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Die Braut des Feenprinzen

von Andrea Ego (Autor:in)
340 Seiten

Zusammenfassung

Und wenn der Winter kommt und die Fee aus dem Wasser steigt, wird das Tal gefrieren, bis die Verwunschene Quelle das bekommt, was sie will. Wenn du zur Fee wirst, unsterblich, mit verborgenen Kräften – welchen Weg wählst du? Und bist du bereit, dein Herz zu verschenken, wenn du nur einmal lieben kannst? Bergseeblaue Augen locken Joana in die verwunschene Quelle. Lichter tanzen vor ihren Augen, sie lacht und fühlt sich lebendiger denn je. Doch eine eisige, unnatürliche Kälte bedroht das Paradies. Nur die Königin der Verwunschenen Quelle ist fähig, das Eis, das alles Glück zu verschlingen droht, aufzuhalten. Wirt Joana die Braut des Feenprinzen finden, bevor sie selbst zu seiner Frau wird?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Dampf unterm Hintern

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Mit dem typischen Rattern kam der Motor zur Ruhe, als Joana ihren roten Käfer abstellte. Sie liess sich einen Moment Zeit, betrachtete sich im Rückspiegel und zog mit geübten Fingern den Lippenstift nach. Die Farbe Koralle brachte das kupferfarbene Leuchten ihrer Haare noch etwas mehr zur Geltung.

Doch eigentlich machte das keinen Unterschied. Ein düsterer Nebel hing über dem Ort und drückte auf die Stimmung. Es war egal, wie gut ihre Lippen oder ihre Haare betont waren, niemand würde es sehen. Also konnte sie genauso gut auf die Wimperntusche verzichten.

Sie griff nach der Handtasche auf dem Beifahrersitz, drückte die Autotür gegen die ausgefräste Schnee­wand – parken hätte sie niemals in die Rubrik Das kann ich besonders gut ins Freundschaftsbuch geschrieben – und kämpfte sich aus ihrem kleinen Liebling. Das Haus ihrer Grosstante Josephine lag am Hang ausserhalb des Dorfkerns, wobei Dorfkern doch übertrieben war. Dreissig Häuser als Dorf zu bezeichnen … Trotzdem, Winterhort hatte ein eigenes Ortsschild, eine 50er-Zone und ganz viel Charme. Das behaupteten jedenfalls die Einheimischen.

Mit einem leichten Lächeln schüttelte Joana den Kopf, zog die Jacke enger und stapfte zum Haus. Den Koffer würde sie später aus dem Wagen holen.

Ihre Füsse stiessen gegen den Messingkessel, der mit einer kläglichen Füllung Schnee seiner Bestimmung harrte. Erst suchte sie nach der Klingel, bevor sie sich erinnerte, dass das Haus ihrer Grosstante erst vor zwei Jahrzehnten an das Stromnetz angeschlossen worden war und noch immer keine Klingel besass. Der Wind heulte ihr frischfröhlich um die Ohren, sodass sie eiligst anklopfte. Lange wollte sie nicht in dieser Kälte stehen bleiben.

Eine Weile geschah nichts, dann endlich öffnete sich die Tür. Vor ihr stand Grosstante Josephine, gebückt und grau und liebenswert wie eh und je. Sie trug ein geblümtes, selbst genähtes Kleid mit einer marinefarbenen Strickjacke, an der ein dunkelbrauner Knopf durch einen hellbraunen ersetzt war.

Joana spürte, wie sich ein Lächeln in ihr Gesicht zauberte, als sie den ordentlichen Dutt betrachtete, aus dem noch kein einziges Haar geflohen war, und die wachen, grauen Augen. Schon als sie selbst noch als kleines Mädchen über die abschüssige Wiese getollt war, hatte Grosstante Josephine genau so ausgesehen.

»Wieso kommst du nicht einfach rein? Die Tür ist offen.«

Die Frage der alten Frau brachte Joana für einen Augenblick aus dem Konzept, bevor sie erleichtert auflachte. Sie folgte ihrer Grosstante in den schmalen Gang, zog die Schuhe aus und ging weiter bis zur engen, aber gemütlichen Küche.

Grosstante Josephine kam leicht humpelnd nach. Das erinnerte Joana wieder einmal daran, dass die rüstige Frau nicht jünger wurde. Hatten ihre Eltern nicht vor einiger Zeit einmal über Sinn und Unsinn einer Hüftoperation bei älteren Menschen gesprochen? Hatten sie Josephine damit gemeint?

Ohne auf ihre Grosstante zu warten, setzte Joana Wasser auf. Die Platte des Holzherdes strahlte trockene Hitze aus, als hätten den ganzen Tag Flammen darin gewütet. Vermutlich hatten sie das auch.

Mit einem Haarband band Joana ihre Mähne zusammen und bediente sich am Teeschrank, den sie als Kind schon geliebt hatte. Immer war ihre Grosstante für eine Überraschung gut gewesen. In den Erinnerungen sah sie sich selbst, wie sie sich über den Erdbeer-Himbeer-Tee gefreut hatte, der ihr ganz allein gehörte.

Jetzt entschied sie sich für einen klassischen Pfefferminztee, der die lange Reise aus ihrem Mund spülen würde. Auf die Frische freute sie sich – und erst recht aufs Zähneputzen. Aber nachdem sie sich die Lippen gerade erst neu geschminkt hatte, verzichtete sie vorerst darauf.

»Hagebutte, richtig?«, fragte Joana, als sie das Glas mit Schraubverschluss entdeckte, in dem ihre Grosstante die vielen Rosenfrüchte aufbewahrte, die sie im Herbst jeweils sammelte.

Joana konnte sich gut an die Nachmittage im Garten erinnern, an denen sie und ihr Sandkastenfreund sich zwischen den Ranken der wilden Rosen hindurchgeschlängelt hatten, um diese eine fette Beere noch vom Busch zu klauben. Noch besser erinnerte sie sich an die Kratzer, die sie davongetragen hatten.

Josephine setzte sich auf die Holzbank. »Gerne, Liebes.«

Ohne sich zu verirren, fanden Joanas Hände Tassen und ein Stück Zucker für ihre Grosstante, dann war das Wasser auch schon bereit. Sie spürte die nachdenklichen Blicke der alten Frau auf sich ruhen, reagierte aber nicht darauf. Dass sie nicht begeistert gewesen war, als ihr Berggeisslein die heile Welt in den Alpen verlassen hatte, um in der grossen Stadt zu studieren, wusste Joana. Bestimmt dachte sie jetzt daran, wie es hätte sein können, wenn die junge Frau noch immer in den Bergen lebte. Doch ein Leben als Bäuerin, den ganzen Tag um die Kinder herum – nein danke. Das war nichts für Joana.

Entgegen Joanas Vermutung lächelte Josephine sie herzlich an, als sie sich umdrehte, um die dampfenden Tassen auf den Tisch zu stellen. »Dass du als erfolgreiche Frau mich noch besuchst …« Die Grosstante schüttelte leicht den Kopf, um ihren Unglauben zu unterstreichen.

Joana legte ihre Finger um die warme Tasse und betrachtete sie über den dampfenden Rand hinweg. »Vielleicht bin ich gar nicht so erfolgreich.« Sie zwinkerte ihr zu.

Josephine lächelte. »Wer zufrieden ist im Leben, ist schon sehr erfolgreich.« Sie nickte in Richtung Fenster, vor dem immer dickere Flocken durch die Dunkelheit schwebten. »So wie Petrus musst du es machen. Allen ans Schienbein kicken, ohne dass dir jemand was anhaben kann. Genau.« Sie nickte mit einem ernsten Gesichtsausdruck, doch die Augen funkelten amüsiert.

Joana grinste breit. Als Teamleiterin einer kleinen Marketingabteilung für Geschäftskunden konnte sie sich tatsächlich einiges erlauben, aber ob das als richtiger Erfolg gezählt werden konnte, wusste sie noch nicht. Ausserdem vermutete sie, dass sie die Stelle nach einem Kick gegen das Schienbein ihres selbstgefälligen Vorgesetzten verlieren würde.

Josephine sah wieder zum Fenster. »Petrus kickt wohl noch bis morgen weiter. Hol doch schon mal deine Tasche, dann werden wir uns was Leckeres kochen und über gute alte Zeiten sprechen.« Voller Vorfreude fuhr sie sich mit der Zunge über die Oberlippe, sodass Joana erheitert auflachte.

Joana schüttelte den Kopf, als sie vollgefressen zum Fenster hinausblickte. Noch immer schneite es in rauen Mengen. Jetzt war sie froh, hatte sie ihre Sachen vor dem Abendessen aus dem Wagen geholt. Das Wetter lockte sie nicht nach draussen.

Die Achsen ihres Käfer bogen sich sicher schon unter der Last. Sie konnte keinen einzigen Sprenkel Rot erkennen, so viel Schnee lag auf dem kleinen Wagen.

»Komm, trink noch einen Tee, Kind«, meinte Josephine mit einem milden Lächeln. »Du kennst doch das Sprichwort: ›Abwarten und Tee trinken‹.«

Geistesabwesend nickte Joana. Natürlich kannte sie es. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass ihre Blase bei der nächsten Tasse platzen würde, auch wenn es der leckere Erdbeer-Himbeer-Tee war, den ihre Grosstante aus einem versteckten Winkel gezaubert hatte.

Joana verdächtigte sie, dass sie ihn nur für sie gekauft hatte, damit die Grossnichte vielleicht eine Stunde länger blieb. »Ich wollte doch noch zu meinen Eltern«, meinte sie mit einem Seufzen und drehte sich entschlossen zum Tisch um. »Aber morgen sieht es vielleicht schon wieder ganz anders aus.« Sie lächelte, obwohl sie selbst an ihrer Aussage zweifelte, hatte der Wetterbericht doch kalte Wintertage vorhergesagt. So schnell würden die Schneemassen nicht verschwinden. Und ihr Käfer war mässig schneetauglich, um es mit sanften Worten auszudrücken.

Josephine zwinkerte ihr zu und nippte seelenruhig an ihrem selbst gesammelten Hagebuttentee. »Wie du auch immer so gestresst sein kannst.« Das »Tststs«, das nun folgte, kannte Joana schon von Kindesbeinen an, sodass sie es aus Gewohnheit überhörte.

Joana holte sich doch noch einen Teebeutel und goss heisses Wasser nach. Die Platte des Holzherdes war nicht mehr so warm, um das Wasser zum Sieden zu bringen, aber heiss genug, um sich die Zunge am Tee zu verbrennen, war sie allemal.

Josephine seufzte. »Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass die Wasserleitung noch immer nicht repariert wurde?«

Joana hielt in ihrer Bewegung inne, die Gedanken rasten. Sie war vor zwei Monaten zum letzten Mal hier gewesen. Damals schon hatte ihre Grosstante sie immer wieder zur Quelle hinter dem Haus geschickt. »Ach Tantchen«, jammerte sie und verzog das Gesicht. »Wieso hast du die nicht angerufen und denen ein wenig Dampf unterm Hintern gemacht?«

Hatte sie eben Dampf unterm Hintern zu Josephine gesagt? Zu ihrer Grosstante, die das Wort Hintern vermutlich noch nie auch nur gedacht hatte?

Josephine schnalzte mit der Zunge. »Wie denn, so ohne Telefon? Ich kann meine Anliegen nur melden, wenn ich mal ins Dorf runterkomme.«

»Da kannst du ja auch nur Bescheid geben.« Joana seufzte, legte die Lippen an die Tasse, um einen kleinen Schluck zu trinken, doch die Hitze hielt sie davon ab.

»Die gute Susi vom Ochsen hat es sicher weitergeleitet«, meinte Josephine mit einem Zwinkern. »Und bis dahin …« Sie trank einen weiteren Schluck.

Abwarten und Tee trinken. Ergeben stellte Joana ihre Tasse auf die Anrichte, schlüpfte in Schuhe und Jacke, um im nächsten Augenblick den Kessel vor der Eingangstür mitzunehmen. Der Winter hatte den Griff kalt werden lassen, und schon bevor sie um das Haus herumgestapft war, spürte sie ihre Hand nicht mehr.

Hinter einer Felswand versteckt, nicht weit vom Haus entfernt, gluckerte eine Quelle vor sich hin. Das Wasser floss direkt aus dem Berg in einen kleinen Teich, um dann seinen Weg um Steine herum ins Tal zu finden. Früher hatten sie und ihr Sandkastenfreund oft hier gespielt, als ihre Eltern noch im Dorf gewohnt und viel gearbeitet hatten. Nach dem Umzug hatte sie ihre Grosstante viel zu selten besucht, obwohl sie nur ein Tal weiter gezogen waren. Für Kinderfüsse war der Weg trotzdem zu weit gewesen.

Ein wenig bewunderte Joana ihre Grosstante schon, als sie durch den knietiefen Schnee watete und dabei den Kessel in die Höhe hob. Obwohl die Hüfte Josephine Probleme bereitete, machte sie sich seit Wochen jeden Tag auf den Weg, frisches Wasser zu holen.

Durch den vielen Schnee zog sich der Weg in die Länge, aber irgendwann entdeckte Joana den Felsvorsprung, der den Eingang zu ihrem geschützten Paradies aus Kindheitstagen markierte. Der kleine Absatz am Rand des Durchgangs zwischen Felsvorsprung und Bergwand wirkte noch etwas schmaler, doch mit zwei grossen Schritten brachte sie den Abschnitt hinter sich und atmete erleichtert auf.

Überrascht hielt sie inne. Dass der Wind hier nicht wehte, erstaunte sie wenig, dass es aber lecker nach Frühling duftete, obwohl die Temperaturen nicht daran erinnerten, schon eher. Sie sog die Luft tief ein; ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Die glucksenden Wellen malten tanzende Lichtreflexe an die Steinwand.

Joana runzelte die Stirn. Lichtreflexe in der absoluten Dunkelheit, in der sie den Weg nur gefunden hatte, weil sie den Schatten der krüppeligen Tanne erahnen konnte? Den Zweifeln zum Trotz wogten die sanften Linien weiter über den Granit.

Als Joana näher zum Teich trat, knirschte es unter ihrem Fuss. Sie verdrehte die Augen. Wie kamen Jugendliche darauf, sich hier oben ihren Rausch anzutrinken, noch dazu bei dieser Kälte? Doch anstelle von Bierflaschenscherben entdeckte sie winzige Blumen aus Eis – Schmuckkörbchen, Ringelblumen und Mohn, allesamt gletscherblau gefärbt und durchscheinend –, die in winzige Stücke zersprungen waren.

