf die Bibel nicht immer wörtlich auslegen.“

„Ach, hör an. Ein Mann Gottes, der die Wissenschaft nicht verteufelt?“

„Wie könnte ich? Auch die Theologie ist eine Wissenschaft.“

Sarah verzog ihre Lippen zu einem höhnischen, bitterbösen Lächeln. „Soll ich Ihnen auch eine Theorie verraten? Theologie ist Hokuspokus. Man lebt von den Ängsten der Menschen. Man droht ihnen mit dem Fegefeuer und zieht ihnen so das Geld aus der Tasche …“

„Luther wetterte gegen den Ablasshandel. Das sollten Sie als Historikerin eigentlich wissen.“

„Mit Religion, egal welcher, täuscht man die Menschen.“

„So kann man das selbstverständlich sehen. Und ich verurteile Sie nicht dafür, dass Sie das so sehen. Ich kann Ihre Abscheu Gott gegenüber sogar ein wenig verstehen. Für viele ist der Glaube aber etwas Positives. Er gibt einem Halt. Gott offenbart einem mehr, als man mit den Augen sehen kann, wenn man sich auf ihn einlässt. Man sieht nur mit dem Herzen gut.“

„Sie sollten als Pastor eigentlich die Bibel zitieren und nicht Den kleinen Prinzen.“

„Sie sollten das verstaubte Bild meines Berufes endlich mal überdenken. Ich bin dazu da, den Menschen hier auf Erden, Gott zu erklären und ihnen einen Weg zu ihm zu weisen, Gläubigen und Zweiflern wie Ihnen. Sie machen es mir nicht einfach.“

„Man wächst bekanntlich mit der Herausforderung.“

Roland grinste. „Sie sind eine harte Nuss, die ich noch knacken werde.“

„Viel Erfolg beim Scheitern!“ Sarah schmunzelte süffisant.

„Ich unterbreche euch ungern, aber wir schließen gleich.“ Plötzlich und unbemerkt stand Gertrud neben ihnen. Sie hatte die Rechnung dabei. Sarah schaute auf die Uhr. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr.

„Ich übernehme das“, sagte Roland sofort, „Betrachten Sie sich als eingeladen.“

„Auf keinen Fall. Wir zahlen getrennt. Ich kann mich sehr wohl selbst finanzieren. Dazu brauche ich keinen Mann!“, entgegnete Sarah so schroff, dass Gertrud den Vorschlag des Pastors überging.

Trotz allem – auch der Streitgespräche – war es ein angenehmer Abend gewesen. Sarah hatte Rolands Gesellschaft genossen und fand es schade, dass das Geplauder ein abruptes Ende genommen hatte. Sie hätte sich gern noch weiter mit ihm unterhalten und diskutiert. Er hörte ihr zu, was gut tat, forderte sie aber auch heraus und trieb sie sogar ein wenig zur Weißglut. Roland Callsen war eine interessante Persönlichkeit.

Unter Alexandras neugierigem Blick verabschiedeten sie sich an der Eingangstür der Pension. Ihre Spannung war ihnen sehr wohl bewusst. Sie spürten ihre Augen förmlich in ihren Rücken brennen. Wie ein schüchterner Schuljunge, der vor einer strengen, gefürchteten Lehrerin stand, vergrub Roland seine Hände in den Hosentaschen.

„Es war ein netter Abend, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren.“ Jetzt erschien das spitzbübische Grinsen wieder auf seinem Gesicht. „Ich werde weiter daran arbeiten“, warnte er sie, „In jedem Pastor steckt selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert noch ein Missionar.“

„Sie werden kläglich scheitern.“

Er zuckte mit den Schultern. „Wir werden sehen.“

Sie schauten sich eine Weile lang schweigend an. Beide wollten sich noch nicht voneinander trennen. Dieser Moment stand unweigerlich bevor, doch sie wollten ihn hinauszögern. Nur wusste keiner von ihnen wie.

Schließlich war es Roland, der sich zu diesem Vorschlag durchrang: „Wie wäre es, wenn wir uns duzen? Oder finden Sie das unangebracht?“

„Ich bin dafür, Roland.“

Wieder standen sie sich unschlüssig und schweigsam gegenüber. Normalerweise stieß man darauf an, aber Wein hatten sie keinen mehr. Ein Küsschen auf die Wange wäre in Alexandras Gegenwart nicht klug. Wenn diese Frau etwas aufschnappte, wurde ein Gerücht daraus, das hohe Wellen schlug. Dagegen war die Ostsee im Sturm ein Planschbecken.

Pragmatisch hielt Sarah ihm die Hand hin und sie besiegelten ihr Du mit einem simplen, unverfänglichen Handschlag. Das war gleichzeitig ihr Abschiedsgruß unter Alexandras gestrengem Blick.

Als Sarah zusah, wie Roland durch die Tür und in der Dunkelheit verschwand, fasste sie den Entschluss, mit einem Priester zu schlafen. Mit diesem Priester, um genau zu sein. Er reizte sie, sein Beruf lockte sie noch mehr. Obwohl es erlaubt war und sie nichts mit Gott zu tun haben wollte, kam nun ungewollt die sittenstrenge Katholikin in ihr durch. Eine Stimme in ihr schrie ganz laut: Sünde! Dieser Reiz des vermeintlich Verbotenen zog sie an. Außerdem förderte Sex die Entspannung und sorgte für seelisches Wohlbefinden. Wer hätte das nötiger als sie? Bestimmt war ihr Vorhaben für eine baldige Genesung ratsam.

KAPITEL 5

Sarah gehörte zu den wenigen Menschen, die beim Joggen nicht Musik hörten. Sie trabte in ihrem eigenen Rhythmus dahin und ihr Pferdeschwanz wippte mit. Was brauchte sie für die Ohren, wenn sich ihren Augen ein traumhafter Ausblick bot?

Vor fast einer Stunde war sie von der Pension aus losgelaufen – ohne ein bestimmtes Ziel. Sarah wollte sich treiben lassen und einfach abwarten, wohin sie ihre Beine und schöne Aussichten trugen. Zunächst lief sie durch enge gepflasterte Gassen, an satten grünen Wiesen und leuchtend gelben Rapsfeldern entlang. In der sanften morgendlichen Brise bewegten sich die Äste der Bäume. Keine Wolke trübte den unendlich weiten blauen Himmel. Das Prachtwetter freute Sarah genauso sehr wie die frische Luft. Sie wohnte in Salzburg. Das war keine smogverseuchte Metropole, dennoch war dieser Duft nach Meer hier im Norden frischer als alles, was sie kannte.

Sarah hielt sich noch keine vierundzwanzig Stunden hier auf, doch schon entsprach sie dem Klischee einer Touristin. Sie wunderte sich über sich selbst, während sie sich langsam wieder dem überschaubaren Zentrum Geltings näherte. In der Ferne war bereits der dunkle Kirchturm zu erkennen.

Kopfschmerzen plagten sie keine. Die Holms kredenzten Wein in bester Qualität. Sarah hatte sich blendend gefühlt, als ihr Reisewecker heute um Punkt 6.30 Uhr geklingelt hatte. Auch im Urlaub wollte sie keine Minute sinnlos vergeuden, indem sie zu lange im Bett lag. Außerdem wollte sie wach und erreichbar sein, wenn Gabriel oder einer ihrer Mitarbeiter sie kontaktieren und verzweifelt um Hilfe bitten würde. Bis dahin musste sie sich die Zeit irgendwie vertreiben. Sport entsprach zwar nicht zwangsläufig Jens‘ Forderung nach Schonung und Entspannung, aber ein bisschen Bewegung schadete dem Körper nicht. Sarah war weder eine fanatische Sportbesessene noch ein phlegmatischer Faulpelz. Sie vertrat die Devise, dass man etwas für seine Figur tun musste, um sich gelegentlich etwas gönnen zu dürfen. Sie tendierte zu einem kleinen Wohlfühlbäuchlein, wenn sie nicht regelmäßig darauf achtete, genügend zu laufen. Auf Essen zu verzichten, würde Sarah trotz ihrer eisernen Disziplin nicht lange durchhalten. Da quälte sie sich lieber vier- oder fünfmal pro Woche durch die Stadt oder jetzt eben durchs malerische, friedliche, morgendliche Gelting.

Top gestylt, das verstand sich wohl von selbst. Selbst zum Joggen am frühen Morgen verließ Sarah ihr Zimmer nicht ungeschminkt. Zumindest Wimperntusche sorgte für einen atemberaubenden Augenaufschlag. Zu Hause lief sie entlang der grünen Salzach und durch die langsam erwachende, noch touristenleere historische Altstadt. Obwohl diese Route auch ihren Reiz hatte – vorbei am imposanten Dom, über den mit Liebesschlössern geschmückten Makartsteg und unter der über allem erhaben thronenden Festung – gefiel ihr die Geltinger Alternative. Unberührte Natur und der verträumte Flair eines kleinen Ortes konnten durchaus mit der weltbekannten Festspielmetropole konkurrieren.

Ein wenig körperliche Ertüchtigung tat ihr gut und beruhigte Sarahs Gewissen. Gleich würde sie nämlich beim Frühstück ordentlich zuschlagen. In Gedanken bei gebratenem Speck, Eiern und Marmeladenbrot erreichte Sarah die Pension Holm. Verwundert drosselte sie ihr Tempo. Am Parkplatz herrschte Aufbruchsstimmung. Gepäck wurde in Kofferräumen verstaut und Autos fuhren an ihr vorbei. Es sah so aus, als flüchteten sämtliche Gäste. Aber wovor? Am Essen konnte es nicht liegen, genauso wenig am Wein. Beides war hervorragend, wie Sarah gestern Abend selbst herausgefunden hatte. Bestimmt fiel auch das Frühstücksangebot ähnlich köstlich aus. Wie aufs Stichwort knurrte Sarahs Magen. Sie freute sich darauf, ihren Hunger endlich stillen zu können.

