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Schattenherz

Die Schatten von Mra'Theel 2

von Andrea Ego (Autor:in)
420 Seiten

Zusammenfassung

Ein Feuer, das in dir brennt. Eine Göttin, die auf Rache sinnt. Ein Vergessener, der in den Schatten lauert. In Erendals Osten brechen Kämpfe aus, die nicht nur das Land, sondern auch die Göttinnen bedrohen. Auf dem Weg zu den sagenumwobenen Drachentürmen gerät Tindra zwischen die Fronten. Freunde werden zu Feinden, und Feinde wollen sie als Verbündete gewinnen. Die gefürchteten Krieger aus den Nebelreichen hingegen formieren sich zu dieser Zeit, um zu einem finalen Schlag auszuholen, der den anderen Völkern auf ewig im Gedächtnis bleiben wird - falls sie überleben …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Glossar

Die Völker

Menschen: Sie leben in Kerase und Erendal. Ihre Gesellschaft ist einfach strukturiert. Ihre Felder versorgen die Bewohner von Mra’Theel weit über die Landesgrenzen hinaus mit Nahrungsmitteln. Zudem ist das Mittelgebirge bekannt für seine Bodenschätze. Die Länder sind allerdings weder besonders angesehen noch einflussreich.

Irin: Sie gelten als die am weitesten entwickelte Art in Mra’Theel und bevölkern das Land Vehni. Ihr Hang zu Forschung und technischer Entwicklung lässt die Städte zu Wissenshochburgen werden. Neben den Wissenschaften unterhalten sie eine angesehene Armee.

Kvor: Die Kvor sind zwar kleiner als Menschen, aber durch ihre gedrungene Statur zäh und überraschend ausdauernd. Sie gelten als friedliebendes Volk, das sich an den Küsten und in den Hügeln von Kvora niedergelassen hat. Ihre Leidenschaft gehört dem Bergbau, selbst einige Dörfer sind in den Berg gebaut.

Larhun: Die Larhun sind gefürchtete Krieger, gross und massig, und ein streitsüchtiges Volk, das sich nicht darauf einigen konnte, unter einem Banner zu gehen. Sie leben in den Nebelreichen, umgeben von Nebel, Bergen und Hügeln. Das Leben konzentriert sich auf wenige Stadtstaaten und ein paar Höfe rundherum. Die raue Lebensweise und die aufbrausende, kämpferische Art verhindern jeden Kontakt zu Mra’Theels Ländern.

Die Götter

Seylani: Als Göttin der Liebe, des Lebens, des Tages und des Krieges wird die blonde Göttin mit dem entschlossenen Ausdruck in den Augen verehrt. Ihr werden wilde Feste und das Lachen zugesprochen. Bei jungen Frauen ist sie äusserst beliebt. Sie gilt als unnachgiebig und hart, aber auch als gerecht.

Doana: Doanas Haut und Augen sind so dunkel wie die Nacht, die sie verkörpert. Als Göttin des Todes, der Ruhe und der Dunkelheit findet sie weniger Anhänger als ihre helle Schwester, dennoch wird sie geschätzt. Sie beendet einen Tag und läutet den nächsten ein, lässt Altes vergehen und Neues erblühen. Ihr grösstes Versprechen ist das eines Neuanfangs.

Der Graue: Der männliche Gott wird nur noch in den Nebelreichen angebetet, in denen der Nebel und die Welt dazwischen bei jedem Atemzug präsent sind. Er ist gerüstet, aber friedliebend. Wenn es notwendig ist, greift er zu den Waffen und lässt sich nicht bremsen, aber er selbst beginnt keinen Kampf. Nur wenige kennen ihn auch unter dem Namen Herrwhig.

Der Vergessene: Der Gott, dessen Antlitz auch in den alten Tempeln nicht mehr erkennbar ist, wurde vergessen. In ihm wohnt Schwärze und er sinnt auf Rache. Seine Anhänger sind jene, die in den Augen der Göttinnen keinen Gefallen finden: Gesetzlose, Abtrünnige und Freiwild. Niemand kennt ihn, sein Name ist nicht überliefert, doch in den Nebelreichen wird er gefürchtet.

Als Leserin bin ich keine Freundin davon, bei jedem neuen Städtenamen zur Karte am Anfang des E-Books zu springen und wieder zurück. Deshalb habe ich auf meiner Webseite die Karte samt Glossar zum Herunterladen und Ausdrucken hochgeladen.

https://andreaego.jimdo.com/bücher/buchvorstellung-schattenwanderer-1

Prolog

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Es ist nur eine Flamme.

Seit ich das blutrote Feuer auf seinen Schultern, in seinen Augen gesehen habe, versuche ich mir das einzureden. Nur eine Flamme. Doch sie bedeutet so viel. Dass er ihrem Volk angehört und mich belogen hat. Sie erklärt den Hass, die Abneigung in seinen Augen. All die Wut in seinen Bewegungen.

Doch sie schweigt darüber, weshalb ich so viel nachdenke – über ihn, über sein Feuer und sein Leben. Ich habe gesehen, was er in seiner Kindheit erlebt hat. Noch jetzt muss ich leer schlucken, um nicht zu weinen. Ob sein Zorn allein im Tod seiner Mutter begründet liegt?

Ich möchte hinter seine Fassade blicken, ihn kennenlernen, ihm sagen, wie dankbar ich bin – glücklich. Doch meine Wünsche verwirren mich, denn er ist ein Arschloch und die Dunkelheit in seinen Augen macht mir Angst. Es ist keine seelenlose Dunkelheit, kein abgrundtiefes Loch – es ist eine leuchtende Schwärze. Ein unheilvolles Glühen. Es brennt in ihm und verzehrt ihn von innen. Die Dunkelheit erinnert mich an das Feuer, das zwischen seinen Fingern aufflackert und mich das Fürchten lehrt.

Es macht mir Angst.

Er macht mir Angst.

Nicht seine Blicke oder die unreife Art, sondern der Hass, der ihn von innen zerfrisst. Vielleicht ist das die brennende Schwärze seiner Augen. Doch ich fürchte, dass noch viel mehr dahintersteckt.

Er sieht keine Schönheit mehr, hat keinen Grund zum Leben. Noch stolpert er von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht, und sein Glück entwischt immer. Irgendwann wird er einfach nicht mehr aufstehen, denn Hass ist kein Grund, um sich zu erheben.

Ich habe Angst um ihn. Und das macht mir noch mehr Angst.

Das Einzige, das ich für ihn tun kann, ist, Doana um einen Neuanfang für ihn zu bitten. Sein nächstes Leben soll ein schönes werden.

Abschied

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Tindra

Die Sonne wärmte ihr Gesicht und kitzelte sie in der Nase, als Tindra in den herbstfeuchten Morgen trat. Staunend hielt sie in der Bewegung inne, als sie sich streckte, und beobachtete, wie der frische Wind über die Hügel strich. Das Gras wogte mit einem leisen Rauschen, schluckte, reflektierte und brach das morgendliche Licht.

In diesen ersten Sonnenstrahlen hatte sie Steinwacht noch nie gesehen. Vielleicht lag es daran, dass ihr letzter Tag hier angebrochen war. Sie würde erst wieder zurückkehren, wenn ihre Eltern – insbesondere ihre Mutter – nicht mehr hier lebten.

Ihre Mutter hatte sie verstossen, da sie Freiwild war – eine Frau, die das von den Göttinnen gegebene Geburtsrecht abgelehnt hatte. Obwohl sich Tindra des Risikos bewusst gewesen war, hatte sie nach dem Schwert gegriffen und sich verteidigt. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Nun stand sie in der Gesellschaftsordnung sogar unter den Männern, die tagein, tagaus durch die Minen hinter Steinwacht wanderten und ungeschliffene, staubige Rubine zutage förderten.

Ein jeder konnte mit ihr machen, was er wollte. Für sie galten keine Gesetze, kein Gericht konnte über sie urteilen. Sie durfte sich nur wehren – und das würde sie auch tun.

Als Arin aus dem Haus ihrer Schwester trat, näherten sich seine Schritte. Für diese eine Nacht hatten sie bei ihr Unterschlupf gefunden. Der Blick des dunkelblonden Boten wanderte wie der ihre über die in morgendliche Stille gehüllte Landschaft. »Bereit?«

Einen Moment nahm sich Tindra, ehe sie bestimmt nickte und sich mit einem schiefen Lächeln zu ihm umdrehte. Arin betrachtete sie mit einem Blick aus sanften blauen Augen, den sie nicht so recht deuten konnte, aber froh darum war. Wenigstens er nahm sie für voll. Ungeduldig wischte sie sich über die Wangen, als der Schmerz über den Abschied in ihrer Brust aufglühte. »Verdammt«, fluchte sie leise.

Nur einen Moment zögerte Arin, dann legte er die Arme tröstend um sie und drückte sie an sich. »Es ist nicht leicht, sein Zuhause gehen zu lassen«, murmelte er an ihrem Kopf.

Seine Worte und die Wärme seines Körpers liessen sie tief einatmen, ein wenig entspannen. Dennoch wusste sie, dass sie sich nicht für immer hinter seinen Armen verstecken konnte. Dafür ging man in Mra’Theel zu hart mit Frauen wie ihr um. Entschieden schob sie ihn von sich weg.

Warum fühlte sie sich dennoch so elend? Sie versuchte sich an ihrem zweiten Lächeln heute, doch wie das erste wollte es ihr nicht so recht gelingen. »Steinwacht ist nicht mein Zuhause.« Auch wenn sie die letzten Jahre hier gelebt hatte, wirklich wohlgefühlt hatte sie sich nie. Um ihm keinen weiteren Grund zur Sorge zu geben, wandte sie sich von ihm ab.

Trotz Müdigkeit hatte sie nach dem gestrigen Dorffest kaum geschlafen. Immer wieder sah sie Sunyu vor sich, wie er sie betrachtete. Dunkle Augen, in denen ein Feuer glühte, die Intensität, mit der er sie angesehen hatte, sodass ihr heiss und kalt zugleich wurde. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Eine Mischung aus Überraschung, Bewunderung und Unsicherheit, vielleicht auch ein wenig Trauer war ihr entgegengeschwappt, und sie hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als sich an ihm vorbeizuschleichen. Vielleicht ahnte er, dass sie nicht hierbleiben konnte, immerhin wusste er um die konservative Haltung ihrer Mutter.

Am liebsten wäre sie zu ihm nach Hause gegangen und hätte ihn gefragt. Bei Tageslicht grummelte die Angst nicht ganz so stark. Doch nachdem der eben erst ausgebildete Schmied sie selbst von sich gestossen hatte, als sie ihn aus den Reichen der Larhun befreit hatte, konnte sie bei ihm nicht auf ein offenes Ohr hoffen. Er würde sie höchstens auslachen. Sie war doch nur Freiwild. Niemand, dem man Respekt schuldete.

Freiwild … Wie sehr sie dieses Wort hasste.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, hatte sie sich heute Morgen nicht in ein Kleid gezwängt, wie es sich für eine Frau gehörte, sondern eine ärmellose, oberschenkellange Tunika übergezogen. Darunter trug sie ein Hemd und Hosen. So war auf den ersten Blick klar, was sie war. Keine normale Frau trug Hosen. Niemand würde das Schwert an ihrer Hüfte übersehen. Jeder sollte auf den ersten Blick erkennen, was sie war – und gewarnt sein. Doch auch ohne sichtbare Zeichen wusste jeder mit festem Glauben an Doana und Seylani, dass sie das Geschenk der Göttinnen nicht mehr bewahrte.

Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln. Sie kannte einen guten Schmied in der Nähe, der ihr bestimmt eine Waffe empfehlen konnte.

Als Tindra und Arin schwer beladen vor dem geschlossenen Eingangstor der Schmiede standen, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Vielleicht hätte sie sich besser aus dem Staub machen sollen, ohne sich zu verabschieden. Insgeheim wusste sie, dass es richtig war, ihrem Lehrmeister Lebewohl zu sagen, doch das machte es nicht einfacher.

Sie hasste Abschiede. Ihr ganzes Leben lang hatte sie von Freunden und Orten Abschied nehmen müssen, alles war gekommen und wieder gegangen. Auch wenn sie Steinwacht nicht mochte, hatte sie an keinem anderen Ort der Welt so viel Zeit verbracht. Endlich lebten ihre Eltern an einem Ort, an dem sie blieben. Diesen nun wieder zu verlassen, fiel ihr deutlich schwerer als erwartet.

Nach einem Seitenblick zu Arin klopfte sie an. Rasch näherten sich schwere Schritte und das Tor wurde von innen geöffnet.

Der breit gebaute Schmied wirkte müde und erschöpft, doch als er Tindra erkannte, hellten sich seine Augen auf. Ein breites Grinsen zeigte sich auf Juangs Gesicht. Er breitete die Arme aus, um sie an sich zu drücken, und schnitt ihr damit die Luft ab. Ihr Brustkorb schmerzte, doch sie liess es geschehen. Dankbar sog sie den scharfen Geruch ihres Lehrmeisters ein. Für eine lange Zeit würde es das letzte Mal sein, dass sie ihn sah, wenn nicht gar für immer.

»Tindra, mein Mädchen«, murmelte er an ihrem Haar, ehe er sie losliess.

Peinlich berührt von seiner Zuneigung senkte Tindra den Kopf. Sie hatte nicht einmal geahnt, wie sehr sie ihm ans Herz gewachsen war, seit sie im Sommer die Ausbildung begonnen hatte. Dass er seine Gefühle nun so offen zeigte, ehrte sie – und drehte schmerzlich die Speerspitze in ihrer Brust, die sich gestern Abend eingenistet hatte, als ihre Mutter sie aus dem Haus verwiesen hatte. Sie würde von hier verschwinden, musste ihn verlassen.

Als sie den Blick wieder hob, wischte sich Juang über die Augen und verschmierte damit Russ auf seiner ledrigen Haut. Sie wagte ein schwaches Lächeln.

»Ich habe mir Sorgen gemacht. Und Vorwürfe! Bei Seylani, ich habe mir solche Vorwürfe gemacht.« Fassungslos schüttelte er den Kopf, erwiderte ihr Lächeln jedoch.

Tindra schluckte und wandte den Blick ab. »Es ist alles gut«, log sie, um ihren Lehrmeister zu beruhigen. Doch für sie war nichts gut, ihre Mutter hatte sie verstossen. »Ist Sunyu da?«

Juang kratzte sich am Kopf und bat sie in den Hof, indem er zur Seite trat und in Richtung des Steintisches nickte. »Er ist mit dir verschwunden, seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Das ganze Dorf hat von nichts anderem mehr gesprochen. Sie haben Sunyu Vergehen angedichtet …« Er schüttelte den Kopf abermals, als könnte er nicht glauben, dass sein Schützling ihr auch nur ein Haar krümmen würde.

Tindra wusste genau, was er damit sagen wollte. Zu viele Leute hatten sie am Fest darauf angesprochen. »Er hat mir nichts getan«, versicherte sie ihm mit einem ehrlichen, offenen Lächeln und nahm Platz.

Der Schmiedemeister warf die Stirn in Falten, als er sie musterte. Offenbar fiel ihm erst jetzt auf, dass sie sich nicht der Norm entsprechend gekleidet hatte. Wie bei den meisten anderen auch blieb sein Blick einen Moment länger als nötig an ihrem Schwert hängen. Doch im Gegensatz zu ihnen sah er ihr direkt in die Augen und statt Erstaunen oder Unglaube zeigte sich tiefer Schmerz in seinen Gesichtszügen. Seine Schultern sackten zusammen und mit dem Ausatmen verlor Juang seine Körperspannung, die ihn so beeindruckend machte. »Es tut mir so leid.«

Dankbar nickte Tindra. Dass er ihr keine stummen Vorwürfe machte, es hinnahm und sie dennoch als sein kleines Mädchen sah, liess das Zittern erst gar nicht aufkommen. Wenn ihr Gegenüber sie mit diesem abfälligen Blick musterte, abwog, was möglich war und was nicht, befiel sie eine innere Unruhe.

»Meine Mutter hat mich verstossen. Ich kann nicht hierbleiben. Deshalb werde ich Arin auf seinen Reisen begleiten.« Tindra warf dem Boten einen flüchtigen Seitenblick zu.

Juang musterte Arin nur einen Moment, ehe er sich wieder Tindra zuwandte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass seine Augen jemals so hoffnungslos gewesen waren wie in diesem Moment. »Du gehst?«

Sie nickte.

Zitternd holte er tief Luft, dann setzte er sich auf die Bank. »Und Sunyu wird zurückkehren?«

Tindra lächelte erleichtert. Wenigstens in diesem Punkt musste sie ihren Lehrmeister nicht enttäuschen. »Er ist mit uns hierhergekommen. Ich denke, er wird sich morgen pünktlich zur Arbeit melden.«

»Mit euch?« Sein Blick streifte Arin erneut.

Tindra nickte, ehe sie die Geschehnisse der vergangenen Tage zusammenfasste. »Nachdem du uns nach Hause geschickt hast, haben uns Schattenkrieger aufgelauert und durch ein magisches Tor gebracht. Sunyu ermöglichte mir die Flucht, doch er blieb in den Nebelreichen zurück. Ich wäre nicht mit mir selbst im Reinen gewesen, hätte ich ihn in Grimsvik versauern lassen. Ich musste einfach versuchen, ihn zu retten. Also haben wir uns auf den Weg gemacht und ihn befreit. Mit seiner Hilfe« – Tindras Blick huschte rasch zu dem feinen Gesicht des Boten – »habe ich ihn gefunden, und wir konnten fliehen.«

Arin hatte ihr das Versprechen abgenommen, dass sie niemandem den Grund für seine Hilfe verriet. Wenn die Irin oder Kvor erfahren würden, dass er eine wichtige Nachricht verloren hatte, würden sie nach ihm suchen und ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen. Deshalb hielt er es für besser, wenn niemand davon wusste.

Der Schmiedemeister kratzte sich seinen ergrauenden Bart, schien etwas sagen zu wollen, nickte dann jedoch nur. Noch einmal betrachtete er Tindras Schwert, bevor er aufstand und für einige Augenblicke im Rüstungsraum hinter der Schmiede verschwand. Als er wieder zu ihnen trat, trug er ein Schwert in der Hand. Im Gegensatz zu der Waffe an ihrer Hüfte wirkte es geradezu filigran, wenn nicht gar zerbrechlich, und es war deutlich länger.

Staunend stand sie auf und legte die Hand auf das Schmuckstück. Das Heft wies feine Verzierungen auf, die nur ein wahrer Meister aus dem Metall zu formen vermochte. Diese Klinge hatte sie nie im Fundus ihres Lehrmeisters entdeckt. Er musste sie an einem ganz speziellen Ort aufbewahrt haben.

Juang nickte in Richtung ihres Schwertes. »Eine Schmiedin sollte nicht mit einer minderwertigen Waffe durch die Gegend spazieren.« Er zwang sich zu einem schiefen Lächeln, wandte den Blick ab und starrte an ihrem Kopf vorbei auf die Mauer hinter ihr.

Als sich Tindra abwandte, schmerzte ihr Herz bei jedem Schlag. Schon heute Morgen, als sie ihrer Schwester Lebewohl gesagt hatte, hatte sich in ihrem Leben ein tiefer Riss aufgetan. Nun verliess sie den einzigen Platz in Steinwacht, den sie liebte. Hier war sie aufgeblüht und hatte ein Kunstwerk erschaffen: Einen Schlüssel mit magischen Fähigkeiten und Verzierungen, die so filigran waren, dass es aussah, als würden sie ineinander verschmelzen.

Wenn sie die Schmiede verliess, liess sie auch den einzigen Menschen hinter sich, der sie mit ihrer Liebe zu Metallen so akzeptierte, wie sie war. Dabei ging es um so viel mehr als nur ums Schmieden: die Weltanschauung, die Suche nach ihrem Platz in Mra’Theel, das Meiden von Menschenansammlungen und Getratsche. Nicht einmal Arin ging so natürlich mit ihrer speziellen Art um wie Juang.

»Pass auf dich auf, mein Mädchen.«

Tindra sah den Schmerz über ihren Verlust in seinen Augen glitzern. Schon länger hegte sie den Verdacht, dass Juangs Lehrlinge ihm aufgrund der eigenen Kinderlosigkeit so sehr ans Herz gewachsen waren, dass er sie wie seine eigenen behandelte. Sich von ihm verabschieden zu müssen, liess ihr Herz schwer in einem langsamen Takt schlagen.

Vor der das Anwesen umgebenden Mauer ertönten aufgeregte Stimmen. Tindra wandte den Kopf zum Tor, das im selben Moment aufschwang und gegen die Mauersteine knallte, obwohl es sich nur träge öffnen liess – in der Regel.