Unmöglich! Sie kniete sich hin, legte die Hand auf einen Blütenrest, der im nächsten Augenblick unter der Wärme wegschmolz.

Sie zuckte zurück. Das hier war unheimlich. Joanas Blick huschte zum Durchgang zwischen Felsvorsprung und Bach. Es war dunkel, der Wind heulte durch das Tal. Niemand würde sie hören, wenn jetzt jemand mit einem Messer auftauchte und sie …

Entschlossen schüttelte sie den Kopf, tauchte den Kessel ins Wasser und machte sich auf den Weg zurück zu Grosstante Josephines Haus.


Sei nicht so hart

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»Rechne noch ein paar Influencer mit ein. Wenn der schillernde Lippenstift nicht angepriesen wird, kauft ihn niemand.« Joana verdrehte die Augen beim Gedanken an die Idee eines noch unbekannten Labels, das einen Lippenstift auf den Markt brachte, der in zwei verschiedenen Farben glitzerte. Die Aufgabe war es, dass Tempting Lips bald in aller Munde – oder eher auf aller Lippen – war, auch wenn sie selbst den Markt für die ausgefallenen Produkte als eher bescheiden betrachtete.

Bei solchen Herausforderungen hatte sie gute Erfahrungen damit gemacht, mit jungen Frauen zusammenzuarbeiten, die in den sozialen Medien bekannt waren. Sie posteten Beiträge, wie sie sich schminkten, in welchem angesagten Bistro sie gerade ihr ultragesundes Müsli mit Açaíbeeren genossen oder welchen schillernden Lippenstift sie trugen. Wie gut dieser aussah, wie sehr er die Aufmerksamkeit auf ihre wundervollen Lippen zog.

Alinas Stift kritzelte am anderen Ende über das Papier, ehe sie sich verabschiedete. Noch heute musste das Angebot an die Firma, wenn sie den Auftrag erhalten wollten. Dabei sorgte Joana dafür, dass der Auftrag an sie persönlich gehen würde – der erste Grossauftrag für ihre eigene kleine Marketingfirma, die sie aufbauen wollte.

Auch wenn Marketing teuer war, lohnte es sich meistens. Jedenfalls hatte sie ihren Lieblingsfotografen Alex schon von der Idee begeistern können, schillernde Lippen abzulichten. Jetzt brauchte sie nur noch die Zusage des Labels, und wenn Alina, ihre rechte Hand in der Firma, die Influencer und Merchandise-Artikel zum Angebot von Joanas Arbeitgeber rechnete, würde sie mit ihrem eigenen Angebot deutlich unter dem ihres Arbeitgebers liegen.

Mit ein paar kurzen Anweisungen lenkte sie die treue Alina zu den richtigen Influencern und beendete das Gespräch.

Grosstante Josephine grunzte, was Joana ein erheitertes Lachen entlockte. »Ich dachte, du hast Urlaub?«

Joana trat zum Eimer, wrang den Lappen aus, stellte sich auf die Zehenspitzen und putzte den Küchenschrank weiter. Immer wieder erstaunte es sie, wie viele Krümel sich innerhalb eines Jahres in einem Kasten mit eigentlich sauberem Geschirr ansammeln konnten. »Will man erfolgreich sein, hat man keinen Urlaub.« Aber dass sie das Notebook mitgebracht hatte, um bei ihren Eltern zu Hause über die Weihnachtsfeiertage ein paar Kleinigkeiten zu erledigen, verschwieg sie.

Josephines »Pah« schallte durch die Küche und Joana hörte, wie sie aufstand, als plötzlich ein Knacken die Luft zum Vibrieren brachte. Im nächsten Augenblick rumpelte es, ein Donner rollte über sie hinweg. Der Boden bebte. Joana ging in die Knie und krallte sich an der Anrichte fest. Bei einem Blick zu ihrer Grosstante zurück erkannte sie, wie blass auch sie um die Nase herum geworden war.

Irgendwann verstummte das Gepolter, die Erde kam zur Ruhe. Noch immer angespannt, liess Joana die Luft aus ihrer Lunge entweichen. Vorsichtig trat sie ans Fenster und hob den Vorhang etwas an, um besser sehen zu können. »Beim Teutates!«, rutschte der Fluch aus ihr heraus.

»Joana!«, tadelte Grosstante Josephine.

Aber sie sah nicht, was Joana sah. Es wirkte, als hätte sich der Berg wie ein nasser Hund geschüttelt und die gesamte Schneelast abgeworfen, die sich seit gestern Abend dort angesammelt hatte. Schneebrocken, mit Schutt aus dem Berghang vermischt, bedeckten einen Teil ihrer Spuren von gestern Abend. Nur ein paar Meter näher und man müsste Grosstante Josephine und sie im Frühling auftauen.

»Wir müssen hier weg.« Joana wirbelte herum und hastete in den oberen Stock, um ihre Sachen zu holen.

Josephine brach in erheitertes Lachen aus, was Joana mit einem Blick aus leicht verengten Augen quittierte. »Weisst du eigentlich, wie lange unser Haus schon steht?«

»Jaja«, winkte Joana unbeeindruckt ab. »Aber irgendwann ist immer das erste Mal. Irgendwann werden die Schneemassen über dieses Haus hereinbrechen und alle, die sich darin befinden, unter sich begraben. Ich habe nicht vor, ein Teil davon zu sein.«

Wieder lachte Grosstante Josephine, doch dieses Mal war es etwas leiser. Für einen Augenblick hatte Joana das Gefühl, dass ihre Augen tiefblau aufblitzten, doch es verschwand so schnell wieder, dass sie es als Einbildung oder als Spielerei des Lichts abstempelte.

»Ich glaube an Magie, Joana. Dieses Haus wird durch Magie geschützt. Niemals in all den Jahren, in denen ich hier wohne, ist etwas passiert. Nie.«

»Ausser einer kaputten Wasserleitung?«, fragte Joana mit hochgezogener Augenbraue, doch das bemerkte ihre Grosstante nicht einmal. Diese schien so in ihre eigenen Gedanken versunken zu sein, dass die Marketingexpertin erwartete, bald in eine andere Zeit gezogen zu werden.

Mit einem Seufzen fand Josephine langsam in die Gegenwart zurück. »Ausserdem ist es jetzt sowieso zu gefährlich. Solange der Berg nicht ruht, gehen wir nirgendwo hin.«

Das war das einzige Argument, das Joana von ihrem Plan abhielt, so schnell wie möglich zu verschwinden.

Als Joanas Handy gleich nach dem Auflegen wieder klingelte, warf sie nicht einmal einen Kontrollblick auf den Bildschirm. Wenn sie den Deal mit Tempting Lips an Land zog, dann hielt sie das Ticket in die Freiheit in den Händen. Dann würde es endlich reichen, um ihr eigenes Marketingbüro zu eröffnen. Folgeaufträge würden hereinflattern, sie wäre ihr eigener Chef. Und dann wäre sie erfolgreich.

»Kramers. Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie freundlich. Dabei lächelte sie. Je freundlicher sie am Telefon sass, desto überzeugender wirkte auch ihre Stimme.

Am anderen Ende lachte ein Mann. »Echt, Jo? Kramers?«

Joana zog die Augenbrauen zusammen, doch das Lächeln blieb, während sich in ihren finstersten Erinnerungen Bilder regten und an die Oberfläche drängten. Doch noch wollten sie sich nicht gänzlich zeigen.

»Hast du mich wirklich vergessen?« Der Mann gab ihr einen Augenblick Zeit, bevor er sorglos weitersprach. »Es tut gut, deine Stimme zu hören – auch wenn du gerade sehr schweigsam bist.«

Endlich machte es Klick. Joanas Gesicht erstarrte zu einer steinernen Maske, während ihr Herz stolperte, um dann doppelt so schnell weiterzugaloppieren. Bilder von wuscheligen, kastanienbraunen Haaren, die im Gegenlicht wie ein Kranz strahlten, lange Finger, wie sie durch die nicht zu bändigende, ewig wirre Mähne fuhren und dazu diese herrlich warmen, braunen Augen.

Obwohl sich Joana wehrte, konnte sie das überraschend deutliche Bild nicht verdrängen. »Gion.« Mit einem Seufzen lehnte sie sich betont ungerührt zurück. »Was willst du?« Ihre Stimme klang kalt, obwohl seine Stimme allein sie aufwühlte.

»Ha, du erkennst mich also doch!« Im Hintergrund rief eine Frauenstimme seinen Namen, er wimmelte kurz angebunden ab und widmete sich wieder seiner Gesprächspartnerin. »Warum bist du so schlecht gelaunt? Freust du dich denn nicht, endlich wieder etwas von mir zu hören?«

Joana massierte sich die Stirn mit Daumen und Mittelfinger. Viel lieber hätte sie ihm Letzteren aber gezeigt. »Ich habe zu tun.« Einen Versuch war es wert. »Ausserdem hätte ich dich angerufen, wenn ich mit dir sprechen wollte.«

Gions Lachen wurde noch eine Spur lauter und fröhlicher als vorher. »Dann hast du wenigstes meine Nummer nicht gelöscht.«

Aber alles andere. Selbst die Erinnerungen an ihn hatte Joana aus ihrem Leben verdrängt und sie unter vielen neuen Erfahrungen begraben. Trotzdem nervte seine Fähigkeit, in allem Negativen etwas Positives zu sehen, gerade gewaltig. Dennoch konnte sie ein Zucken ihrer Mundwinkel nicht verhindern.

»Nein, jetzt im Ernst«, lenkte er ein, doch es schwang noch immer ein amüsierter Unterton in seiner Stimme mit. »Braucht ihr etwas? Was soll ich mitbringen?«

O bitte, lass ihn nicht hierherkommen. »Wir sind eingeschneit«, entgegnete sie, darauf hoffend, er würde sich dadurch von seinem Plan abhalten lassen.

»Ich weiss.«

Ein wenig überraschte es Joana, dass er von der Wetterlage hier wusste.

»Ich habe die Lawine gesehen, als sie ins Tal donnerte.« Er machte eine kurze Pause. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Wir alle«, fügte er rasch hinzu.

Hiess das, dass er noch immer in Winterhort lebte? Gion war bei seinem Grossvater auf der anderen Seite des Tals aufgewachsen. Auch wenn die Ebene sie beide getrennt hatte, hatten sie doch stundenlang zusammen Hagebutten aus den dornigen Büschen geklaubt. Manchmal hatten sie sich sogar mit Taschenlampen Gute Nacht gemorst.

Gion räusperte sich. »Mein Grossvater sagte immer, dass Lawinen aus der Wut der Berggeister entstehen.«

Joana liess sich den Satz nochmals durch den Kopf gehen. »Sagte?«, hakte sie nach, doch auch ohne auf Gions Antwort zu warten, wusste sie, was geschehen war. »Das tut mir leid.« Sein Grossvater war seine einzige Familie gewesen. Gions Mutter hatte den Namen seines Vaters vor ihrem Ableben nicht genannt, Tanten und Onkel gab es keine.

Der Tod musste ihm den Boden unter den Füssen weggerissen haben. Einen unendlichen Augenblick lang herrschte betretenes Schweigen.

»Danke. Also, braucht ihr etwas?«

»Ein langes Messer.« Joana warf ihrer Grosstante einen flüchtigen Blick zu. Diese schien ganz in ihre Strickarbeiten vertieft, doch sie wusste, dass die Neugier der alten Frau keine Grenzen kannte. Noch immer zeigte sie keine Regung. Grosstante Josephine war gut.

Gions überraschte Stimme riss Joana aus ihren Gedanken. »Ein Messer? Wofür?«

Wenigstens einmal war es ihr gelungen, seine Selbstsicherheit zu vertreiben. Beinahe hätte sie triumphierend aufgelacht, doch die Genugtuung, sie zum Lachen gebracht zu haben, wollte sie ihrem Sandkastenfreund nicht gönnen.

»Damit ich unsere nicht schmutzig machen muss, wenn ich dich ersteche«, antwortete sie möglichst unfreundlich, lächelte aber dabei.

Er sollte nur nicht denken, dass sie sich auf ihn freute, auch wenn es so war.

Einen Augenblick herrschte Stille in der Leitung, dann lachte er wieder. Sie konnte ihn vor sich sehen, wie er sich mit dem Handy am Ohr an der Wand abstützte und sein ganzer Körper unter dem Anfall erbebte. Ja, sie hatte sein Lachen geliebt.

Hatte.

»Einen Mord solltest du nicht ankündigen, Jo, sonst erwischen sie dich noch.«

»Ich werde die Leiche deinen komischen Geistern vorsetzen, die werden sich an deinem Fleisch laben und niemand wird dich finden. Oder vermissen.« Das feine Grinsen verbreiterte sich, sie konnte es nicht verhindern. Aber Gion sah sie ja nicht, also war das auch nicht so schlimm.

»Oh, wenn du nur wüsstest!« Schon wieder dieses verdammt herrliche Lachen. »Dann also bis später.« Einen Augenblick hielt er inne, dann seufzte er und legte auf.

Als wäre die Zeit stehen geblieben, starrte Joana auf ihr Handy. Sie wusste nicht, was sie von dem Gespräch eben halten sollte. Die Mundwinkel zogen leicht nach oben, doch sie wollte es nicht zulassen, dass er sie noch einmal zum Schmunzeln brachte. Sie hatte sich geschworen, dass sie nie wieder ein Mann zum Lachen bringen würde, dass niemand sie jemals wieder so verletzten konnte.

Und vor allem nicht er.

»Gion ist ein guter Junge«, warf Grosstante Josephine ein, ohne das monotone Klappern ihrer Stricknadeln auch nur um einen Hauch zu verlangsamen.

Joana rollte mit den Augen und hoffte, dass Josephine in diesem Moment auf ihre halbfertige Strickjacke blickte. »Natürlich, das war er früher schon«, erwiderte sie etwas genervt und warf einen bösen Blick auf ihr Smartphone, das unschuldig mit schwarzem Bildschirm auf dem Tisch lag.

Hätte es nicht geklingelt, wäre Gion jetzt nicht auf dem Weg zu ihnen. Oder sie wüsste wenigstens nichts davon.

Ihre Grosstante nickte ernst. »Das stimmt. Du musstest immer alles ausprobieren, während er der Leidtragende war.«

Joana runzelte die Stirn. »Das stimmt so nicht«, verteidigte sie sich, konnte sich aber ein Lächeln nicht komplett verkneifen. Natürlich war an der Aussage ihrer Grosstante einiges dran, unter anderem auch, dass Joana die Ideen zu den Streichen gehabt hatte und Gion ihr gefolgt war.