Direkt neben der Eingangstür, wo Roland und sie sich vor wenigen Stunden voneinander verabschiedet hatten, parkten zwei Wagen einer Geltinger Installateurfirma. Sarah ging jetzt nur noch, anstatt zu laufen, und runzelte nachdenklich die Stirn. Was hatte das zu bedeuten? Es war kurz nach acht Uhr. Das Frühstück wurde noch zwei Stunden lang serviert. Eigentlich müssten die meisten Gäste gemütlich im Restaurant sitzen und es sich schmecken lassen. Manche schliefen bestimmt noch. Stattdessen kamen ihr Menschenmassen entgegen, beladen mit Koffern und Kindern.

Was auch immer sie vorhatten, Sarah würde jedenfalls auf ihr Zimmer gehen, duschen, frische Kleider anziehen und dann mit einem ausgiebigen Frühstück gestärkt in den Tag starten. Sarah war gespannt, was hier aufgetischt wurde, und ihre Fantasie ging mit ihr durch. Gab es ein klassisches Frühstück des hohen Nordens? Knäckebrot mit Fisch vielleicht? Oder Krebse in Honig?

Kaum war sie durch die Tür getreten, eilte eine aufgeregte Alexandra auf sie zu. „Da sind Sie ja! Endlich!“, rief sie anklagend.

In der kleinen Halle wimmelte es von Menschen, die allesamt dabei waren, die Pension zu verlassen. Irgendetwas stimmte hier nicht.

„Was ist los?“, wollte Sarah wissen.

Alexandra griff sich theatralisch ans Herz. „Es ist entsetzlich! Der gesamte dritte Stock ist verwüstet. In Zimmer einunddreißig, direkt über Ihnen, gab es einen Wasserrohrbruch. Die Installateure arbeiten schon daran, das Problem zu beheben, aber der schon entstandene Schaden ist…ach, der Schaden…“

„Schaden?“ Sarah schluckte schwer. Im Zimmer über Ihnen – erst jetzt entfalteten Alexandras Worte ihre volle Wirkung

„Es ist furchtbar! Das Wasser tropft sogar durch die Decke, genau auf Ihr Bett.“

Sarahs Augen weiteten sich. „Es tropft auf mein Bett?!“ Sie überlegte, ob sie vor ihrer Joggingrunde irgendetwas Wertvolles dort abgelegt hatte.

Alexandra nickte bekräftigend und ihre Miene wirkte erschüttert. „Unglaublich, wie schnell so etwas passieren kann und sich das Wasser unaufhaltsam einen Weg bahnt. Ihre Matratze ist schon ganz feucht, aber keine Sorge, ansonsten ist in Ihrem Zimmer alles in Ordnung. Ich war vor einigen Minuten drin, um nach dem Rechten und nach Ihnen zu sehen.“

„Ich war joggen“, erklärte Sarah.

Ein Blick auf das sportliche Outfit und das verschwitzte Gesicht genügte Alexandra. „Das sehe ich.“

„Dann brauche ich ein anderes Zimmer oder zumindest ein neues Bett“, sagte die Historikerin, der die Tragweite der Katastrophe noch nicht vollends bewusst war.

„Genau deswegen suche ich Sie ja schon seit fast einer halben Stunde. Wir müssen leider alle Gäste ausquartieren.“

„Es sind doch nur der dritte Stock und offenbar auch ein Teil des zweiten betroffen“, wandte Sarah ein.

„Das ist richtig, aber wir haben momentan kein Wasser. Es wurde abgedreht und ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand anhalten wird.“

Schlagartig wurde Sarah klar, was das bedeutete. Kein Wasser – keine reinigende Dusche – Schweißgeruch, der nicht abgewaschen werden konnte. Unauffällig drehte sie ihren Kopf in Richtung rechter Schulter und sog die Luft durch die Nase ein. Sie schämte sich für den Duft, der eindeutig von ihr ausging. Natürlich, sie kam gerade vom Joggen. Trotzdem war ihr dieser Schweißgeruch peinlich.

„Vorerst kann hier niemand bleiben, außer wir selbst.“ Damit meinte sie die Familie Holm – sie, ihren Mann, ihren Sohn und ihren Schwiegervater – die das Erdgeschoss bewohnte. „Wir mussten für alle Gäste adäquaten Ersatz finden: Ferienhäuser, Pensionen, kleine Hotels und Privatunterkünfte hier in der Gegend. Gottlob, dass nicht gerade Hauptsaison ist. Dann wäre das unmöglich gewesen. So hat es zum Glück geklappt. Nur für zwei Personen war kein Zimmer mehr frei. Den Amerikaner, Herrn Stevens, habe ich bei meiner Schwester in Nieby untergebracht. Da Sie sich offensichtlich so gut mit unserem Pastor verstehen, werden Sie bei ihm unterkommen.“ Diese Nachricht überbrachte Alexandra mit einem vielsagenden Grinsen.

„Was?!“ Sarah fühlte sich, als hätte ihr soeben jemand einen heftigen Schlag in die Magengrube verpasst. Ihr Hungergefühl war wie weggeblasen. Stattdessen war ihr übel. Sie wollte sich ihre Zeit hier in Gelting ein wenig mit dem attraktiven Roland versüßen, aber nicht gleich bei ihm einziehen. Außerdem müsste sie mit zwei Mädchen unter einem Dach leben. Kinder waren schlimmer als die Pest – chaotisch, lästig und unberechenbar. Davor graute Sarah mehr als vor allem anderem.

„Für wie lange?“, fragte sie mit trockener Kehle.

Ratlos zuckte Alexandra mit den spitzen Schultern. „Mindestens zwei Wochen, aber wahrscheinlich länger. Die Arbeiten haben gerade erst begonnen und das Ausmaß des Schadens ist noch nicht endgültig klar. Es fallen Reparaturen an, die Räume müssen trockengelegt werden. Unter diesen Umständen kann ich es niemandem zumuten, hier zu bleiben, auch wenn das Wasser hoffentlich bald wieder laufen wird.“

„Das würde mir nichts ausmachen.“

Alexandra lächelte nachsichtig wie eine Mutter über die Naivität ihres Kindes. „Haben Sie schon einmal einen Wasserschaden miterlebt? Wissen Sie, wie laut die Maschinen Tag und Nacht ohne Pause rumoren?“

„So schlimm wird das schon nicht sein.“

„Sie haben keine Ahnung.“

„Warum darf ich nicht zu Ihrer Schwester?“

Alexandra grinste. „Wieso sträuben Sie sich so? Unser Pastor ist ein gutaussehender Kerl. Viele Damen werden Sie um Ihre neue Unterkunft beneiden. Nützen Sie doch Ihre Chance!“ Alexandra zwinkerte ihr zu.

„Weshalb darf nicht ich nach Nieby?“, wiederholte Sarah.

„Der Pastor ist schon unterwegs, um Sie abzuholen.“

Das war für Sarah weder eine ausreichende noch eine zufriedenstellende Antwort.

„Er wird in ein paar Minuten hier sein.“

Wenn Roland schon ihretwegen unterwegs war, wollte sie ihn nicht vor den Kopf stoßen. Außerdem würde Alexandra sowieso keine Einsicht zeigen. Sie wollte Sarah unbedingt beim Pastor und seinen Gören einquartieren und würde nicht eher Ruhe geben, bis sie es geschafft hätte. Widerstand wäre daher sinnloser Energieverbrauch.

Es ärgerte Sarah, dass sie dieses Mal ihren Willen nicht durchsetzen konnte. Eine Diskussion mit Alexandra würde sie nur wertvolle Zeit kosten. Zeit, die sie brauchte, um zu packen. Aber vor allem Zeit, in der sie sich wenigstens ein kleines bisschen frischmachen konnte. So konnte sie Roland nämlich auf keinen Fall gegenüber treten: in verschwitzten Sportklamotten und mit abschreckendem Geruch.

„Sagen Sie ihm, ich bin gleich fertig.“ Sarah drehte sich um und ließ eine zufrieden grinsende Alexandra zurück.

Als sie die Stufen nach oben ging, klingelte ihr Handy. Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf Sarahs angespanntem Gesicht aus. Endlich! Endlich wurde sie gebraucht! Es ging eben doch nicht ohne sie.

Sarah holte ihr Smartphone aus der Bauchtasche ihrer dünnen roten Jacke. Ein Blick aufs Display trübte sofort ihre Hochstimmung. Dann sagte sie sich, dass dieser Tag ja noch jung war. Der ersehnte Hilferuf würde schon noch kommen.

Betont fröhlich nahm sie das Gespräch an: „Guten Morgen, Jens!“

Er erwiderte ihren Gruß halbherzig, um sich gleich darauf ungeduldig zu erkundigen: „Wie lief es gestern Abend?“

„So gut, dass ich heute schon bei ihm einziehe.“

KAPITEL 6

Natürlich. Wie könnte es auch anders sein?

Der Pastor wohnte neben der Kirche. Der Sankt Katharinenkirche, um genau zu sein, wie Sarah auf der kurzen Fahrt hierher erfahren hatte. Das genaue Baujahr war unbekannt, vermutlich irgendwann um 1300. Das war eines der jüngeren Gottshäuser in Angeln. Ein Umbau erfolgte Ende des 18. Jahrhunderts. Die Kirche war der heiligen Katharina von Alexandrien gewidmet, die im 4. Jahrhundert als Märtyrerin starb.