»Juang, sie sind unterwegs. Wir müssen …« Liang, Sunyus bester Freund, hielt inne, als er Tindra und Arin bemerkte.

Ihre Blicke kreuzten sich und Tindra zuckte innerlich zusammen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie ihn angehimmelt, ganz am Anfang, als sie in Steinwacht angekommen war – neben dem Jungen mit den haselnussbraunen Augen, den sie zu lange nicht mehr wiedergesehen hatte. Doch das war vorbei. Dennoch reagierte sie noch immer auf diese dunklen, mandelförmigen Augen, die stets ein verwegenes Lächeln zu umspielen schien. Nun wirkte er ungewohnt ernst, die Augenbrauen waren so stark zusammengezogen, dass sie sich über der Nasenwurzel berührten.

Zu gern hätte Tindra in seinem grimmigen Gesicht gelesen, doch Liang überraschte sie, als er sich an sie wandte. »Was machst du denn hier? Und was soll diese Aufmachung?« Als müsste er seine Worte erklären, schweifte sein Blick einmal von oben nach unten und wieder zurück.

Sie stellte sich gerade hin und reckte das Kinn. »Wir gehen schon«, sagte sie und wandte sich an Arin, der ihrem Beispiel folgte. Vor den Augen aller Anwesenden befestigte sie das Schwert, das sie von Juang erhalten hatte, an ihrem Gürtel.

»So war das doch nicht gemeint«, beeilte sich Liang nach dem Schreck zu sagen. »Ich meinte nur …« Er schluckte.

Liang hatte sie in den letzten Jahren beinahe ebenso mies behandelt wie Sunyu, deshalb genoss sie es gar ein wenig, wie er mit sich rang.

»Du bist Freiwild?« Das waren bestimmt nicht die diplomatischen Worte, nach denen er gesucht hatte, dennoch schien ihm ein Stein vom Herzen zu fallen.

Tindra nickte mit einem Lächeln, das selbstsicherer wirkte, als sie sich fühlte. »Und stolz darauf«, entgegnete sie, auch wenn es nicht stimmte.

Einen Wimpernschlag brauchten seine Gesichtszüge, bis sie ihm vollends entglitten. »Aber ich habe gestern mit dir getanzt.«

Allein die Tatsache, dass er sie aufgefordert und mit unsicheren Schritten über die Tanzfläche geführt hatte, rückte die Zeit seit dem Schulabschluss in ein neues Licht. Vielleicht war sie noch die Neue in Steinwacht, aber sie war nicht mehr Ziel aller Gehässigkeiten. Dass sich nun einige auch noch für sie zu interessieren schienen, überforderte sie ein wenig.

Vielleicht hätte sie sich Steinwacht gegenüber offener zeigen sollen, dann wäre sie auch aufgenommen worden. Doch das war nun nicht mehr von Belang. Das Dorf war für sie Vergangenheit.

Seine Verwirrung liess ihr Grinsen nur noch breiter werden. »Jetzt kannst du im ganzen Dorf damit prahlen, dass du mit Freiwild getanzt hast.« Hoch erhobenen Hauptes schritt sie an ihm vorbei und genoss sein Entsetzen. Man rühmte sich nicht damit, Freiwild den Abend verschönert zu haben. Ob seine Bestürzung an der Tatsache lag, dass er mit Freiwild getanzt hatte oder dass er das nicht bemerkt hatte, konnte sie nicht erkennen. Dennoch verschaffte es ihr so etwas wie Genugtuung.

Als sie schon beim Tor angelangt waren, hörte sie Liangs Räuspern. »Warte.«

Überrascht hielt Tindra inne. Damit hatte sie bei Doana und Seylani nicht gerechnet. Liang, neben Sunyu der grosse Schwarm des Dorfes, hatte sie tatsächlich darum gebeten, zu warten? Langsam drehte sie sich zu ihm um. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also schwieg sie.

»Bist du gut?« Er nickte in Richtung ihrer Schwerter.

Tindra zog die Augenbrauen zusammen. Was sollte sie auf diese Frage antworten, da sie bis vor wenigen Tagen kaum einem Schwerthieb hatte ausweichen können? »Gut genug.«

Er warf einen Blick zu Juang, einen nächsten durch das Tor, dann trat er auf sie zu und fixierte sie mit schmalen Augen. »Die Männer aus dem Osten sind unterwegs. Wenn sie uns angreifen … Gegen diese Bastarde können wir jede Hilfe gebrauchen.« Bei seinen Worten ballte er die Hände zu Fäusten und trat mit jedem Wort einen Schritt auf Juang zu.

Auch wenn sich bei dem Wort Bastard ein Knoten in ihrem Magen bildete, versuchte sich Tindra auf den Inhalt von Liangs Worten zu konzentrieren.

»Was ist denn los?«, erwiderte Juang müde und trat mit grimmigem Ausdruck näher. »Geht es schon wieder um die Angriffe? Begreift ihr denn noch immer nicht, dass uns die Drachentürme der Irin schützen?«

Tindra hatte schon unzählige Legenden über die Drachentürme gehört. Jedes Kind in Mra’Theel kannte sie. Den Erzählungen nach begrenzten sie die bewohnten Gebiete Erendals und Vehnis gegen die geheimnisumwobenen Drachenberge. Die von Legenden umrankten Türme wehrten jeden Angriff ab, der von den Bergen her über den Kontinent hinwegzubranden drohte, und verfügten über geheime Magie, die bei einer Attacke Drachen gegen die Invasoren sandte.

Liang verdrehte die Augen. »Ein erster Angriff steht uns kurz bevor. Noch heute werden die Kvor hier einfallen. Wir können jede Hilfe gebrauchen, die wir finden können.«

Arin kam Tindra mit seiner Frage zuvor. »Was ist los?« Er war sichtlich verwirrt, als sein Blick zwischen Juang und dem bewaffneten jungen Mann hin und her zuckte und schliesslich an Liang haften blieb. »Niemand kommt an den Drachentürmen vorbei«, wiederholte er mit leicht gerunzelter Stirn Juangs Aussage.

Liang warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Die Drachen sind tot. Nichts hat die Bastarde aufgehalten. Nur dank der Steppe hat sich ihre Zahl dezimiert.« Er wandte sich dem Schmiedemeister zu. Offenbar hoffte der junge Bäcker bei Juang auf mehr Verständnis. »Sie sind hierher unterwegs. Wir brauchen Waffen.«

Tindra wusste, wie sehr ihr Meister eine Schlacht verabscheute, wohingegen er einen tänzerisch gefochtenen Kampf liebte. Er sorgte sich um die Jugend im Dorf und war vielleicht der Einzige, der über Kriegserfahrung verfügte. Juang würde die verlangte Ausrüstung nicht herausrücken.

Der alte Mann kratzte sich am Bart und wich Liangs Blick aus. »Eine Schlacht ist keine Lösung.«

Hart lachte Liang auf. »Wenn wir uns nicht wehren, werden sie uns dem Erdboden gleichmachen.«

Juangs Stimme zitterte, seine Augen spien Feuer. »Was, wenn wir fallen? Steinwacht wird ausgelöscht.« Der untersetzte Schmied ging einige bedachte Schritte auf den jungen Mann zu und blieb erst dicht vor ihm stehen. Obwohl er kleiner war, wich Liang zurück. »Was sollten sie schon in Steinwacht suchen? Rubine? Dann überlasst ihnen die Minen! Eure Frauen? Die Gesetze von Seylani und Doana schützen auch sie. Niemand wird es wagen, den Zorn der Göttinnen heraufzubeschwören. Sie wachen über ganz Mra’Theel.« Juang warf Tindra einen bedauernden Seitenblick zu, der ihr einen leisen Stich ins Herz sandte. »Die Einzige hier, die sich fürchten muss, verlässt uns.« Mit einem tiefen Atemzug drehte er sich wieder zu Liang um. »Wir haben nichts, was sie wollen. Sie werden hierherkommen, sich die Bäuche vollschlagen und verschwinden. Geben wir ihnen, was sie verlangen, sind wir ein paar Schweine und einige Fässer Bier ärmer. Wenn wir uns ihnen in den Weg stellen …« Er beendete den Satz nicht, wohl in der Hoffnung, dass Liang den Gedanken selbst weiterspinnen konnte.

»Sie dürfen nicht hierhergelangen! Wir müssen sie aufhalten, bevor sie Steinwacht erreichen«, begehrte dieser jedoch auf und trat einen Schritt auf den Schmied zu.

Juang seufzte. »Ich sende niemanden mit meinen Waffen in den sicheren Tod. Es gibt eine Handvoll Männer in Steinwacht, die mit einem Schwert umzugehen und einen Dolch zu führen wissen. Du gehörst nicht zu ihnen. Also verschwinde hier und wage es nicht noch einmal, mich nach Waffen zu fragen.« Die Augenbrauen des Schmiedemeisters zogen sich so weit zusammen, dass sie sich in der Mitte berührten und einen bedrohlichen Schatten über seine Augen warfen.

»Aber …«

»Verschwinde!«

So wütend hatte selbst Tindra Juang noch nicht gesehen. Normalerweise strahlte er eine Ruhe aus, die ihresgleichen suchte, vieles prallte an ihm ab. Ging es jedoch um Kinder und junge Erwachsene, wurde er weich. Sie warf ihrem Meister einen langen Blick zu, bis Arin sie flüchtig am Arm berührte. Sie sollten sich auf den Weg machen.

Liang trat unter dem Bogen hindurch und machte sich an den Abstieg. Noch in Hörweite warf er einen wutentbrannten Blick zurück und murmelte einen unverständlichen Fluch.

Tindra drehte sich zu ihrem Meister um. Auch ohne ein Wort verstanden sie sich, wussten, dass dieser Abschied vielleicht für immer war.

Juang brachte die Distanz zwischen ihnen mit grossen Schritten hinter sich und schloss sie in eine feste, fast schmerzhafte Umarmung. »Pass auf dich auf, Tindra. Ich werde dich vermissen.«

Froh, dass sie das Gesicht an seiner Brust verstecken konnte, holte sie tief Luft und wartete, bis sein Hemd ihre Träne aufgesogen hatte. Sie wollte nicht von ihm Abschied nehmen. Das hier war der einzige Ort in Steinwacht, an dem sie sich wohlfühlte, ihre kleine Zuflucht.

Sie dachte an Liang, an seine Wut und das Unverständnis, das sein Wunsch in ihr auslöste. Sie wollte Steinwacht und seine Bewohner auch schützen, sosehr sie sich auch immer weit weg von hier gewünscht hatte, doch ein Kräftemessen mit Kriegern konnten sie nicht überleben.

Über so viel Dummheit konnte sie nur den Kopf schütteln. Wer wollte schon einen Kampf, vielleicht gar Krieg? Dennoch lösten seine Worte nicht nur Unverständnis, sondern auch Sorge in ihr aus. Ihre liebsten Menschen lebten hier: ihre Eltern, ihre Schwester, Juang, Sunyu …

Erschrocken hielt Tindra in ihrer stummen Aufzählung inne. Sunyu gehörte nicht zu ihren liebsten Menschen. Er war gar kein Mensch – jedenfalls kein richtiger.

Sie seufzte leise. So dumm konnte wohl nur sie sein. Wie Arin zu Beginn ihrer Reise schon gesagt hatte, reiste niemand für einen Bekannten in die Nebelreiche.

Der Bote setzte sich in Bewegung, Tindra folgte ihm. Je länger sie wartete, desto schwerer würde ihr der Abschied fallen.

»Wir müssen nach Osten«, flüsterte er. »Ich muss die Türme sehen.«

Tindra warf ihm einen verwirrten Blick zu. Eigentlich hatten sie sich dazu entschlossen, die Sache mit der Nachricht, die ihm gestohlen worden war, mit den Irin zu klären. Bei ihrem Besuch in Grimsvik hatte der Bote das Schreiben nicht zurückholen können. Der Versuch, es wieder an sich zu nehmen, hatte ihn in den Kerker befördert. Nun musste er sich seinen Auftraggebern erklären.

Mit den Augen folgte sie Liang, der zwischen den Häusern verschwand. »Kennst du dort ein magisches Tor?«

Er schüttelte den Kopf.

Sie schloss die Augen. Wieder durch Feindesland, schon wieder dieses Versteckspiel, diese ständige Angst, die Ungewissheit.

Flammentanz

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Sunyu

Mit einem tiefen Seufzen erhob sich Sunyu aus dem bequemen Sessel und streckte die Glieder. Nachdem Bram und er erst im Morgengrauen durch Grimsviks Tore in die Stadt geritten waren, hatte er sich erst einmal einen ruhigen Morgen unter der Bettdecke gegönnt. Erst als Vilgrim, der Fürst dieser verfluchten Stadt, ihn am Mittag besucht und auf seine neuen Aufgaben hingewiesen hatte, hatte er sich brummend an den Schreibtisch gesetzt.

Er war Schmied, kein Taktiker. Er mochte keine Kriegsstrategie studieren, auch wenn er zugeben musste, dass es spannender wurde, je tiefer er sich in die Materie grub. Er sah sich die Aufzeichnungen seines Vaters Eskild durch, von dem die Larhun glaubten, er wäre tot.

Dieser war auch gestorben. Aus dem Schmied, der Grimsviks Heere von Sieg zu Sieg geführt hatte und die Nebelreiche fast geeint hätte, war ein einsamer Säufer in einem langweiligen Dorf geworden. Es war besser, wenn sie dachten, Eskild weilte nicht mehr unter den Lebenden.

Mit einem Seufzen wandte sich Sunyu wieder den Notizen seines Vaters zu, suchte die Bücher, wenn er einen Hinweis zu ihnen fand, studierte Karten und überlegte sich die Schwachpunkte verschiedenster Taktiken, bis ihm der Kopf rauchte. Es war alles auf den grossen Plan ausgelegt, den er für die Nebelreiche vorgesehen hatte. Er wollte die Fürstentümer unter einem Banner einen. Selbst seine Strategien hatte er danach ausgerichtet. Es gab keine Ideen für Schlachten gegen die Larhun, dafür jedoch einige, die sich mit der Vernichtung von weniger starken Völkern auseinandersetzten – und das erstaunlich gründlich.

In Gedanken noch bei der Umsetzung einer Idee, bei der Eskild die Gegner abgelenkt hätte, um mit einem Teil seiner Truppen im Rücken des Feindes anzugreifen, schlenderte Sunyu auf den Balkon. Dieser umrahmte den Innenhof und liess den Blick auf einen schattigen Garten mit Brunnen frei. Noch hatte er vermutlich nicht alle Geheimnisse des Anwesens gelüftet, doch was er bis jetzt wusste, reichte ihm.

Er besah sich den Garten und beruhigte sich dabei ein wenig, auch wenn sich die unerklärbare Sehnsucht in seinem Brustkorb nicht minderte. Der nicht mehr wegzudenkende Nebel schwebte ausnahmsweise weit über seinem Kopf, sodass der Wildwuchs im Innenhof beinahe ohne beklemmende Atmosphäre dalag.

An einer Ranke neben seinem Kopf streckte sich eine dunkle Mernabeere dem spärlichen Licht entgegen. Einen Augenblick zögerte er, dann pflückte er sie. Tindra hatte gesagt, sie könne vielleicht seinen Drachen heilen. Die Tätowierung der magischen Kreatur erstreckte sich von seiner Brust bis zum Hals und tanzte – sie hatte getanzt. Seit der Schlacht gegen ein Kriegsschiff der Kvor trennte ein Schnitt den Flügel des Drachen fast gänzlich. Der Tanz war einseitig, wenn nicht gar erstorben. Das mächtige Wesen würde nie mehr vollständig heilen.

Sunyu biss in die Beere und verzog das Gesicht, als der säuerliche Saft seinen Gaumen erreichte und mit einem pelzigen Film überzog. Beim dürren Arsch der Seylani und ihrem schwarzen Zeh, das konnte doch niemals heilende Kräfte entfalten! Die angebissene Frucht warf er achtlos in die Tiefe, bevor er sich mit einem wütenden Brummen umdrehte. Wieso dachte er auch immerzu an Tindra? Sie war weg, es war vorbei. Es hatte niemals angefangen.

Sollte er sie jemals wiedersehen, wären sie Feinde. Deswegen hoffte er, dass sie wenigstens diese Chance nutzen und in Steinwacht bleiben würde. Solange er hier war, konnte er ihre Sicherheit dort garantieren. Oder solange Vilgrim seine Meinung nicht änderte.

Nachdem die Larhun sie wegen des von Tindra geschmiedeten magischen Schlüssels entführt hatten, hatte er ihr die Flucht ermöglicht. Doch statt sich in Sicherheit zu bringen, hatte sich die blonde Schmiedin zu seiner Befreiung aufgemacht. Ihr lag nichts an ihm, sie hatte es nur ihrem schlechten Gewissen zuliebe getan.

Er schloss die Augen. Mit ihren Fähigkeiten war Tindra nicht uninteressant für die Führerinnen der vier Länder und die Reiche der Larhun. Der einzige Grund, weshalb sie nach Steinwacht zurückkehren konnte, war er selbst. Er hatte sich zu den Bedingungen des Schattenfürsten an Grimsvik gebunden. Im Gegenzug hatte der klein gewachsene Larhun versprochen, Tindra kein Haar zu krümmen.

»Dafür sorgt der Trupp, den du bei ihr gelassen hast, du verfluchtes Arschloch«, murmelte Sunyu mit vor Sarkasmus triefender Stimme in den Garten. Die Worte verhallten ungehört.

Mit langsamen Schritten begab er sich ins Haus, um sich umzuziehen. Der Fürst hatte ihn zu sich gerufen, und es wurde Zeit, dass er sich bereit machte. Er wollte zusammen mit ihm und der Offizierin Kirjana nach Kleifar reisen, um die dortige Fürstin von einem noch geheimen Plan zu überzeugen.

Am Palasttor liessen die Wachen Sunyu mit einem misstrauischen Blick passieren. Er konnte es ihnen nicht verübeln, immerhin war bekannt, dass er Tindra und ihren verfluchten Freund Arin befreit hatte. Dass Vilgrim ihn dennoch in seiner Streitmacht wissen wollte, versetzte viele in Staunen, einige reagierten gar argwöhnisch. Zu Recht, wie er selbst fand.

Wie immer wirkte der Palast kühl und leer, als würde niemand darin wohnen. Die Wachen hielten sich in den zahlreich vorhandenen Wandverstecken verborgen. Nur selten hörte er das Scharren eines Schuhs hinter einer Steinmauer, das seine Vermutungen bestätigte. Auch wenn nicht viele tagsüber in den Gemäuern patrouillierten, wusste Sunyu, dass sie da waren. Sie befanden sich in den Schatten, verteilten sich geschickt und machten damit trotz ihrer wuchtigen Schultern dem Ruf der Larhun als Meister der Schatten alle Ehre. Selbst ein Ochse würde schreiend vor ihnen davonrennen, würde er erkennen, wozu sie in der Lage waren. Nicht einmal zu fünft konnten sich Menschenkrieger gegen einen einzelnen Larhun behaupten. Allein diese Tatsache erlaubte eine Vielzahl … faszinierender Gedankenspiele.

Vilgrim erwartete Sunyu zusammen mit seinen Offizieren und Befehlshabern in dem viel zu grossen Amtsraum. Seine dunklen, schulterlangen Locken verbargen das Gesicht, doch die leise Stimme fuhr Sunyu durch Mark und Bein. In ein Gespräch vertieft hob der Fürst nur flüchtig den Blick, dann richtete er das Wort sofort wieder an Bram. Der ranghöchste Offizier würde die Stellung in Grimsvik halten, solange Vilgrim das südlich gelegene Kleifar besuchte.

»Wir haben auf dich gewartet«, begrüsste der Fürst ihn, nachdem er seine Befehle ausgegeben und Bram diese mit einem Nicken zur Kenntnis genommen hatte.

Sunyu wich seinem Blick aus und betrachtete stattdessen das Relief von Mra’Theel in der Mitte des runden Tisches. Die vier Länder und die Reiche der Larhun waren mit ihren Bergen, Seen und Flüssen abgebildet.

Kirjanas Schwert zeigte auf eine Inselgruppe vor Grimsvik, die jedoch so weit entfernt lag, dass Sunyu sie noch nie von der Stadt aus gesehen hatte. Was bedeutete das? Mit dem Besuch in Kleifar konnte das kaum in Verbindung stehen. Die Stadt lag weit im Süden und war damit die kälteste in ganz Mra’Theel. In einem oder zwei Zyklen des Blauen Mondes hätten sie kaum mehr eine Chance, dorthin zu gelangen, da die Wege schneebedeckt und dadurch unpassierbar wären. Hier hielt der Winter zuverlässig Einzug. Im Moment musste deshalb alles andere warten, auch ein Inselbesuch.