»Sei nicht so hart zu ihm«, verlangte Josephine mit Nachdruck.

Joana konnte nur mit Mühe ein Seufzen unterdrücken. »Ich bin nicht hart zu ihm. Und falls doch, dann hat er es verdient.« Für einen Moment dachte sie an die Zeit ihres Studienanfangs zurück. Sie hatte Gion geliebt … und er sie. Doch plötzlich hatte er mit haltlosen Vorwürfen um sich geworfen und ehe sie es sich erklären konnte, den Kontakt abgebrochen.

Ihre Grosstante hob die Augenbrauen ein wenig. »Bevor der Junge kommt, hol doch bitte bei der Verwunschenen Quelle noch etwas Wasser.«

Ganz unglücklich, dass Josephine das Thema nicht weiter vertiefte, war Joana nicht, trotzdem seufzte sie beim Gedanken daran, dass sie schon wieder den Hügel hochstapfen sollte. Aber was tat man nicht alles für ein bisschen sauberes Trinkwasser und die gute Laune der Grosstante. Ein Seufzen unterdrückend, erhob sie sich und packte den Kessel ergeben.

Grosstante Josephine unterbrach ihre Strickarbeit und warf einen Blick zum Fenster hinaus. »Ich leg mich mal kurz hin, ich bin etwas müde.« Sie schenkte Joana ein entschuldigendes Lächeln und verzog sich in den Raum gleich hinter der Küche.

Mit schief gelegtem Kopf sah Joana ihr hinterher. Sie kannte Josephine nur als quirlige, topfitte Frau – jedenfalls für ihr Alter. Dass sie jetzt so erschöpft war und sich für ein Mittagsschläfchen bereit machte, liess nagende Sorge in der jungen Frau aufkeimen.

Der Wind wehte ihr harte Schneeflocken ins Gesicht, als sie die Tür aufstiess. Obwohl die frische Luft wieder Leben in ihren müden Kopf brachte, verfluchte sie den Schnee innerlich. Sicherheitshalber warf sie ihrer roten Knutschkugel einen Kontrollblick zu. Das Dach schien noch intakt, keine Lawine hatte den heiss geliebten Käfer unter sich begraben. Doch bei dem Schneefall würde sie ihn nie freigeschaufelt bekommen. Sobald sie hinten fertig wäre, läge vorn schon wieder so viel Schnee wie am Anfang.

Der Weg zur Quelle, den sie gestern Abend genommen hatte, war kaum mehr zu erkennen, so viel hatte es in der Nacht geschneit. Sie nahm einen kleinen Umweg in Kauf, um nicht durch das verdichtete Lawinenmaterial waten zu müssen. Ansonsten hielt sie sich an die kürzeste Strecke.

Je näher sie der Quelle kam, desto heftiger stiess der Wind sie davon weg. Es war, als wollte der Berg verhindern, dass sie dorthin gelangte.

Joana senkte den Blick und vergrub die Nase in ihrem Schal. Die Haut prickelte vor Kälte, doch nach dem lauen Morgen fühlte es sich nach Leben an, frei, wild und ungezwungen. Das Heulen in ihren Ohren schwoll an. Wie eine Stimme dröhnte es durch Mark und Bein, warnte sie davor, näher zu treten.

Für einen Augenblick sah sie sich selbst vor ihrem inneren Auge, wie sie gestern Nacht neben der Quelle gekauert hatte, um den Kessel zu füllen. Funken sprühten um sie herum, wirbelten die Luft auf und malten bunte Striche an die Felswand, die mit der Bewegung des Wassers aufschreckten.

Verwirrt schüttelte Joana den Kopf und damit die unwirklichen Bilder ab. Sie bildete sich hier Dinge ein, die es gar nicht gab. Die eiskalten Zehen hatten sie nicht schlafen lassen, der Schlafmangel machte sich nun bemerkbar. Dabei hatte sie sich in dieser Woche doch erholen wollen.

Erleichtert entdeckte sie den dunklen Bachlauf, der sich durch den ganzen Schnee schnitt. Mit neuer Motivation brachte sie die letzten Meter hinter sich, drückte sich an die Felswand und trat zur vor Wind und Wetter geschützten Quelle.

Wieder wirbelten ihre Schritte Frühlingsluft auf, die sie mit einem Lächeln auf den Lippen einsog. Es passte zwar überhaupt nicht zur Weihnachtszeit, doch die Aussicht auf wärmere Tage liess Joanas Herz ein bisschen schneller schlagen.

Im Winter musste sie sich abmühen, wasserdichte, griffige und gleichzeitig elegante Schuhe zu ergattern, musste vor der Arbeit den Käfer von Schnee oder Eis befreien und dann standen die Haare auch noch in alle Richtungen ab, wenn sie den Schal an den Kleiderständer hängte.

Sie mochte den Winter nicht.

Also sollte sie sich so rasch wie möglich wieder auf den Rückweg machen. Sie kauerte sich neben die Quelle, tauchte den Kessel ein und liess das Wasser gemächlich einlaufen, bevor sie ihn wieder herauszog. Mit einem Ruck stand sie auf, zog das ganze Gewicht mit sich.

Eine Bewegung von der anderen Seite der Quelle liess sie herumwirbeln. Als sie ein Paar tiefblauer Augen erblickte, erstarrte Joana, unfähig, in ihrer Panik um Hilfe zu schreien.

Der fremde Blick liess sie frösteln, wenn nicht gar erbeben, und sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Noch ein wenig fester umklammerten ihre Hände den Griff des Kessels. Mit einem möglichst unauffälligen Schwenken testete sie, wie viel Kraft es brauchte, um ihn dem Unbekannten an den Kopf zu knallen.

Die Augen schienen sie regelrecht einzusaugen, sie beherrschen zu wollen. Ihr Herz schlug einen schnelleren Takt an. Obwohl alles in ihr danach schrie, die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen, so schnell es nur ging, blieb sie stehen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

Nach und nach sah sie mehr als diese stahlblauen Augen, so tief wie ein Bergsee und mindestens genauso geheimnisvoll, und sie wurde der sinnlichen Lippen und der mit Eiskristallen überwachsenen Augenbrauen gewahr.

Eiskristalle? Ihre Neugier hätte das Phänomen am liebsten untersucht, während das Herz vor Angst flatterte. Sie wollte sich selbst in den Arm kneifen, um aus dem Traum zu erwachen, doch sie konnte sich nicht regen. Wie feine Fesseln hielt die Angst sie gefangen.

Noch immer lächelnd, schälte sich der Mann aus dem Berg. Er war gross, vielleicht sogar zwei Meter, und keine Falte durchschnitt sein ebenmässiges Gesicht. Die jugendliche Haut wirkte surreal, nicht nur wegen der eisigen Farbe, sondern vor allem wegen des Alters seiner Augen. Jahrhunderte schienen in ihnen zu stehen. Er musste Zeiten kommen und gehen gesehen haben, die sie nicht einmal benennen konnte.

Joana sank in sich zusammen, doch sie blieb wie von unsichtbaren Händen gehalten stehen. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu. Der Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht war, seine unnatürlichen Augen, die Frühlingsluft bei der Quelle. Irgendwie mussten sich diese Beobachtungen doch natürlich erklären lassen. Die unendliche Tiefe der Bergseeaugen konnte sie sich eingebildet haben, auch wenn sie jetzt noch in diesem atemberaubenden Blau stand. Dass er einfach aufgetaucht war … aus dem Berg aufgetaucht war … Sie schluckte.

Ein schlechter Traum. Es musste ein wahnsinnig schlechter Traum sein, oder ein noch viel mieserer Scherz. Sie hoffte inständig, bald aus diesem surrealen Traum zu erwachen. Gleichzeitig wusste sie, dass es keiner war.


Miss Superschlau

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»Komm mit mir, meine Königin«, hauchte er mit gluckernder Stimme. Sie erinnerte Joana an Wasser – und an jemanden, der es gewohnt war, dass jeder ihm gehorchte.

Um Joana herum wurde es noch eisiger, an der kupferfarbenen Strähne, die der Wind beim Aufstieg gelöst hatte, wuchsen filigrane Eisblumen. Der sich kringelnde Atem gefror noch in der Luft zu winzigen Kristallen und fiel mit einem leisen Rascheln auf ihre Jacke und den Schnee.

»Du bist die, die den Frühling bringt und mich zum König macht«, flüsterte er weiter.

Mit unwirklich flüssigen Bewegungen kam er auf sie zu. Seine Füsse berührten das Wasser, mussten es berühren, doch Joana sah es nicht, weil sie von diesen Augen so sehr gefangen war, dass sie in ihnen versank. Mit Haut und Haar.

Als sie es realisierte, blinzelte sie. Das waren nicht ihre Gedanken, die sie leiteten, redete sie sich ein. Das war allein die Magie dieser … Gestalt, die sie vollkommen in ihrem Bann gefangen hielt. Sie wollte, dass der merkwürdige Mann weitersprach, obwohl sie die Spielchen durchschaute. Sie spielte die genau gleichen mit Kunden und ihrer Zielgruppe. Mit Reizen locken, subtile Gedanken und Wünsche wecken, Träume entfachen …

Beim Gedanken daran schluckte sie. Das, was der Typ da betrieb, war bestes Marketing. Sie räusperte sich, um ihrer Stimme den ängstlichen Klang möglichst zu nehmen, und versuchte, sich auf sich selbst und nicht auf diese wundervollen Augen zu konzentrieren. »Guten Tag. Mein Name ist Kramers, Teamleiterin Marketing.«

Jetzt war er es, der innehielt und sie mit leicht angehobenen Augenbrauen beobachtete. Dass er sich auch aus der Ruhe bringen liess, schenkte ihr zumindest ein bisschen Hoffnung.

»Ich glaube nicht, dass mich das zur Königin macht.« Sie lächelte und erwiderte seinen Blick. Vielleicht lockte sie ihn dadurch weiter aus der Reserve. Sie musste das Gespräch in eine Richtung lenken, die sie schnell und gefahrlos fliehen liess, oder in der sie sich zumindest wohlfühlte.

Mit geschmeidigen Schritten näherte er sich. Dabei strahlte er eine Dominanz aus, die sie erschauern liess. Joana zwang sich, ihn weiterhin anzusehen, obwohl jeder Schritt ihre Knie stärker zittern liess. Sollte er ruhig glauben, dass sie diesen wunderschönen Augen begegnen konnte. Wich sie aus, hatte sie schon verloren.

Als er direkt vor ihr stand, beugte er sich leicht vor, neigte den Kopf zur Seite und brachte das Gesicht so nah an ihren Hals, dass sie den Lufthauch auf ihrer Haut spüren konnte, den sein Atem verursachte.

Wie versteinert blieb sie stehen. Schnupperte er etwa an ihr? »Bevor man jemandem so nahe kommt, stellt man sich in der Regel vor«, rutschte es ihr heraus. »Und eine Einladung zum Kaffee geht dem meist auch voraus.«

Die Bewegungen mussten aus einer anderen Welt oder einer fremden Zeit stammen. Wie fliessendes Wasser stellte er sich aufrecht hin. Die blauen Bergseeaugen funkelten. Während seine Lippen ein hauchdünnes Lächeln bildeten, zuckte sein Blick zwischen ihren Augen hin und her. »Hast du es vergessen, Jo?«, fragte er leise. Jetzt raspelte die Stimme wie eine Käsereibe auf Stein – faszinierend und gleichzeitig ekelhaft.

Joana konnte ein erneutes Schaudern gerade noch verhindern und runzelte die Stirn. »Ganz bestimmt würde ich mich an diese Augen erinnern, wenn ich sie schon einmal gesehen hätte.«

Der mysteriöse Mann erstarrte für einen Wimpernschlag, öffnete die Lippen zu einem vorfreudigen Grinsen und zeigte dabei spitze Eckzähne, die Joana noch gar nicht aufgefallen waren. Wie ein Vampir, der seine Zähne in wenigen Augenblicken in Frischfleisch schlagen würde, leckte er sich über die Oberlippe.

Erschrocken holte sie Luft und plötzlich war der Kessel in ihren Händen noch wichtiger. Notfalls konnte sie ihm den an den Kopf knallen.

»Dann erinnerst du dich vielleicht daran?«, erwiderte er mit belegter Stimme und machte einen Schritt auf sie zu.

Joana wich zurück. Noch einmal, und noch ein weiterer Schritt, bis der Berg ihre langsame Flucht beendete. Sein Gesicht näherte sich ihrem, kalter Atem strich über ihre Wange. Er wollte sie küssen!

Sie liess den vollen Kessel mit einem hohen Kreischen fallen. Er landete auf den Füssen des schrecklichen Wesens, kippte um, und das Wasser lief ihm über die Füsse und in den Schnee.

Der Mann schrie auf. Den Moment nutzte Joana, um ihn mit aller Kraft von sich zu stossen. Das Wasser war ihr egal, an den leckeren Tee, der sich daraus zubereiten liess, dachte sie gar nicht. Sie wollte nur noch weg hier, weg von diesem geheimnisvollen Wesen und nach Hause.

Sie sprang zum schmalen Absatz. Hinter sich hörte sie das Platschen des Wassers, als er im Teich landete. Sie sah über die Schulter zurück, während ihre Füsse über den Schnee flogen. Er war verschwunden, einfach weg. Für einen Moment glaubte sie, ein tiefblaues Leuchten im kleinen Teich zu sehen, doch dann war es verschwunden. Das Gänsehautgefühl im Nacken liess sie rennen.

Sie stolperte über einen Stein, der im Schnee verborgen gewesen war, machte eineinhalb Purzelbäume den Hang hinunter und blieb mässig elegant mit dem Gesicht nach unten liegen. Mit beiden Händen drückte sie sich ab. Unter ihrem Gewicht gab der Schnee nach, griff mit kalten, nassen Fingern nach ihr.

Atemlos drehte sie sich zur Seite. Ein gluckerndes Lachen ertönte und jagte ihr durch Mark und Bein. Joana kämpfte sich zurück auf die Beine, lief durch den Schnee, rannte um die Hütte herum, bis sie die Tür hinter sich zuknallte. Mit zitternden Händen klaubte sie den Schlüssel aus dem oberen Garderobenfach und schloss die Tür ab.

»Hey, Jo«, erklang eine männliche Stimme aus der Küche.

Mit einem Kreischen fuhr Joana herum und drückte sich gegen die dünnen Holzbretter, die sich Tür schimpften. Ihr Herz galoppierte, die Beine zitterten. Noch ein solcher Schreck und sie würde sich einnässen.