Stand man unmittelbar davor so wie Sarah jetzt, konnte man die Kirche für ein einfaches Backsteingebäude halten, mit einer halbrunden weißen Tür und hohen, weißen Fenstern. Links und rechts ragten niedrige Türme in den blauen Himmel, was dem Gebäude einen burgähnlichen Charme verlieh. Der dunkle Turm in der Mitte war deutlich höher, schmal und spitz, aber von ihrer Position aus nicht zu sehen. Für eine Katholikin, die noch dazu in Salzburg aufgewachsen war, wo man beinahe an jeder Ecke pompöse, prunkvolle Gotteshäuser fand, war die Sankt Katharinenkirche schlicht, aber deswegen nicht weniger bezaubernd.

Im Vergleich zu den protzigen Gotteshäusern, die Sarah kannte, war die Geltinger Kirche einfach, im Verhältnis zum kleinen Pastorenhäuschen daneben allerdings dennoch imposant. Der ebenfalls rote Backsteinbau besaß ein Obergeschoss und war relativ lang gezogen, doch die Fassade bröckelte an manchen Stellen. Man hätte vermuten können, dass die Kirche und das Pastorenhäuschen im selben Jahr errichtet worden waren und die Kirche die vergangenen Jahrhunderte deutlich besser überstanden hatte. Dem war allerdings nicht so. Roland hatte vorhin erwähnt, dass sein Heim nicht einmal hundert Jahre auf dem Buckel hatte.

Sarah war vorhin sogar daran vorbeigejoggt. Die Kirche war ihr selbstverständlich aufgefallen, das desolat anmutende Häuschen daneben allerdings nicht.

Da Sarah eine Dusche verwehrt geblieben war, trug sie immer noch ihre marineblaue Leggings mit den roten Längsstreifen, ein schwarzes Tanktop, darüber ihre rote Jacke und Turnschuhe. Die verschwitzten Haare klebten ihr am Kopf, als hätte sie diese streng nach hinten gegelt. In ihrem Pensionszimmer hatte sie sich in eine Deo- und Parfumwolke gehüllt. Sie mochte den übertrieben intensiven Duft, den sie jetzt verströmte, genauso wenig wie den säuerlichen Schweißgeruch zuvor.

Das war ihr ebenso unangenehm wie die Tatsache, dass Roland sie nach einem einzigen gemeinsamen Abendessen sofort bei sich aufnehmen musste. Das sagte sie ihm auch, als er sie durch das Innere seines bescheidenen Heims führte, das überraschend gemütlich und heimelig eingerichtet war. Von außen hatte man das nicht erwarten können.

„Es tut mir wirklich sehr leid, dass Alexandra dich so überrumpelt hat und du mich nach einem eigentlich völlig unverfänglichen gemeinsamen Abend gleich am Hals hast.“

„Aus deinem Mund klingt das so, als wärst du eine Last“, sagte Roland, als er vor ihr die Stufen in den ersten Stock hinaufstieg.

„Gewissermaßen bin ich das. Ich dränge mich in dein Haus und euer Leben.“

Das wollte sie nicht. Absolut nicht.

„Ich hätte Alexandras Vorschlag ablehnen können, habe ich aber nicht. Also mach‘ dir deswegen keinen Kopf.“ Er drehte sich kurz um und schenkte ihr ein breites, ehrliches Lächeln.

Als er weiterging, fiel Sarahs Blick unweigerlich auf seinen knackigen Hintern, der sich unmittelbar vor ihrem Gesicht befand. Die schwarze Hose war zu eng, um irgendetwas zu verbergen. Auch das weiße Shirt und die schwarze Strickjacke reichten nicht weit genug nach unten. Sarah mochte seinen britisch angehauchten Stil.

„Reine Nächstenliebe also?“, neckte sie ihn, ohne die Augen von seiner ansprechenden Kehrseite abzuwenden.

„Sozusagen. Ich gewähre sogar vom Glauben abgefallenen Katholikinnen großzügig und barmherzig Unterschlupf.“

„Das sieht Alexandra etwas anders. Sie hatte eindeutig andere Beweggründe, als sie mich bei dir einquartiert hat.“

„Typisch Alexandra“, meinte er schulterzuckend und erklomm die letzte Stufe, „Sie interpretiert immer und überall mehr hinein, als auch nur annähernd der Wahrheit entspricht.“

„Wird das zu Gerüchten führen?“

„Ganz bestimmt.“

„Sorry.“

„Ach, es macht mir nichts aus, was die Leute über mich reden. Ich habe schnell gelernt, dass Gelting anders ist als Hamburg. Ein kleiner Ort eben, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Dorfklatsch gehört zur zweiten Kategorie. Was denkst du, was über mich als alleinerziehenden Vater schon alles erzählt worden ist?“ Roland hielt ihr eine Tür auf und ließ ihr den Vortritt. „Bitte, hereinspaziert! Dein neues Heim für … so lange wie nötig. Herzlich willkommen!“

Wie der Rest des Hauses, den sie bisher gesehen hatte, war ihr Zimmer gemütlich, wenn auch nicht hochmodern eingerichtet. Die Wände waren weiß gestrichen, die Bodendielen in einem dunklen, aber warmen Braunton knarzten, wenn man sich bewegte oder auch nur ein klein wenig sein Gewicht verlagerte. Der Schrank in der Ecke war zu Sarahs Beruhigung groß. Die längliche Truhe am Fußende des Bettes – übrigens aus demselben Holz wie der Schrank und der Boden – bot zusätzlichen Stauraum. Das konnte nie schaden, wenn sehr auf Äußerlichkeiten achtende Frauen wie Sarah ein Zimmer bewohnten. Über das Doppelbett war eine cremefarbene Tagesdecke geworfen. Das kleine weiße Sofa, mit gelben und türkisen Kissen bestückt, stellte den einzigen Farbtupfer im Raum dar. Vor dem hohen Fenster ragte der Kirchturm in den Himmel.

Sarah entdeckte weder einen Fernseher noch eine weitere Tür, die in ein Bad führen könnte. Was ihr allerdings ins Auge stach, waren vier Laternen mit je einer Glühbirne anstatt einer Kerze im Inneren. Die drei kleineren befanden sich links und rechts des Bettes sowie an der Wand neben dem Fenster. Die größere stand auf einem quadratischen Holztisch neben der Couch. Ein schneller Blick zur Decke zeigte Sarah, dass auch dort oben eine Leuchte in Laternenform hing.

„Interessante … ah … Lichtquellen“, kommentierte sie lakonisch.

Roland schmunzelte. „Einer meiner Vorgänger fand das wohl schick.“

Speziell würde ich es nennen.“

„Denkst du, es hier aushalten zu können?“ Er sah sie unsicher an.

„Wegen der gewöhnungsbedürftigen Beleuchtung?“

Roland grinste. „Nein, alles in allem.“

„Bestimmt.“ Wenn mich deine Kinder in Ruhe lassen!, fügte Sarah in Gedanken hinzu. „Danke, dass ich hier vorübergehend unterkommen darf“, fügte Sarah hinzu.

„Keine Ursache. Das Gästezimmer ist sowieso immer für Notfälle bezugsfertig. Man weiß nie, wann man jemandem Unterschlupf gewähren muss, der Hilfe braucht.“

„Musstet ihr schon öfters jemanden aufnehmen?“

„Du bist unsere Erste. Eine Premiere, quasi. Aber ich bin ja auch erst seit zwei Jahren hier. Was ich weiß, gab es zuvor hin und wieder Gäste: Frauen, die vor gewalttätigen Ehemännern flüchten mussten, plötzlich obdachlos Gewordene oder Pastorenkollegen, die in der Gegend zu tun hatten und nicht in einem Hotel unterkommen wollten.“

„Dann werde ich mich bemühen, als dein erster Gast einen guten Eindruck zu hinterlassen. Schließlich will ich positiv in Erinnerung bleiben.“

„Zunächst wirst du eher für eine Überraschung sorgen. Meine Töchter wissen noch nichts von ihrer neuen Mitbewohnerin. Sie werden staunen, wenn sie aus der Schule kommen.“

Sarah nickte und bemühte sich um eine neutrale, freundliche Miene. Zwei Mädchen, fünfzehn und sieben. Wie sollte sie deren Anwesenheit bloß aushalten? Ein Bad, eine Küche, ein Haus, das sie sich mit ihnen teilen musste. Wie sollte sie das überstehen?! Sarah glaubte kaum, dass die Kinder sie ignorieren und ihre Privatsphäre respektieren würden. Sie befürchtete vielmehr, ungewollt in ihren Alltag integriert zu werden. Besonders am Anfang wäre sie bestimmt eine Attraktion, womöglich nur für eine oder im schlimmsten Fall sogar für alle beide. Sarah hoffte auf schüchterne Mädchen. Dann hätte sie wahrscheinlich mehr Ruhe.

„Wann kommen die zwei?“, erkundigte sie sich.

Nele sollte gegen dreizehn Uhr eintreffen. Die Schule ihrer großen Schwester lag eine etwa einstündige Busfahrt entfernt. Julia wurde erst gegen siebzehn Uhr erwartet.

Sarah war froh, dass ihr noch ein paar wenige erholsame Stunden blieben. Sie wollte diese Ruhe genießen, ehe der Sturm losbrechen würde. Und das würde er ganz bestimmt. Das waren Kinder, verdammte Nervensägen!