»Ich hatte zu tun.« Sunyu entschied sich für die Wahrheit. Ihm fiel keine Ausrede ein.

Zweifelnd hob Fürst Vilgrim eine Augenbraue, doch dann zeigte sich dieses charakteristische, dünne Lächeln auf seinen Lippen, das Sunyus Brust erkalten liess.

»Ich habe die Aufzeichnungen meines Vaters studiert«, lenkte Sunyu ein.

Der Fürst hob eine Augenbraue und seine Augen weiteten sich. Er wirkte ehrlich überrascht, auch wenn Sunyu das kaum für möglich hielt. Dass sich sein Schützling tatsächlich mit Kriegstaktiken auseinandersetzen würde, damit hatte Vilgrim offenbar nicht gerechnet. Die unverhohlene Überraschung löste in Sunyu Genugtuung aus.

Fürst Vilgrim fasste sich rasch wieder. Diese Selbstbeherrschung war beneidenswert. »So wirst du es unter meinem Kommando weit bringen.«

Fest blickte Sunyu in die kalten Augen des Fürsten. »Das ist mein Ziel.«

Das Lächeln auf Vilgrims dünnen Lippen wurde breiter, fast ein wenig belustigt. Mit demselben Ausdruck wandte er sich der Karte zu und zeigte auf eine weite Ebene im Süden des Kontinents.

Inzwischen wusste er, dass der Ort in den Reichen der Larhun lag. Bis vor Kurzem war ihm Mra’Theels Geografie schleierhaft gewesen. All die gezeichneten Karten hatten kein inneres Bild zu erzeugen vermocht, doch diese genaue Abbildung mit den Bergen, Seen und Ebenen wog das Verpasste in seiner Ausbildung mehr als auf.

»Da liegt Kleifar. Wir werden zwei Tage unterwegs sein. Kirjana und zehn ihrer Männer begleiten uns. Vermutlich wird sie die Verhandlungen an meiner statt führen.«

Sunyu hob eine Augenbraue und betrachtete die Offizierin. Auf der Strasse wäre sie ihm mit ihren braunen, streng nach hinten gebundenen Haaren, den hellen Augen und dem breiten Gesicht nicht aufgefallen. Doch die Art, wie ihre Lippen Worte formten und ihnen ein verführerisches Kribbeln mit auf den Weg gaben, machte aus der unscheinbaren Frau eine gefährliche Mischung aus Verführung und scharfer Klinge.

Sunyu riss sich von der Erinnerung an ihre Stimme los. »Wenn die Fürstin von Kleifar nicht mit einem Fürsten diskutieren will, wird sie bei Freiwild höchstens die Nase rümpfen«, wandte er ein.

Kirjana grinste breit. »Weshalb nimmst du an, dass ich keine Hofdame mimen kann?«

Ihre Stimme versetzte sein Blut in Wallung. Ganz bestimmt war sie nicht die Art von Frau, die ihn bis in sein Innerstes zu verzaubern vermochte, aber sie löste in ihm ein bisher unbekanntes Verlangen aus. Wie immer musste er sich darauf konzentrieren, sie nicht zu lange anzustarren. Schon einmal hatten sich die anderen Offiziere darüber lustig gemacht, ein zweites Mal würde ihm das nicht passieren.

Sunyu reckte das Kinn leicht nach vorn. »Freiwild stinkt drei Manneslängen gegen den Wind.«

Kirjanas Mund umspielte ein wissendes Lächeln. »So wie dein Mädchen?«

Sunyu brummte. Wie er das Wort Freiwild hasste. Und erst dein Mädchen. Seit er hier angekommen war, sprachen sie von Tindra, als hätte sie jemals ihm gehört. Dabei war sie nicht mehr als eine Bekannte, deren Lachen ihn an das seiner Mutter erinnerte. »Kannst du denn eine Hofdame mimen?«, lenkte er die Aufmerksamkeit zurück auf das eigentliche Gespräch.

»Versprichst du mir, dass du dabei nicht über mich herfällst?« Ihre Lippen blieben leicht geöffnet, als würde sie ihn einladen. Es fehlte nur noch, dass sie sich auf die Unterlippe biss oder mit der Zunge darüberfuhr.

Hastig wandte er den Blick ab und suchte Vilgrims eisblaue Augen. Die würden seine Gedanken wieder abkühlen. »Wird die Fürstin von Kleifar die List nicht durchschauen?«

Vilgrim zuckte mit der Schulter. »Zweifelsfrei wird sie mich erkennen. Aber sie hält sich vom Geschehen im restlichen Mra’Theel fern. In ihren Augen kann Kleifar nichts geschehen, da eine feindliche Armee vorher jedes andere Reich der Larhun erobern müsste – es sei denn, eines der Reiche greift an. Und bei uns ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Frau einen Mann vom Fürstenthron stürzt, insbesondere da kein Mann das Recht hat, auf einem Thron zu sitzen.«

Sunyu horchte auf. »Aber die einzelnen Reiche verfügen nur über begrenzte Streitkräfte. Wenn ein Fürstentum ein Heer mit mehr als wenigen Hundert Soldaten aufstellen kann, ist das eine beachtliche Leistung. Das Einzige, das die vier Länder davon abhält, die Reiche der Larhun zu erobern, ist die Angst vor der Übermacht.«

»Und dass das Land unwirtlich ist und sich deshalb ein Kriegszug nicht lohnt«, ergänzte Bram.

Vilgrim nickte und warf Sunyu einen unergründlichen Blick aus verengten Augen zu. »Bis jetzt.«

Der junge Schmied horchte auf und stellte sich gerader hin. In den Büchern seines Vaters stand immer wieder die Frage nach dem Warum. Vielleicht hatte er aus dem Studium der Unterlagen nur gelernt, nach dem Grund für einen Kampf zu fragen, und wie man seine Krieger motivierte und davon überzeugte, mit Freuden ihr Leben zu lassen.

»Die Königinnen und Edeldamen in Mra’Theel gelüstet es nach der Tar-Seide. Sie ist ihnen nach den Zöllen zu teuer. Ausserdem verunsichert es sie, dass wir im Gegensatz zu ihnen Schwarzpulver besitzen.« Mit einer weichen Bewegung griff der Fürst nach einer Schale mit Beeren und schob sich ein paar davon in den Mund, als diskutierten sie über das Wetter und nicht über einen Hinterhalt.

Sunyu nickte. Nachdem er die Kraft des Schwarzpulvers am eigenen Leib erfahren hatte, konnte er sich die Angst davor nur zu gut vorstellen. »Wie steht es um die Streitkräfte der Larhun?«

Bram lachte bitter, während sich Vilgrims Augen noch ein Stückchen weiter verengten. »Das muss dich nicht kümmern. Nicht jetzt«, wiegelte der Fürst ab. An seiner Haltung konnte Sunyu erkennen, dass das Thema für ihn damit beendet war.

»Wenn ich wirklich helfen soll, muss ich wissen, wie viele Männer uns zur Verfügung stehen, welche Ausbildung sie genossen haben, auf welche technische Unterstützung wir zurückgreifen können. Ich brauche …«

»Nichts«, unterbrach Vilgrim ihn eisig. »Du brauchst rein gar nichts. Ich sage dir, was du zu tun hast. Ich sage dir, wie du es zu tun hast. Und ich bestimme, welches Wissen ich dir dafür zur Verfügung stelle.« Er machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: »Du musst dir mein Vertrauen erst erarbeiten, Bastard. Sobald wir aus Kleifar zurückkehren, wirst du dich an die Arbeit machen und Rüstungen nach Eskilds Skizzen anfertigen. Sicherlich kannst du mit seinen Aufzeichnungen etwas anfangen.« Sein schmales Grinsen reichte nicht ganz bis zu den Augen. »Und irgendwann hast du dir mein Vertrauen vielleicht verdient.«

Sunyu schluckte leer. Die Erinnerung an seinen Vater, in dessen Fussstapfen er trat, obwohl er immer genau das Gegenteil hatte tun wollen, liess sein Herz schneller schlagen. Eskild hatte seine Mutter umgebracht und Sunyus Leben in den dürren Arsch der hellen Göttin Seylani verwandelt. Mit Mühe verkniff er sich ein Knurren.

Fast ebenso hart wie der Name seines Vaters traf ihn das offene Misstrauen des Fürsten. Natürlich hatte er sich gefragt, weshalb ihm die Larhun so sehr vertrauten, doch es lag nicht am Vertrauen. Es war allein die Aussicht auf Macht und Einfluss, die den Fürsten antrieb. Um dies zu erreichen, hatte Vilgrim ein Pfand in der Hand, das er niemals aufs Spiel setzen würde: Tindra. Sie war Sunyus Schwachstelle, ihre Sicherheit der einzige Grund, weshalb er hierblieb und sich den Larhun unterjochte. Ihr Leben bedeutete seine Knechtschaft.

Beim Blinzeln liess er die Augen einen Moment zu lange geschlossen. Sein Traum von einem ruhigen Leben in seiner eigenen Schmiede schmolz dahin. Je länger er sich unter der Herrschaft des Fürsten befand, desto mehr würde dieser ihn an sich binden. Es gab keine Aussicht auf Ruhe, auf Abstand. Immer würde Vilgrim einen Grund nennen können, um ihm seinen Willen aufzuzwingen.

Innerlich seufzte Sunyu auf, schaffte es aber gerade noch, es nicht nach aussen zu tragen. Stattdessen streckte er den Rücken durch und begegnete Vilgrims Blick mit derselben Entschlossenheit, die der Fürst an den Tag legte. »Und was wird meine Aufgabe am Hof der Fürstin sein?« Selbst ihn überraschte der unverhohlene Trotz in seiner Stimme.

Das Lächeln auf Vilgrims Gesicht wurde nur scheinbar freundlicher, die Kälte dahinter war noch immer präsent und deutlich zu spüren. »Ich will dich kennenlernen.«

Lächerlich. Bei Seylanis faulendem Zeh, dieser Mann schien ihn in- und auswendig zu kennen. Es war nicht nötig, dass er so lange mit ihm unterwegs war. Sunyus Zeit wäre weit besser investiert, wenn er sich an die Arbeit für die Rüstungen machen könnte: Material organisieren, Legierungen und Temperaturen testen, erste Modelle erstellen. Auch wenn er den Fürsten für das bewunderte, was er erreicht hatte, so empfand er keine Sympathie für ihn.

»Ausserdem kann dich Kirjana unterwegs einige wichtige Dinge lehren.«

Daher also wehte der Wind. Vilgrim wollte, dass er die Taktiken seiner Armee aus erster Hand lernte, so wie schon einmal. Als Sunyu daran zurückdachte, erfasste ihn ein eisiger Schauer und sein Herz schlug einen schnelleren Takt an. Die Augen der Käfer zwischen ihren riesigen Scheren hätte er lieber vergessen, stattdessen lebten sie in seinem Inneren neu auf. Was für eine Scheisse.

»Was machen wir mit den Kvor?«, fragte Sunyu, um sich selbst abzulenken.

Wenn er sich nicht täuschte, versteifte sich der Fürst, während er ihn wütend musterte. »Welche Kvor?«

»Jene, die Kirjana willkommen geheissen haben.« Sunyu streifte die Offizierin mit einem bedeutungsschweren Blick. Hatte sie ihrem Herrn etwa nichts davon gesagt? Bestand eine Fehde zwischen den beiden? »Als du mich mit Kirjana ausgesandt hast, um die Küste in Richtung Norden zu begutachten, entdeckten wir ein Kriegsschiff der Kvor. Sie ankerten in einer Bucht nicht weit von hier. Einhundert Soldaten, vielleicht ein paar mehr, gut ausgebildet und mit hervorragender Rüstung.« Er bildete sich ein, wenigstens darüber ein Urteil abgeben zu können. »Mit ihnen gingen drei gigantische Käfer an Land. Sie waren so gross, dass eine Handvoll Kvor locker auf ihre gepanzerten Rücken passten. Die Viecher sind mit Scheren und einer ekligen Säure bewaffnet. In der Nacht krochen sie aus ihren Verstecken hervor und überfielen uns. Wir waren zehn, aber sie zählten keine fünf Mann Verlust.«

Als Sunyu an die Säure zurückdachte, die seine rechte Gesichtshälfte und den Unterarm so verätzt hatte, dass keine Frau ihn jemals freiwillig mehr ansehen würde, brummte er. Unwillkürlich hob er die Hand an die Wange, die unter der leichten Berührung brannte. Nicht nur, dass er ein Bastard war, er war auch hässlich. Verunstaltet. Es wäre besser gewesen, wenn er in jener Nacht mit den anderen gestorben wäre.

Vilgrims Blick wechselte von ihm zu Kirjana und wieder zurück. »Wieso erzählt mir das niemand?« Seine Stimme zitterte, über der Nase bildete sich eine tiefe Falte, die sich bis in die Mitte der ansonsten glatten Stirn zog.

Sunyu zuckte unbeeindruckt mit den Schultern, während sein Blick die verführerische Kriegerin streifte. Innerlich lachte er sich kaputt. »Ich muss ja nichts wissen, also muss ich auch nichts sagen. Offensichtlich hast du deine Offiziere nicht im Griff.«

Kirjana schüttelte den Kopf. »Ich war bewusstlos.«

Vilgrim setzte sich auf einen Stuhl, schloss die Augen und massierte sich die Stirn. »Wie konnte es nur so weit kommen?«, flüsterte er mehr zu sich als zu jemand Speziellem. »Was hast du dir dabei gedacht?«

»Nichts«, mischte sich Bram ein und grinste breit, trat aber einen grosszügigen Schritt nach hinten, als eine erste Flamme aus Vilgrims Hand nach dessen Haaren griff.

Augenblicklich erfüllte Kälte den Raum, schien alle Wärme zu vertreiben. Obwohl dort gierig eine Flamme züngelte, war sie kälter als der Winter in Steinwacht.

Das Feuer um den Fürsten wurde stetig heller und kälter. Der kleine Larhun erhob sich und ging auf Sunyu zu, seine Augen glühten. Mit jedem Schritt loderten die Flammen höher und der Zorn des Herrschers wurde spürbarer. Kälte streifte Sunyus Wange und überbrachte ein Versprechen von Zerstörung und Pein.

Sein Innerstes zog sich schmerzhaft zusammen. Während Sunyu aus den Augenwinkeln beobachtete, wie Kirjana Brams Beispiel folgte und zurücktrat, blieb er selbst ruhig stehen. Er zwang sich dazu, standhaft zu bleiben. Unbeeindruckt. Angst war sein grösster Gegner und gleichzeitig seine stärkste Waffe. Er musste ihrer Herr werden.

Sunyu hatte gewusst, der Kampf ihrer beider Flammen würde eines Tages kommen, nur hatte er nicht damit gerechnet, dass es so bald geschehen würde. Er schluckte. Sein Herz hämmerte hart in der Brust, viel schneller noch als der Hammer seines Lehrmeisters Juang, wenn dieser Stahl für ein Messer vorbereitete. Dennoch wich Sunyu dem Blick des Fürsten nicht aus. Sein eigenes blutrotes Feuer begehrte auf, wehrte sich. Es wollte gegen die fremden Flammen angehen. Dunkel, verheissungsvoll, zerstörerisch. Es war sich sicher, gegen Vilgrim bestehen zu können, doch Sunyu zweifelte daran.

Bis zu jenem Tag, an dem Tindra und er von den Larhun entführt worden waren, hatte er die Macht in sich unterdrückt. Vilgrim dagegen hatte Jahre seines Lebens damit zugebracht, mit der Flamme zu spielen, und hielt seine Männer und Frauen damit in Schach. Er beherrschte sie.

Die Flamme war der Grund, weshalb keiner einen Angriff auf den Fürsten riskierte. Wer die Flamme in sich trug, wurde gemeuchelt. Sunyu hatte es in den Aufzeichnungen seines Vaters gelesen, einer der letzten Einträge, die dieser geschrieben hatte. Für einen winzigen Moment hatte er sich eingebildet, Eskild war seinetwegen mit seiner Mutter aus Grimsvik geflüchtet. Einen Wimpernschlag lang hatte er geträumt, dass er seinem Vater etwas bedeutete. Weil er das Feuer in sich trug. Weil er eine Gefahr für den Fürsten darstellen könnte.

Unter Aufbietung all seiner Willenskraft hielt Sunyu die lodernde Wut in sich zurück. Die Flammen wehrten sich mit einem wilden, heissen Wirbel, als sie seine Absicht erkannten, und stemmten sich gegen ihn. Doch im Gegensatz zum Fürsten von Grimsvik hatte er sein ganzes Leben nichts anderes getan, als sich gegen den fremden Willen in sich zu wehren, und so fiel es ihm leicht, das blutrote Feuer unter Kontrolle zu halten.

»Du hast es nicht für nötig befunden, mich über die Kvor vor unseren Mauern zu informieren?« Vilgrims Stimme zitterte im Takt seiner Flammen, die bei seinen Worten noch höher stoben.

Sunyu gab sich Mühe, betont locker mit den Schultern zu zucken. »Kirjana wusste davon. Sie ist deine Vertraute, nicht ich. Ich bin noch nicht einmal Teil deiner Streitkräfte.« Ein kaum sichtbares Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Sollte der Fürst ruhig denken, dass ihn seine Spielchen nicht beeindruckten.

Vilgrim senkte die Stimme noch weiter. »Sie war verletzt.«

Ein erster Ausläufer der Flammen peitschte gegen Sunyus Wange und hinterliess winterliche Kälte in Form eines hauchdünnen Schnittes. Einen Moment lang spürte er seine Haut nicht mehr, bis sie prickelnd aus der Betäubung erwachte und brennendem Schmerz wich.

»Sie war verantwortlich, hat aber leichtfertig das Leben ihrer Soldaten aufs Spiel gesetzt.« Sunyus Augen verengten sich bei dem Gedanken daran, wie herablassend sie ihn behandelt und alle Warnungen in den Wind geschlagen hatte. Auch wenn er sich zu beruhigen versuchte, zitterte seine Stimme. Aber besser, seine Stimme zitterte, als dass sein Feuer erschien. Er nahm Vilgrim jede Möglichkeit, etwas zu erwidern. Seine leise Stimme donnerte wie ein drohendes Versprechen durch den Raum. »Wir hatten die perfekte Gelegenheit, die Kvor auszuschalten, doch Kirjana hat sie ignoriert. Die Winzlinge waren in einer Bucht tief unten, die Wände zu steil und steinig, um hinaufzuklettern. Nur ein einziger Pfad führt dort hinauf, doch Kirjana wollte weder angreifen noch Wachen aufstellen.« Sunyu verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Solange deine Offiziere so einen Mist entscheiden, musst du dich nicht wundern, wenn du innerhalb weniger Tage einen Grossteil deiner Armee verlierst!«

Es war reine Spekulation. Sunyu kannte die Grösse von Vilgrims Heer nicht, doch in einer Stadt wie Grimsvik liessen sich nur wenige Soldaten rekrutieren, glaubte er den Aufzeichnungen seines Vaters. In den beiden Kämpfen, in die Sunyu verwickelt gewesen war, waren dreissig Soldaten gestorben. Teuer ausgebildete Männer, die Vilgrim verloren hatte. Allzu viele konnten nicht mehr übrig sein.

Vilgrim hielt inne, ihm stockte der Atem. Zweimal wollte er etwas sagen, unterbrach sich jedoch selbst. An seinen Flammen war die Verunsicherung nur überdeutlich zu erkennen, für einen Augenblick schienen sie sogar kleiner zu werden, doch dann loderte das Feuer erneut auf, eisig und erbarmungslos. Wütend griff es nach Sunyu, leckte an seinem Atem, an der Haut, an den Bewegungen, als würde er in einem Raum ohne Zeit und Richtung schweben. Feuer überall.

Es kostete ihn alle Mühe, seine eigenen Flammen im Zaum zu halten. Immerzu drängten sie an die Oberfläche, wollten die Macht des Fürsten in sich aufnehmen, doch Sunyu zwang sie zu einem Schattendasein in seinem Inneren. Dasselbe Schattendasein, das ihnen von Anbeginn zugeteilt gewesen war. Sobald er es zeigte, würden die eisblauen Flammen die seinen fressen und Sunyu unvorstellbare Qualen bescheren. Ein Fürst in den Reichen der Larhun verfügte ganz sicher über grössere Flammen, über mehr Macht als ein Bastard. Und das blutrote Feuer war das Einzige, das Sunyu noch geblieben war. Er wollte es nicht verlieren, also musste er es schützen, verstecken, wie seine Mutter es ihm verinnerlicht hatte.