Im Gegenlicht konnte sie nur die schlanke Gestalt mit den zerzausten Haaren erkennen. Auf der Suche nach einer Waffe huschten ihre Augen zur Garderobe.

Als der Mann leise, vielleicht gar ein wenig unsicher in sich hineinlachte, fiel ihr das Telefongespräch mit ihm wieder ein. Die Sache mit dem Wesen bei der Quelle hatte sie so aus dem Konzept gebracht, dass sie alles andere ausgeblendet und nicht mehr an ihn gedacht hatte. »Gion.« In ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Angst und Freude mit. Erleichterung.

Er war ein Mensch. Er war vernünftig – manchmal jedenfalls. Und normal. Zumindest so etwas wie normal. Joana liess die Luft aus ihrer Lunge entweichen. Gleichzeitig wich die Anspannung in ihrem Inneren.

»Hast du mich schon wieder vergessen?« Gion fuhr sich mit der Hand durch seine zerzausten Haare.

Natürlich, der Mann von der Quelle hatte gar keinen Wuschelkopf. Auch die Stimme passte nicht. Es musste Gion sein. Wie sein plötzliches Auftauchen sie derart erschrecken konnte, war ihr inzwischen schleierhaft. Mit leicht zusammengekniffenen Augen entspannte sie sich und gönnte sich einen Moment, ihren Freund aus Kindertagen zu betrachten.

Er hielt sich am Türrahmen fest. Trotz der Kälte trug er nur ein Kurzarmshirt. Athletische Muskeln zeichneten sich gegen das Tageslicht aus der Küche hinter ihm ab, als er die Hände löste und leise in sich hineinlachte. »Hast du seit damals wirklich so viele Männer geküsst, dass meine Küsse dir nicht im Gedächtnis geblieben sind?«

»Nicht schon wieder«, stöhnte sie auf. Das war heute das zweite Mal, dass ein Mann behauptete, sie würde sich mit einem Kuss an ihn erinnern. Beim Teutates, sie lebte bestimmt nicht abstinent, aber das hiess keinesfalls, dass sie sich jedem Mann an den Hals warf und ihm einen Kuss abrang. Fassungslos schüttelte sie den Kopf.

Aber an Gions Küsse erinnerte sie sich.

Sie zog Schuhe und Jacke aus und ging auf Gion zu, dessen Wangengrübchen sich vertieften. Sie erwiderte sein Lächeln, ihr Herz klopfte leise, auch wenn sich der Verstand dagegen auflehnte. »Wenigstens weiss ich noch, dass da mal was war.« Joana spürte, wie sich ihr Gesicht aufhellte und sich gleichzeitig schmerzliche Kälte in ihr ausbreitete. Sie schluckte und gab sich Mühe, sich die Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Es war doch schon so lange her, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Eigentlich sollte ihr seine Anwesenheit egal sein.

Um sich abzulenken, quetschte sie sich an ihm vorbei in die Küche und schob zwei Scheite in den Ofen, um wenigstens ein bisschen Wärme zu erhalten. Der kurze Marsch zur Quelle steckte ihr noch immer in den Knochen, allerdings eher in den geistigen als in den körperlichen.

Gion drehte sich zu ihr um und lehnte sich lässig gegen den Türrahmen. »Willst du mich nicht begrüssen?«

Joanas Mundwinkel zogen sich leicht nach oben, obwohl sie es eigentlich nicht zulassen wollte. »Reicht es nicht, dass ich mich an dich erinnern kann?«

Er zuckte mit den Schultern. »Natürlich, Miss Superschlau.« Er zwinkerte ihr zu und setzte sich ungefragt an den Tisch. »Oder schon eine Misses?«

Joana zwinkerte gegen ihren Willen. Heute schien ihr Körper ein Eigenleben zu führen, ein ganz mieses noch dazu. »Küsse ich denn gut genug, um eine Misses sein zu können?« Innerlich verfluchte sie sich dafür, dass sie sich ihm so öffnete und auf seine Anspielungen einging, als hätte er ihr nie misstraut.

Er wackelte mit der Hand. »Damals war es nicht sehr berauschend.«

Joana sah sich nach einem Lappen um, nach etwas, was sie nach ihm werfen konnte, ohne ihn zu verletzen, sollte sie ihn tatsächlich treffen. Nicht dass sie ihn jemals getroffen hätte. Doch auf die Schnelle geriet ihr nichts zwischen die Finger.

»Aber wir können gerne testen, ob du ausreichend geübt hast.«

Joana zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Da mach dir mal keine Gedanken, ich komme zu meinen Übungsstunden.« Sie musste ihrem Sandkastenfreund ja nicht auf die Nase binden, dass im Moment eine ziemliche Flaute herrschte.

»Was machst du hier?«, wechselte sie das Thema und wärmte den letzten Rest des Wassers aus der Quelle auf. Eine Tasse Tee schadete nie, da waren Grosstante Josephine und sie sich einig. »Es liegt nicht wirklich auf dem Weg und die Strassenverhältnisse sind eher ungünstig.«

Er warf einen Blick aus dem Fenster und gab Joana damit die Möglichkeit, ihn unbemerkt zu betrachten. Seine Haare standen noch immer wirr vom Kopf ab wie eh und je, die Lippen waren schmal, mit Mundwinkeln, die immer ein wenig aufwärtsgerichtet schienen und dabei die Grübchen betonten.

Gion seufzte und holte damit die Schwere eines jungen Lebens in den Raum, um sie mit einem leichten Lächeln gleich wieder zu vertreiben. »Jemand muss sich doch um Grosstante Josephine kümmern. Sie ist einsam.«

»Ich bin ja da«, platzte Joana heraus und fühlte sich im selben Augenblick ertappt, nicht ausreichend oft hier vorbeizusehen. Doch wenn sie sich schon so dämlich geoutet hatte, konnte sie auch gleich das Positive daraus ziehen. »Du kannst also beruhigt gehen.« Sie versuchte sich an einem selbstsicheren Grinsen. Es wurde schnell unsicher, als Gion nicht auf ihre Neckerei einging.

Gion ging immer auf Neckereien ein.

Jetzt wartete er nur darauf, ihren Blick einzufangen und festzuhalten. »Grosstante Josephine fühlt sich einsam, Joana. Oft ist sie tagelang allein. Nur ich bin hier, um mich hin und wieder zu einem Tee überreden zu lassen.« Er grinste schief.

Joana wusste nur zu gut, dass er keinen Tee mochte. Dass er sich dennoch von Josephine dazu überreden liess, verstärkte ihren Eindruck, dass er in ihr eine Art Ersatzmutter gesehen hatte. Vielleicht tat er es immer noch.

»Ich mache weder dir, deinen Eltern noch sonst wem einen Vorwurf. Ihr lebt euer Leben, das ist euer gutes Recht«, fügte er rasch hinzu, ohne ihr in die Augen zu sehen.

Er warf es ihr also doch vor. Um das zu spüren, kannte sie ihren ehemaligen Freund gut genug.

»Und wie geht es dir so?«, fragte er mit einem kaum hörbaren Seufzen und wechselte das Thema.

»Wunderbar«, antwortete Joana und lächelte. »Ich arbeite bei einem renommierten Unternehmen und werde demnächst meine eigene Agentur eröffnen.« Das hoffte sie zumindest.

»Werbung?« Endlich blickte Gion sie wieder mit seinen herrlich braunen Augen an. Wer nicht nah genug an ihn herankam, sah nur die dunkle Farbe, trat man aber näher, wirkten seine Augen wie ein Lufthauch im Sommer, der die Farben von frischer Erde mit sich trug und nach warmen Baumstämmen roch.

»Marketing«, korrigierte sie ihn aus Gewohnheit. Den unterschwelligen Seitenhieb verstand sie nicht gleich. Als er leise in sich hineinlachte, hob sie eine Augenbraue und starrte ihn von oben herab an. Ein Glück, dass sie sich noch nicht gesetzt hatte und damit grösser war als er.

Jetzt lachte er laut los. Unglaublich, er lachte einfach! Joana starrte ihn fassungslos an, schüttelte langsam den Kopf. Sie schlang die Arme um den Oberkörper, als würde sie frieren, dabei verunsicherte sie seine lockere Art nur.

Seine Bewegungen, der Ton, wie er sprach, lösten eine unbekannte Sehnsucht in ihr aus. Sie wusste nicht, wonach oder weshalb, aber da war dieses Ziehen, das sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gespürt hatte. Erinnerungen? Längst begrabene Träume? Das Bedürfnis, jemanden, der mit ihr durch dick und dünn gegangen war, wieder in ihrem Leben zu haben?

Als sich Gion von seinem Anfall erholt hatte, blitzten seine Augen fröhlich auf. »Wie oft hast du mich verbessert, bevor du gegangen bist? Mindestens zweitausendmal. Und ich hätte es auch dreitausendmal gesagt, nur um das kämpferische Funkeln in deinen Augen zu sehen.« Um seinen Worten die Spitze etwas zu nehmen, zwinkerte er ihr zu.

Joana gelang ein Lächeln. Eigentlich hätte sie gern laut aufgelacht, doch diese Genugtuung wollte sie ihm nicht gönnen. Mit der dampfenden Teetasse in der Hand setzte sie sich ihm gegenüber. »Wie läuft es bei dir?«

Er lehnte sich zurück, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. »Ach, weisst du«, begann er gedehnt, »mit meinem Unternehmen mache ich Millionen.«

Joana horchte auf. Millionen. Unternehmen. Marketing. Vielleicht konnte sie ihn als neuen Kunden gewinnen. Jeder erfolgreiche Unternehmer brauchte …

»Millionen Fliegen.« Gion lachte und beobachtete ihre Reaktion, die zu ihrem Verdruss genau so ausfiel, wie er geplant hatte.

Verfluchter Menschenkenner! Joana grummelte in sich hinein, was Gion nur noch lauter auflachen liess.

»Um ehrlich zu sein, gibt es nicht viel Neues hier. Die Susi bewirtet im Ochsen immer noch dieselben Stammgäste, viele der jungen Leute wandern ab.« Er seufzte. »Von unserer Gruppe damals bin ich der Einzige, der übrig geblieben ist.«

Unwillkürlich stellte sich Joana sein Leben vor. Es musste einsam sein. Früher hatten nicht nur sie sich blendend verstanden, auch ihre ganzen Freunde hatten sie wie einen riesigen Bund Trauben um sich geschart. Von den zwölf Männern und Frauen war also nur Gion geblieben. Da auch Joanas Eltern nach dem Wegzug kaum mehr von Winterhort gehört hatten, wusste sie selbst nicht viel von dem, was genau passierte. Nur hin und wieder hatte sie von jemandem gehört, der weggezogen war oder geheiratet hatte.

»Tut mir leid«, murmelte sie leise. »Es ist sicher nicht immer einfach.«

»Ist es nicht.«

Irgendwie erstaunte es sie, wie offen und locker Gion mit ihr umging, nach allem, was sie beide durchgemacht hatten – oder eben nicht. Als sie wirklich etwas hätten durchmachen müssen, waren sie vor der Herausforderung zurückgeschreckt, und er hatte den Kontakt abgebrochen.

»Aber ich kann damit umgehen. Auch mit Menschen, die wesentlich älter oder jünger sind, kann ich befreundet sein. Mach dir meinetwegen keine Gedanken.«

»Mach ich nicht«, murmelte Joana. Mit den Gedanken um Gion hatte sie schon vor langer Zeit aufgehört.

Er sah sich um. »Wo ist eigentlich die Dame des Hauses?«

Joana zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Tee. »Sie wollte sich nach dem Mittagessen kurz hinlegen.«

Zweifelnd starrte Gion sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wirklich? Das macht sie doch sonst nie.«

Er schien noch weiter zu überlegen, doch Joana schenkte dem keine Bedeutung. Wenn er ihr etwas sagen wollte, würde er es tun, da hatte sie keine Bedenken.

»Sieh doch rasch nach ihr«, bat er sie mit noch immer gleichem Ausdruck.

Mit einem leisen Seufzen stand sie auf, schritt an Gion vorbei und kassierte dabei einen halb freundlichen, halb mahnenden Schlag auf den Oberschenkel. »Es geht um deine Grosstante, Miss Eingebildet.«

Joana verdrehte die Augen. Wie hatte ein so selbstgefälliger Schnösel jemals ihr Herz erobern können? »Vorher war ich noch Miss Superschlau.« Ohne auf eine Antwort zu warten, trat sie durch den dunklen Gang. Sie klopfte an die Tür und horchte einen Moment. Als sie nichts hörte, versuchte sie es noch einmal, dann drückte sie die Klinke.

Eiskalter Wind erfasste sie, zwängte sich heulend an ihr vorbei in die Küche. Fröstelnd zog Joana die Strickjacke enger um die Schultern, doch die weiten, schicken Maschen luden jeden Lufthauch ein, ihr die Wärme zu klauen. Mit grossen Schritten war sie beim Fenster und drückte die Scheiben gegen den Wind zurück in den Rahmen. Immer wieder wackelte er an einem Flügel in ihrer Hand, entriss ihn ihr, um dann wahlweise gegen die Wand oder den Fensterrahmen zu schlagen. Joana lehnte sich gegen die kalten Scheiben, griff mit klammen Händen nach dem Verschluss und sicherte das Fenster endlich.

Als sie sich umdrehte, blieb ihr der Atem im Hals stecken. Grosstante Josephine war verschwunden!


Wenn der Winter kommt

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Joana stand mitten in einem Häufchen Schnee, das der Wind durch das offene Fenster hereingeweht hatte. An den Wänden entdeckte sie Eisblumen, selbst auf das Kissen der alten Dame hatten sie sich gewagt.

»Gion?« Joana schlang die Arme wieder um sich selbst, doch dieses Mal war es nicht allein die Kälte, die sie frösteln liess. Irgendetwas geschah hier, von dem sie nicht sagen konnte, was es war, und das machte sie wahnsinnig.

»Gion!«, rief sie lauter. Und verzweifelter. Sie mochte es nicht, sich so vor ihrer Jugendbekanntschaft gehen zu lassen, doch angesichts der Kälte und dem Verschwinden von Josephine liess sie alle Bedenken fallen. Zudem sass das Erlebnis bei der Quelle noch in ihren Knochen. Sie konnte jetzt nicht allein sein.