„Ich lege Wert auf ein gemeinsames Essen, da das Frühstück meistens etwas hektisch abläuft. Weil die Mädchen heute zu sehr unterschiedlichen Zeiten Schulschluss haben, wird es mittags nur eine kleine Jause geben, was der Kühlschrank eben hergibt. Apropos Kühlschrank, die Stundenpläne und Termine für außerschulische Aktivitäten hängen an der Kühlschranktür. So bist du über unseren Tagesablauf informiert und kannst dich gerne danach richten, wenn du willst. Gemeinsam essen und so.“ Als er ihr Zögern bemerkte, fügte er rasch hinzu: „Falls du möchtest. Es wird dich niemand dazu zwingen, aber es wäre nett.“

„Inklusive Tischgebet?“, hakte Sarah sarkastisch nach.

„Das kannst du heute Abend sehr gerne übernehmen, als Dank für Kost und Logis.“

Weil Rolands Gesichtsausdruck immer etwas verschmitzt war, konnte Sarah nicht ablesen, ob er das wirklich ernst meinte. Wozu sollte sie einen grausamen Gott um etwas bitten, das er ihr mit Vergnügen sowieso verwehren würde? Oder ihm danken?! Wofür? Sofern diese höhere Macht überhaupt existierte. Da war sie sich nicht so sicher wie ihr Gastgeber. Es gab keinen einzigen wissenschaftlich erbrachten Beweis für eine göttliche Existenz.

Rolands Vorschlag riss sie aus ihren hasserfüllten Gedanken. Immer, wenn sie an Gott dachte, mischte Hass mit. Wut und Hass. Erst jetzt merkte Sarah, dass sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte und entspannte sich wieder.

„Ich weiß, dass du noch nichts gegessen hast. Du kannst dich gerne duschen, bevor wir dein Frühstück nachholen. Unser Bad ist für die nächste Zeit auch dein Bad. Fühl‘ dich ganz wie zu Hause. Frische Handtücher liegen bereit. Ich bringe währenddessen dein Gepäck auf dein Zimmer.“ Er hielt kurz grinsend inne. „Jetzt muss ich mich doch noch um dein Gepäck kümmern.“

Sarah dachte schmunzelnd zurück an ihre erste Begegnung. Bei ihrer Ankunft hätte sie nicht gedacht, dass sie bald für eine Weile bei dem Mann auf dem Fahrrad einziehen würde.

„Nächstenliebe“, erinnerte sie ihn.

„Mhm. Komm nach unten, wenn du fertig bist. Die Küche ist am Ende des Flurs.“

„Oh, meine Beauty-Produkte sind im kleinen Koffer“, fiel Sarah ein.

„Beauty-Produkte“, wiederholte er schelmisch lächelnd, „Julia und du werdet euch ausgezeichnet verstehen. Dann hole ich diesen Koffer eben als erstes, damit du endlich unter die Dusche kannst.“

„Ich rieche furchtbar, oder?“

„Ich würde eher sagen: viel zu intensiv. Manchmal ist weniger mehr“, sagte er.

Sanftes Türkis dominierte im Bad. Die Wände waren bis auf halbe Höhe in dieser einladenden, beruhigenden Farbe in einem winzigen, quadratischen Format verfliest. Die Bodenfliesen zierte hingegen ein opulentes Muster. Der obere Teil der Wand war weiß gestrichen. Weiß gehalten waren auch die Wanne, die Dusche, das Waschbecken, die altmodischen Spitzengardinen am hohen Fenster und ein offenes Regal. Alle anderen Schränke bestanden aus hellem Kiefernholz.

Wo genau sich die frischen Handtücher befanden, hatte Roland nicht erwähnt. Sarah wusste nicht, ob die drei weißen Handtücher, die mit Haken an verschiedenen Stellen der verfliesten Wände befestigt waren, auch für sie bestimmt waren.

Auf ihrer Suche öffnete sie flüchtig ein paar Schränke und fühlte sich dabei wie eine Einbrecherin. Dieses Badezimmer war nicht ihr eigenes und auch nicht das unbenutzte eines Hotels, dem erst ein Gast Leben einhauchte. Dieses Bad war bewohnt.

Während von Männern verwendete Utensilien wie ein Nassrasierer oder ein Shampoo mit Zeichentrickfiguren auf dem Etikett für kleine Kinder wie Nele verhältnismäßig wenig Platz einnahmen, hatte Julia sich ausgebreitet. Die meisten Regalflächen waren mit den vielfältigen Sachen eines weiblichen Teenagers, der großen Wert auf sein Äußeres legte, gefüllt. Ähnlich voll war der geflochtene Schmutzwäschekorb am Boden unter dem Fenster.

Sarah stellte ihre beiden schwarz-glitzernden Beauty-Beutel auf der kniehohen Kiefernholztruhe ab, in der sie frische weiße Handtücher in unterschiedlichen Größen fand. Ihre verschwitzte Kleidung legte sie auf den schwarzen Hocker neben der Wanne. Dann stieg sie unter die Dusche. Wenn sie genug Zeit hatte, bevorzugte sie ein entspannendes, ausgiebiges Schaumbad, gern mit einem guten Buch in der Hand und Duftkerzen am Wannenrand. Hier und heute musste und würde sie sich mit einer schnellen, erfrischenden Dusche begnügen.

Die Dusche war herrlich. Sarah fühlte sich danach wie ein neuer Mensch, wie frisch geboren. Nachdem sie sich geschminkt hatte, fühlte sie sich richtig wohl. Sie war eben eitel. Auch wenn sie sich naturbelassen nicht hässlich fand, gab es immer und überall – auch bei Sarah – Verbesserungspotential. Was sie beim Blick in den Spiegel jetzt noch störte, waren die nassen Haare. Schwer hing ihre dunkelbraune brustlange Mähne nach unten und tat das, was Sarah am wenigsten mochte. Ihre Locken, die sie für gewöhnlich zähmte, machten sich bemerkbar.

Sie hatte auf die Schnelle im Bad weder einen Föhn noch ein Glätteisen entdeckt. Das wunderte sie. Hatte Julia etwa einen kecken Kurzhaarschnitt? Zu intensiv wollte sie nicht danach suchen. Obwohl Roland versucht hatte, ihr einen willkommenen Eindruck zu vermitteln, fühlte sie sich dennoch wie ein Eindringling. Lufttrocknen und dann das Beste daraus machen. Mehr konnte sie leider nicht tun. Oder ihren Föhn und ihr Glätteisen aus dem Koffer holen. Aus einem der Koffer, die sich in ihrem Zimmer befanden. Fluchend schlug sich Sarah mit der flachen Hand auf die Stirn.

Durfte man das überhaupt? Fluchen im Haus eines Pastors, direkt neben einer Kirche?

Dieser Gedanke brachte sie zum Lächeln, obwohl sie ihr vorheriger noch immer aufregte. Sie hatte keine frische Kleidung mit ins Bad genommen. Die verschwitzte hatte sie nach dem Duschen kurzerhand in den fast überquellenden Schmutzwäschekorb geworfen. Was sollte sie denn sonst damit machen? Im Waschbecken mit Seife ausspülen? Ihre Sportklamotten brauchten dringend einen Waschgang.

Es nutzte nichts, Sarah musste zurück in ihr Zimmer, um frische Kleidung anzuziehen und ihren Föhn zu holen, damit sie ihre widerspenstigen Haare trocknen konnte. Sie spähte durch den Türspalt aus dem Badezimmer. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass der Flur leer war, schlüpfte sie nach draußen. Barfuß und nur mit einem um den Körper geschlungenen Handtuch huschte sie über das knarzende Parkett. Fast hatte Sarah ihr Ziel erreicht. Sie war nur noch wenige Schritte von ihrem Zimmer entfernt, als Roland plötzlich vor ihr stand. Still und unbemerkt hatte er die Stufen erklommen und war um die Ecke gebogen. Wie angewurzelt blieb er stehen. Auch Sarah bremste ab. Ansonsten wären die beiden ineinander geprallt.

Peinliches Schweigen senkte sich über den Flur. Wortlos starrten sie einander an. Sarah schaute überrascht, bei Roland mischte sich noch etwas anderes in seinen Blick. Entsetzen? Oder täuschte Sarah sich? War er einfach nur verblüfft, sie halbnackt in seinem Flur anzutreffen, dass sein verschmitztes Dauergrinsen aus seinem Gesicht verschwunden war?

„Ich habe meine Kleidung im Zimmer“, durchbrach Sarah die Stille und zuckte unbewusst mit den nackten Schultern. Als Roland bei ihrer Bewegung zusammenzuckte, runzelte sie die Stirn. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass er auf ihren Anblick so reagierte. Ein Mann, der sich in der Nähe einer Frau, die nur mit einem Handtuch bekleidet war, unwohl fühlte – ein Mann, der sich offenbar in ihrer Nähe unwohl fühlte – war nicht der ideale Kandidat für ihr Vorhaben.

Roland nickte abwesend. Er bemühte sich, Sarah nicht anzusehen, sondern den Blick starr auf den Fußboden zu richten. Dennoch war irgendetwas in ihm gierig. Seit drei Jahren hatte er nicht mehr so viel nackte Haut an einer erwachsenen Frau gesehen. Ein paar schüchterne Blicke riskierte er daher. Ihre nackten, leicht gebräunten, spitzen Schultern fielen ihm ebenso auf wie die schlanken, kurzen Beine, die erst ab der Hälfte der Oberschenkel vom Handtuch bedeckt waren. Die feuchten Haare kringelten sich ein bisschen und reichten ihr bis zu den Brüsten, die verborgen unter weißem Frottee waren.