Schliesslich nahm der richtungslose Sog um Sunyu herum ab. Langsam fand er aus dem hellen Feuer in den kargen Raum zurück. Vilgrim starrte ihn aus vor Entsetzen aufgerissenen Augen an, Kirjana und Bram standen die Münder offen wie dummen Hühnern.

»Hast du ernsthaft gedacht, deine Spielchen könnten mich beeindrucken?«, fragte Sunyu mit betont ruhiger Stimme. Er hoffte, dass ihm das die Angst des Fürsten einbrachte – oder wenigstens ein Fünkchen Respekt.

Das Spielchen, das der Herrscher zur Perfektion beherrschte, wollte Sunyu auch lernen: das Spiel mit der Angst. Mit der Macht. Mit Manipulationen. Und er wollte sich als guter Lehrling erweisen.

Weite

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Arin

Arin wartete, bis der junge Mann aus Steinwacht zwischen den niedrigen Häusern verschwunden war, ehe er seine eigenen Schritte beschleunigte. Er wollte nicht beobachtet werden, wie Tindra und er bewaffnet aufbrachen. Das würde nur Öl ins Feuer schütten. Zudem bestand die Gefahr, dass ihnen unbeholfene Jugendliche folgten.

Unscheinbar schlängelte sich der Weg zwischen den letzten Hügeln des Mittelgebirges hindurch, um am Fluss Rem entlangzugehen oder in einer Baumgruppe zu verschwinden. Tindra war in ihre eigenen Gedanken versunken, und er holte sie nicht ins Jetzt zurück.

Angespannt warf er einen Blick über die Schulter, kurz bevor sie um einen Hügel bogen und den Überblick über das eben zurückgelegte Stück Weg verloren. Er fühlte sich beobachtet, gar verfolgt, doch er konnte niemanden entdecken. Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen wandte er sich dem vor ihnen liegenden Weg zu, lauschte, wie Kiesel unter seinen Schuhen knirschten, auch wenn nur vereinzelte Steinchen lose waren.

Im Augenwinkel sah er Metall aufblitzen und erstarrte. Sein Kopf schnellte herum, suchte die Umgebung ab. Eine Waffe? Ein Schwert vermutlich. Oder ein Fernglas, um sie zu beobachten.

Tindras Schritte verstummten. Offensichtlich hatte auch sie aus ihrer Traumwelt in die Wirklichkeit zurückgefunden. »Was ist los?«, fragte sie mit ihrer weichen Stimme, die seinen Bauch warm werden liess.

Er zwang sich zu einem Lächeln, als er die mit dürrem Gras bewachsenen Hügel ein letztes Mal musterte. »Alles in Ordnung«, log er. Dabei glaubte er nicht, dass sein Gefühl oder das eben Gesehene Hirngespinste waren.

Es war genauso real wie damals, als er die Nachricht von Königin Thea in den Reichen der Irin entgegengenommen hatte, um sie nach Kvora zu bringen. Der kalte Atem war derselbe, die Bedrohung. Doch er konnte keinen Grund erkennen, weshalb ihnen eine Truppe Larhun auflauern sollte, oder besser, wieso sie nicht gleich angriffen. Tindra und er hätten sich nicht verteidigen können, ihre Schwerter waren zu langsam. Ausserdem beunruhigte ihn die Stille. Kein Vogel pfiff, kein Hase huschte an ihnen vorbei ins nächste Gestrüpp, als würde eine dunkle Bedrohung nur darauf warten, das vorbeiziehende Leben zu vernichten.

Tindra sah ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an, versuchte, sich aus seinem Verhalten einen Reim zu machen. »Worüber machst du dir solche Sorgen?«

Als er überrascht blinzelte, zeigte sich ein schwaches Lächeln auf ihren roten Lippen und das Muttermal auf der Wange wanderte näher zum Auge. Wie gern würde er darüberstreichen, doch er unterliess es. Sie standen kurz davor, Feindesland zu betreten – oder zumindest ein Gebiet, in dem es vor Feinden nur so wimmelte. Da durften sie sich nicht von Kleinigkeiten ablenken lassen.

Er seufzte und beschleunigte seine Schritte. So schnell wie möglich wollte er weg von hier. »Die Ruhe. Es ist zu still. Es ist, als wäre …« Er hielt mitten im Satz inne, als sie aus dem Wald traten und eine Horde Männer erblickten. Noch waren sie so weit entfernt, dass sie sie zwischen den Baumstämmen vermutlich nicht entdeckten, doch sicher konnten sie sich nicht sein. Geistesgegenwärtig packte er Tindra an der Hand und zog sie unter die Bäume zurück.

Er versteckte sich hinter einem breiten Baum. Wenn er sich nicht täuschte, bestand der lose marschierende Haufen hauptsächlich aus Kvor. Ihre niedrigen, aber breiten Körper verschwanden beinahe komplett in dem Staub, den ihre Füsse aus dem Boden klopften. Heiteres Lachen liess die Stimmung erahnen.

»Ein unorganisierter Haufen«, murmelte Arin mehr zu sich selbst, als an Tindra gewandt. »Fünfzig Männer, die meisten Kvor. Eine Handvoll Irin ist auch dabei. Ich bin mir sicher, sie gehören keinem Heer der Länder an, dafür sind sie zu … wild durcheinandergewürfelt.« Er unterdrückte ein Seufzen, um Tindra nicht unnötig zu sorgen.

»Sie kommen von Osten, dort gibt es kein Land mehr, dem sie angehören könnten. Und in Steinwacht gibt es nichts, das sie wollen könnten. Wieso sind sie dann hier?«, flüsterte Tindra, auch wenn es keinen Sinn hatte, leise zu sein. Bei dem Gegröle, das die Männer veranstalteten, hätte sie auch laut lachen können.

Arin verengte die Augen weiter, um weitere Details erkennen zu können. »Ich weiss es nicht. Aber ich möchte ihnen nicht begegnen.« Aus den Augenwinkeln sah er Tindras Nicken. Wenigstens war sie damit einverstanden.

»Werden sie Steinwacht angreifen?«

Mit der Antwort liess er sich einen Moment Zeit. Er kannte die Antwort. Weit und breit lag kein Dorf, das sie plündern konnten, das ihren Hunger stillen konnte. Auch wenn Juang die Gefahr heruntergespielt hatte, bedeutete es dennoch, dass Steinwacht auch bei einem kurzen Aufenthalt von einigen Kriegern ein paar Jahre daran zu beissen hätte. Saatgut würde aufgefressen, die diesjährige Ernte ruiniert. Das traf auch auf ein Dorf zu, welches hauptsächlich von Rubinen aus den Minen lebte.

Schliesslich holte er tief Luft. »Sie sind vermutlich hungrig und wollen eine Nacht in weichen Betten schlafen«, wich er der Frage aus, auch wenn er so angespannt blieb wie bisher.

Auf seiner Wange spürte er Tindras zweifelnden Blick. »Was bedeutet das für Steinwacht? Für meine Familie, Juang und Sunyu?« Ihre Stimme war so misstrauisch, wie er es noch nie an ihn gerichtet erlebt hatte. Ahnte sie, dass er schwindelte?

Langsam drehte er sich zu ihr und wartete, bis ihre Augen nicht mehr grünes Feuer spien, sondern zu einem frühlingshaften Wogen im frischen Laub der Bäume wurden. Er suchte nach den richtigen Worten, wollte ihr klarmachen, dass ihre Anwesenheit in Steinwacht keinen Unterschied machte, wenn diese Männer dort sein würden – ausser für sie selbst. Doch es fiel ihm unheimlich schwer, sie anzulügen. »Sie werden leiden«, sagte er deshalb knapp. »Wenn die Leute nach Juangs Ratschlag handeln, dann werden sie zwei oder drei Jahre hungern und Lebensmittel und Saatgut einkaufen müssen. Wenn sie sich ihnen in den Weg stellen …« Diesen Satz wagte er nicht zu vollenden.

Sie biss sich auf die Unterlippe, um ihre Möglichkeiten abzuschätzen. »Wir müssen ihnen helfen. Wir müssen diese Männer loswerden. Oder in eine andere Richtung schicken.«

Arin schüttelte den Kopf. »Wie denn?«

Übermütig blitzten ihre Augen auf. »Du hast doch eine ganze Armee, die du aus dem Nichts rufen kannst.« Sie zwinkerte ihm zu und streifte kurz das Heft ihres Schwertes. »Und wir erledigen den Rest.«

Überrascht hob er die Augenbrauen. »Wir allein gegen fünfzig Soldaten?«

Sie blinzelte. »Vorhin hast du noch von einem unorganisierten Haufen gesprochen.«

»Was aber nicht heisst, dass sie keine militärische Ausbildung durchlaufen haben.« Er fixierte sie mit seinem Blick. Die Männer waren für einen Wimpernschlag vergessen. »Sie haben vielleicht Bärte anstelle von glatt rasierten Wangen, sie lachen und marschieren nicht in Reih und Glied, aber ein jeder von ihnen ist ein erfahrener Kämpfer, der bis zum letzten Atemzug das Schwert schwingen wird. Das ist keine Vergnügungsreise, das ist ein Angriff.«

»Wir können Steinwacht nicht im Stich lassen!« Ihre Stimme klingelte in seinen Ohren, sodass Arin fürchtete, der Trupp könnte sie hören. Doch ein Blick in die Richtung der fremden Männer liess nicht darauf schliessen.

Arin versuchte, sie an den Schultern zu packen, doch sie wich aus. »Tindra, bitte, sei doch vernünftig. Wir …«

»Meine Familie lebt dort! Juang und Sunyu und …«

Arin schnaubte und warf die Hände in die Luft. »War ja klar, dass du den Bastard wieder ins Spiel bringst. Denkst du etwa den ganzen Tag an ihn? Er hasst dich, Tindra, also vergiss ihn.« Er fuhr sich über den Nacken und versuchte damit, sich zu beruhigen, doch der gewünschte Effekt blieb aus.

Sie funkelte ihn zornig an. Ferner konnte sie ihm nicht sein. »Du bist ja nur eifersüchtig«, murmelte sie.

Um sie nicht anzuschreien, holte er tief Luft. »Und wenn es so wäre?« Obwohl ihre Worte seine Gefühle hochkochen liessen, hörte er sich erstaunlich ruhig an. Schon seit ihrem ersten Treffen faszinierte sie ihn. Dass sie ihm nicht mehr als reservierte Freundschaft entgegenbrachte, schmerzte angesichts der Tatsache, dass sie einen Bekannten aus den Reichen der Larhun befreit hatte. »Dann entscheide du«, schlug er vor, als sie ihn nur mit geweiteten Augen ansah. »Sag du, was wir jetzt tun, und ich werde dir gehorchen. Schliesslich bist du eine Frau.«

Innerhalb eines Wimpernschlags schien die Welt um Tindra herum zusammenzufallen. Sie schluckte, starrte ihn nur an, bis sie den Blick senkte. Es kitzelte ihn in den Fingern, sie weiter zu provozieren, sie aus der Reserve zu locken, doch er wusste, wie kindisch das war.

Als sähe sie die fremden Männer zum ersten Mal, starrte sie sie an. Vermutlich versuchte sie, die Informationen mit dem Anblick in Einklang zu bringen, einen unorganisierten Haufen als ausgebildete Krieger zu sehen. Sie griff nach einem Ast, der nur noch wenige Blätter trug, und krallte die Finger hinein. »Sunyu ist in Steinwacht. Und Juang. Sie werden die Stellung schon halten.« Ihre Stimme hörte sich gespielt zuverlässig an und schmerzte Arin tief in seinem Inneren.

Dennoch war er froh, dass sie einlenkte und eine von Vernunft getragene Entscheidung traf. »Vielleicht sollten wir uns als Kvor tarnen, damit sie nicht gleich Verdacht schöpfen.«

Sie hob eine Augenbraue und sah ihn skeptisch an. »Kvor. Aus Steinwacht. Weisst du eigentlich, wie ungewöhnlich das ist?«

Er zuckte mit den Schultern und ein feines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Froh darum, dass sich ihre Gedanken nicht mehr um den Bastard drehten und er sie nicht noch einmal anlügen musste, wandte er den Blick zu den Männern, die ihren Weg unweigerlich kreuzen würden, wenn sie dem Pfad folgten. Arin verschwieg ihr, dass Sunyu nicht mehr in Steinwacht weilte. Aber das musste sie nicht wissen, es war zu ihrer eigenen Sicherheit. »Lass uns dem Rem folgen und den Männern ausweichen. Der Fluss führt an Birrham vorbei. So können wir uns nicht verlaufen.«

Tindra nickte, zögerte aber, ihm zu folgen, als er sich dichter in den Wald begab, um dann zum Fluss vorzudringen. »Was ist, wenn wir Irin begegnen?«

Er wusste genau, was sie damit meinte. Arin hatte die Nachricht der Irin an die Kvor verloren, hatte ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen. Niemand wusste, was sie mit ihm anstellten, sollten sie erfahren, was genau geschehen war. Er war ein angesehener Offizier mit einer speziellen Aufgabe, deshalb würden sie ihn zumindest am Leben lassen, obwohl er sich ihres Vertrauens als unwürdig erwiesen hatte. Aber um in einer Schlacht zu sterben, war er immer noch gut genug.

Arin versuchte sich an einem Lächeln, das zwar schief, aber ehrlich geriet. »Dann werde ich ihnen alles erklären.« Und hoffen.

Sie holte so tief Luft, dass sich das Ausatmen fast wie ein Seufzen anhörte. Dennoch folgte sie ihm schweigend und bemerkte nicht, wie er die Schatten rief.

Sie gehörten dem Vergessenen Gott, jenem Gott, der für all das stand, was vergessen, was nicht schwarz oder weiss, was nicht hell oder dunkel war. Er setzte sich für jene ein, die den Gesetzen der Göttinnen nicht folgten, denn auch sie sollten zu einem Gott beten können. Abtrünnige, Halunken und Mörder mischten sich unter seine Jünger. Auch wenn es nur noch wenige waren, scharten sie Dunkelheit um ihn, und er konnte auf diese Schatten zugreifen. Im verlassenen Tempel in den Nebelreichen hatte er sie so nahe gespürt wie niemals zuvor. Er war sich sicher, dort wäre er zu allem fähig.

Auch jetzt folgten sie seinem Ruf, als hätten sie nur darauf gewartet. Er konnte sich nicht erinnern, dass es jemals so einfach gewesen war, sie zu locken, die Welt zwischen den Welten zu finden und aus ihnen das zu zaubern, was er die anderen sehen lassen wollte. Zwei Kvor, einer schrumpeliger als der andere, und beide mit Bäuchen, die fast bis zu den Knien reichten.

Es war nur eine Illusion, sie waren nicht wirklich verwandelt, aber jeder glaubte so stark an die beiden Kvor, dass niemand Verdacht schöpfen würde. Kein Einziger rechnete damit, dass das, was er sah, hörte und roch, nicht so war, wie es schien.

Gottesfürchtig

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Tindra

So recht konnte sich Tindra nicht an Arins Anblick gewöhnen, der plötzlich kleiner und dicker war als sie. Er hatte ihr erklärt, wie er es schaffte, Illusionen heraufzubeschwören, doch noch immer war es geheimnisvoll und auch ein wenig angsteinflössend. Sie konnte sich nie sicher sein, was tatsächlich war. Deshalb beruhigte es sie, wenn er seine Fähigkeiten nicht einsetzte, auch wenn sie es genau genommen nur selten mit Bestimmtheit wusste. Vermutlich wollte er im Augenblick einfach nicht entdeckt werden.

Auch wenn Arin es nicht laut ausgesprochen hatte, wusste Tindra, dass es weitere Männer gab, die in Richtung Steinwacht marschierten. Noch war deren Ziel nicht klar, doch den Erzählungen im Dorf nach zu urteilen musste es im Westen liegen. Sie nahmen Dorf um Dorf, Stadt um Stadt ein, ohne viel Blut zu vergiessen. Das Getratsche hörte sich Furcht einflössend an. Wie konnte jemand ein Gebiet erobern, ohne dass es Leben kostete?

Die Schatten des Tages wurden länger und am Horizont zeigte sich die erste bläuliche Sichel, als der Blaue Mond hinter den Hügeln aufging. Ihr Magen knurrte und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. In der Schmiede war ihr Magenknurren das Zeichen für den Feierabend gewesen.

Ein dumpfes Schlagen drang an ihre Ohren, rhythmisch und gleichmässig. Tindra drehte sich um und versuchte, in den Schatten des Abends etwas zu erkennen, doch die Dunkelheit verdichtete sich wie ein gewobenes Tuch. Als auch Arin den Kopf wandte, schluckte sie. »Was war das?«

Er hob kurz die Schultern. »Es hört sich nach einer marschierenden Menge an.«

Tindra sog die Luft scharf zwischen den Zähnen ein, das Blut schien für einen Moment in ihren Adern zu stocken. Sie wusste ganz genau, was das hiess. »Ein Heer.«

Er nickte, während sich seine Lippen zu einem dünnen Strich verzogen. »Genau genommen ist ein Heer die gesamte Streitmacht, die einem Reich zur Verfügung steht.«

»Was wollen sie?« Tindra trat einen Schritt zurück, um nachzusehen, doch Arin hielt sie auf.

»Wir müssen weiter und herausfinden, was es mit den Türmen der Irin auf sich hat. Wenn sie gefallen sind …« Für einen winzigen Augenblick wirkte er verletzlich, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Stets war der Bote selbstsicher und Herr seiner selbst.

»Es würde unsere Ordnung durcheinanderwirbeln«, antwortete sie auf seine unausgesprochene Frage.

Arin nickte finster. »Niemand weiss, was sich hinter den Türmen versteckt. Es gibt einen Grund, wieso man das, was in den Drachenbergen ist, weggeschlossen hat.«

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen blieb Tindra stehen. »Aber … sie sind Steinwacht so nah. Ich kann doch nicht …« Wieder einmal spürte sie den nachdenklichen Blick des Boten auf sich ruhen, wie so oft in den letzten Tagen. »Ich kann sie doch nicht einfach im Stich lassen.« Sie griff nach ihrem Schwert, löste es aus der Scheide.

Arin schüttelte stumm den Kopf. »Wieso hast du nur so ein grosses Herz?«

Als Tindra sein nachsichtiges Lächeln entdeckte, wagte sie selbst ein Schmunzeln. Er stand an ihrer Seite, egal, wie dumm und naiv ihre Entscheidungen ausfielen. »Werden wir sterben?«

Er lächelte. »Im Notfall rufen wir eine ganze Armee.« Er zwinkerte ihr zu, ehe er auf den Hügel stieg, um sich einen Überblick zu verschaffen.

Mit etwas Abstand folgte Tindra ihm. So ganz hatte er sie nicht überzeugt. Erst wollte er um jeden Preis verhindern, dass sie in die Hände der fremden Männer gelangten, nun liess er ohne grosse Widerrede zu, dass sie sich um Angelegenheiten kümmerten, die sie nichts angingen. Vielleicht hatte die Anwesenheit der Irin zwischen den Kvor für ein Umdenken gesorgt, vielleicht eine Vorahnung, dass es nicht nur um Steinwacht und Erendal ging, sondern um ganz Mra’Theel.

Tindra hielt die Luft an. Im Dämmerlicht marschierte eine breite Schlange zwischen den Hügeln den Weg entlang. Sie kamen aus Westen. Steinwacht. Ihre im Gleichschritt auftreffenden Füsse sandten dumpfe Schläge zu ihnen empor. Auch wenn sie in der baldigen Dunkelheit kaum zu sehen sein dürften, fühlte sich Tindra nackt und ausgeliefert. Was, wenn sie trotz der Dämmerung entdeckt würden? Entgegen ihren Befürchtungen drehte sich die Schlange aus Kriegern nach links.

»Kvor«, murmelte Arin. »Vier Hundertschaften. Sie marschieren unter Königin Leilas Banner.« Er hörte sich erleichtert an.