Endlich trat der Mann mit den zerzausten Haaren ein, warf ihr erst einen amüsierten Blick zu, bis er das Durcheinander in Josephines Schlafkammer entdeckte und mit offenem Mund stehen blieb. Schnelle Schritte führten ihn zu ihr und er starrte aus dem Fenster. »Was ist geschehen?«, presste er zwischen den schmalen Lippen hervor.

Joana schluckte, starrte auf den Boden. Ihr Herz war eng vor Angst. »Ich weiss es nicht.« Selbst ihre Stimme zitterte. »Sie wollte sich hinlegen, dann bin ich zur Quelle, um Wasser zu holen. So, wie sie es wollte. Als ich zurückkehrte, warst du da. Und jetzt ist sie weg.« Ihre Sicht verschwamm. Diese Angst!

Mit einem Seitenblick zu Gion nahm sie gerade noch sein Nicken wahr. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen. Mit einem tiefen Atemzug versuchte er, sich zu entspannen, was ihm sogar teilweise zu gelingen schien. Jedenfalls klang er nicht mehr so aufgewühlt. »Im Schnee sind keine Spuren. Durchs Fenster ist sie also nicht entwischt«, meinte er, mehr zu sich selbst als zu Joana.

»Sie wollte sich doch nur kurz hinlegen …«, murmelte sie. Sie spürte Gions mahnenden Blick auf ihrem Gesicht, reagierte aber nicht darauf.

Ohne ein weiteres Wort schritt Gion aus der Kammer in die Küche und von da weiter in den Flur. »Wir müssen sie suchen.«

Gions Entschluss hörte sich logisch und nachvollziehbar an. Trotzdem konnte sich Joana nicht von der Fensterbank lösen, konnte sich nicht gegen die Eisblumen wehren, die sich vom Fenster auf den Weg zu ihr machten und nach ihrer Wärme griffen. Wie versteinert stand sie da, hörte die raspelnde Stimme des Fremden mit den Bergseeaugen in ihren Erinnerungen, spürte seinen eisigen Atem auf ihrer Haut.

»Kommst du endlich?«

Sie fand nicht einmal die Kraft, wegen seines mangelnden Mitgefühls mit den Augen zu rollen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, durch das unterkühlte Zimmer zu schreiten. Jeden Schritt tat sie bewusst. In der Küche verbreitete der Ofen wohlige Wärme, die zum Verweilen einlud, zum Träumen und die Augen schliessen. Doch Joana widerstand dem Verlangen und folgte Gion in den Flur.

Dort stand er, schon dick eingepackt, und sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Na mach schon. Ewig wird sie in dieser Kälte nicht überleben.«

Mechanisch nickte Joana. Er hatte recht, sie musste sich um ihre Grosstante kümmern. Mit einem Räuspern konzentrierte sie sich auf das Jetzt, auf das, was sie tun mussten. »Wo wollen wir suchen?«

»Erst einmal folgen wir den Spuren, dann sehen wir hoffentlich weiter.«

Er sprang schon zur Tür hinaus, als Joana sein Schuhwerk auffiel. »Tourenskischuhe?« Sie zog die Augenbrauen etwas hoch, ein Mundwinkel tat es ihnen gleich. Sie hoffte, dass Gion es nicht entdeckte, jedenfalls nicht das halbe Lächeln, aber so intensiv, wie er sie soeben betrachtete, schwand diese Chance auf null.

»Vielleicht solltest du deine Tourenski auch abstauben.« Er deutete grinsend zur Abstellkammer unter der Treppe, wo sie vor Jahren ihre letzten, alten Ski gebunkert hatte. Also erinnerte er sich noch daran, vielleicht hatte er sie gar dort gesehen.

Aber sie konnte ja nur schlecht zugeben, dass sie seither kaum mehr auf den Skiern unterwegs gewesen war, weder auf den Pisten noch abseits davon. Dabei war früher kein Abhang vor ihnen sicher gewesen, kein Berg zu steil.

Wenn sie für das Studium nicht nach Zürich gezogen wäre, hätte es sich zwischen ihnen ganz anders entwickeln können. Für einen winzigen Moment wünschte sich Joana zurück, mit der Möglichkeit, einen Blick in die Zukunft mit Gion werfen zu können.

Mit einem Räuspern riss sie sich selbst aus den sinnlosen Gedanken. Sie hatte ihre Entscheidungen getroffen und lebte glücklich damit. Niemals würde sie einen anderen Weg gehen wollen.

Gion trat nach draussen, sie folgte ihm. Gemeinsam suchten sie die Umgebung des Häuschens ab, fanden aber nirgends Spuren, ausser jenen, die sie selbst zu verantworten hatten.

»Aber das kann doch nicht sein«, wiederholte Gion murmelnd. »Niemand löst sich einfach so in Luft auf.« Dabei schüttelte er den Kopf und sah sich wie ein nasser Pudel um.

Joana drehte sich ebenfalls um die eigene Achse, obwohl der Mantel kaum Schutz bot. Er war zwar hübsch, doch nicht sehr praktisch. Aber um von der Tramstation zum Büro und zurückzugelangen, reichte es vollkommen aus. Jetzt wünschte sie sich eine weniger schicke, dafür wärmere Winterjacke.

Als würde er weiterhin vor Energie strotzen und sich nicht den Hintern abfrieren wie sie, stapfte Gion erneut um das alte Holzhaus herum, um beim Fenster zu Josephines Zimmer stehen zu bleiben. Er starrte es an, als würde es dadurch plötzlich anfangen zu sprechen. »Der einzige Hinweis, den wir haben, ist dieses vermaledeite Fenster.« Er zeigte auf die Scheiben und schnaubte, bevor er die Arme vor der Brust verschränkte. »Dabei gibt es noch nicht einmal Spuren! Aber wenn sie durch die Tür entwischt wäre, wäre sie mir in die Arme gelaufen. Immerhin habe ich dich noch bei der Quelle verschwinden sehen.« Er schüttelte den Kopf und schritt frustriert an Joana vorbei zum Hauseingang, bei dem er sich den Schnee von Schuhen und Hosen klopfte.

Leicht verdattert folgte Joana ihm in die Wärme. So recht erklären konnte sie sich das Verschwinden ihrer Grosstante nicht und auch sie machte sich Sorgen um die rüstige Rentnerin, aber Gion war ungleich verzweifelter. »Vielleicht ist sie in den Keller, hingefallen und kann jetzt nicht mehr aufstehen«, mutmasste sie und entlockte Gions Augen damit ein erfreutes Aufleuchten.

Mit neuer Energie stürzte ihr Bekannter in den Keller, während Joana wartete. Einer reichte, um den Naturkeller zu begutachten, so klein, wie dieser war.

»Hier ist sie nicht«, rief Gion ihr von unten zu. Enttäuschung und Sorge schwangen in der tiefen Stimme mit.

Joanas Bauch grummelte unruhig. Keine Spuren im Schnee, keine Josephine im Haus. Doch in Luft auflösen konnte sich ihre Grosstante auch nicht.

Als Gion mit vor Verzweiflung und Sorge weit aufgerissenen Augen wieder in den Flur trat, schluckte Joana unruhig. »Erinnerst du dich an ihre alten Geschichten?«, fragte sie leise. »Die von der Verwunschenen Quelle?«

Er nickte bedächtig.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, schoss es aus ihr heraus: »Ich glaube, sie ist wirklich verwunschen.«

Gions Mund blieb offen stehen. Zweimal versuchte er, etwas zu sagen, hielt aber inne. Sein Blick schweifte durch den engen, dunklen Raum, bis er wieder bei Joana landete.

Diese schluckte heftig. »Heute, als ich Wasser holen wollte, war da so ein … Wesen. Es behauptete, ich würde es kennen.« Beim Gedanken daran, dass sie Gion ihr Erlebnis so offen präsentierte, wurde ihr ein wenig unwohl. Die Verletzungen von damals brannten noch immer in ihr, sie wollte ihm nicht vertrauen. »Es hatte blaue Augen und spitze Zähne. Als es mich bedrängte, stiess ich es in den kleinen Teich vor der Quelle und rannte davon, und als ich mich umdrehte, war es verschwunden.« Wie bescheuert sich das anhörte! Joana räusperte sich, zwang sich aber, dem eindringlichen Blick nicht auszuweichen.

Gion zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete sie einen Moment, ehe er in schallendes Gelächter ausbrach. »Wirklich?«, fragte er, während er sich mit der einen Hand eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. »Spitze Zähne? Und du bist dir sicher, dass du nicht dem alten Kater des Ochsen begegnet bist? Der hat nämlich auch blaue Augen und spitze Zähne – jedenfalls den einen, den er noch nicht verloren hat.« Noch einmal schüttelten sich seine Schultern unter einem Lacher.

Joana warf ihm einen Blick aus blitzenden Augen zu. »Erinnere dich an Grosstante Josephines Geschichten«, bat sie noch einmal eindringlich. »Ich bin mir sicher, dass die Verwunschene Quelle da oben ist. Diese Gestalt … Josephine …« Kälte griff nach ihr, Angst. Sie rieb sich über die Oberarme, doch die Gänsehaut konnte sie damit nicht vertreiben.

Wenigstens wirkte Gion ein bisschen verwirrt. »Das war kein Witz?«

»Das war kein Witz.«

Da stand er, wie ein begossener Pudel. Seine Gedanken rasten hinter der leicht gerunzelten Stirn. Er biss sich kurz auf die Unterlippe, bevor er ohne ein weiteres Wort die Treppe hinauf in den oberen Stock rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

Verdattert starrte Joana ihm hinterher, dann beeilte sie sich, ihm hinterherzukommen. Sie fand ihn in der Kammer hinter Grosstante Josephines ehemaligem Schlafzimmer. Dort hatte sie ihre Schätze aufbewahrt, ihre ganz persönlichen Erinnerungen.

Im Türrahmen blieb Joana stehen und betrachtete den jungen Mann, wie er am Boden kauerte und in den Sachen ihrer Grosstante wühlte. »Da darfst du nicht ran«, hörte sie sich selbst sagen.

Gion winkte mit der Hand, ohne auf ihren Einwand einzugehen. »Komm, ich habe etwas gefunden.«

Er sah nicht einmal auf, als sie zögerlich hinter ihn trat. Ihr Herz klopfte noch etwas schneller, als sie daran dachte, dass sie in Josephines Heiligtum standen und in ihren Sachen wühlten. »Das sind ihre Geheimnisse, Gion.« Trotzdem beugte sie sich nach vorn, um nach seiner Entdeckung zu sehen.

In den Händen hielt der junge Mann ein in Leder gebundenes Notizbuch, das er im gleichen Augenblick zuschlug, wie sie danach linste. »Sie hat mir den Ort eigenhändig gezeigt. ›Für den Fall der Fälle‹, sagte sie.« Mit einem Seufzen stand er auf, zog die Tür hinter sich zu und sah Joana auffordernd an.

Nur eine halbe Armlänge von ihr entfernt stand der junge Bauer aus den Bergen, mit dem sie jahrelang befreundet gewesen war. Die plötzliche Nähe liess ihr Herz ein wenig schneller klopfen, trotzdem schaffte sie es nicht, den Blick von seinen warmen Augen zu lösen. Jetzt konnte sie die Sommererde darin sehen, den zarten Lufthauch beinahe auf der Haut spüren. So nah, so unglaublich nah und vertraut … Sie schluckte, als sich ihr Herz regte, die erste Narbe der Vergangenheit zwickte, und zwang sich, an ihre verschollene Grosstante zu denken.

Um sich abzulenken, trat sie einen Schritt zur Seite. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber Gion zögerte, bevor er an ihr vorbeiging. Wie es aussah, wollte er sein und Josephines Geheimnis tatsächlich nicht mit ihr teilen, was sie ein wenig verletzte und auch beleidigte. Sie war schliesslich die Grossnichte, nicht er. Innerlich schalt sie sich eine dumme Kuh, deswegen eifersüchtig zu sein, immerhin hatte er sich die letzten Jahre intensiver um Josephine gekümmert als alle anderen. Trotzdem hatte Joana alles getan, was sie konnte. Es war nicht einfach, ein Leben aus dem Nichts aufzubauen, erst recht nicht, wenn man sich selbstständig machen wollte.

Sie betrachtete das kleine Buch, vielleicht so gross wie ein Notizblock, aber deutlich älter und vor allem abgegriffener. Eine Seite ragte sogar heraus, so oft war das Papier umgeblättert worden. Von irgendwoher kannte Joana dieses Buch, aber es wollte ihr partout nicht einfallen.

Zurück in der Küche setzte sich Gion an seinen offensichtlichen Stammplatz und nickte in Richtung eines Stuhls, um Joana zu ermuntern, ebenfalls Platz zu nehmen. Er schlug das Buch auf, aber so, dass sie nicht hineinsehen konnte.

»Wie sieht das Wesen aus?«, fragte er leise.

Joana neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Plötzlich interessiert es dich, wen ich küsse?« Sie konnte sich das Lächeln nicht verkneifen, aber auf seine Antwort wartete sie nicht. »Vielleicht zwei Meter gross, sportlich, kräftig.« Einen Moment hielt sie inne, um sich mit zusammengezogenen Augenbrauen an die Gestalt zu erinnern. »Die Augen waren so blau und tief wie ein Bergsee im Winter und genauso kalt. Wenn es ein Wasserstoffblond in Blau geben würde, dann wären die Haare wasserstoffblond. Also wasserstoffblau.«

Bei jedem ihrer Worte wurde Gions Ausdruck ernster. Noch immer starrte er in das Buch, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Joana rutschte auf dem Stuhl hin und her. Sie war so kurz davor, ihm das Buch einfach aus der Hand zu reissen.

Endlich hob er seufzend den Kopf, legte das Notizbuch auf den Tisch und drehte es zu ihr um.

Mit aufgerissenen Augen starrte sie das Bild an. Bergseeaugen sahen sie an, als würden sie leben. Die Zeichnung im Buch war echter als der Tisch, auf dem das Buch lag. In der unteren linken Ecke entdeckte sie Josephines krakelige Handschrift, das Datum war nicht mehr lesbar. Wasserstoffblaues Haar, ein vorwitziges Lächeln zeigte spitze Eckzähne, und eine Wärme in den Augen, die Joana nicht erwartet hätte. Es war das Einzige, das nicht zu ihrer Beschreibung passte.