Innerlich tadelte sich Roland selbst für seine Gedankengänge. Sie war sein Gast. Er war einfach nur ein Pastor, der einem Schäfchen in Not Unterschlupf gewährte. Warum drängte etwas in ihm, ihr das Handtuch vom Leib zu reißen?! Lag es an dem herrlichen Duft nach Vanille, den sie verströmte? Sarah war eindeutig eine attraktive Frau. Mit und ohne viel Stoff, der ihren Körper bedeckte. Sie hatte sich eine harte Schale zugelegt, weil ihr das Leben schon sehr früh schwere Bürden auferlegt hatte. Darunter steckte ein weicher, gutmütiger Kern. Darauf hatte er schon einen Blick erhaschen dürfen. Was er jetzt sah, brachte Roland aber aus der Fassung. Als Pastor sollte er sich auf die Seele, das Innenleben seiner Mitmenschen konzentrieren und nicht von Äußerlichkeiten ablenken lassen. Genau das passierte ihm jedoch gerade. Er mochte Sarah. Doch er sollte sie nicht so sehr mögen wie in diesem Moment. Er sollte sie nicht begehren. Er sollte nicht den Wunsch verspüren, ihr körperlich näherzukommen. Schließlich war er verheiratet!

Sarah glaubte in seinem Blick auch ein wenig Interesse zu lesen. Dennoch überwog seine Zurückhaltung. Das beruhigte sie einerseits, denn offenbar fand er sie doch attraktiv. Anderseits zeigte es ihr aber auch, dass er noch immer an seiner verstorbenen Frau hing. Kurz überlegte Sarah, das Handtuch fallen zu lassen. Das würde sie eventuell einen Schritt näher ans Ziel bringen, könnte sie aber genauso gut weiter davon entfernen. Ihr Körper war nicht perfekt und hier im Flur war es zu hell, um ihm gleich ihre Makel zu offenbaren. Der Anblick könnte Roland abschrecken und damit könnte Sarah wiederum nicht umgehen. Vieles ließ sich verbergen, wenn es dunkel war oder sie sich nicht all ihrer Kleider entledigte, sondern nur das Nötigste auszog. Im Eifer des Gefechts blieb Männern vielfach Entscheidendes verborgen. Zum Glück. Sarahs Bedürfnisse waren gestillt und der Schein blieb gewahrt. Ihre heile, makellose Welt existierte in den Augen der anderen weiter. Außerdem wäre ihr aufreizendes Verhalten unerhört. Sie war Gast in diesem Haus und es wäre unpassend, ihren Gastgeber zu verführen, zumindest gleich zu Beginn.

„Ich gehe mich anziehen“, sagte Sarah und verschwand in ihrem Zimmer.

„Ich warte in der Küche“, murmelte Roland, als sie die Tür längst geschlossen war. Erst jetzt hatte er seine Sprache wiedergefunden.

Wie kann man nur so leben?, fragte sich Sarah, als sie die Küche betrat.

An sich war der Raum behaglich eingerichtet: helles Parkett, weiße Schränke, eine zitronengelbe Uhr an der in hellerem Gelb gehaltenen Wand. Zwei rechteckige Tische waren zusammengeschoben, um einen großen zu ergeben. Acht Stühle standen rundherum: vier in kräftigem Zitronengelb, die anderen in Weiß. So weit, so gut.

Das wahre Chaos befand sich auf dem Tisch. So viel Unordentlichkeit an einem Fleck brachte Sarah völlig aus dem Konzept. Lange würde sie es hier definitiv nicht aushalten.

Orangensaft war am Tisch verschüttet worden. Die Reste der gelben Flüssigkeit klebten noch am Boden zweier Gläser. Die halbvolle Saftflasche und ein durchsichtiger Glasbehälter, der mit Müsli gefüllt war, standen am Tisch. Das waren die Überbleibsel des Frühstücks der offenbar wenig ordnungsliebenden Familie Callsen. Das benützte Geschirr und Besteck waren nicht abgeräumt. Im Honigglas steckte ein mit Butter beflecktes Messer. Sarah ekelte es. Selbst wenn man das Messer jetzt sofort herauszog, war das Malheur schon passiert. Butterflöckchen würden in der dunklen, dickflüssigen Masse schwimmen und der nächste sie sich aufs Brot schmieren. Brösel, so weit das Auge reichte. Sarahs Unbehagen wuchs von Wimpernschlag zu Wimpernschlag. Zumindest war das wenig übrig gebliebene Gebäck in der Schale nicht angeknabbert.

Roland war gerade dabei, Platz für seinen Gast zu schaffen. Er schob Tassen, Gläser und Schalen beiseite und wischte die Brösel mit der einen Hand in die Handfläche der anderen. Als Sarah eintrat, blickte er nicht auf, sondern bemerkte sie erst eine Weile später, nachdem sie sich schon ausgiebig und angewidert umgesehen hatte.

Wie gewohnt hatte sie ihre Mähne zu einem strengen Dutt am Hinterkopf gebändigt. Sie trug schwarze Leggings und ein eng anliegendes, nicht allzu dickes Wollkleid mit schwarz-weißen Querstreifen. Dieses Outfit setzte ihre Rundungen gekonnt und bewusst in Szene: ihre vollen Brüste und ihr ausladender Hintern bildeten einen verführerischen Kontrast zu ihrer schmalen Silhouette.

„Wow! Du siehst toll aus!“, kam Roland über die Lippen.

Sarah lächelte siegessicher. Natürlich wusste sie, wie sie auf Männer wirkte: angezogen, geschminkt und mit gezähmten Haaren. Dennoch freute sie sich über Komplimente.

„Also … nicht, dass du jetzt denkst … ich meine … ah … du hast vorhin auch gut ausgesehen“, stammelte Roland und putzte die Brösel von seiner Hand in eine benützte Müslischale.

„Vorhin, als ich nur mit einem Handtuch bekleidet war?“, neckte sie ihn und er senkte rasch den Blick. Hat dir das gefallen?, wollte sie hinzufügen, doch seine schüchterne Reaktion ließ sie es sich verkneifen. Stattdessen erkundigte sie sich: „Hausschuhe habe ich keine dabei. Ist barfuß okay? Oder wie läuft ihr rum?“

Als er ihr das Haus gezeigt hatte, hatten beide ihre Schuhe getragen. Vorhin, als sie ihm halbnackt im Flur begegnet war, hatte Sarah nicht auf seine Füße geachtet. Auch jetzt sah sie seine Beine nicht, weil er hinter dem Tisch stand.

„Wir laufen in Socken herum. Gerne barfuß, wenn es warm genug ist.“ Ein Blick auf ihre nackten Zehen, die ebenso schwarz lackiert waren wie die Fingernägel, genügte, um zu ergänzen: „Um diese Jahreszeit ziehst du dir besser noch Socken an.“

Er war sichtlich erleichtert, dass er über etwas Belangloses sprechen konnte. Dennoch war seine Anspannung noch nicht ganz gewichen. Seine Körperhaltung war straff und gemahnte Vorsicht wie die eines gehetzten Tieres, das nur kurz innehielt, um zu verschnaufen, aber dabei die von Feinden bevölkerte Umgebung keine Sekunde aus den Augen ließ. Weil man es in einem einzigen, leichtfertigen Moment mit Haut und Haaren verschlungen hätte.

„Setz‘ dich.“ Roland klopfte auf die Lehne eines gelben Stuhls.

Als sie es tat, wich er ihr aus. Er flüchtete zum Kühlschrank, um bloß nicht in ihrer Nähe sein zu müssen. So, als könnte er sich daran verbrennen, wenn er dem Feuer zu nahe käme. „Willst du Müsli? Ja? Steht am Tisch. Bedien‘ dich bitte“, stammelte er. Fasziniert beobachtete Sarah, wie er in den geöffneten Kühlschrank murmelte: „Oh, verdammt! Wir haben keine Milch mehr. Ich muss Julia eine Nachricht schicken, damit sie am Heimweg welche kauft. Du musst mit Joghurt Vorlieb nehmen. Natur oder Erdbeere?“

„Ein fluchender Pastor“, stellte Sarah amüsiert fest.

„Was?!“ Roland drehte sich um und starrte sie stirnrunzelnd an.

„Oh, verdammt“, wiederholte sie.

Das verschmitzte Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. „Verdammt ist kein Fluch. Das ist weit von Blasphemie entfernt.“

„Blasphemie, soso. Du magst Gotteslästerung also nicht. Dann holst du dir ausgerechnet mich ins Haus?“

„Wie ich schon mehrfach erwähnt habe: in mir steckt ein Missionar. Unterschätze mich nicht.“

„Erdbeere“, entschied Sarah. Sie machte zwar regelmäßig ein bisschen Sport und achtete auf ihre Ernährung, aber von einem zu gesunden Lebensstil hielt sie wenig.

Roland stellte den Joghurtbecher, eine frische Schale, einen Löffel und ein Glas vor ihr ab, ehe er gegenüber Platz nahm.

„Soll ich nochmal Kaffee machen oder reicht dir Orangensaft?“

„Saft ist okay.“

Warmer Saft, leider. Das Getränk stand schon viel zu lange ungekühlt am Tisch.

Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, bis er sich wieder erhob, um ihr einzuschenken. „Oder willst du lieber ein Brot mit Honig? Oder mit Marmelade? Marmelade sollte noch da sein.“ Seine nicht allzu tiefe Stimme überschlug sich.