»Sind sie den Männern von heute Nachmittag begegnet?« Im Kopf rechnete Tindra, wie viele Jahre Steinwacht bräuchte, um diese Menge an Saatgut wiederzubekommen, die diese Männer wegfutterten, während Arin in die Knie ging, um das Geschehen zu beobachten. »Was wollen sie hier?«

Der Bote liess sich ungewöhnlich lange Zeit mit der Antwort. Schliesslich seufzte er. »Ich denke schon. Vermutlich haben sie die Gruppe vernichtet. Sieh nur, einer humpelt und ein anderer trägt eine nasse Binde am Oberarm. Ihr letztes Gefecht ist noch nicht allzu lange her. Falls die Gerüchte über Birrham und dessen Eroberung bis nach Hmara gedrungen sind, kann ich mir gut vorstellen, dass Königin Leila Truppen entsendet, um die Kämpfe ausserhalb ihrer Landesgrenzen auszufechten.« Er machte eine Pause, zögerte. »Bisher glaubte ich, die Beziehungen zwischen den Ländern in Mra’Theel zu verstehen. Doch das hier … stellt mich vor ein grosses Rätsel.« Seine Handbewegung schloss die gesamte Umgebung ein. »Ausserdem glaube ich, die Nachricht der Irin an die Kvor gelesen zu haben«, fügte er leise hinzu.

»Die verlorene?«, hakte sie nach.

Er schloss die Augen, als müsste er sich anstrengen, den Inhalt der Nachricht wiederzugeben. »Die Irin würden den Kvor im Kampf gegen die Larhun beistehen. Aber nicht einmal in den höchsten Kreisen der Irin kursiert ein Gerücht über geplante Angriffe auf die Nebelreiche. Dennoch fand ich dieses Schreiben.«

Tindra setzte sich auf den trockenen Boden und beobachtete, wie er die Lippen zu einem dünnen Strich verzog. »Wann hast du die Nachricht denn gelesen?«

Er seufzte. Mit dem Atem schien ihn die gesamte Anspannung zu verlassen. »Als ich mich in Vilgrims Palast schlich. Ich glaubte nicht an deren Echtheit, immerhin überreichte sie mir ein Larhun. Das Siegel war gebrochen. Aber gerade geschieht so viel, das ich nicht beurteilen kann. Die Nebelreiche sollen angegriffen werden, die Drachentürme sind gefallen und jetzt marschieren auch noch Kvor in Erendal ein.« Er schüttelte den Kopf und verlieh seiner Ratlosigkeit damit Ausdruck.

Entschlossen erhob sich Tindra, klopfte sich den Staub vom Hosenboden und streckte Arin die Hand hin. »Dann lass uns herausfinden, was sie planen.«

Nach einem verunsicherten Blinzeln erwiderte er ihr Lächeln und nahm sie bei der Hand, um in die Schatten zu tauchen. Wie ein seidenes Tuch in schwachem Wind bewegten sich die Grenzen zwischen der sichtbaren Welt und der Welt dazwischen, tauchte Farben in helles und dunkles Grau, verschluckte Töne und färbte zu dunkle Stellen heller. Alles wirkte ein wenig, als wäre es hinter einer Scheibe, die sämtliche Extreme schluckte.

Seite an Seite machten sie sich auf den Weg zu den Kvor, die in Reih und Glied marschierten. Die Krieger sahen weder nach rechts noch nach links, doch auch dann hätten sie nichts bemerkt. Sie vertraute Arin und seinen Schatten, sie vor allen Blicken zu schützen.

Kaum marschierten sie neben den vierhundert Männern in Richtung Osten, ergossen sich die Truppen auf die Ebene, die sich hinter der Anhöhe auftat. In Windeseile stampften sie Zelte aus dem Boden, entzündeten Feuer und regelten den Wachdienst. Mit wachsendem Staunen beobachtete Tindra die Ordnung, mit der der Aufbau des Lagers vonstattenging. Eine gut ausgebildete Armee war so viel mehr als nur Krieger.

Arin zog sie mit sich in eine Mulde zwischen zwei Hügeln, in denen einige hüfthohe Büsche wuchsen, und liess die Schatten ziehen. »Warte hier und sieh zu, dass dich niemand findet«, befahl er, ehe er offen auf die Gruppe zuging. Vor ihren Augen verwandelte er sich in den kleinen dicken Kvor, der schon heute Nachmittag neben ihr spaziert war.

Wieder einmal verblüfften sie seine Fähigkeiten, die den Schatten zu verdanken waren, welche er um sich herum stets spürte, es sei denn, er war in den Nebelreichen. Dort hielten sie sich bedeckt, gehorchten ihm nicht wirklich. Jedenfalls hatte er ihr das erzählt.

Sie setzte sich in die vordere Hälfte des Dickichts, sodass sie das Geschehen beobachten konnte, selbst aber nicht gesehen wurde. Viel geschah nicht. Hier einer, der sich von einem Feuer erhob, da ein anderer, der durch die Menge schlenderte und finstere Blicke in die nächtliche Steppe warf. Nach wenigen Momenten drehte er sich um, um zu seinen Kameraden zu gehen und Bericht zu erstatten. So schnell, wie das Gespräch endete, hatte er nicht viel zu erzählen.

Plötzlich entdeckte Tindra unter den vielen Kvor drei hochgewachsene Gestalten, die die kleinen Krieger deutlich überragten und die sie sehr wohl kannte. Die eine war kräftig, trug kurze Haare und hatte Mandelaugen, die Tindra einmal verzaubert hatten und sie nun in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Eine zweite stolzierte wie eine Königin zwischen den anderen beiden. Der dritte wirkte gedrungen gegen das Licht des Feuers, doch an seinem Gang mit den leicht abstehenden Armen erkannte Tindra ihn. Liang, Rinin und Makai, drei junge Erwachsene aus Steinwacht.

Zu ihrer Linken ertönte ein tiefer Ruf aus Dutzenden Kehlen, so männlich und bebend, dass es ihr kalt den Rücken hinunterlief. Ängstlich weitete sie die Augen. Aus der nächtlichen Dunkelheit tauchte ein Kvor nach dem anderen auf, hin und wieder entdeckte sie einen Menschen oder einen Irin. Wenn sich Tindra nicht täuschte, kamen die Männer aus dem Osten, aus derselben Richtung wie die fünfzig Kämpfer, die Arin und sie heute Nachmittag entdeckt hatten. Sie glichen ihnen, doch es waren mehr – viele, viele Männer mehr. An ihren Gürteln trugen sie Schwerter, die Rüstungen waren wild durcheinandergewürfelt. Alte und junge Krieger waren dabei, als hätten sich ganze Dörfer verbündet, um gegen einen unsichtbaren Feind anzukämpfen. Wahrscheinlich hatten sie dasselbe Ziel vor Augen wie die Männer vom Nachmittag.

Zuvorderst stand ein aussergewöhnlich zotteliges Exemplar. Der Kvor blickte finster auf das Lager und hob die Arme seitlich an, als wollte er zum Angriff rufen. Augenblicklich setzten sich seine Kämpfer in Bewegung, rollten als Furcht einflössende Welle heran, um alles unter sich zu begraben. Tindra verstand die Welt nicht mehr. Wieso erhoben die Neuankömmlinge ihre Waffen, obwohl sie noch nicht einmal mit dem Anführer im Lager gesprochen hatten? Noch hatten sie keine Klingen gekreuzt, doch die gezogenen Waffen sprachen ihre eigene Sprache. Die Unruhe in Tindras Bauch verstärkte sich, sodass ihr übel wurde.

Arin war dort! Liang, Rinin und Makai!

Tindra sprang auf und rannte los, so schnell ihre Füsse sie trugen. Sie preschte zwischen zwei lagernden Kvor hindurch, die die Köpfe drehten, sich aber augenblicklich den Fremden zuwandten.

Erst als sie nach ihnen rief, drehten die drei Menschen ihre Köpfe. Einen Moment wirkten sie verwirrt, doch als Liang sie erkannte, breitete sich ein tiefes Grinsen auf seinem Gesicht aus.

»Na, auch hier?«, fragte er spitzbübisch.

Tindra verzichtete auf eine Antwort und wies in Richtung des neuen Angriffs. »Sie kommen!«, rief sie. »Schnell, weg hier. Lauft!« Ihre Stimme überschlug sich. Verzweifelt versuchte sie, Rinin am Arm zu ziehen, um sie aus der Angriffslinie zu befördern, doch die junge Frau schüttelte die Hand ab.

Mit gerümpfter Nase drehte sie sich etwas weg. »Fass mich nicht an, Freiwild!«, zischte sie.

Vor Überraschung blieb Tindra der Mund offen stehen. Sie wollte doch nur helfen. »Aber sieh doch …«

»Sei einfach ruhig.« Demonstrativ wandte sich Rinin Liang zu, um mit ihm weiter zu diskutieren.

Der Einzige, der ihr offensichtlich Gehör schenkte, war Makai. Der Minenarbeiter zog die Augenbrauen zusammen, als er in die angedeutete Richtung blickte, und murmelte: »Sie hat recht. Nichts wie weg hier!«

Die Stimme des zotteligen Kvor dröhnte über den ganzen Platz. »Hört mich an! Die Götter sind erwacht. Sie werden uns Männern beistehen und die Herrschaft der Göttinnen beenden.«

Der Menge entkam ein unsicheres Murmeln. »Götter?«, tuschelten sie und noch viel mehr, das Tindra nicht verstand. Ratlos sahen sich die lagernden Kvor an, die einen mit dem Schwert in der Hand und bereit für einen Kampf, andere sassen noch an einem der Feuer.

Offensichtlich zufrieden mit der Reaktion, trat der rothaarige Mann samt bunt durchmischtem Gefolge aus wenigen Irin, einigen Menschen und Kvor näher. »Hört die Worte des Grauen und des Vergessenen, die in euch die wahren Führer dieser Welt sehen. Keine Frau in Mra’Theel wird euch noch einen Befehl auftragen können, kein Mädchen euch entmannen. Wir werden das erringen, was uns zusteht!«

Die lauten Jubelrufe aus dem Gefolge des Kvor liessen die Augenbrauen der Lagernden in die Höhe schnellen. Wieder unsichere Blicke. Hinter den gerunzelten Stirnen jagte ein Gedanke den nächsten, selbst Tindra malte sich einen Wimpernschlag lang aus, wie Mra’Theel mit Göttern aussehen würde, wie sich die Gesellschaft ändern würde, verwarf den Gedanken aber schnell wieder.

Der Anführer der Neuankömmlinge, von denen Tindra glaubte, dass sie den vier Hundertschaften zahlenmässig überlegen waren, deutete in Richtung der grössten und stabilsten Zelte. »Lasst mich mit eurem Befehlshaber sprechen. Wir werden bestimmt eine einvernehmliche Lösung finden.« Er stemmte die Hände in die Hüften und lachte in die Runde, auch wenn es aufgesetzt wirkte.

Wenige Augenblicke später verlor sein Lachen an Glanz und die Fassade des Mannes bröckelte, als sein Blick an einem Punkt festfror, den Tindra zwischen den Zelten nicht erkennen konnte. Sie reckte den Hals.

Eine Frau in olivgrünem Anzug mit Rangabzeichen und herrischem Gesichtsausdruck trat auf die neue Meute zu. Ihre kalten Augen musterten die Männer unbeeindruckt, ein Mundwinkel zog sich gar nach unten. Nur wenig vor dem rothaarigen, beeindruckenden Kvor kam sie zum Stehen.

»Du!«, spie sie aus.

Der Kvor lachte laut, sein Kopf fiel in den Nacken und der ganze Körper zitterte. Auch wenn Tindra es nicht für möglich gehalten hatte, schallte es noch lauter als seine Stimme über den Platz. »Ja, ich, meine Teuerste.« Mit einer übertrieben freundlichen Verbeugung spielte er ihr Respekt vor, was sie mit einem Schnauben quittierte.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »In mein Zelt. Sofort. Es gibt einiges zu besprechen.«

Der Kvor brummte und folgte der Aufforderung, jedoch nicht, ohne seinen Männern einen bedeutungsschweren Blick zuzuwerfen.

Bedächtige Schritte führten Tindra zwischen den Männern hindurch, der Militärfrau und dem Kvor folgend. Niemand beachtete sie weiter. Staunend beobachtete sie, wie die Männer hin und wieder in leises Lachen ausbrachen. Die Gefahr war ihnen offensichtlich nicht bewusst, oder sie freuten sich darauf, mehr über den Grauen und den Vergessenen zu erfahren. Sie kniff die Augen etwas zusammen. Das war kein Geplänkel, das die Neuankömmlinge da veranstalteten. Sie drohten ihnen.

In der Mitte des Lagers erhoben sich mehrere Zelte aus dem Boden. Sie reichten nicht für alle Soldaten, doch die befehlshabenden Offiziere freuten sich über eine windstille Bettstatt. Durch die Stoffwände drangen Stimmen, einmal lauter, dann wieder leiser. Die Frau und der Kvor hatten sich so schnell zwischen den Stoffbahnen versteckt, dass sie ihnen nicht mehr folgen konnte. Doch sie mussten hier irgendwo sein.

Tindra horchte nicht nur nach einer Frauenstimme, sondern auch nach der eines Mannes, den sie in letzter Zeit sehr zu schätzen gelernt hatte. Sie mochte den unkomplizierten Boten mit den blauen Augen, der immer ein aufmunterndes Wort für sie fand.

»… könnt ihr nicht ernsthaft glauben!«

Arin! Augenblicklich blieb Tindra stehen und sah sich um. Der Bote musste in der Nähe sein, ansonsten hätte sie ihn nicht so deutlich gehört. Vor Erleichterung machte ihr Herz einen Satz, ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.

»Wisst ihr, wofür die Götter stehen?« Der Bote machte eine Pause. »Für die Schlachten, die sie vor Urzeiten angezettelt haben. Für …«

»Sei still«, blaffte der Kvor, den die Frau eben ins Zelt befohlen hatte. Seine Stimme knurrte wie ein grosser Hund, der sprechen konnte. »Seylani und Doana haben lange genug regiert. Die Zeit ist gekommen, die beiden Götter auf ihren angestammten Thron zu setzen.«

Tindra schnappte nach Luft und hielt sich im nächsten Augenblick die Hand vor den Mund. Hoffentlich hatte sie niemand gehört. Wenn sie während des Lauschens entdeckt würde … Sie mochte sich das gar nicht ausdenken. Mit ein paar Schritten war sie am Zelt angelangt, an dessen Seite sie sich auf den trockenen Steppenboden kauerte.

Der Fremde sprach weiter: »Die Zeit der Göttinnen ist vorbei. Jedem rechtschaffenen Mann und jeder ehrlichen Frau ist bewusst, dass wir nur verlieren können, wenn wir die Weisheit und die Kraft des Grauen und des Vergessenen weiter ignorieren. In den Nebelreichen wird dem Grauen gar offen gehuldigt.« Es war mehr eine Frage als eine Feststellung. Dem Boten der Irin traute man offenbar zu, solche Details zu kennen. »Und seht, wie stark sie sind, wie mächtig! Keiner reicht an die Kampffertigkeiten der Larhun heran.«

»Wir gehen gegen alle vor, die den Glauben an Seylani und Doana infrage stellen«, stellte die unterkühlte Frauenstimme klar.

Arin entliess ein tiefes Seufzen aus seiner Kehle. Eine Pause folgte, in der sich Tindra vorstellte, wie er sich den Nacken massierte, vielleicht gar einen Blick zur Zeltdecke warf. »Die Männer aus dem Nebel sind so kampferprobt, weil sie es von Kindesbeinen an trainieren«, entgegnete er ruhig.

Die Frau lachte leise in sich hinein. Es hörte sich rau und kratzig an. Was hatte sie unter all den Soldaten zu suchen? »Nicht mehr lange. Wir machen die Larhun zur Geschichte, ihre Zeit in Mra’Theel ist bald abgelaufen.«

Unwillkürlich lief Tindra ein Schauer den Rücken hinab, die Haare im Nacken stellten sich auf. Auch wenn sie sich nicht gern an die Tage in den Nebelreichen erinnerte, gab es viele Larhun, die sich genauso wie Arin oder sie ein friedliches Leben im Kreis von Freunden und Familie wünschten. Sie waren streitsüchtig, grob und stanken, aber sie lachten auch gern, besassen einen herben Humor und gewisse unter ihnen gar etwas wie ein Ehrgefühl.

»Unmöglich. Es sind zu viele.« Arins Urteil schien keinen der anderen beiden zu erschrecken, jedenfalls lachte die Frau abermals leise.

»Vielleicht sehen wir uns auf dem Schlachtfeld, Bote. Immerhin hat deine Königin Unterstützung zugesagt, obwohl noch keine Antwort ankam. Ein zweiter Bote wurde entsandt.« Eine kurze Pause folgte, ehe die Frau in wissendem Ton weitersprach: »Wenn wir schon beim Thema sind: Wo ist diese Nachricht?«

Tindra hielt die Luft an. Sie wusste, wie sehr Arin damit zu kämpfen hatte, dass er besagte Nachricht verloren hatte. Alles, was er sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte, schien in diesen Tagen um ihn herum zusammenzubrechen.

»Die Larhun haben mich überfallen«, antwortete er leise.

Entschlossen sprang Tindra auf, umrundete das Zelt und trat ein. Sie konnte ihn nicht alleinlassen, nicht jetzt. »Arin, endlich habe ich dich gefunden!«, rief sie übertrieben freundlich und setzte ein strahlendes Lächeln auf.

Ohne auf die Blicke der anderen zu achten, trat sie an seine Seite, bedachte Arin mit einem freundlichen Blick und drehte sich dann zu den drei anderen, die um den aus zwei Kisten provisorisch gebauten Tisch standen.

Die Frau war einen ganzen Kopf kleiner als Tindra, vollbusig und kurvig, vermutlich der Traum eines jeden Kvormannes. Selbst die Uniform schmiegte sich eng an ihre Taille und liess die Hüften bei der kleinsten Bewegung schwingen. Bestimmt gab es unter den Soldaten viele, die sich eine Nacht mit ihr erträumten. Die hellgrauen Augen blitzten auf, als sie Tindras Schwerter erblickten. Sie selbst trug keine Waffe, was die heruntergezogenen Mundwinkel erklärte.

Neben ihr standen zwei Kvormänner. Der eine trug die gleiche Uniform wie die Frau, allerdings mit deutlich weniger Abzeichen, dafür gut bewaffnet. Ein Schwert und zwei Dolche hingen an seinem Gürtel, weitere Stichwaffen vermutete Tindra unter der Kleidung. Sein Haar wuchs noch voll und braun, eine Seltenheit unter den Kvor, die bereits in jungen Jahren nicht nur runzlige Haut, sondern auch schütteres Haar besassen, sodass sie oft älter wirkten, als sie waren.

Der Kvor, den sie schon erlebt hatte, stand im Gegensatz dazu in lockerer Haltung da. Seine buschigen Augenbrauen waren fast komplett weiss, nur stellenweise stach ein hellrotes Haar hervor. Sein Bart stand in alle Richtungen ab, die Haut war sonnengegerbt und ledrig. In seinen Augen stand ein freudiges Funkeln, das ihn sympathisch und offen wirken liess. Nur die Waffen, die jede freie Stelle seines Körpers zierten, flössten Respekt, wenn nicht gar Angst ein.

»Ich bin Tindra. In Steinwacht lernte ich das Schmiedehandwerk, nun habe ich mich Arin angeschlossen.« Sie bot der Frau die Hand an.

Die Kvorfrau drehte den Kopf angewidert weg. »Verzieh dich, du Ungeziefer!«

Nicht zum ersten Mal reagierten Frauen ablehnend auf ihren Status. Nur jene, die etwas verbrochen hatten, wurden von den Göttinnen nicht mehr geschützt, trugen den Funken nicht mehr in sich. Auch wenn sie kein Schwert am Körper trüge, würde jedermann das Glühen in ihr vermissen, dieses Strahlen, das die Frauen auszeichnete.

Tindra reagierte nicht darauf. Es ging um Arin, um seine Sicherheit. Wenn die Kvor zu viel erfuhren, war vielleicht gar sein Leben in Gefahr. Scheinbar unbekümmert wandte sie sich an den Uniformierten, der in derselben Art wie seine Vorgesetzte das Gesicht verzog, die Nase rümpfte und sich noch weiter vom Tisch in der Mitte entfernte.

Der Braungebrannte lachte. Noch ehe Tindra sich zu ihm umdrehte, streckte er ihr die Hand entgegen. »Es ist mir eine Ehre, Tindra.«

Der kräftige Händedruck überraschte sie, dennoch war sie froh, dass sich wenigstens einer offen zeigte, auch wenn sie ihn nicht einzuordnen wusste. Hinter fröhlichen Augen lauerten manchmal dunkle Geheimnisse.

Der Mann verengte die Augen ein wenig, sodass sie erkennen konnte, wie er einzelne Fäden zusammenzufügen versuchte. Vermutlich wusste er mehr, als er zugab, vielleicht gar mehr als die Frau und ihr Uniformierter.

»Bherr«, stellte er sich vor, während er den Blick auffällig über ihren Körper wandern liess. »Wie fühlt es sich an, von den Göttinnen verlassen zu sein?« Ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Lippen, lockte sie, ihm zu vertrauen.