Sie blies die Luft zwischen den Zähnen aus, vor Anspannung hatte sie den Atem angehalten. Den Ellbogen auf die Tischplatte stützend, lehnte sie die Stirn gegen die Hand. Vorsichtig strich ihr Finger über das dicke Papier, über die Gesichtszüge des komischen Wesens, das sie bei der Quelle so verunsichert hatte. »Was hat das zu bedeuten?«

Aus Gions Kehle entwich ein erneutes Seufzen. »Dass wir zur Quelle müssen. Dieser Mann … Nennen wir ihn Mann, das ist einfacher.« Er wies auf das Bild. »Er ist unser einziger Hinweis zu Grosstante Josephine. Wir müssen sie finden, sonst …« Er schluckte.

Joana blickte ihn für einen Augenblick an, dann blätterte sie die Seite vorsichtig um. »›Und wenn der Winter kommt und die Fee aus dem Wasser steigt, wird das Tal gefrieren, bis die Verwunschene Quelle das bekommt, was sie will‹«, las sie leise vor. »Heisst das, der Typ kommt aus dem Wasser?« Sie schüttelte den Kopf, las den Spruch noch einmal, dann lehnte sie sich zurück. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er nächstens platzen, und jeder Gedanke formte sich nur unter grösster Anstrengung.

Gion blieb erstaunlich still. Sie beobachtete ihn, wie er den Blick stur auf das Buch gerichtet hatte und nicht mehr auf seine Umgebung zu reagieren schien. Um ihn etwas aufzumuntern, legte Joana die Hand auf seine. Erst als sie die Wärme unter ihren Fingern spürte, wurde ihr bewusst, was sie eben tat. Am liebsten hätte sie sich wieder zurückgezogen, doch sie verharrte vornübergebeugt, bis Gion den Blick hob.

Sie waren erwachsen. Die Vergangenheit hatte nichts mehr zu bedeuten – sollte sie jedenfalls nicht.

Zum zweiten Mal seit einer Ewigkeit sah sie seine schokoladebraunen Augen wieder und drohte darin zu versinken. Schnell blinzelte sie und räusperte sich, bevor sie sich etwas aufrichtete und den Kontakt unterbrach.

»Wir werden sie finden«, versprach sie, ohne zu wissen, woher sie diese Sicherheit nahm. »Ich gehe noch einmal zur Quelle und sehe zu, dass ich diesen Mann finde.« Sie sah kurz zum Buch, um zu verdeutlichen, wen sie meinte, auch wenn es nicht notwendig war. So viele komische Typen wagten sich bei diesem Wetter nicht nach draussen, erst recht nicht an einen Hang, von dem eben erst eine Lawine gedonnert war. Auch wenn sie nicht glaubte, dass ein Blauäugiger ihre Grosstante entführen konnte, ohne eine Spur zu hinterlassen, war er der einzige Hinweis, dem sie im Moment nachgehen konnten.

Als Gion nicht reagierte, stand sie auf. Manchmal, wenn er so in Gedanken versunken war, brauchte er jemanden, der ihn da rauszog. Das war früher schon so gewesen. Und jetzt musste sie dieser Jemand sein. »Komm«, meinte sie sanft. »Wir müssen los, bevor es dunkel wird.« Prüfend sah sie zur verschnörkelten Uhr, die zwischen einem vergilbten Bild von Gion und Joana und einem des verstorbenen Hofhundes Nala vor sich hin tickte.


Teuerste Jo

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»Weisst du noch, wie wir früher fast jeden Tag dort oben gespielt haben?«, versuchte Joana, ihren Freund aufzumuntern.

Er nickte schweigend.

Trotz des späten Tages funkelte tiefblauer Himmel zwischen Nebelfetzen hindurch. Wenn sich Joana nicht täuschte, hing der Nebel im Dorf fest, während er sich an den Berghängen löste. Das würde eine kalte Nacht werden, schon jetzt standen weisse Wölkchen vor ihren Gesichtern, bis sich die feinsten Wassertropfen zwischen den Fasern ihrer Kleidung sammelten und zu winzigen Kristallen gefroren.

Auf halber Höhe verstummten die knirschenden Schritte im Schnee hinter ihr. Neugierig drehte sich Joana um. Sie hatte nicht den Eindruck, dass Gion ausser Atem war, ganz im Gegenteil. Der Bergbauer stand seinen Ziegen kaum nach, wenn es darum ging, über Steine zu springen und Berghänge zu erklimmen.

Nachdenklich starrte Gion nach Winterhort. Die paar Häuser waren im dichten Nebel verschwunden, nichts regte sich. Nicht einmal einzelne Lichter glommen, obwohl die Nacht nächstens erwachen würde.

Joana war bei dem Gedanken, die Quelle bei Einbruch der Dunkelheit zu besuchen, nicht sehr wohl. Doch wenn sie Josephine finden wollten, mussten sie sich beeilen. Ausserdem war Gion bei ihr und würde sie im Notfall beschützen. Das hoffte sie jedenfalls.

»Merkwürdig. Sonst hängt der Nebel nie in dieser Weise in Winterhort. Meistens jagt der Wind ihn fort«, unterbrach Gion ihre Gedanken.

Joana nickte. Gion drehte sich mit einem letzten Blick zu seinem Heimatdorf um und deutete zur Quelle. Natürlich, sie mussten sich beeilen, wenn sie noch vor der nächtlichen Dunkelheit wieder beim Haus sein wollten. Eine ganze Nacht in der Kälte würde Grosstante Josephine nicht überleben.

Nacheinander schritten sie über den Absatz, der sich zwischen die Felswand und das gluckernde Bächlein zwängte, und hielten inne, Joana schwer atmend, Gion frisch wie eben erst aus dem Bett gehüpft. Vielleicht hätte sie sich die letzten Jahre nicht so gehen lassen, sondern sich um ihre Kondition kümmern sollen.

Der Kessel lag noch immer dort, wo Joana ihn auf die Füsse des Fremden hatte fallen lassen. Vorsichtig hob sie ihn auf und trat zur Quelle, um ihn wieder zu füllen. Wenn sie schon hier waren, konnte sie auch gleich Wasser mit zur Hütte nehmen.

Mit leisem Plätschern floss das Wasser in den Kessel. Joana beobachtete das klare Nass, wie es sich in der Rundung aus Messing sammelte, einen kleinen Wirbel bildete, der sich aber mit dem hereinströmenden Wasser wieder verlor.

Plötzlich spürte sie eine kalte Berührung an ihrer Wange. Erschrocken schrie Joana auf, doch der Ton blieb ihr im Hals stecken. Ein eisiger Hauch strich über ihr Gesicht und verursachte eine Gänsehaut – nicht nur an jenen Stellen, an denen sie den Luftzug spürte. Ihr war, als würde sie von innen gefrieren.

»Meine hübsche Jo ist zurück«, flüsterte der Fremde mit den Bergseeaugen und fuhr von Joanas Wange zum Kinn, um es gerade so weit anzuheben, dass er aufstehen konnte, ohne den Augenkontakt zu unterbrechen. Die Berührung war gar noch kälter als sein Blick.

Joana erschauderte.

»Herrlich, diese Lippen.« Ein gieriges Grinsen entblösste die Eckzähne, die mehr einer Katze denn einem Menschen glichen.

Joanas Körper erbebte. Wie in einem schlechten Traum starrte sie in diese Augen, die so tief waren wie ein Bergsee, von einem Gletscher geformt und mit himmelklarem Wasser gefüllt. Nichts trübte das Licht, das aus ihnen drang, dennoch lag absolute Kälte in seinem Blick.

Als sich der Daumen des Mannes ihren Lippen näherte, kniff Joana Augen und Mund zusammen. Sie wollte ihn nicht küssen, sie wollte, dass er verschwand. Doch als sie den Kopf wegdrehen wollte, drückten seine Fingernägel in ihr Fleisch.

Und trotzdem, jede seiner Bewegungen versprach Hingabe zu dem, was er tat. Verführung und Leidenschaft.

Erschrocken unterbrach sie ihre eigenen Gedanken und riss die Augen auf. Sie schrie auf, als das Wesen nur wenig vor ihr verharrte und sie mit wissendem Lächeln anfunkelte.

»Ich tu dir nichts«, hauchte er und brachte sein Gesicht noch etwas näher.

Nur noch eine Haaresbreite trennte ihre Lippen von seinen. Joana war sich sicher, dass er bis in sein Innerstes so kalt war, dass alles um ihn herum zerbrechen würde, sobald er es berührte.

Angst umklammerte ihren Brustkorb und schnürte ihr den Atem ab. Joana erzitterte. Die Berührungen, kaum spürbar, sandten feinste Wellen aus Schrecken und falschen Versprechen durch ihren Körper. Sie lösten Gefühle aus, von denen sie noch nicht einmal gehört hatte; unbeschreibliche Faszination, die Neugier, was die Gestalt genau war, die Versuchung, sich den falschen Versprechen hinzugeben.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, wurde das Lächeln des Mannes noch eine Spur breiter, die Augen tiefer. Konnten sie überhaupt noch tiefer werden? »Meine Hübsche, erinnerst du dich an mich?«

Joana blinzelte. Erinnern? Nein, sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Mit den Blicken folgte sie ihm, als er sich von ihr löste und sie umrundete. Er betrachtete sie von allen Seiten, ohne durch seine Mimik irgendetwas von seinen Gedanken zu verraten.

»Ist das euer Ernst?«, riss Gions skeptische Stimme sie aus der Faszination, die Joana alles ausser die bergseeblauen Augen hatte vergessen lassen. »Ihr schleicht umeinander herum und schmachtet euch an?«

Joana drehte sich mit zornig funkelnden Augen zu ihrem Sandkastenfreund um und schnaubte. »Sei still«, zischte sie. Im selben Augenblick hielt sie inne und starrte Gion erschrocken an. Sie hatte ihn soeben angefahren wie eine wütende Katze. Dabei hatte er nichts Falsches getan. Wahrscheinlich hatte er sie sogar vor der Masche des Fremden bewahrt, und das, obwohl sie ihn als Marketingexpertin eigentlich hätte durchschauen müssen.

Mit einem Räuspern drehte sie sich zu dem geheimnisvollen Wesen um, das Gion mit einem feinen Lächeln beobachtete. Als dieses sich vertiefte, konnte sie auch die spitzen Eckzähne sehen. Unglaublich, dieser Mann. Auch ohne unter dem Einfluss seiner magischen Augen zu stehen, war er wunderschön. Hohe Wangenknochen und eine lange, gerade Nase liessen sein Gesicht edel wirken. Haare aus fliessender Seide vervollständigten den erhabenen Eindruck, die Lippen sprachen von Faszination und Geheimnissen. Zusammen mit den unglaublich geschmeidigen Bewegungen, die sich kein Mensch in einem normalen Leben aneignen konnte, wirkte er wie ein zauberhaftes und genauso gefährliches Wesen aus einer fremden Welt.

Mit einem Blick zu Gion erkannte Joana, wie hin- und hergerissen selbst er war. Vor Ekel rümpfte er die Nase, gleichzeitig konnte er die Augen nicht von dem Fremden nehmen.

»Er muss weg.« Der Blauhaarige war stehen geblieben und musterte den Bergbauern mit einem feindlichen Lächeln. Eine Bewegung, schneller als der Flügelschlag eines Kolibris, fegte Gion von den Beinen und warf ihn nach hinten, sodass dessen Kopf gegen die Felswand prallte.

»Gion!« Joana machte einen Satz nach vorn, doch der Fremde hielt sie mit eisernem Griff am Arm zurück.

Für einen Augenblick sah es danach aus, als würde Gion bei Bewusstsein bleiben, doch nach einem kurzen Wanken flimmerten die Augenlider und er sank in sich zusammen. Sein Kopf stiess ein zweites Mal gegen die Felswand, diesmal allerdings deutlich sanfter.

Mit brennenden Augen wirbelte Joana zu dem Fremden herum. Ein Armschütteln befreite sie aus dem Griff des merkwürdigen Mannes, der wütende Sturm in ihrem Bauch verhalf ihr zu neuer Kraft. Sie stiess sich von ihm weg, um zu Gion zu eilen und sich in den kalten Schnee zu knien. Ein feines Rinnsal warmen Blutes rann hinter seinem Ohr den Hals hinab und verschwand unter dem Schal. Mit zitternder Hand tastete sie nach dem Puls. Vor Aufregung und Kälte spürte sie weder ihre eigenen Finger noch Gions Herzschlag. Wenigstens stiegen noch immer kleine Wölkchen vor seiner Nase auf. Erleichtert atmete sie auf.

Innerlich kochend erhob sie sich und drehte sich zu dem Fremden um, der selbstgefällig ihre Reaktion abwartete. Die kurze Distanz brachte Joana, ohne mit der Wimper zu zucken, hinter sich, bis sie ganz dicht vor ihm stand. Sie konnte die Kälte fühlen, nicht nur jene, die seinen Charakter ausmachte, sondern auch die seines Körpers.

Sein breites Grinsen brachte sie beinahe aus dem Konzept. Arroganter Idiot! Joana verschränkte die Arme vor der Brust, während sie ihn weiter anfunkelte. »Wer glaubst du, dass du bist?«, zischte sie. »Was ist dein Problem? Du kreuzt einfach hier auf und schlägst meinen Freund bewusstlos. Was zum Teufel läuft falsch bei dir?«

»Ich bin Tandril.« Er beugte sich ein wenig nach vorn, als wollte er das Farbenspiel in ihren grauen Augen von Neuem begutachten.

Unter dem intensiven Blick glühten ihre Wangen auf. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie jemand jemals so angesehen hatte – und diese Reaktion in ihr auslöste.

»Ich bin dein Prinz.«

Eine eiskalte Hand legte sich an ihre Wange und strich sanft darüber. Ihre Haut prickelte unter der Berührung, die besitzergreifend und zärtlich zugleich war.

Joana schluckte. Mit Gewalt musste sie sich dazu zwingen, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. »Was hast du mit meiner Grosstante gemacht?« Ihre Stimme hörte sich so unglaublich rau und schwach an, etwas, was sie sich in einer Situation wie dieser nicht leisten konnte. Sie durfte kein offenes Buch für ihn sein.

Tandril lächelte noch immer, doch nun schlich sich eine tiefe Zufriedenheit in seinen Blick. Wäre er eine Katze, würde er schnurren. »Du bist die Einzige, die mich interessiert.«

Sie schnaubte und wandte sich ab, doch Tandril packte ihre Hand, um sie zu sich umzudrehen. Erschrocken schrie Joana auf. Die Berührung seiner Hand sandte ein aufregendes Rauschen durch all ihre Poren, bis sie den Takt seines Atems selbst im kleinen Zeh spürte.

Was war das für eine gefährliche Art von Magie? Verzauberte er sie etwa? Machte er sie zu einem Teil seines … unsichtbaren … Harems?