Sarah warf einen angewiderten Blick in das geöffnete Honigglas, in dem Butterflöckchen trieben.

„Ich bin mit Müsli und Joghurt zufrieden, wirklich“, sagte sie mit Nachdruck, „Kannst du mir die Cerealien bitte geben?“ Sarah schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und bedankte sich, als er die Müsli-Karaffe vor ihr abstellte.

„Es tut mir leid, dass du dich mit den Resten begnügen musst“, meinte er zerknirscht. „Das wird ab morgen anders. Dann werden wir alle gemeinsam frühstücken.“

Diese Aussicht wirkte auf Sarah wenig verlockend. Ein chaotisches, Flecken hinterlassendes, krümelreiches Frühstück übte auf sie keinen großen Reiz aus. Dennoch lächelte sie tapfer.

„Morgens geht es bei uns immer hektisch zu. Julia braucht sehr lange im Bad und hat danach kaum noch Zeit zum Essen. Nele frühstückt ausgiebig, ist aber sehr … naja, sagen wir ungeschickt.“ Er wies mit einer resignierten Handbewegung auf das Gemetzel am Tisch. „Dann musste ich Nele zur Schule bringen. Kaum war ich wieder zu Hause, kam Alexandras Anruf. Ich hatte noch keine Gelegenheit aufzuräumen“, verteidigte er die Unordnung.

„Habe ich mich beschwert?“

„Nein, aber dein kritischer Blick kam einer Anklage gleich.“

Es war Sarah peinlich, dass er bemerkt hatte, wie unangenehm ihr das Chaos hier war. Sie konzentrierte sich, das Joghurt aus dem Becher in ihre Schüssel zu schöpfen. „Ich bin eben einen funktionierenden Singlehaushalt gewöhnt“, gestand sie kleinlaut.

„Dann wirst du dich umgewöhnen müssen. In diesem Haus geht es alles andere als ruhig oder ordentlich zu.“

In Sarahs Ohren klang das nach einer Drohung.

KAPITEL 7

Während sich Sarah trotz aller Widrigkeiten das Frühstück schmecken ließ, leistete ihr Roland geduldig Gesellschaft, sprach aber kaum mit ihr und agierte nervös. Sie merkte, dass er schleunigst weg wollte. Weg von ihr.

Roland fühlte sich eindeutig unwohl in ihrer Nähe. Sarah wusste nicht, dass er sich während des Frühstücks krampfhaft zurückhielt und beherrschte. Sie ahnte nicht, dass er sie gerne berührt und sich mit ihr über ernste und belanglose Themen gleichermaßen unterhalten hätte. Sie wusste auch nicht, dass er sich gleichzeitig innerlich für diesen Wunsch bei seiner Ehefrau entschuldigte. Kaum hatte Sarah den letzten Bissen geschluckt, war er fluchtartig aus der Küche geeilt.

Roland war erleichtert gewesen, als Sarah ihm zuvor angeboten hatte, die Küche aufzuräumen. So konnte er sich sofort in sein Arbeitszimmer zurückziehen, um den Religionsunterricht für Montag vorzubereiten. Was Sarah ebenfalls nicht wusste, war, dass er stattdessen grübelte, wieso er sich zu einer fremden Frau hingezogen fühlte, mit der er ein einziges Mal zu Abend gegessen hatte. Und die nur mit einem Handtuch bekleidet im Flur vor ihm gestanden war. Was dieser Anblick in ihm ausgelöst hatte, gefiel Roland ganz und gar nicht. Er hatte Doris nie betrogen oder belogen, auch nicht anderweitig hintergangen und jetzt würde er garantiert nicht damit anfangen. Er würde der Versuchung in seinem Haus widerstehen. Allein seine schlüpfrigen Gedanken waren schon Sünde genug!

Die Zeit verging wie im Flug. Sarah war dankbar für die Beschäftigung, auch wenn sie geistige Arbeit normalerweise der körperlichen vorzog. Dennoch hatte sie gerne den Tisch abgeräumt und abgewischt, den Geschirrspüler gefüllt, die Küchenarbeitsflächen geputzt und sogar den Boden gewischt. Als das Geschirr sauber war, hatte sie es auch noch abgetrocknet und verstaut. Das hatte am längsten gedauert, weil Sarah erst einmal suchend herausfinden musste, wo was hingehörte.

Sarah stellte gerade die letzten Gläser ab, als Roland die Küche betrat. Die paar Stunden allein hatten ihm gut getan. Er hatte im Umgang mit Sarah seine Unbefangenheit zurückgewonnen.

„Wow! So sauber war unsere Küche noch nie“, meinte er lässig. Dankbarkeit und Anerkennung schwangen in seiner Stimme mit.

„Immerhin muss ich mich für freie Kost und Logis erkenntlich zeigen“, antwortete Sarah und drehte sich zu ihm um, „Oder leitet Alexandra das Geld für Frühstück und Unterkunft an dich weiter?“

„Da du nicht in einer anderen Pension oder einem Hotel mit entsprechendem Service untergekommen bist, musst du gar nichts zahlen, soweit ich informiert bin. Vermutlich war Alexandra vorhin zu abgelenkt, um dich darauf hinzuweisen. Naja, das wird sie bestimmt nachholen. Sie weiß ja, wo sie dich finden kann.“ Er grinste verschmitzt wie üblich. „Trotzdem vielen Dank dafür, dass du dir deinen Aufenthalt hier mit Arbeit verdienen willst.“

„Keine Ursache. Ich kann sowieso nicht tatenlos herumsitzen und die Zeit totschlagen. Ich brauche eine Aufgabe. Außerdem hatte ich heute Vormittag nichts Besseres vor.“

„Das musst du in den nächsten Tagen unbedingt ändern. Unsere Gegend ist viel zu schön, um sie nicht zu erkunden.“

Sarah fiel seine Wortwahl auf: du, nicht wir. Sie hatte noch einen weiten, schweren Weg vor sich oder die Kapitulation. Doch sie war nicht bereit, aufzugeben. Ihn aufzugeben.

„Bereit?“, fragte Roland und lehnte sich entspannt mit verschränkten Armen gegen den Türstock.

„Wozu?“

„Eine meiner Töchter kennenzulernen.“

Nele, richtig! Es war kurz vor dreizehn Uhr. Bald würde sie auftauchen. Sarah hoffte inständig, dass sie ein braves Mädchen und kein kleines Monster war. Wenn der Tisch und die Küche nach ihrer mittäglichen Jause nämlich ähnlich aussahen wie nach dem morgendlichen Gemetzel, wäre Sarahs vormittägliche Beschäftigung völlig umsonst gewesen. Dennoch machte sie gute Miene zum bösen Spiel und lächelte milde.

Sarahs Hoffnung erfüllte sich nicht. Das Wort, das Nele am besten beschrieb, war Quasselstrippe. Seitdem das kleine, quirlige, blonde Mädchen die Küche betreten hatte, redete sie ununterbrochen. Nachdem Roland die Haustür geöffnet und ihr mitgeteilt hatte, dass sie in nächster Zeit einen Gast in ihrem Haus beherbergen würden, war sie sofort in die Küche gestürmt, um die unbekannte Person zu begutachten. Sarah hatte sich so weit es ging zurückgezogen. Ihr Hintern stieß schon gegen die Tischkante. Weiter kam sie nicht mehr, doch das kleine Wesen kam immer näher. Erst ganz dicht vor ihr blieb Nele, die ihr etwa bis zum Nabel reichte, stehen.

„Hallo.“

„Hallo“, grüßte auch Sarah und wünschte sich in ein anderes Zimmer. Sie konnte Kinder nicht ausstehen. Und diese Nele rückte ihr beängstigend nahe.

„Ich bin Nele, das Licht Gottes.“

„Nele, bitte!“, stöhnte Roland genervt, der gemeinsam mit einem älteren, gebückt gehenden Herrn und einem molligen Jungen in Neles Alter die Küche betreten hatte. „Das musst du nicht ständig erwähnen.“

„Aber es stimmt doch! Genau das bedeutet mein Name! Die Frau weiß das doch nicht!“, verteidigte sie sich. „Oder hast du das gewusst?“

Sie wurde gleich geduzt? Na, bravo! Das konnte ja noch heiter werden. Hemmungen kannte die Kleine offenbar nicht.

„Nein, habe ich nicht. Wie … äh … bedeutsam.“ Dabei konnte Sarah ein süffisantes Grinsen in Richtung Roland nicht unterdrücken.

Er verdrehte theatralisch die Augen.

„Wie heißt du?“

„Sarah.“

„Bist du die Sarah, mit der Papa gestern Abend essen war?“

Vor Überraschung klappte Sarah der Mund auf. Dann nickte sie schwach.

Triumphierend wandte sich Nele um. „Das ist die Sarah, von der deine Mama erzählt hat, Lars!“

Der Junge nickte langsam und musterte die Fremde interessiert von oben bis unten. Sarah fühlte sich wie eines ihrer Museumsexponate, das hinter Glas täglich tausenden Blicken schutzlos ausgeliefert war.

„Eigentlich hat Sarah bei Lars gewohnt, aber wegen des Wasserschadens musste sie dort ausziehen“,, wiederholte Roland, was er seiner Tochter schon an der Tür erklärt hatte, „Jetzt lebt sie vorübergehend bei uns.“

„Klar, Sarah kennt ja sonst niemanden hier. Außer dich, Papa.“

Roland schoss die Röte ins Gesicht.