Tindra zuckte mit den Schultern. »Bisher hält Doana immer noch zu mir.«

»Wunschdenken.« Bherr spie das Wort aus, als hätte er aus Versehen eine giftige Pflanze in den Mund genommen.

Ihr Lächeln verbreiterte sich, der Blick wurde dunkel. Tief in ihrem Inneren spürte sie das ruhige Leuchten, das die Dunkle Göttin ihr gab. Sie stand ihr weiterhin bei, um ihre Hand zu führen, wenn es nötig wurde. »Wenn du meinst …« Eine Drohung, so unterschwellig wie das Wirken der Göttinnen, doch genauso durchdringend. Ihre Stimme vibrierte in einem düsteren Unterton.

Bherr sah sie verwirrt, vielleicht gar entsetzt an, räusperte sich und wandte den Blick der unbekannten Frau zu, den diese mit einem kalten Schulterzucken erwiderte und das Kinn etwas in die Höhe reckte. »Dein Gebaren kann mich nicht beeindrucken. Es ist den Göttinnen und deinem Volk nicht würdig. Besinne dich, wem du Gehorsam schuldest.«

Bherr lachte laut auf und offenbarte damit die Freude, die er jeden Tag in seinem Leben verspürte. Der Mann folgte seiner innersten Überzeugung, dem Ruf einer tiefen Sehnsucht in sich, dass er derart zufrieden und losgelöst war. Mit einer Handbewegung wischte er den Einwand der Frau zur Seite. »Die Götter standen schon einmal in den Tempeln, und sie werden es wieder tun.« In den wenigen Worten schwang eine Sicherheit mit, als würde er über den nächsten Sonnenaufgang sprechen, der jeden Morgen die Welt in ein neues Licht tauchte.

Tindra runzelte die Stirn. Schon wieder sprach jemand von den Göttern. Bis sie den Tempel in Le’Lhio betreten hatte, waren ihr männliche Götter gänzlich unbekannt gewesen. Kein Hinweis existierte, dass an der Seite der Göttinnen jemals zwei andere gestanden hatten. Doch dort hatte sie den Grauen gesehen, den gerüsteten Gott, der kämpfte, um zu schützen, und den Vergessenen, dessen Gesicht nicht erkennbar war.

Ein Gänsehaut verursachender Schauder rann ihr über den Rücken. Ihr widerstrebte es, die Götter anzuerkennen, ihre Geschichte zu erforschen, denn damit gab sie zu, dass sie ihre Existenz wenigstens in Betracht zog. Dabei kämpfte Doana an ihrer Seite, nicht der Vergessene und der Graue.

Stünde sie nicht direkt neben Arin und hätte ihn damit blossgestellt, hätte sie in seinem Gesicht nach seinen Empfindungen gesucht. Er war ein Anhänger des Vergessenen, sandte seine Gebete zu einem Gott, den niemand kannte. Was, wenn er für Verderben stand, für den Tod ohne Neuanfang? Oder für etwas, das ganz Mra’Theel in ein einziges Chaos stürzen könnte?

Tindra holte tief Luft und wandte sich an Bherr. »Warum folgt ihr den männlichen Göttern?« Die Worte hinterliessen einen fahlen, leicht bitteren Geschmack auf der Zunge. Nur schon zu denken, dass das alles wahr sein könnte …

Bherr musterte sie erneut. »Sie stehen für jene, die die letzten Jahre vergessen wurden – Männer, die einer ehrlichen Arbeit nachgehen, Frauen, die sich vor jemanden gestellt haben, um ihn zu schützen, und dabei in den Augen der Göttinnen erloschen.«

Sie schluckte und senkte den Blick. Ein Gott, der für sie einstand, der sich vor sie stellte, um sie zu schützen, damit sie ihr Licht nicht verlor.

»Tindra strahlt noch immer«, erwiderte Arin fest. »In jeder ihrer Bewegungen erkenne ich die Liebe der Dunklen Göttin, ihre Sanftmut und das Versprechen auf einen Neuanfang. Sie braucht keinen Gott, der zu ihr steht.« Aufmunternd zwinkerte ihr der Bote zu, als sie mit vor Staunen offenem Mund den Kopf hob, um ihn anzustarren.

Er glaubte, dass Doana noch immer an ihrer Seite stand.

Die unbekannte Frau legte den Kopf leicht schief, die ansonsten glatte Stirn kräuselte sich. »Konntest du wenigstens den Schlüssel verteidigen, wenn schon die Nachricht verloren ging? Mit deiner Erfahrung und der Ausbildung in der Armee der Irin ist es schwer vorstellbar, dass dir so ein Fehler … unterläuft.« Sie wirkte nicht, als würde sie Arin die Aufgabe zutrauen, zu der ihn die Irin berufen hatten.

Schon holte Tindra Luft, um etwas zu entgegnen, doch Arin war schneller. »Keine Sorge, Minna, ich trage einen Schlüssel bei mir.« Unaufgefordert griff er nach der Kette an seinem Hals und brachte den Schlüssel ans spärliche Licht im Zeltinneren, um ihn gleich darauf wieder zu verstecken.

Tindra konzentrierte sich auf die eigene Atmung, um sich das Herzklopfen nicht anmerken zu lassen. Niemand sollte wissen, dass er einen Schlüssel bei sich trug. Es waren mächtige Artefakte, mit deren Hilfe innerhalb kürzester Zeit grosse Distanzen überwunden werden konnten, auch wenn Tore dafür nötig waren. Wenn er deswegen nun angegriffen wurde …

Minna nickte bedächtig. Sie sprach gefährlich langsam, als würde sie jedes Wort auf die Goldwaage legen. »Woher hast du ihn?«

Arin zuckte mit den Schultern, schien die Falle nicht zu wittern. »Wie sollte ich denn an einen Schlüssel gelangen, wenn die Irin mir ihren nicht ausgeliehen hätten?«

Die Befehlshaberin nickte ihrem Untertan zu. Lautlos verschwand er aus dem Zelt, hastete durch die Dunkelheit und entschwand schliesslich dem Lichtschein.

»Und nun zu dir, Bote.« Minna senkte die Stimme, während sie sich auf dem provisorischen Tisch abstützte und Arin eindringlich musterte. »Den Schlüssel der Irin zieren keine Rubine. Er ist mit Zirkonsteinen geschmückt.«

Todesatem

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Arin

Arin schluckte. Er fühlte sich ertappt. Nun durfte er Tindra auf keinen Fall verraten. Wenn jemand hier erfuhr, dass sie den Schlüssel geschmiedet hatte, würde sie zum Ziel der Kvor, nein, von ganz Mra’Theel. »Wenigstens finde ich wieder einen, wenn mir meiner abhandenkommt«, entgegnete er mit einem süffisanten Lächeln. Zu gut wusste er, dass die Kvor seit Jahren nach ihrem Schlüssel suchten, den sie in den verwinkelten Gängen ihrer Berge versteckt hatten und nun nicht mehr fanden.

Minna begegnete ihm mit kühlem Blick. »Königin Leila und ihre Beraterinnen sind auf einen Geheimgang gestossen, nachdem sie die Aufzeichnungen ihrer Vorgängerinnen auf Hinweise durchsuchten. Es dürfte sich demnach nur noch um Tage handeln.« In ihren Augen blitzte so etwas wie Genugtuung auf.

Er mochte die Befehlshaberin der Truppen nicht. Sie war selbstgefällig und stur. Doch nun blieb ihm wohl keine Wahl, und er musste Tindra und sich aus dieser Situation herausbringen. Die Schatten … Er durfte sie nur im äussersten Notfall nutzen, ansonsten wirkte es wie eine Flucht und damit wie ein Geständnis, dass er ein Geheimnis hütete. »Ich gratuliere.«

Sie lächelte unterkühlt. »Wirklich? Oder sollten wir uns darauf einstellen, dass unser Schlüssel nicht mehr dort ist und stattdessen an deinem Hals baumelt?«

Arin blinzelte verwirrt. Wie sollte er …

Durch den Zelteingang traten mehrere bewaffnete Soldaten in Rüstung und unterbrachen seine Gedanken jäh. Sie stürmten auf Arin und Tindra zu und packten die junge Schmiedin an den Oberarmen. Hinter ihnen fiel die Zeltwand in sich zusammen, weitere Kämpfer traten aus der Dunkelheit, rissen die Hände des Boten nach hinten und zerrten ihn zu Boden. Wenige Augenblicke später sass er gefesselt im Staub.

Ein leiser Fluch kam über seine Lippen. Wie hatte er nur so dumm sein können zu glauben, die Kvor wären ihm wohlgesonnen, besonders Minna, die ihn noch nie hatte leiden können? Bisher hatte er sie erst zweimal getroffen, doch das reichte. »Was soll das?«

Die Befehlshaberin beugte sich zu ihm hinunter und wartete, bis er ihr in die Augen sah. Das wütende Funkeln in ihnen schien sie zu erfreuen. »Soweit ich weiss, ist der Schlüssel der Kvor mit Rubinen bestückt«, verkündete sie leise, dennoch hörte sich ihre Stimme hart und unnachgiebig an. Die Königin der Kvor, Leila, hatte in ihr eine fähige Anführerin für die Truppen gefunden, auch wenn sie kein Schwert führte.

Tindra räusperte sich. »Ich habe den Schlüssel gesch…«

»Geschenkt! Sie hat ihn mir geschenkt!«, unterbrach Arin sie rasch und hoffte, dass Minna nicht weiter dachte, als ihre Stupsnase reichte.

Minnas Blick wanderte zu Tindra, die zwar von zwei Männern festgehalten wurde, jedoch noch aufrecht stand. Offensichtlich wurde sie nicht als Gefahr eingestuft. Die kleine Kvorfrau musterte die Schmiedin neugierig, versuchte, das Gehörte zusammenzubringen. »Du lernst das Schmiedehandwerk?«

Tindra schluckte, ihr Blick zuckte für einen winzigen Moment zu ihm. Sie ahnte, dass sie sich mit ihrer unüberlegten Aussage gerade selbst in die Angriffslinie gebracht hatte.

»Glaubst du wirklich, dass Freiwild einen magischen Schlüssel schmieden könnte?« Tindra klang so schrill, zitternd, dass nicht einmal Arin ihr Glauben schenken würde, auch wenn er wollte. »Die Meisterschmiede sind seit Jahrhunderten ausgestorben, das Wissen um die Herstellung der Schlüssel verloren.«

Noch einen Wimpernschlag lang betrachtete Minna die junge Schmiedin, ehe sie sich abwandte. »Bringt sie nach Hmara. Königin Leila soll entscheiden, wie mit ihnen zu verfahren ist.«

Eine fahrige Handbewegung setzte ihre Soldaten in Bewegung. Die Männer zerrten Arin auf die Beine und schleiften ihn aus dem Zelt, hinter Tindra und ihren Bewachern her. Wie schafften sie es nur ständig, in Gefangenschaft zu gelangen? Dabei ruhten die Schatten so nah, umschmeichelten sein Herz, sie zu rufen, um Tindra und sich selbst in Sicherheit zu bringen.

Plötzlich ging einer der Männer bei Tindra in die Knie, fiel auf den Boden und blieb wie vom Schlag getroffen liegen. Zwei weitere folgten. Der jungen Schmiedin entkam ein erschrockenes Keuchen. Sie machte einen Satz nach vorn und hob die Hand an ihren Mund. Die grossen Augen sprachen von Entsetzen und Angst.

Der Griff um Arins Arm lockerte sich, als auch sein Bewacher bewusstlos in sich zusammenfiel. Wie von Geisterhand klappte einer nach dem anderen zusammen, ein Kreis, der von Tindra auszugehen schien.

Entschlossen trat er zu der jungen Schmiedin, griff ihre Hand und liess die lauernden Schatten über sie beide fallen. Augenblicklich verwandelten sich die orangen Feuer in grau flackernde Flecken, die dunklen Hügel erhellten sich, sodass die Konturen sichtbar wurden. Töne und Gerüche wurden von dem zwischen ihnen und der richtigen Welt liegenden Tuch verschlungen.

Mit grossen Augen sah Tindra zu ihm hoch. Ihre Lippen zitterten, als sie ihn fragte: »Was war das?«

Er ging auf einen der zusammengebrochenen Soldaten zu. Dieser atmete nicht mehr. In seinem Hals steckte ein winziger, aus dunklem Holz gefertigter Pfeil.

Tindra folgte seiner Bewegung und starrte das dunkle Geschoss an. Langsam streckte sie die Hand aus, um es zu berühren, doch sie glitt hindurch, als wäre sie ein Geist. »Das Holz von Mernagewächsen«, hauchte sie.

Erstaunt hob Arin den Blick und starrte sie an. »Du kennst dich damit aus?«

Sie nickte, die Augen noch immer auf den Pfeil gerichtet. »Ich hätte in den Dienst der Dunklen Göttin treten können. Das setzt Interesse an Heilpflanzen voraus. Schon als Kind hat mich die Mernabeere fasziniert. Die Beeren sind deshalb so wirkungsvoll, weil sie sämtliches Gift an ihre Ranken abgeben und nur das Gute für sich behalten. Aus den verholzten Teilen lassen sich mit etwas Geschick giftige Blasrohrpfeile herstellen, ohne auch nur Giftmischerkenntnisse zu haben.«

Also waren die Larhun nahe, die Kälte in seinem Nacken hatte er sich nicht eingebildet. Krieger aus den Nebelreichen verfolgten sie. Sunyu musste gute Arbeit in den Reichen der Larhun leisten, wenn die Krieger Tindra nicht nur verfolgten, sondern gar beschützten. Vilgrims Art, das Versprechen einzulösen, erstaunte ihn, und seine Überraschung setzte sich als schwerer Klumpen in seinem Bauch fest.

Tindra sah in die Richtung, in der sich die Larhun verstecken mussten. »Doch warum sind sie hier?«

»Keine Ahnung«, log er und seufzte tief. Er konnte es ihr nicht sagen. Sobald sie erfahren würde, dass sich Sunyu abermals für sie geopfert hatte und sich in Grimsvik befand, würde ihr Gewissen erneut keine Ruhe finden. Zudem plagte ihn die Sache mit den Kvor, die mal in die eine, mal in die andere Richtung marschierten. Die ganzen Zusammenhänge waren ihm noch schleierhaft, doch die Ausmasse, die sich vor ihm ausbreiteten, ragten wie ein unüberwindbares Bergmassiv vor ihnen auf. »Übrigens hat Minna sozusagen gerade bestätigt, dass die Nachricht echt war. Sie meinte, dass Königin Thea den Kvor ihre Unterstützung im Kampf gegen die Larhun zugesagt hat. Sie werden die Nebelreiche angreifen – genau das stand auch in der Nachricht, die Vilgrim mir überreichte.«

Erschrocken über die Enthüllung, schnappte sie nach Luft. Er konnte es ihr nicht verübeln, war es doch etwas, das er selbst bis vor wenigen Augenblicken nicht für möglich gehalten hatte. »Dann greifen Kvora und Vehni die Reiche der Larhun an?«

Mit zusammengepressten Lippen nickte Arin und fuhr sich über den Nacken, während er die Umgebung betrachtete. »Es sieht so aus.« Er musste nach Mahea und Königin Thea Bescheid geben, aber ihn zog es in eine andere Richtung. »Niemand erwähnte die Drachentürme der Irin.«

Tindra legte ihre glatte Stirn in Falten und den Kopf leicht schief. »Konntest du etwas in Erfahrung bringen?«

Wieder griff sich Arin an den Nacken. »Einiges. Aber das Gesamtbild passt noch nicht.« Er seufzte. »Der unorganisierte Haufen, den wir heute gesehen haben, stammt aus Erendals Osten. Minna und ihre Männer haben sie angegriffen, nachdem sie den Befehl von Königin Leila erhalten haben, sämtliche Verleumder der Göttinnen mundtot zu machen. Jedenfalls gehört Bherr ihnen an und behauptet, aus den Drachenbergen zu kommen. Die fünfzig Männer, die wir als Erstes gesehen haben, müssen auch zu ihnen gehört haben, irgendwie. Was dort genau vor sich geht, habe ich nicht erfahren.«

Tindra nickte langsam. »Er hält nicht viel von Seylani und Doana«, brachte sie leise ein, während sie die Umgebung beobachtete.

Nach ihrem Verschwinden war ein Tumult ausgebrochen, der sich noch nicht aufgelöst hatte. Die uniformierten Soldaten suchten jeden Winkel nach den Gefangenen ab, mieden aber den Kreis mit den leblosen Körpern. Die schlechter ausgerüsteten Männer standen noch immer auf der einen Seite des Lagers, auch wenn Tindra den Eindruck nicht loswurde, dass es weniger waren als bei ihrem Auftauchen.

»Sie sprechen von den Göttern.« Eine versteckte Frage, die Tindra viel Überwindung gekostet haben musste, wenn er sie richtig einschätzte.

Um sie zu beruhigen, drückte Arin ihre Hand und zog sie mit sich, weg von den Kvor, den merkwürdigen Gesellen und Minna. »Es gab sie auch. Einst wachten sie an der Seite der Göttinnen über Mra’Theel, doch mit der Zeit schwand ihr Einfluss und sie gerieten in Vergessenheit. Dass sie den Weg in einige Herzen gefunden haben, ist mir nicht neu, dass sie aber ausziehen und Anspruch auf die Tempel erheben, erachte ich als dreist.« Er wollte Tindras Sorgen zum Verschwinden bringen. Sie sehnte sich so sehr danach, dass die beiden Göttinnen ihr Licht wieder erstrahlen liessen, dass er es nicht übers Herz brachte, seine wahre Gesinnung offenzulegen. Er betete zum Vergessenen, zu dem Gott, von dem nichts mehr bekannt war.

Sie holte tief Luft. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und liess das Muttermal auf der Wange hüpfen. »Wenn sie anfragen, werden sich Doana und Seylani gnädig zeigen.«

Überrascht hielt Arin in seinen Gedankengängen inne. Tindra sprach mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass er versucht war zu glauben, sie hätte diese Worte aus dem Mund der Dunklen Göttin selbst gehört, in deren Augen die junge Schmiedin hoch stand. Es war ein erstes Zeichen ihrer Bereitschaft, sich die Vorstellungen der männlichen Götter einmal anzuhören.

»Den Kampf zwischen den beiden Kvorgruppen verstehe ich aber nicht.« Sie warf einen Blick zurück zu den Feuern, die entfernt brannten und die Männer um sich herum versammelten. »Sie scheinen sich nicht wohlgesonnen zu sein.«

»Bherrs Gruppe kommt aus den Drachenbergen. Ihr Ziel ist es, die Männer zu Protesten zu bewegen – so haben sie die Ortschaften östlich von hier bereits eingenommen. Es sind nicht ihre Schwerter, die sie als Waffe gebrauchen, sondern verlockende Worte. Sie verführen mit Vorstellungen, Träumen und Ideen. Deshalb erscheint ihr Feldzug so erfolgreich und friedlich. Sie wollen kein Land erobern, sondern Herzen. Und bisher gelingt es ihnen offenbar. Zudem sind sie zahlreich. Die knapp sechshundert Mann dürften nur ein kleiner Teil dessen sein, was uns noch erwartet.« Arin warf einen Blick zurück und liess die Schatten langsam ziehen, sodass sie in die Welt mit den Farben, den Geräuschen und Gerüchen eintraten. »Falls sie Erfolg haben, wirbelt es unsere Gesellschaft durcheinander. Die Göttinnen stehen in den Tempeln und die Frauen an der Spitze der Länder, damit kein verheerender Krieg ausbricht und Ruhe und Frieden gewahrt werden. Männer haben es nicht so mit Frieden.« Ein schräges Grinsen huschte über seine Lippen.

Tindra nickte nachdenklich. »Und Leila will das verhindern? Sie möchte weiterhin die beiden Göttinnen allein in den Tempeln wissen?«

Arin seufzte. Von all den wirren Gedankengängen brummte sein Schädel. »Nicht nur sie. Königin Leila ist eine Verfechterin des Glaubens an die Göttinnen, immerhin beruht das ganze Gesellschaftssystem und damit ihre Macht darauf. Sie duldet niemanden an ihrer Seite. Selbst Vorschläge ihrer Freundinnen und Beraterinnen finden selten Gehör. Ihr wurde schon lange geraten, neue Wirtschaftszweige zu fördern, gar neue Vorkommen ihres so wichtigen Metalls Vihtan zu erkunden. Doch in diese Richtung tut sich nichts, obwohl ihre Vorgängerin genau das in die Wege leitete.«

Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Seit einiger Zeit wird Vihtan nicht mehr in der ursprünglichen Qualität geliefert. Juang hat sich beschwert, dass das Metall mit Stahl eingeschmolzen wurde. Das Schwert, das er damit geschmiedet hatte, konnte er nicht an den Kunden verkaufen, auch wenn es eine gute Waffe war.« Sie zuckte mit den Schultern. »Dabei ist Vihtan Kvoras wichtigste Einnahmequelle. Ihre ganze Wirtschaft basiert darauf.«

»So knapp ist es nun doch nicht«, widersprach Arin mit einem leichten Schmunzeln.