Plötzlich war sie nicht nur sie selbst, sondern die Luft um sie herum, die aufgewirbelten Schneeflocken und Tandril. Ihre Sinne weiteten sich. Sie nahm jeden Luftzug auf ihrer Haut als Kitzeln wahr, das Knirschen des Schnees unter ihren Füssen roch nach Frühling. Tandril teilte seine Aufregung mit ihr, seine Freude. Sie spürte das Flattern seines Herzens in ihrem Brustkorb, die unendlich tiefe Liebe, die er für sie empfand. Die Unsicherheit, wieso sie nicht auf ihn reagierte wie erhofft.

Joana wollte mehr davon. Es war aufregend, erregend – ein Spiel, dessen Regeln sie nicht kannte, es aber unbedingt spielen wollte. Sie hob die Hand, um ihm über die Brust zu streichen. Ihr Blick war gefesselt vom Schattenspiel des Stoffes, seinen weichen Bewegungen und dem Versprechen, das er mit jeder noch so kleinen Andeutung machte. Als sich ihre Finger an seine Brust schmiegten, schrak Joana zurück. Mit einem leisen Schrei sprang sie weg von Tandril.

Er grinste. »So schlecht?«

Fassungslos schüttelte Joana den Kopf. »Du bist eiskalt!« Dabei hatte sie es gewusst. Sie hatte seine Finger auf ihrem Gesicht gespürt.

Mit langsamen Schritten näherte er sich ihr und liess sie dabei nicht aus den Augen. »Früher hat dich das nicht gestört, teuerste Jo.«

Obwohl sie sich gegen die Felswand drückte, stand er direkt vor ihr. Sie zitterte. Eben noch hatte sie davon geträumt, in seiner Nähe mehr von dieser merkwürdigen Magie zu erleben, doch jetzt wollte sie nur noch weg.

Tandril musste ihre Gedanken erahnen. Mit verbittertem Gesichtsausdruck schlug er die Fäuste rechts und links von ihrem Kopf in die Felswand. Steinsplitter flogen durch die Luft. Der Berg summte unter der Berührung, gab aber nicht nach, sondern sandte die Melodie an Joanas Haut. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, fielen in das Lied mit ein.

Joana war sich sicher, dass sie sich an die Kälte seines Körpers erinnern würde, wenn sie sie schon einmal gespürt hätte. Dass sie Tandril nicht vergessen hätte, wenn er bereits einmal eine Rolle in ihrem Leben gespielt hatte.

»Dieser Mann …« Tandril deutete zu Gion. Der Bergbauer regte sich, als würde er nach und nach aus der Bewusstlosigkeit erwachen. »Bedeutet er dir etwas? Oder darf er erfrieren?« Ein fieses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als wüsste er bereits, dass Joana seinen Mordplänen zustimmen würde. Doch das kam nicht infrage.

»Nein!« Joana stiess sich von ihm weg und starrte ihn mit offenem Mund an. »Du kannst doch nicht … Nein!«

Tandril zog die Augenbrauen zusammen. Wenn sie sich nicht täuschte, knurrte er gar leise. »Dann bring ihn zur Hütte und komm wieder. Allein.«

Sein Gesicht näherte sich dem ihren, aber Joana zuckte zurück. Sie wollte nicht schon wieder seinem Zauber verfallen. Diese Magie und was sie mit ihrem Körper anrichtete, war ihr unheimlich.

Das Lächeln, das er ihr schenkte, war raubtierhafter, als ein hungriger Löwe es jemals sein könnte. »Ich werde dich schon noch an unsere Zeit miteinander erinnern, teuerste Jo.«

So schnell Joana konnte, sprang sie zu Gion, half dem noch immer benommenen Mann auf die Füsse und flüchtete. Ihr Herz hämmerte wild, als sie den Hang hinab stolperten und mehr als einmal im Schnee landeten.

Gion folgte ihr, seine Beine trugen ihn gerade noch so. Mit ein wenig Hilfe ihrerseits erreichten sie das Haus erstaunlich schnell, obwohl er kaum selbst denken konnte. Sie half ihm über die Türschwelle in den Korridor. Gion lehnte sich gegen die Holzwand und schloss die Augen, als ein leises Stöhnen aus seiner Kehle drang. Beim Schlucken hüpfte sein Adamsapfel.

Joana befreite sich von Jacke, Schuhen und Schal und half Gion aus seiner Winterkleidung. Ihre Hand strich vielleicht etwas zu langsam über Gions Arm, als sie ihm die Jacke abstreifte, während ihr Blick auf dem Kurzarmshirt ruhte. Obwohl schon so viel Zeit vergangen war, waren die Berührungen immer noch vertraut. Sie hatte es genossen. Nie wieder hatte sie sich bei einem Mann so geborgen gefühlt. Aber das blieb wohl der ersten grossen Liebe vorbehalten. Nachdem man das erste Mal mit einem geborstenen Herzen aus einer Beziehung kam, vertraute man niemals mehr auf diese Art und Weise.

Ohne es zu realisieren, starrte Joana auf seine Brust. Darunter schlug sein Herz, warm und kräftig. Wie sie es geliebt hatte, dem Klang seines Lebens zu lauschen! Ob er sich manchmal auch einfach jemanden suchte, damit sich wenigstens der Körper nicht so einsam fühlte?

Erschrocken schüttelte Joana den Kopf und starrte Gion an. Hatte sie ernsthaft gerade darüber nachgedacht, ob Gion One-Night-Stands hatte?

Der junge Mann sah sie mit einer Mischung aus Schmerz und Verwirrung an. »Tut mir leid, Süsse«, krächzte er mit rauer Stimme, »ich habe Kopfschmerzen. Aber vielleicht später?« Er räusperte sich und versuchte sich an einem Lächeln, das so schief geriet, dass es die Bezeichnung Lächeln gar nicht verdiente.

Gion kämpfte sich in die Küche und liess sich erschöpft auf seinen Platz sinken.

Sie setzte sich zu ihm. »Ich würde dir gern ein Glas Wasser anbieten, aber du kennst ja Grosstante Josephine und ihre Einstellung zu Handwerkern.« Sie lächelte schief, als sie an die kaputte Leitung dachte.

»Mir brummt nur der Schädel.«

»Ich habe eine Schmerztablette dabei, wenn du möchtest.« Joana holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche und reichte ihm die einzeln verpackte Tablette, die er ohne Flüssigkeit direkt schluckte.

Gion schloss die Augen und stützte den Kopf mit den Händen auf der Tischplatte ab. »Verfluchter Bart des Winterkönigs, dieser Mann hat eine Wucht drauf.« Erschöpft seufzte er. »Konntest du etwas über Josephine herausfinden?«

Joana schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Aber ich solle allein wiederkommen, meinte er.«

»Natürlich.« Resigniert nickte Gion. Als er sich nach hinten lehnte und die Augen öffnete, legte sich sein Blick unerwartet neutral auf sie. »Wirst du gehen?«

Nein, wollte sie sagen, niemals. Aber sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. »Grosstante Josephine ist immer noch verschwunden. Vielleicht weiss er etwas.«

Gion nickte. »Aber es gefällt mir nicht.«

»Mir gefällt es nicht, wie blass du bist.«

Grinsend lehnte er sich nach hinten. »Das musst ausgerechnet du sagen, nachdem du mit diesem Bleichgesicht geflirtet hast.«

Darauf wollte Joana nicht eingehen. Das Chaos in ihrem Inneren konnte sie sich selbst nicht erklären, wie sollte sie es dann bei anderen Menschen tun? Ihr Körper hatte unter den kalten Berührungen gezittert, während sie nur Angst verspürt und gleichzeitig die Natur so intensiv erlebt hatte wie niemals zuvor. Sie wusste, dass Tandril gefährlich war, dass seine Magie sie in einen Abgrund stürzen konnte. Ihr Verstand wollte niemals mehr auch nur in die Nähe der Quelle kommen.

Entschlossen stand sie auf. »Heute wird das sowieso nichts mehr.« Sie warf einen bedeutsamen Blick nach draussen. Vom dunkelblauen Himmel funkelten die ersten Sterne, auch wenn in Winterhort die Nebelschwaden noch immer waberten. Für einen Augenblick fragte sich Joana, ob die Dorfbewohner wussten, dass nur wenige Meter über ihren Köpfen das schönste Wetter herrschte. Gleichzeitig ahnte sie, dass die Susi vom Ochsen und der ganze Rest nicht ahnten, was hier gerade abging.

Tandril hatte Gion mit einer Druckwelle zu Boden gefegt. Ohne ihn zu berühren. Die spitzen Zähne, wie ein Vampir, der vergessen hatte, dass sich seine Spezies meist in Schwarz mit roten Akzenten kleidete. Blaue Wasserseide gehörte nicht dazu.

Kopfschüttelnd öffnete Joana den Kühlschrank, scannte den Inhalt und griff nach zwei Dosen Bier.

»Ich habe Schmerzmittel geschluckt«, meinte Gion, der sie offensichtlich beobachtete.

Sie zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Es hat auch niemand gesagt, dass die zweite Dose für dich ist.« Als sie sich zu dem Wuschelkopf umdrehte, grinste sie breit, und sofort fiel er ein. Es war wieder ein bisschen wie früher.


Faszinierende Gefahren

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Als wäre ein Monstertraktor die ganze Nacht über ihren Kopf gefahren, stöhnte Joana auf, als sie am kommenden Morgen barfuss über die kalte Treppe in die eisige Küche tapste. Bier in Kombination mit vermutetem Magiemissbrauch war keine allzu gute Voraussetzung für eine erholsame Nacht. Dabei hatten Gion und sie noch einen wirklich tollen Abend verbracht.

Es roch angenehm nach Grosstante Josephines Kaffee. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Sie trat unter der Tür hindurch und blieb erschrocken stehen, als sie anstelle ihrer Grosstante Gion erblickte. Als wären sie hinter einem Damm versteckt gewesen, der in diesem Moment barst, erwachten die Erinnerungen an Josephines Verschwinden, an Tandril und die Quelle zu neuem Leben. Sie schluckte trocken.

Gion sah vom Abwaschbecken auf und lächelte. »Guten Morgen.« Offenbar hatte er sich gewaschen, denn er stand nur in Boxershorts und Tanktop vor ihr. Er warf einen Lappen zurück in das vermutlich eiskalte Wasser. Seine Kleider warteten über die Stuhllehne gehängt geduldig darauf, ihren heutigen Einsatz anzutreten.

Joana liess ihren Blick auf Gion ruhen, ehe sie sich räusperte und sich an den Küchentisch setzte. Der Topf auf dem mit Holz befeuerten Herd dampfte genüsslich vor sich hin und verströmte im ganzen Haus diesen leckeren Kaffeeduft. Einen Augenblick überlegte sie, den Kaffee so lange zu kochen, bis er zu einer dickflüssigen Masse eingedampft war, um ihn sich dann zu gönnen.

Verspätet erwiderte sie Gions Gruss und lehnte sich seufzend zurück. Die verschneite Umgebung erstrahlte in voller Pracht – jedenfalls jenes bisschen, das ausserhalb des Nebels lag. Doch bis auf diesen kleinen Flecken Erde verschwand alles hinter einer dichten Wand aus winzigen Wassertropfen. »Es ist wie verhext …«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als an Gion gewandt.

Dieser drehte sich trotzdem zu ihr um und verschränkte die Arme vor der Brust. »Teufelswerk.« Bestimmt deutete er in Richtung der Quelle. »Das ist bestimmt die Verwunschene Quelle, vor der uns Grosstante Josephine immer gewarnt hat. Wir sollten uns ihr nicht mehr nähern, bis …«

»Nein«, unterbrach Joana ihn entschlossen. »Wir dürfen sie nicht einfach im Stich lassen.«

Gion seufzte, trat zum Tisch und zog den Stuhl ihr gegenüber geräuschvoll über den Boden. Auch als er sich setzte, liess er sie nicht für einen einzigen Wimpernschlag aus den Augen. »Ich habe es mir gut überlegt. Du solltest nicht gehen.« Er hob die Hand und brachte sie damit zum Schweigen, noch bevor sie ihre Einwände bei ihm anbringen konnte. »Das Bleichgesicht hat mich gestern nicht berührt. Trotzdem hat er mich gegen den Felsen geschleudert, dass die Vögel vor meinem Gesicht tanzten. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass der Typ von einem Dämon befallen ist. Oder, was wahrscheinlicher ist, er ist selbst einer.«

Joana zog die Augenbrauen hoch. »Hörst du dir selbst zu?«, fragte sie mit hoher Stimme, obwohl sie selbst gestern nur an Magie gedacht hatte. Aber so etwas sagte man nicht.

Sein durchdringender Blick liess sie kurz frösteln, und sie musste sich zwingen, den Kontakt nicht zu unterbrechen. »Magie«, hauchte er, als wäre es etwas Verbotenes. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er Magie beherrscht.«

»Weisst du es denn besser?«

»Das ist Teufelswerk, Joana. Kein normaler Mensch ist dazu in der Lage, einfach aus dem Nirgendwo aufzutauchen und jemanden ohne eine Berührung irgendwohin zu schleudern. Ausserdem scheint er dich ziemlich zu faszinieren – und umgekehrt.« Sein Blick streifte über ihr Gesicht bis zu ihren Händen, die sich gegenseitig nervös kneteten. Er blieb daran hängen. Erst als er seufzte, sah er ihr wieder in die Augen. »Du willst zu ihm.«

Unwillkürlich senkte Joana den Blick – und wusste im selben Moment, dass Gion sie entlarvt hatte. Auch wenn er sich mit dem Leben eines Bergbauern zufriedengab, war er nicht auf den Kopf gefallen. Und nach all den Jahren kannte er sie noch immer so gut. »Ich will nicht wirklich zu ihm, er macht mir Angst. Aber gleichzeitig ist er … faszinierend.« Als wäre das eine Entschuldigung.

Gion seufzte. »Natürlich ist er das. Er ist gefährlich. Gefahren sind faszinierend – bis man ihnen hoffnungslos ausgeliefert ist.«

Joana zwang ihre Hände zur Ruhe. Je länger sie die eigenen Finger knetete, desto eher würde Gion ihr auf die Schliche kommen. Sie wollte nicht zu Tandril, weil er gefährlich war, sondern weil er sie verzauberte. Hinter seiner unterkühlten Fassade gab es ein Geheimnis zu lüften. Wie er ihre Sinne geweitet hatte, wie er sie berührt hatte, bis sie erzitterte … Sie wollte mehr davon, mehr von diesem Wirrwarr aus Panik und Begierde, Faszination und Angst. Sie musste zugeben, aufregend war sein Spielchen schon. Sie wollte wissen, was er sich noch für sie ausgedacht hatte und sich in seinen Empfindungen fallen lassen. Es versprach ein unvergessliches Abenteuer zu werden.