„Papa sagt immer, dass man den Mitmenschen helfen muss, wenn man kann. Wir würden uns doch auch freuen, wenn man uns hilft, wenn wir Hilfe brauchen.“ Nele sagte das mit solcher Inbrunst und Überzeugung, dass Sarah unwillkürlich lächeln musste.

„Das ist eindeutig deine Tochter“, meinte sie an Roland gewandt. Er schmunzelte schelmisch, während Nele zwischen den beiden stirnrunzelnd hin und her starrte. Sarah fühlte sich verpflichtet, das Mädchen wieder in das Gespräch einzubinden. „Wen hast du mitgebracht, Nele?“

Froh darüber, wieder das Wort an sich reißen zu dürfen, redete sie munter drauflos: „Das sind Lars und sein Opa. Lars‘ Eltern gehört die Pension, wo du vorher gewohnt hast.“

Schüchtern winkte der Junge in den weiten Klamotten, die seinen fülligen Körper noch unförmiger erscheinen ließen, ihr zu. Sarah winkte zurück.

„Hinnerk Holm“, brummte der Alte grimmig, „Ich bin Alexandras Schwiegervater. Ich nehme an, Sie kennen meine Schwiegertochter.“

„Ja, aber ich glaube, euch zwei schon einmal gesehen zu haben. Bei einem Holzschuppen, den ich von meinem Pensionszimmer aus sehen konnte.“

„Das ist Hinnerks Museum“, meldete sich Nele.

„Ein Museum?“, hakte die Historikerin interessiert nach.

„Naja, zumindest soll es einmal eines werden. Dort bewahrt Hinnerk viele alte Sachen auf.“

„Sarah ist Historikerin“, erklärte Roland.

„Oh“, brummte der alte Mann.

„Hinnerk ist der Geschichtsexperte, von dem ich dir erzählt habe. Ihr könntet euch doch irgendwann in den nächsten Wochen über deinen Jakob unterhalten.“

„Welcher Jakob?“, erkundigte sich Nele.

„Jakob Hansson“, sagte Sarah.

„Kenne ich nicht.“ Nele zog eine Schnute. Es schien sie zu stören, dass man über Leute sprach, die sie nicht kannte. Vor allem, da Hinnerk offenbar wusste, wer dieser Jakob war. Er nickte nämlich wissend.

„Vielleicht darf ich Sie einmal durch meine bescheidene Sammlung führen?“ Er wirkte grimmig und unnahbar wie ein Mann, der am liebsten seine Ruhe hatte. Daher hatte Sarah mit diesem zögerlich vorgebrachten Angebot nicht gerechnet. Dennoch nahm sie es gerne an. Natürlich wollte sie erfahren, was er alles in seinem Schuppen lagerte und was er über die hiesige Vergangenheit berichten konnte.

„Heute nicht“, blockte er sofort ab, „Ich muss dringend heim. Sie wissen ja, warum. Wie lange bleiben Sie in Gelting?“

„Einen Monat. Naja, inzwischen sind es nur noch neunundzwanzig Tage. Ab morgen, um genau zu sein, nur noch achtundzwanzig.“

Verwirrt riss Hinnerk die Augen weit auf. „So lange?“

Das war deutlich länger, als ein normaler Urlaub gewöhnlich dauerte, und dafür musste es eine plausible Erklärung geben. Da Sarah inzwischen der Meinung war, dass kein Geheimnis in diesem Dorf lange bewahrt blieb, konnte sie es genauso gut mit der Wahrheit probieren. Außerdem war sie in vier Wochen wieder fort von hier. Für immer. Was kümmerte die Leute dann noch ihr Gesundheitszustand? Was kümmerte es sie danach, was die Geltinger von ihr dachten? Wahrscheinlich würde es in einem kleinen Ort wie diesem sowieso bald andere Skandale geben, über die man tuscheln konnte. Sollten sie doch alle für schwach halten. Oder war es nicht vielmehr mutig und bewundernswert, zu den eigenen Schwächen zu stehen? Vermutlich würde man sie hier bald um ihre Größe beneiden. Diese Möglichkeit gefiel Sarah, die gerne im Mittelpunkt des Interesses stand und es mochte bewundert zu werden.

„Ich habe gesundheitliche Probleme.“ Dieser Satz kam ihr leichter über die Lippen, als sie gedacht hatte.

„Du siehst gar nicht krank aus“, meldete sich Nele wieder zu Wort und beäugte Sarah argwöhnisch.

„Bin ich aber. Ein bisschen. Ich bin hier, um mich zu erholen.“

„Was hast du denn?“

„Nele!“, schimpfte ihr Vater, „Zu viel Neugierde ist für den Menschen nicht immer gut.“

„Ist das denn ein Geheimnis?“ Das Mädchen machte große Augen und sah Sarah erst recht fasziniert an. Es war klar, dass die Kleine Geheimnisse nicht lange für sich behalten könnte.

„Ich leide an Burn-out.“

„Börnaut“, wiederholte Nele gedehnt, „Ist das ansteckend?“ Sie wich trotz dieser Frage keinen Millimeter zurück.

Dieses Kind war noch keine zehn Minuten zu Hause und hatte schon viel zu viele wissbegierige, nervende Fragen gestellt. Das passte Sarah überhaupt nicht. Auf Ruhe konnte sie in Neles Gegenwart nicht hoffen. Weder hatte sie Lust dazu, ihre Diagnose zu erklären, noch wusste sie, wie sie das kindgerecht anstellen sollte. Nele war für ihren Geschmack viel zu aufgeweckt.

Roland sprang für sie ein und führte geduldig aus: „Wenn man immer ganz viel Stress hat, kann sich der Körper nie entspannen. Bald ist man ständig müde und verliert die Freude an allem, was einem früher Spaß gemacht hat. Deshalb ist Sarah jetzt hier bei uns, um sich auszuruhen.“

„Aha. Warum liegst du dann nicht im Bett?“

„Weil man sich auch anders entspannen kann: bei einem guten Abendessen, einem Spaziergang oder einfach nur ganz ohne Arbeit … Urlaub eben. Du liegst in den Ferien ja auch nicht im Bett“, antwortete ihr Vater.

Nele nickte einsichtig und legte dann gleich wieder los: „Du kannst gerne mit uns essen. Papa kocht sehr gut. Ich gehe auch mit dir spazieren und kann dir die Gegend zeigen. Es gibt ein paar tolle Plätze, wo …“

„Nele!“, ermahnte Roland, „Übertreib es bitte nicht. Sarah weiß sich schon zu beschäftigen. Wenn sie etwas mit dir unternehmen möchte, wird sie dich fragen, okay?“

„Na, gut.“ Seine Tochter seufzte.

Noch nie war Sarah einem Mann so dankbar gewesen. Roland hatte sie vor einem kleinen, nimmersatten Monster gerettet.

„Wenn ich deine Hilfe brauche, werde ich mich melden, Nele“, bekräftigte Sarah und hoffte, dass die Kleine sie jetzt in Ruhe ließ. Sie ahnte, dass dem bestimmt nicht so wäre. „Herr … Holm? Wie kann ich Sie erreichen? Ich würde mir Ihre Sammlung wirklich sehr gerne ansehen und mit Ihnen über die Vergangenheit plaudern.“

Ein Schatten legte sich auf sein faltiges, verlebtes Gesicht. Abweisend meinte er mit tiefer, rauchiger Stimme: „Ich weiß nicht, wann ich Zeit für Sie haben werde. Wenn ja, kontaktiere ich Sie. Ich weiß ja, wo Sie wohnen, aber machen Sie sich keine große Hoffnungen.“

Stirnrunzelnd betrachtete Roland den Mann neben sich und auch Sarah war verwirrt. Wirklich herzlich hatte der Alte vorhin nicht auf sie gewirkt, aber nun schien es, als ob er nichts mit ihr zu tun haben wollte. Wieso unterbreitete er einer Historikerin einen solchen Vorschlag, um dann wenig später einen Rückzieher zu machen? Sarah verstand das nicht. Tickten die Uhren hoch im Norden anders?

„Ich habe genügend Zeit. Ich kann mich ganz nach Ihnen richten“, bot sie zuvorkommend an, obwohl es sie innerlich ärgerte, sich anbiedern zu müssen. Sie besaß einen Doktortitel und leitete eines der bekanntesten Museen Österreichs. Eigentlich müsste dieser Pensionswirt in Rente froh sein, dass sie sich überhaupt für sein Hobby als Laienhistoriker interessierte. Dass ausgerechnet sie seine Sammlung besichtigen und sich mit ihm über die Lokalgeschichte unterhalten wollte, müsste dieser derbe Kerl eigentlich als Ehre betrachten.

„Sie sollten sich nicht zu viel zumuten, immerhin leiden Sie an Burn-out.“ Das letzte Wort betonte er abfällig und leicht sarkastisch, genauso wie das nächste. „Wirklich Kranke gehören ins Bett.“

Daher wehte also der raue Wind des Nordens. Er hielt sie für eine Simulantin. Für eine, die sich zusätzliche freie Tage mit einer vorgetäuschten Krankheit erschlich, deren Existenz man nicht hundertprozentig beweisen konnte. Oh, wenn er nur wüsste, wie viel lieber sie jetzt in ihrem Büro im Herzen der Salzburger Altstadt sitzen würde. Allein. Ohne ein lästiges Kind direkt vor ihrem Bauchnabel.