Tindras Blick liess ihn augenblicklich verstummen, dabei hatte er die Vorzüge der Hügel und Berge, der Seeregionen von Kvora hervorheben wollen.

»Sie verkriechen sich in den Felsen, ihr Wissen um Landwirtschaft beschränkt sich auf wenige Grundlagen. Sie sind knapp in der Lage, ein Feld mit einfachen Getreidesorten zu bestellen, Hühner zu halten oder Schafen Milch abzuringen. In Steinwacht gibt es einen Spruch, der es ziemlich genau trifft: ›Die Kvor tauschen ihr Metall gegen Essen. Wir verschönern es mit ein paar Klunkern, um es dann teuer an ihre Königin zu verkaufen.‹ Die Rede ist hier nicht nur von Juang und seiner Schmiedekunst, sondern auch von meinem Vater, der weit und breit das beste Bier braut. Die verstreuten Bauern, die ihr Getreide trotz des aufwendigen Transports über das Mittelgebirge gewinnbringend verkaufen. Die Höfe entlang der Grenze zu Kvora ringen dem Boden jeden Grashalm ab, kaufen gar Futter, um ihr Vieh zu ernähren. Es sind zu viele Mäuler zu stopfen. Niemand, der sich auch nur ein bisschen selbst versorgen kann, kauft Lebensmittel so teuer ein, wie die Kvor es tun.«

Überrascht über das Wissen der jungen Frau sah er sie einen Moment nur an, um dann mit den Augen dem Weg durch die Steppe zu folgen. Dass die Kvor keine Ahnung von Landwirtschaft hatten, überraschte ihn, genoss er doch am Hof der Königin und bei seinen Freunden in Nebelwehr stets sowohl lokale Leckereien als auch exotische Spezialitäten. Das Bild, das Tindra von Kvora und seinen Bewohnern malte, widersprach dem.

»Deshalb brauchen sie zwingend Vihtan, damit sie ihre Nahrungsmittel noch bezahlen können«, fasste sie ihre Ausführungen zusammen. Unerwartet packte sie ihn am Arm. »Wir müssen zurück!«

Arin legte den Kopf schief. Sie konnten nicht zurück, sie mussten endlich zu den Drachentürmen. Sein Bauch sagte ihm, dass sie ein Geheimnis bargen, das es zu lüften galt.

Ihr Blick huschte in die Richtung, in der das Lager der Kvor lag. Sie hatten sich schon so weit entfernt, dass sich nicht einmal mehr die Feuer gegen das Dunkel der Nacht herausschälten. »Junge Leute aus Steinwacht sind bei den Kvor. Wenn sie zwischen die Fronten gelangen …«

Er rollte mit den Augen. »Haben wir das mit dem grossen Herzen nicht schon mal besprochen?« Auch wenn es ihm als frecher Spruch über die Lippen kam, so war die Spitze hinter den Worten nicht zu überhören.

Tindra wandte ihm den Blick zu. »Ich bin ich, das kannst du nicht ändern.« Trotzig reckte sie das Kinn, gerade so weit, dass es ihn in seine Schranken wies.

Ein sehnsuchterfülltes Summen erfasste sein Herz, als er die blonde Schmiedin mit dem dicken Zopf betrachtete, wie sie ihren eigenen Weg suchte. Am liebsten hätte er ihre Wange gestreichelt, sie in ein Heim geführt und in Sicherheit gewusst. Doch das liess sie vermutlich ebenso wenig zu, wie sie sich weigerte, Freunde im Stich zu lassen.

Er seufzte. »Bekannte

Als sie gemeinsam in die Reiche des Nebels aufgebrochen waren, um Sunyu und die Nachricht aus den Klauen der Larhun zu befreien, hatte sie ihn als Bekannten bezeichnet. Doch der Schmied liess Arin nicht in Ruhe schlafen, er war Tindra zu nah, wie er alles für sie opferte.

»Ja.«

»Bin ich auch nur ein Bekannter?« Die Frage schoss einfach aus ihm heraus, ohne dass er sie stellen wollte. Erschrocken über die Bitterkeit in seiner Stimme schluckte er. So kannte er sich gar nicht, aber die Erinnerung an ihre Blicke, die sie Sunyu zuwarf, das selige Lächeln, wenn er ein einziges Mal in angemessenem Ton mit ihm sprach, liessen die Galle in ihm brodeln.

Verwirrt sah Tindra ihn an. »Du bist ein Freund.«

Quelle

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Tindra

Tindra verstand nicht, was gerade in Arin gefahren war. Seit ihrem Aufbruch aus Steinwacht verhielt er sich … anders. »Wärst du nicht mein Freund, hätte ich mich dir nicht angeschlossen.« Sie zuckte mit den Schultern. Wenn er ihr nicht glaubte, war das sein Problem. Wieder sah sie nach Westen. Was, wenn Rinin, Liang und Makai in die Fänge der Kvor gerieten – in welche auch immer? »Wenn ich nicht wenigstens versuche, ihnen zu helfen, habe ich keinen Respekt mehr vor mir selbst.« Sie drehte sich zu Arin um und blickte ihm tief in die Augen. Die folgenden Worte fielen ihr schwer, bedeuteten sie doch, dass sie in der Gesellschaft in Mra’Theel kein Ansehen mehr genoss. »Wenn ich mich selbst nicht mehr respektiere, tut es niemand mehr. Falls du nicht mitkommen willst, dann ist das hier unser Lebewohl.«

Sie schaffte es kaum, seinem durchdringenden Blick aus den dunkelblauen Augen standzuhalten. Es fühlte sich an, als würde er tief in ihre Seele blicken und all ihre Wunden entdecken – und davon gab es viele. Zitternd holte sie Luft. Sie fürchtete, er würde ihr den Rücken zudrehen.

»Wenn sie uns entdecken, werden sie uns in den Kerker werfen. Es ist gefährlich, Tindra.«

In seinen Augen stand neben Sorge auch die Angst, dass er alles verlor. Nun bestand noch die Chance, dass ihm Königin Thea verzeihen würde, doch sollte er vom Gericht der Kvor schuldig gesprochen werden, ihren Schlüssel entwendet oder das Land hintergangen zu haben, dann konnte sie ihm vermutlich nicht einfach so aus dem Kerker helfen.

»Bitte geh nicht.«

In ihr kämpfte das schlechte Gewissen gegen den Wunsch, nicht allein unterwegs zu sein. So viele Jahre hatte sie sich einsam gefühlt. Mit Arin hatte sie einen Mann an ihrer Seite, der sie nicht wie ein heisses Stück Metall fallen liess. Das hatte er oft genug bewiesen.

»Unser Vorhaben ist mit jeder Person, die wir aufgabeln, gefährlicher. Wir kennen sie nicht, wissen nicht, wie sie in heiklen Situationen reagieren. Wenn jemand Fremdes dabei ist, werde ich die Schatten nicht rufen und nur im absoluten Notfall eine Illusion erzeugen.« Er griff nach ihrer Hand, fuhr den Arm hoch, um sie sanft an der Schulter zu halten. Ein leichter Zug folgte, hin zu ihm und weg von ihrem schlechten Gewissen.

Erschöpft liess sie sich gegen seine Brust fallen, gönnte sich einen Moment der Ruhe. Arin drückte sie zärtlich. Sein Herz pochte laut und schnell in der Brust, sie hörte den Puls schlagen. Ein Lächeln zauberte sich auf ihre Lippen.

Er räusperte sich. »Du bist kein schlechter Mensch, wenn du auf dich selbst achtest, für deine eigene Sicherheit einstehst. Sie sind alt genug und haben sich selbst dazu entschlossen, auszuziehen und die Gefahr zu bannen, auch wenn sie nicht den Hauch einer Chance haben.«

Tindra nickte. Sie wusste, dass es nicht ihre Schuld war. »Sunyu landete meinetwegen in den Nebelreichen«, flüsterte sie. »Aber sie haben sich selbst dazu entschlossen.« Mit einem tiefen Seufzen stiess sie sich von Arin weg, füllte ihre Lunge mit Luft und fasste einen schweren Entschluss: »Dann lass uns aufbrechen.«

Der Weg schlängelte sich durch die abflachenden Hügel. Immer mehr glich die Landschaft dem Bild, das Tindra noch von Birrham her kannte: flach und weit und trocken. Mit jedem neuen Sonnenstrahl wurde es deutlicher.

Eine Handvoll den Göttern huldigende Gruppen aus wenigen Männern folgte dem Weg nach Westen. Die ausgelassene Stimmung liess sie laut schäkern und warnten Arin und Tindra, sodass sie sich rechtzeitig in den Schatten versteckten.

Neben Kvor marschierten auch vereinzelt Menschen und Irin. Als Arin diese entdeckte, kräuselte sich seine ansonsten glatte Stirn, während er ihnen mit den Blicken folgte.

Es musste gegen Mittag sein, als sie eine Baumgruppe erreichten, die beinahe als kleiner Wald bezeichnet werden konnte. Ein Gluckern erweckte Tindras Aufmerksamkeit, sodass sie wie magisch angezogen auf das Geräusch voller Versprechen zuhielt.

Hinter zwei Büschen entdeckte sie eine Quelle. Vor Freude hätte sie am liebsten losgeheult, denn die letzten Tage mit schalem Wasser und trockenem Sand hatten ihr zugesetzt. Dass sie sich kurz waschen konnte, vielleicht gar ein kühles Bad nehmen, sorgte für einen wohligen Schauer an ihrem Rücken.

Während sie staunend das Wasser beobachtete, wie es hin und wieder einen Sonnenstrahl reflektierte, trat Arin an sie heran. Selbst ihm entwich ein erleichtertes Seufzen.

»Können wir hierbleiben?« Hoffnungsvoll sah sie zu ihrem Reisegefährten hoch, las in seinem Gesicht den Wunsch zu rasten, aber auch die Sorge um das Gelingen ihres Unterfangens. »Die Drachentürme sind nicht mehr weit«, versprach Tindra.

Überrascht hob der Bote den Blick. »Bist du dir sicher?«

Sie nickte. »Bevor wir nach Steinwacht zogen, lebten wir ein paar Jahre in der Nähe von Birrham. Nach dem ersten Tagesmarsch verbrachten wir die Nacht hier.« Sie zwinkerte ihm zu, darauf hoffend, dass er sich zu einer Pause durchringen konnte.

Arin kniff die Augen zusammen und blickte nach Osten. An einem guten Tag konnte man vielleicht sogar Birrham sehen, oder den Staub, den die Reisenden rund um die Stadt aufwirbelten. »Wenn wir weitergehen, erreichen wir die Stadt morgen Mittag.«

Sie drehte sich zu ihm um und glaubte, sich verhört zu haben. »Wenn wir hier bis morgen rasten, erreichen wir Birrham erholt. Jedenfalls erholter, als wir es sein werden, wenn wir jetzt weitermarschieren.«

Er wandte ihr den Blick zu, die Augen noch immer verengt, sodass sie nichts als die dunkle Farbe erkennen konnte. »Du machst mir keinen erschöpften Eindruck.«

Tindra klappte der Mund beinahe auf, sie konnte es erst im letzten Augenblick verhindern. Ein feines Lächeln huschte über ihre Lippen. »Eine Illusion?« Sie zwinkerte ihm zu, um die Spitze aus ihren Worten zu nehmen, und trat an die Quelle. Gebückt hielt sie die Hand ins Wasser. Kühles, klares Nass umspülte ihre Finger, spielte mit ihnen. Fast schon zärtlich floss das Wasser in ihre hohle Hand und sammelte sich dort, sodass sie kleine Schlucke trinken konnte. Unglaublich, welchen Unterschied der erdige Geschmack des Wassers zu jenem in ihren Schläuchen machte. Tindra lächelte verklärt.

Arin beobachtete sie und seufzte, ehe er seinen Packen vom Rücken gleiten liess und sich neben sie setzte. Ein Seufzen entwich seinen Lippen, als er die Augen schloss und sich gegen das dicke Bündel lehnte. Er wirkte erschöpft, antriebslos. So hatte sie ihn noch nie erlebt und es wirkte befremdlich. Vielleicht blieb sie einen Moment zu lange an seinem Gesicht mit den feinen Zügen hängen, vielleicht sah sie ihn zu eindringlich an, aber sie wandte den Blick rasch ab. Hitze sammelte sich in ihren Wangen.

Wenn sie ihm erlaubte, um sie zu werben, würde er es tun. Oft genug hatte er es angetönt. Wahrscheinlich war es mehr, als sie erwarten konnte. Freiwild wie sie hatte keine Rechte, bis auf jenes, sich selbst zu verteidigen. Ein Leben in einem geruhsamen Heim gehörte nicht dazu, sosehr sie sich das auch wünschte. Er bot ihr diese Gelegenheit. Arin würde sie aufnehmen und trotz allem achten.

Sie zog an einem am oberen Ende vertrockneten Grashalm und riss ihn ab. Trotz allem …

Kopfschüttelnd senkte sie den Blick. Das Feuer fehlte, das Verlangen. Sie hatte sich stets vorgestellt, wie ein Kribbeln von ihrem Körper Besitz ergriff, wie eine Explosion nach der anderen ihren Bauch in Aufruhr versetzte. Etwas, das sie nährte, sie wärmte und ihr über schwierige Zeiten hinweghalf. Aber in ihrer Situation sollte sie nicht wählerisch sein. Niemand sonst würde sie jemals wollen.

Ein unterdrückter Fluch aus fremder Kehle riss Tindra aus ihren Gedanken. Sofort war sie hellwach, die Hand lag am Heft. Ein Rascheln folgte und verstärkte sich.

Lautlos beugte sie sich zu Arin hinüber und tippte ihn an der Schulter an. Er öffnete die Augen, sah sich um, nahm ihre Hand und wie ein Tuch aus feinster Seide legten sich die Schatten über sie.

Etwas erleichtert atmete Tindra aus. Auch wenn sie wusste, dass niemand ausserhalb der Schatten sie hören konnte, vermied sie es, auch nur einen Ton von sich zu geben.

Der Bote an ihrer Seite wirkte wesentlich entspannter. »Ist uns jemand gefolgt?«

Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, nur um dann das Gebüsch erneut zu beobachten, das grau und unscheinbar vor ihnen lag. »Nein.« Es war nicht natürlich, dass die Neuankömmlinge sie nicht hören konnten. Zu sprechen löste in ihrer Magengrube ein unruhiges Grummeln aus.

Arin nickte langsam. »Wir müssen uns in Acht nehmen.«

Das Tuch flackerte, verdunkelte sich einen Augenblick gar. Überrascht sah Tindra auf die Grenze zwischen der Welt in den Schatten und der farbigen Welt. Das Gewebe wirkte dichter und fester.

Arins leises Stöhnen liess sie herumwirbeln. Seine Stirn lag in feinen Falten und er starrte die Grenze an, die sie immer tiefer in die Dunkelheit zu ziehen versuchte. »Merkwürdig …«, murmelte er, ohne ihr seine Gedanken mitzuteilen.

Tindra zog die Augenbrauen zusammen, ihr Herz klopfte ein wenig schneller. »Was ist los?«

Er schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln, eines, das sie ganz und gar nicht überzeugte. »Die Schatten folgen williger als für gewöhnlich. Sie zu rufen ist … einfach.« Er winkte mit der Hand ab. »Vermutlich liegt es daran, dass sie sich in den Reichen der Larhun derart sträubten.«

Sie wandte sich von dem Boten ab, darauf hoffend, dass er Recht behalten würde.

Der Busch vor ihnen bewegte sich und vier Gestalten traten ins Licht der Sonne. Die Farben konnte sie nicht sehen, aber die Personen erkannte Tindra. »Liang, Rinin und Makai!«

Marionette

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Sunyu

Schon seit Tagesanbruch ritten sie durch die nebelverhangenen Wälder der Nebelreiche. Zwischendurch assen sie auf einer Lichtung zu Mittag oder rasteten an einem Bach, um den Pferden eine Pause zu gönnen. Bald würden sie sich für die Nacht bereit machen. Sunyu staunte über die fünf Halbwüchsigen, die Vilgrim zum Auf- und Abbau der Zelte hatte. Vermutlich verdiente er doch mehr an den Zöllen auf die Tar-Seide, als er stets weismachen wollte.

Sunyu wusste inzwischen genau, wo der Name Schattenreiche herrührte und dass er kein Überbleibsel einer einstigen Unterdrückung war. Stattdessen standen die Reiche der Larhun für Angst und Schrecken, für den langsamen Tod. Die Schatten lauerten überall. Nicht nur die Bewohner, auch die Landschaft an sich war erschreckend düster.

Sunyu erinnerte sich an die Kinder in Steinwacht, die mit grossen Augen Schauergeschichten über die Larhun erzählt hatten. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als sein Pferd zu einem Bach hinabtänzelte, kurz vor dem Wasser scheute, dann aber mit zwei wilden Sätzen ans andere Ufer hetzte.

Die Larhun waren nicht so Furcht einflössend, wie stets behauptet wurde. Sunyus Angst jedenfalls schwand von Tag zu Tag. Hatte er Vilgrim am Anfang noch schwer einzuschätzen vermocht, so konnte er ihm nun gelassener entgegentreten. Zwar achtete er auf jedes einzelne Wort, um vom Meister der Manipulation zu lernen, doch er legte sie nicht mehr auf die Goldwaage.

Nur seine eigenen Flammen verstand Sunyu nicht. Hier loderten sie so viel wütender als in Steinwacht. Am liebsten würden sie alles und jeden niederbrennen, ganz besonders den Fürsten, der es gewagt hatte, sein Feuer herauszufordern.

Die dunkelroten Flammen lechzten nach Blut, um noch heller in dessen Farbe zu strahlen. Vielleicht lag es daran, dass sie ihrer Herkunft, den Nebelreichen, näher waren. Vielleicht war auch sein Feuer schuld, dass seine Eltern nicht in den Nebelreichen geblieben waren.

Vilgrim war der Einzige, den er kannte, der die Flammen ebenfalls in sich trug. Sie schillerten nur in einer anderen Farbe. Wenn er Vilgrim nach dem Feuer fragte, würde er ganz bestimmt hellhörig und ihn aushorchen. Warum auch immer, Sunyu wollte auf jeden Fall verhindern, dass der Fürst die Wahrheit erfuhr. Bisher hatte sein eigenes Feuer Stärke bewiesen, doch irgendwann würde es unter dem Druck der eisblauen Flammen zusammenbrechen und ersticken. Dabei war es ein Teil von Sunyu und Sunyu ein Teil von ihm. Er wollte es bei sich behalten.

Er versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, und sah sich im moosig grünen Wald um. Als er sich unter einer behangenen Liane duckte, fiel sein Blick auf Kirjana, die vor ihm ritt. Vilgrim hatte ihr befohlen, Sunyu im Auge zu behalten und ihm die Armee des Fürsten näher zu bringen. Als sich der Weg weitete, liess sie sich nach hinten fallen.

»Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt«, begann sie ein Gespräch.

Ihre Stimme allein brachte ihn beinahe aus der Fassung, doch das weiche Lächeln auf ihren Lippen tat sein Übriges, um ihn nervös wegsehen zu lassen. In ihr schwang so viel Verlangen und Wonne mit, dass er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

»Nicht nötig.« Sein Brummen war unfreundlicher, als er es beabsichtigte, aber ihm war es nur recht. Jedes Mittel war gut genug, solange es die subtile Gefahr bannte, die von Kirjana ausging. Sunyu hörte ihr warmes Lachen. Erst seit er aus Steinwacht zurückgekehrt war, schien sie ihn als vollwertiges Mitglied der Armee anzusehen.

»Hat sich Tindra gefreut, wieder in Steinwacht zu sein?«

Die plötzliche Erinnerung an die blonde Schmiedin löste in ihm einen dumpfen, aber tiefen Schmerz aus. Beim Dorffest hatte sie regelrecht gestrahlt, noch nie hatte er ihre frühlingsgrünen Augen so leuchten sehen. Wie goldene Seide war ihr Haar über die Schultern gefallen und hatte zu einer Berührung, und sei sie noch so flüchtig, eingeladen.

Um sich selbst abzulenken, knurrte er in sich hinein. »Ich denke schon.« In Wahrheit wusste er es nicht, aber er vermutete es.