Mit unerwarteter Entschlossenheit sah sie auf. »Ich werde Grosstante Josephine retten.« Sie legte ihre gesamte Überzeugungskraft in diesen einen Satz, damit auch der junge Bauer verstand, dass er sie nicht mehr umstimmen konnte.

Prickelnd stieg die Vorfreude in ihr auf. Gion starrte sie nur an, vielleicht etwas zweifelnd, aber nicht so, als wollte er sie überreden, hierzubleiben. Er selbst kämpfte gegen die Gefühle an. Grosstante Josephine war für ihn eine Art Ersatzmutter gewesen, er wollte sie sicher und behütet wissen. Dass sich Joana für sie einsetzte, kam ihm wohl gelegen – obwohl seine Vernunft dagegensprach, sie ziehen zu lassen.

Ein Lächeln bahnte sich einen Weg auf ihre Lippen. Sie würde ihn wiedersehen und konnte den Vorhang seines Wesens vielleicht ein wenig anheben, um hinter die Fassade blicken zu können. »Bis dann.«

Eigentlich hätte sie sich wie Schlachtvieh auf dem Weg zum Metzger vorkommen müssen. Eigentlich müsste die Angst ihre Schritte lähmen. Doch sie fühlte sich beflügelt, richtiggehend befreit. Sie hatte eine Entscheidung für sich selbst getroffen, in die sich niemand einmischte. Sie wollte zu Tandril, also tat sie es. Wie lange war es her, dass sie einfach ihrem eigenen Wunsch gefolgt war?

Mit strahlenden Augen zog sie sich an, warf einen letzten Blick zu Gion zurück. Nachdenklich sass er am Küchentisch und liess die Schultern hängen. Er wirkte verloren. Für einen Wimpernschlag hielt Joana inne. Er war schön. Nicht so perfekt schön wie Tandril, sondern mit Ecken und Kanten. Die angespannten Kiefermuskeln im diffusen Licht, das markante Kinn … Der Traum einer jeden Frau. Nur ihr Traum sah inzwischen anders aus.

Entschlossen drehte sich Joana zur Haustür und rannte in das weisse Winterwunderland hinaus. Über Nacht hatte sich die Luft derart abgekühlt, dass sie unwillkürlich den Mantel enger zog. Die Aussicht auf Tandril und seine Spielchen liessen sie voller Vorfreude beschwingt ausholen, sodass sie die Anhöhe bis zur Quelle rasch hinter sich brachte.

Am Ende doch etwas ausser Atem, hielt sie beim schmalen Absatz inne, legte die Hand auf den eiskalten Stein und trat andächtig in ihr neues, persönliches Heiligtum. Frühlingsluft umfing sie und unter ihren Füssen knirschten die filigranen Eisblumen. Als sie Tandril nicht entdeckte, liess sie die Schultern hängen. Er hatte doch versprochen, auf sie zu warten.

Jetzt von einer verwehten Schneeschicht teilweise bedeckt, glänzte der Messingkessel im Licht der hellen Wintersonne. Joana wollte nach ihm greifen, hatte Tandril sich doch immer dann gezeigt, wenn sie den Kessel ins Wasser getaucht hatte. Doch es zog sie zur Quelle, und sie fand keine Kraft, dem Drang zu widerstehen. Gebannt ging sie auf den Teich zu, der sich vor der Quelle gebildet hatte, kniete sich davor und hielt die Hand ins eiskalte Wasser. Ein Schauer durchzuckte ihren Körper. Sie erzitterte.

Im selben Augenblick leuchtete der Teich tiefblau auf. Es war mehr ein Pulsieren, ein kleiner Wink, dass etwas geschah. Im nächsten Augenblick erwuchsen aus einem tanzenden Funkeln im Wasser zwei bergseeblaue Augen, die durch das Wasser brachen und noch heller glitzerten als der Metallkessel in der Wintersonne.

Lächelnd beobachtete Joana, wie sich Tandrils Blick vertiefte, als er sich ihr näherte. Seine Mundwinkel zogen sich noch ein wenig weiter nach oben, die spitzen Eckzähne konnte sie erahnen.

Verdammt, er wäre ein perfekter Marketingagent geworden. Sie sollte sich eine Scheibe von ihm abschneiden, wenn sie ihr eigenes Unternehmen in Kürze erfolgreich führen wollte. Jede seiner Bewegungen zielte darauf ab, die Umgebung komplett einzunehmen. Eigene Gedanken, gar das Bewusstsein der Leute um ihn herum sollten ausgelöscht werden. Er diente einzig und allein der Faszination, ja, der Verführung.

Mit einem letzten Funken Verstand lehnte sich Joana etwas zurück. Er sollte nur nicht glauben, dass sie leichte Beute darstellte.

»Du bist hier.« Tandril stieg noch etwas weiter aus dem Wasser, bis er sich mit einer geschmeidigen Bewegung in den Schnee setzte.

Überrascht stellte Joana fest, dass das Wasser nicht von seiner Haut abtropfte, sondern dort wie eine zweite Haut haften blieb. Es schillerte in allen erdenklichen Farben, als hätte er in Regenbogenfarbe gebadet – nur schöner.

Sie setzte sich nach hinten und zog die Beine nah an den Oberkörper. Mit schief gelegtem Kopf lächelte sie offen, auch wenn ihr das Herz bis zum Hals flatterte. »Ich konnte nicht widerstehen.« Sie schluckte, zwischen seiner Art, sie gefährlich verführerisch für sich gewinnen zu wollen, und ihrem Verlangen schwankend.

Tandril legte die Hand an ihre Schläfe. Im selben Moment wurde sie in seine blauen Augen hineingezogen. Alle Wärme wich aus ihrem Körper, gleichzeitig durchströmte sie der Geschmack von Freiheit. Überall sein zu können, keine Grenzen zu kennen. Atemloser Tanz mischte sich mit exotischen Düften, die Erinnerung an sich berührende Körper explodierte und liess ihren eigenen erzittern.

Tandril bot ihr das alles an, zog sie näher, sog sie ein, genau so, wie sie es mit ihm tat. Als sich ihre Lippen trafen, erbebte Joana. Er fühlte sich nicht mehr kalt an, sondern heiss, sodass sie zu verbrennen drohte.

Einen Wimpernschlag lang schimpfte sie sich ein Flittchen, leichte Beute. Aber sie war eine erwachsene Frau und frei. Wenn sie sich mit jemandem einlassen wollte, hinderte sie niemand daran.

Gemeinsam fielen sie in den Teich. Das Wasser schwappte über ihr zusammen, zog sie in die Tiefe. Doch das machte nichts, solange Tandrils Augen ihre Welt beleuchteten. Sie hielt sich daran fest, an seinen weichen Berührungen. Sein Herzschlag übertrug sich auf sie und dröhnte in ihren Ohren. Tandril und das Wasser wurden zu ihrem Mittelpunkt.

Plötzlich war er verschwunden. Erschrocken riss Joana die Augen auf, schwenkte den Kopf nach rechts und links. Um sie herum wogte Gras im Wasser und griff nach ihren Fussgelenken. Über ihrem Kopf sandten Wellen helle Blitze in die Tiefe, wenn sich das Sonnenlicht in ihnen brach.

Die rettende Wasseroberfläche und das Licht schienen meilenweit entfernt zu sein. Selbst wenn sie die Hand ausstreckte, stach diese nicht durch tanzende Wellen an die eisig kalte Luft, so tief war sie gesunken. Jegliches Gefühl wich aus ihren Armen, die Kälte lähmte sie. Sie gehorchten ihr nicht mehr. Joana schrie, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Nur einige Luftblasen stoben auf und suchten sich ihren Weg in die Freiheit.

Panik griff nach ihr. Sie strampelte gegen das Wasser, gegen die Algen und gegen die Luft, die in ihrer Lunge immer weniger wurde. Ein unterschwelliges Lachen hallte durch den Teich, mehr ein Gefühl denn ein Ton. Es vibrierte in ihrem Inneren nach, löste feinste Schwingungen aus, bedrohlich und verführerisch zugleich.

Tandril.

In der Ferne erkannte sie sein blaues Leuchten, so verheissungsvoll, tief und gefährlich wie ein Bergsee. Er besass zwei schmetterlingsartige Flügel, die sanft im Takt der Wellen schlugen. Mit verschränkten Armen wartete er – vermutlich auf ihren Tod.

Die Erkenntnis liess sie erschrocken aufschreien. Wieder tanzten silberne Luftblasen nach oben, weg von ihr, hin zur Freiheit. Sie wollte ihnen hinterherschwimmen, doch ihre Arme bewegten sich nicht. Das Gras im Teich schlang sich enger um ihre Fussgelenke und zog sie in die Tiefe, sodass es sich zärtlich an ihre Handgelenke schmiegen konnte.

Das Wasser drückte immer stärker gegen ihren Brustkorb, ihre Lunge brannte – sie wollte Luft, Sauerstoff. Atmen!

Joanas Hände suchten Halt. Ein Stein. Daran konnte sie sich vielleicht … Im nächsten Augenblick hielt sie ihn in der Hand, fassungslos. In der nassen Kälte fand sie nichts, woran sie sich hätte hochziehen können. Ein letztes Mal streckte sie sich der glitzernden Fläche entgegen. Ein einziger Griff würde reichen, ein …

Der Drang ihrer Lunge, sich zu öffnen, wurde übermächtig. Sie weitete sich, Wasser schoss durch Nase und Mund, füllte sie aus. Die Erleichterung in ihrer Brust wurde von tödlicher Kälte abgelöst. Schwere drang in sie ein. Ihre Lunge wehrte sich, wollte das Wasser ausspucken, kam aber nicht gegen das Gewicht an. In ihrem Brustkorb brannte ein tödliches Feuer, das Tränen in ihre Augen trieb. Sie erstickte. Ihre Bewegungen erstarben.

Mit dem eigenen Tod vor Augen liess sie sich tiefer ins Wasser sinken. Wenn sie schon sterben würde, konnte sie dem Blick ihres Mörders begegnen. Er sollte sehen, welches Unheil er über sie gebracht hatte, und dass ihr das durchaus bewusst war.

Ihre Energie reichte noch für einen stummen Fluch. Sie verfluchte sich selbst, weil sie dumm genug gewesen war, auf Tandrils Verlockungen anzuspringen, und ihn, weil er sie so sehr fasziniert hatte.

Trotzdem genoss sie Tandrils blaues Schimmern, das in weite Ferne gerückt war, auf eine morbide Art und Weise. Es war das Letzte, das sie in ihrem Leben sehen würde. Und er war schön. In ihren Augenwinkeln schwebten die grünen Algen im Einklang mit den Wellen. Als folgten sie einem lautlosen Lied, tanzten sie, bildeten eine Einheit, so ruhig und friedlich.

So fühlte sich das Sterben also an. Joana gelang ein schwaches Lächeln, als sie ein letztes Mal die Augen schloss.


Heimat und Gefängnis

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Bubumm.

Ein Herzschlag.

Bubumm, bubumm.

Noch mehr.

Erschrocken holte Joana Luft. Ein Atemzug – ein Befreiungsschlag. Sie füllte ihre Lunge mit dem schweren Nass und hielt inne, als sie ihren tödlichen Fehler realisierte.

Wasser!

Doch das Brennen blieb aus, diese Enge in der Brust fehlte völlig. Stattdessen kribbelten ihre Arme und Beine, als neues Leben in sie hineinschoss. Es sprudelte in ihr und versorgte sie mit allem, was sie brauchte. Warmes Wasser, voller Kraft und Freude, umspülte sie, spielte mit ihren Fingern, belebte die Haut. Sie fühlte sich frei und unglaublich leicht.

Leises Lachen erklang. Es sandte herrliche Schwingungen durch das Wasser, die sich über die feinen Haare auf ihre Haut übertrugen. Ihr Herz sang im Takt dieses Lachens, das einen Hauch der Verlockungen mit sich trug, die Tandril ihr eine nach der anderen auf dem Silbertablett serviert hatte. Sie drehte den Kopf nach rechts und links, dann entdeckte sie das blau schimmernde Wesen nicht weit von ihr entfernt. Je nach Wasserbewegung verdeckten es grüne Gräser, aber das Schimmern reichte über die dünnen Halme hinaus.

Mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtete Tandril sie. Schmetterlingsflügel wogten noch immer sanft mit den Wellen, das Lächeln auf seinen Lippen war wissend und neugierig zugleich. Auch wenn ihr Flügel im ersten Moment unnütz erschienen, lächelte Joana bei dem Anblick, der sich ihr bot. Es wirkte wie eine Einheit, ein ganz besonderer Moment. Tandril und Schmetterlingsflügel gehörten zusammen.

Gleitend kam er auf sie zu, um erst direkt vor ihr zu stoppen und ihren Blick zu fesseln. Seine feingliedrigen Hände verflochten sich mit ihren, die bergseetiefen Augen drangen in ihre. »Als Fee bist noch viel schöner, als ich es mir jemals habe träumen lassen.«

Joana lächelte verlegen. Sie hob die Hand, um sich eine der kupferfarbenen Strähnen aus dem Gesicht zu wischen, als sie aus den Augenwinkeln ihre Finger sah.

Sie waren klein und schlank … und vor allem silbern.

Erschrocken schrie sie auf und löste sich dabei von Tandril. Erst starrte sie ihre Hand an, dann ihn. Hand, Tandril. Sie war immer noch silbern, er immer noch blau. Beim Teutates, was für eine Scheisse …? »Was hast du aus mir gemacht?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen. Ihre Stimme hallte unnatürlich hoch durch den Teich.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739476148
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Trolle Fee Fantasy Liebe Gnome Romantasy Liebesroman Romance

Autor

  • Andrea Ego (Autor:in)

Die Autorin Andrea Ego entdeckte schon in ihrer frühesten Schulzeit Bücher für sich. Das Abtauchen in fremde Welten hat sie von Beginn weg fasziniert. In ihrer Jugendzeit hat sie mit dem Schreiben begonnen und seither hat es sie nie mehr so richtig losgelassen. Andrea liebt neben dem Schreiben ihre Familie über alles, die Schweizer Berge, Schokolade, ihren Garten und das Fotografieren.
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Titel: Die Braut des Feenprinzen