„Ich liebe nichts mehr als meinen Beruf. Alles habe ich meinem Job untergeordnet. Ich bin ein Workaholic aus tiefster Überzeugung. Dieser Urlaub wurde mir aufgezwungen, weil ich vor wenigen Tagen in meinem Büro zusammengebrochen bin“, sagte Sarah scharf. „Tausendmal lieber würde ich arbeiten, als hier sinnlos die Zeit totzuschlagen und eine fremde Küche zu putzen, nur weil mir langweilig ist.“

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Roland zusammenzuckte. Sie hätte ihre Worte vorsichtiger und mit Bedacht wählen sollen, um ihren Quartiergeber nicht zu kränken, aber das unausgesprochene Vorurteil von Hinnerk hatte sie in Rage versetzt.

„Wie dem auch sei“, meinte dieser nur achselzuckend und seine überhebliche Lässigkeit ärgerte sie noch mehr, „Sie sind hier, einer Mode-Erkrankung sei Dank. Ein bisschen Stress, man kippt um und paff … ein netter Urlaub springt dabei raus. Früher haben erschöpfte Leute so lange gearbeitet, bis sie tot umgefallen sind.“

Sarah klappte der Mund auf. Was wollte er ihr damit sagen? Besser tot als auf Erholungsurlaub?

„Hinnerk“, sprang Roland ein, weil der ansonsten wortgewandten Sarah jetzt offensichtlich die Worte fehlten, „Diese Krankheit existiert und das schon viel länger, als so mancher von uns glaubt. Nur konnte man sie früher nicht eindeutig diagnostizieren. Du kannst Sarah nicht mit Sylvia vergleichen.“

Sylvia? Wer war das? Dieses Mal fragte Nele nicht nach! Jetzt, da es wirklich spannend gewesen wäre, hakte die personifizierte Neugier nicht nach!

Hinnerk schnaubte verächtlich. „Wenn du das so siehst. Ich bin anderer Meinung“, erwiderte er grimmiger als zuvor. „Lars, wir müssen los. Wir haben schon viel zu lange geschwätzt. In der Pension gibt es genug zu tun, aber wir stehen hier rum und plaudern.“

Der Junge ergriff folgsam die große, kräftige Hand seines Großvaters.

„Lars kann gerne bleiben, wenn er möchte. Dann könnt ihr euch ungestört um die Auswirkungen des Wasserschadens kümmern“, bot Roland an.

„Ich will heim und mir ansehen, was das Wasser angerichtet hat“, gestand er schüchtern und knetete den Saum seines viel zu weiten T-Shirts mit den Fingern der freien Hand.

„Ich möchte mir das auch anschauen, Papa!“, bat Nele.

Sarah schmunzelte ob der Sensationsgier der beiden Kinder. Katastrophen zogen immer Schaulustige an. Diese Sehnsucht, Zeuge von nicht alltäglichen, leidvollen Geschehnissen zu werden, machte offenbar auch vor den Kleinsten nicht Halt.

„Du bist uns immer willkommen“, sagte Hinnerk in ungewohnt liebevollem Ton, „Besser morgen?“

Nele grinste. „Gern! Ist doch okay, oder, Papa?“, fragte sie enthusiastisch.

Roland seufzte, aber er nickte.

Sarah war amüsiert darüber. Sie wusste zwar noch nicht, wie Julia mit ihrem Vater umging, doch dieses kleine Biest hatte ihn unter Kontrolle. Nele wusste mit ihren sieben Jahren schon ganz genau, wie sie ihren Willen durchsetzen konnte. Imponierend. Diese Stärke könnte für Sarah zwar lästig werden, aber dennoch war sie beeindruckt von diesem Mädchen.

Vermeintlich hilflos zuckte Hinnerk mit den Schultern. „Bei uns ist es derzeit eben spannender.“

„Einen Blick in deinen Schuppen werfen zu dürfen, wäre ganz spannend für Sarah“, insistierte Roland.

Hinnerk wandte sich nicht um, als er die Küche verließ: „Wir werden sehen.“ Das klang wenig vielversprechend.

Nachdem die Holms weg waren, deckte Roland rasch den Tisch. Währenddessen berichtete seine Tochter unentwegt davon, was sie in der Schule erlebt hatte. Dabei ging sie selbst auf die winzigsten Details ein. Mehrmals fragte sich Sarah, wie sie die kommenden Tage in diesem Haus überstehen sollte. Selbst die Jause, verschiedene, übrig gebliebene Wurstsorten vom Vortag und die Gebäckreste des Frühstücks, hinderte Nele nicht an ihren Erzählungen. Sie redete mit vollem Mund, krümelte und kleckerte, sodass Sarah der Appetit verging. Rolands Ermahnungen zeigten nie länger als zwei Bissen Wirkung. Sarah war froh, als Nele ihren Schulbericht endlich abgeschlossen hatte. Was darauf folgte, gefiel ihr allerdings noch weniger. Jetzt rückte nämlich sie ins Zentrum von Neles Interesse.

„Papa hat vorhin gesagt, du bist Histo ... Histo … irgendwas …“ Nachdenklich kaute sie auf ihrem Salami-Brot herum.

„Historikerin“, belehrte sie das Mädchen.

„Genau! Was macht eine Histori … kerin?“

Eine kindgerechte Erklärung ihres Berufs wurde erwartet. Sogar Roland sah sie gespannt an. Dabei hatte Sarah hilfesuchend seinen Blick gesucht. Dann musste dieses Mal eben sie nach einer verständlichen Erläuterung suchen. Na, toll!

„Eine Historikerin erforscht, was in der Vergangenheit passiert ist. Wenn man beispielweise alte Sachen sammelt wie Herr Holm …“

„Aber das ist doch kein Beruf! Hinnerk macht das als Hobby!“, beharrte Nele.

Sarah warf Roland wieder einen bettelnden Blick zu, aber von ihm konnte sie auch diesmal keine Unterstützung erwarten. Er genoss es offensichtlich, sie in Bedrängnis zu sehen. Sarah ärgerte sich über sich selbst. Hätte sie bei ihren seltenen Führungen durchs Museum hin und wieder wenigstens eine Kinderführung übernommen, könnte sie jetzt viel souveräner agieren. Übung machte bekanntlich den Meister.

„Manche Leute machen das als Hobby, richtig. Andere tun das professionell, als Beruf. Ähnlich wie … wie … ein Koch“, fiel ihr plötzlich ein, „Einige Menschen kochen gern, weil es ihnen Spaß macht. Andere kochen sogar so gern, dass sie in Restaurants arbeiten.“

Ihre Erklärung schien gut gewesen zu sein, denn Nele nickte beipflichtend. Gut, aber nicht gut und schon gar nicht ausführlich genug, weil das Mädchen sofort die nächste Frage nachschoss: „Und was machst du so den ganzen Tag?“

„Es ist ein sehr vielseitiger Beruf. Eine Historikerin macht nicht nur eine Sache. Da gibt es viele Möglichkeiten. Man schreibt an einem Buch oder einem Artikel für ein Fachmagazin über ein historisches Ereignis, zum Beispiel eine Kaiserkrönung oder das Leben bestimmter Persönlichkeiten wie Napoleon.“

„Napoleon?“, hakte Nele ungläubig nach und Roland schüttelte den Kopf. Er kannte seine Tochter und ahnte, was jetzt folgen würde.

„Ja, beispielsweise.“

„Aber Napoleon ist Mathis‘ Hund. Wieso soll man ein Buch über einen Hund schreiben?“ Zweifelnd sah die Kleine Sarah an.

Dieses Mal half Roland seinem verzweifelten Gast. „Mathis geht in dieselbe Klasse wie Nele. Sein Labrador heißt Napoleon. Sein Vater ist Geschichtslehrer. Daher hat der Hund wahrscheinlich seinen Namen.“

„Ah.“ Mehr brachte Sarah nicht über die Lippen.

„Nele, Sarah hat nicht Mathis‘ Hund gemeint, sondern einen anderen Napoleon. Vor über zweihundert Jahren hat in Frankreich ein Mann gelebt, der so hieß. Er wollte die Welt erobern und hat deshalb viele Kriege geführt.“

Ganz zufrieden war Sarah nicht mit diesen knappen Ausführungen über Napoleon Bonaparte, aber sie schwieg.

„Hat er es geschafft?“

„Nein, er wurde besiegt und auf eine Insel verbannt. Dort ist er 1821 gestorben“, warf sie ein.

„Oh.“ Irgendwie wirkte das Mädchen enttäuscht. Oder ging ihr das Schicksal des Korsen nahe? Vermutlich stellte sie sich gerade vor, wie er einsam und von allen verlassen in einer löchrigen Holzhütte auf einer kleinen Insel, inmitten der sturmgepeitschten See, saß und irgendwann vor Langeweile starb. Der arme, arme Napoleon. Sarah wusste zwar nicht, was im Kopf eines Kindes vor sich ging, aber bekanntlich hatten die Kleinsten doch die blühendste Fantasie. Die aufgeweckte Nele malte sich alles und jeden bestimmt in den buntesten Farben aus.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752110388
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Meer Leidenschaft Frauenunterhaltung Romance Ostsee Erotik

Autor

  • Hanna E. Lore (Autor:in)

Hanna E. Lore ist Historikerin, ihr Herz schlägt allerdings auch für unterhaltsame, romantische Geschichten. Und für alles, was pink ist und glitzert. Außerdem liebt sie Schuhe und Schokolade. Vom Schreiben - ob Kinderbücher, Fachartikel oder Romance - kriegt sie nie genug. Sie lebt in einem kleinen Ort im Salzburger Land und ersinnt dort regelmäßig neue Charaktere und Abenteuer.
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Titel: Im Norden ist man dem Himmel näher