Kirjana lachte abermals. Staunend wandte er ihr den Blick zu und starrte sie mit offenem Mund an. Es war, als würde die Sonne einen einsamen, kräftigen Strahl in den düsteren Wald entsenden und alle Schatten vertreiben.

»Du scheinst nicht zufrieden.« Kirjana zwinkerte ihm so schnell zu, dass er glaubte, falsch gesehen zu haben.

Er blinzelte verwirrt. Noch einmal hörte er Kirjanas sonniges Lachen, dann biss sie sich auf die Unterlippe. Sein Blick blieb daran hängen, er beobachtete, wie sich die zarte Haut von Weiss zu kräftigem Rosa färbte, als sie den Biss lockerte.

»Bist du nicht zufrieden?«, wiederholte sie ihre versteckte Frage nun deutlicher. Als hätte sich durch ihr Lachen die Sonne in ihrem Gesicht festgesetzt, strahlte auch sie diese besondere Wärme aus. Verführerisch, wie ein Versprechen nach Heimkehr und Zärtlichkeit.

In seinem Bauch und im Schritt brannte es so heftig, dass er die Augen auf den Weg vor ihm richtete. »Ich bin zufrieden.« Auch wenn er sich nicht so anhörte, konnte er zufrieden sein. Einem Bastard wie ihm war es selten erlaubt, überhaupt ein Handwerk zu erlernen. Juang hatte für ihn eine Ausnahme gemacht. Nun besass Sunyu ein eigenes Haus mit einer Schmiede nebenan und lernte in Vilgrims Armee, eine Truppe zu führen. Besser waren seine Zukunftsaussichten nie gewesen. Eigentlich konnte er sich glücklich schätzen – eigentlich.

»Schade.«

Überrascht wandte er Kirjana den Blick wieder zu, obwohl er genau das hatte verhindern wollen. Nicht einmal Tindra lachte so viel wie die Offizierin in diesem Moment. Dabei hatte er Kirjana ganz anders eingeschätzt: kalt und hart, ähnlich wie Vilgrim. Wenn sie dem Fürsten diente, musste sie ihm in ihren Ansichten und dem Charakter ähnlich sein, so hatte er gedacht.

Sie legte den Kopf schief, warf einen Kontrollblick nach vorn, wo die Soldaten Vilgrim und seine Helfer umgaben, und lehnte sich verschwörerisch zu ihm hinüber. »Ich hätte dich gern aufgemuntert.« Dabei legte sie ihre Hand auf seinen Oberschenkel.

Ein Blitz zuckte durch Sunyus Körper. Erfolglos versuchte er, sich auf den Weg zu konzentrieren, während er sich einredete, dass es nur ein Spiel war. Er war ein Objekt der Begierde, ein neues Spielzeug, das sie ausprobieren konnte und seinen Reiz noch nicht verloren hatte. Trotz aller Vorsicht spürte er, wie seine Hose unter dem Waffenrock spannte. Er sollte den Fürsten um eine Abkühlung durch die blauen Flammen bitten.

Sunyu konnte das Aufschlagen des Nachtlagers kaum erwarten. Dann würde die Offizierin beschäftigt sein und ihn in Ruhe lassen. An ihr konnte er sich nur die Finger verbrennen – oder sie sich die ihren an ihm.

Neben dem Weg öffnete sich eine Lichtung, in deren Mitte russbedeckte Steine vom letzten Lagerfeuer einen Kreis bildeten. Offenbar nutzten die Larhun diesen Weg öfter, als der Pfad den Anschein machte.

Die jungen Helfer stellten innerhalb kürzester Zeit ein Lager aus fünf Zelten auf die Beine, entfachten ein Feuer und kochten in einem grossen Kessel eine Fleischbrühe mit Getreidekörnern, während sie Wurzelgemüse als Ganzes in die Glut warfen. Nach dem Versorgen der Pferde setzten sich die Soldaten nach und nach ans Feuer, blickten stumm in die Glut oder gönnten sich ein vorabendliches Nickerchen.

Staunend starrte Sunyu durch die spätherbstlich kahlen Äste in den Himmel. Es war schon dunkel, obwohl sein Magen ihm sagte, dass die Zeit für die Dämmerung noch nicht gekommen war. Es war also kein Gerücht, dass im Süden die Sonne andere Tageszeiten kannte als im Norden. Verwirrt schüttelte er den Kopf und fing dabei den Blick eines belustigten Soldaten ein. Während Sunyu den Sattel vom Rücken seines Pferdes hievte, zwinkerte ihm der junge Mann zu.

»Ein netter Ritt heute, was?« Seine Augen lächelten, die Stimme hörte sich erstaunlich weich an.

Konnte es wirklich sein, dass der Junge seinen Stimmbruch noch nicht hinter sich hatte? Oder hatten ihn die Göttinnen mit dieser Stimme gestraft? Sunyu konnte sich kein Vergehen vorstellen, das so etwas rechtfertigte.

»Ich habe Hunger.« Sunyu strich seinem Wallach ein letztes Mal über die Kuppe, dann wandte er dem jungen Soldaten den Rücken zu und stapfte missmutig zum Feuer.

Er wusste selbst nicht, weshalb er so schlecht gelaunt war. Womöglich hatte Liang doch recht gehabt und er brauchte einfach eine Frau, die seine Anspannung löste. Sein bester Kumpel hatte stets behauptet, dass das die wirkungsvollste Medizin gegen schlechte Laune war. Aber Sunyu hatte nie das Bedürfnis danach verspürt, jedenfalls nicht in dem Ausmass, wie es bei Liang der Fall war. Von den jungen Frauen im Dorf hatte dieser bestimmt schon mehr als die Hälfte in seinem Bett willkommen geheissen.

Sein Blick wanderte unweigerlich zu Kirjana. Im Schein des Feuers konnte er ihr Lächeln erkennen, als sie mit dem zu klein geratenen Fürsten sprach.

Im Gegensatz zu einem durchschnittlichen Larhun war Vilgrim winzig. Dunkle Locken fielen auf die dünnen Schultern und schienen neben den eisblauen Flammen der ganze Stolz des Fürsten zu sein. Ihr Glanz entlockte Sunyu stets ein Naserümpfen. Vilgrim war eitel, die schwarze Lederrüstung stets fein herausgeputzt, die Haut makellos. Doch nicht das sorgsam gepflegte Äussere oder das Haar machten den Fürsten aus, sondern die Kälte in seinen Augen.

Jetzt hing Vilgrim regelrecht an Kirjanas Lippen. Zwischendurch zuckten seine Mundwinkel nach oben, doch meist schien er sich weniger auf das zu konzentrieren, was sie sagte, sondern eher auf ihren Körper, der sich im Einklang mit ihren Worten bewegte, weich und sinnlich.

Sunyu gestand sich ein, dass ihre kräftige Figur unter dem engen Wams noch besser zur Geltung kam. Morgen würde sie in die Rolle der Fürstin schlüpfen und damit ihr Spiel beginnen. Eine Nacht noch war sie Soldatin, dann Herrin.

Er fragte sich, wie sie aussehen würde, gleichzeitig schnürte ihm der Gedanke daran die Kehle zu.

»Sunyu!«

Verwirrt hob er den Kopf. Offenbar war er mit seinen Gedanken so weit weg gewesen, dass der Fürst ihn mehrmals hatte rufen müssen. Gerade noch sah er, wie sich Kirjana wieder auf den Boden sinken liess und ihm dabei offen zuzwinkerte. Dann legte sich Vilgrims Hand auf ihr Bein, als markierte er seinen Besitz. Sunyu gesellte sich zu ihnen, wahrte aber den grösstmöglichen Abstand zwischen der Offizierin und sich selbst.

Mit kalten Augen musterte Vilgrim ihn einen Moment, bevor er sein falsches Lachen aufsetzte. »Nochmals zu den Soldaten der Kvor …«

Sunyu war erleichtert, hatte er doch vermutet, der Fürst würde ihn wegen Kirjana zurechtweisen. »Was willst du wissen?«

Der Fürst lachte freudlos. »Alles.«

Mit einem Seufzen lehnte sich Sunyu nach hinten. »Auf dem Weg nach Norden sahen wir schon von Weitem ein Schiff der Kvor, das an der Küste entlangsegelte. Bald entdeckte ich die Bucht, die von steilen Klippen umgeben ist. Ich habe darauf hingewiesen, dass ich hier anlegen würde, wenn ich ein Schiff befehligen würde, doch der Einwand fand kein Gehör. Die Bucht sei zu versteckt, die Möglichkeiten, nach oben zu gelangen, zu begrenzt. Niemand wäre so dumm und würde dort anlegen.« Er bedachte Kirjana mit einem bezeichnenden Blick, sodass er keine Namen nennen musste. Zudem wollte er ergründen, was hinter ihren aufmerksamen Augen vor sich ging, doch sie liess nicht in sich hineinblicken. »Wir zogen weiter, gingen aber wieder zurück zur Bucht und beobachteten, wie die Kvor anlegten. Ich schätze, es waren um die Hundert Soldaten und drei Käfer, so lang wie drei Männer hoch.« Er schluckte, als er an den Furcht einflössenden Anblick zurückdachte. »Wir hätten sie mit einfachen Mitteln bekämpfen und dezimieren können, stattdessen schlugen wir das Nachtlager auf. Ohne Wachen. Sie überraschten uns in der Nacht, das Massaker war perfekt. Mit ihren Viechern …«

»Den Käfern?«, fragte Vilgrim.

Sunyu nickte. »Sie waren uns zahlenmässig überlegen, besassen das Überraschungsmoment, hatten diese Kriegsbestien und waren im Gegensatz zu uns wach.«

»Dennoch hast du überlebt.« Vilgrim betrachtete ihn gerade lange genug, um ihn unruhig werden zu lassen.

»Mit Glück«, gab Sunyu zu, doch das änderte nichts an der inneren Unsicherheit. Der Fürst war ein falscher Spieler, der sich nicht in die gezinkten Karten blicken liess.

Vilgrim trank einen Schluck aus seinem Becher, seufzte und setzte sich dann aufrecht hin. »Du willst einfach nicht sterben, oder?«

Sunyu stutzte. Als die Erkenntnis Stück für Stück zu ihm durchsickerte, bildete sich in seinem Bauch eine Wut, die er bis anhin nicht gekannt hatte. Wie ätzende Säure kochte sie auf, zerfrass ihn von innen. Hass, Verachtung, Wut.

Für den Fürsten war er nur ein Spielball, ein Bauer in seinem Schachspiel. Jemand, mit dem man sich die Zeit vertreiben und den man wegwerfen konnte, sobald die Lust verging.

»Du hast mich schon wieder in den Tod geschickt?« Sunyus Stimme zitterte. Die Kälte darin war durchdringender als sein Flammenschwert. Gleichzeitig mit seinen nächsten Worten fasste er den Entschluss, zu kämpfen – für sich. »Ja, ich lebe noch. Und wenn du diesen Scheiss noch einmal versuchst, werde ich dich umbringen, beim dürren Arsch der Seylani und ihrem faulenden Zeh.« Der Drang, ihm seine blutrot flammende Hand unter die Nase zu halten und die eigene Macht zu demonstrieren, war fast übermächtig, doch Sunyu hielt sich zurück.

Kochend vor Wut sprang er auf, stapfte in den Wald, bis er nicht einmal mehr einen entfernten Feuerschein erblicken konnte, und liess sich an einem Baumstamm zu Boden sinken.

Wie hatte er nur jemals glauben können, dass er dem Fürsten etwas bedeutete? Dass dieser wirklich daran interessiert war, aus ihm einen guten Soldaten zu machen, damit er Grimsvik, sein eigenes Zuhause, beschützen konnte? Stattdessen waren sie alle nur Spielfiguren, Marionetten – Puppen seines wirren Willens.

Er hätte in Steinwacht bleiben sollen. Vielleicht hätte er es geschafft, die Larhun von Tindra fernzuhalten.

Er sah in den Wald hinein, der plötzlich nicht mehr ganz so düster und bedrohlich wirkte. Wenn er wollte, könnte er jetzt abhauen. Er könnte Vilgrim, Tindra und die ganze Scheisse hinter sich lassen.

Tindra … Dieses verdammte Freiwild hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was er für sie durchmachte. Wieso tat er sich das eigentlich an? Er hätte sie einfach ausliefern können. Er hätte Vilgrim sagen können, dass sie den Schlüssel geschmiedet hatte und der Fürst hätte sich nach ihr verzehrt. Sunyu wäre frei gewesen.

Plötzlich wurde sein Herzschlag ganz ruhig. Vilgrim kannte die Wahrheit, dennoch hielt er Sunyu weiter gefangen, während er Tindra auf freien Fuss setzte. Ganz so frei wie Seylanis dürrer Arsch war sie nicht, immerhin wachte ein Trupp Larhun über sie. Dennoch … Was war Vilgrim an dem jungen Schmied mehr wert als die Möglichkeit, unendlich viele magische Schlüssel zu erhalten?

Was sah Vilgrim in ihm?

Furcht

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Arin

Zögernd wandte Arin Tindra den Blick zu. Es war offensichtlich, dass sie die Menschen kannte, die wie sie Schutz und Wasser bei der Quelle suchten. Es mussten ihre Freunde aus Steinwacht sein.

Einerseits stieg Erleichterung in ihm auf, dass sich Tindra nun keine Vorwürfe zu machen brauchte, sie nicht gerettet zu haben, andererseits brachten Mitreisende auch immer Gefahren mit sich. Es brauchte nicht einmal einen Verräter, der ihnen hinterrücks im Schlaf die Kehle aufschnitt, es reichte, wenn einer im Kampf die Besinnung verlor.

Zudem reiste ein Kvor mit ihnen, einer, an den er sich nur zu gut erinnern konnte. »Und Dherim«, ergänzte er Tindras Auflistung. Er beobachtete die drei Männer und die junge, hochgewachsene Frau, wie sie sich umsahen, um die Gefahren abzuschätzen.

»Du kennst ihn?« Ihr Blick huschte zurück zu dem kleinen Mann. Arin spürte ihre Anspannung, als sie den Kvor genauer betrachtete. »War der nicht auch im Zelt bei der Frau?«

Er nickte. »Er ist ihr …« Er hatte Handlanger sagen wollen, doch das entsprach nicht der korrekten Bezeichnung. »… ihre rechte Hand.«

Tindras Hand drückte seine fester. »Es wirkt nicht, als hätte er sie gefangen genommen«, stellte sie gar etwas überrascht fest.

Ihm gelang ein feines Lächeln, das sie jedoch nicht sah. »Minna ist nicht sehr beliebt bei den Offizieren und Unteroffizieren. Zu oft nutzt sie aus, dass sie das Sagen hat, hört bei Einwänden und anderen Meinungen erst gar nicht hin. Dabei stellt ihr Königin Leila stets fähige Männer zur Seite. Dass sich jemand gegen sie stellt, überrascht mich nicht. Aber Dherim …« Er schüttelte den Kopf. Den schweigsamen, eigenbrötlerischen Unteroffizier kannte er als folgsamen Untergebenen, nicht als einen, der Gefangene unaufgefordert befreite.

Etwas regte sich in seinem Inneren, eine gewaltige, dunkle Macht, die die Schatten zur Nacht verwandeln wollte. Wieder flackerte die Grenze zur sichtbaren Welt, und Tindra holte erschrocken Luft. Deutlich spürte er die Dunkelheit in sich, sie umschmeichelte ihn, wollte ihn verführen. Seit sie in Steinwacht aufgebrochen waren, wurde das Wispern stets lauter.

Dherim und die Leute aus Steinwacht liessen sich bei der Quelle nieder. Die Frau mit dem schulterlangen, dunklen Haar und den faszinierend mandelförmigen Augen war die Erste, die das frische Nass gierig trank. Sie tauchte gar den Kopf kurz ein, doch der kleine Kvor riss sie an der Schulter zurück. Trotz der fehlenden Farbe erkannte Arin, wie sehr die Augen des Kvor Funken sprühten. Mit fuchtelnden Händen erzählte er etwas, vielleicht über die Gefahr, die von unbekannten Quellen ausging.

Der Bote warf Tindra einen flüchtigen Blick zu. Auch sie hatte von dem Wasser getrunken, noch bevor er sie hatte zurückhalten können. Innerlich verfluchte er sich dafür, doch noch zeigte sie keine Anzeichen, dass es ihr nicht gut ging. Dennoch traute er dem Wasser nicht. Und den Leuten hier ebenso wenig. »Lass uns verschwinden.«

Verwirrt sah Tindra ihn an. »Wieso?«

Er seufzte leise. »Sie sind eine Gefahr. Sie könnten uns im Schlaf ermorden, uns verraten oder uns bei einem Kampf in den Rücken fallen.«

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. In den ansonsten frühlingshaft grünen Augen zog ein dunkelgrüner Wirbelsturm auf. »Ich kenne sie.« Als sie Luft holte, zitterte ihre Hand vor Anspannung. »Auch wenn sie nicht meine Freunde sind, ging ich mit ihnen ein paar Jahre zur Schule.«

»Tindra …«

»Verdammt, Arin!« Ihre zitternde Hand fuhr über ihr wundervolles, blondes Haar und wischte damit alle Strähnen aus dem Gesicht.

Aus ihrer Stimme hörte er die Verzweiflung, die Angst um ihre Bekannten. Er verstand ihre Einwände. Stünden hier Irin, die er kannte, hätte er sich ihnen, ohne zu zögern, offenbart. Aber es waren keine Irin und er vertraute diesen Menschen und dem Kvor nicht.

Dherim hielt der jungen Frau einen Holzbehälter hin, schraubte den Deckel demonstrativ ab und zwang sie, sich ein wenig von diesem Pulver auf die Zunge zu streuen. Sie gehorchte ihm mit einem betretenen Blick, zog die Beine an, legte den Kopf auf die Knie und starrte auf das Wasser. Der Kvor nickte zufrieden und packte das Pulver weg.

Arin zog die Augenbrauen zusammen. Er hatte Dherim nicht näher kennengelernt, wurde er doch als eigenbrötlerischer Mann beschrieben, der lieber in seinem Stübchen Pulver und Tränke herstellte, statt mit den Kameraden die Freizeit zu geniessen. Aber er war als ausgezeichneter Arzneikenner bekannt. Bestimmt wäre er Heiler oder gar Arzt geworden, wenn die Göttinnen einem Mann heilende Hände verleihen würden.

Arin packte Tindras Hand fester, um sie nicht zu verlieren und sie aus den Schatten zu drängen, die sich dicht und kühl um sie woben. Sie mussten hier weg. Jeder Mitreisende bedeutete zusätzliches Risiko, jeder Tag Verzögerung hiess, dass die Geschicke von Mra’Theel in die falsche Richtung gelenkt werden konnten. Er musste der Königin von Vehni dringend Bericht erstatten, doch die innere Unruhe drängte ihn nach Osten.

Er liebte Tindras grosses Herz und die ehrliche Ader, mit der sie durchs Leben ging, gleichzeitig war es vermutlich ihre grösste Schwäche. Wenn sie einmal auf jemanden hereinfiel, der sie verletzte … Es wäre so einfach. Sobald sie vertraute, schloss sie jemanden in ihr Herz. Wahrscheinlich dachte sie noch immer an Deira, die Priesterin aus Nebelwehr, die ihr erste Geheimnisse des geweihten Schwertes offenbart hatte, das sie geführt hatte. Wäre sie in Gefahr, würde sich Tindra gleich auf den Weg machen, um sie zu retten.

Erst widerstrebend, dann ergeben folgte Tindra ihm durch die kühle Welt der Schatten. Im Vergleich zur gestrigen Reise war es geradezu angenehm, die graue Welt um sich herum zu sehen. Er liebte es.

Tindra watschelte neben ihm her, ihre Gegenwehr war vollkommen verstummt. Wenigstens mussten sie weder die trockene Steppenluft noch den Wind fürchten, der Sandkörner wie kleine Geschosse gegen ihre Haut jagte.

Die Landschaft zog düster und grau an ihnen vorbei, die Landschaft flachte ab, die Hügel verschwanden. Als einziger Anhaltspunkt floss der Rem träge an ihnen vorbei, doch auch ihn würden sie bald verlieren, wenn er einen Bogen in Richtung Süden beschrieb und der Weg direkt nach Birrham führte.

Wenigstens war ein Ende der Reise in Sicht. Heute Abend würden sie in einem Wirtshaus in Birrham sein, sofern die Belagerung das war, was er inzwischen vermutete.

Tindra verlangsamte ihre Schritte kaum merklich. »Werden deine Schatten dichter?«, fragte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen und blickte zurück.

Arin lag ein Seufzen auf der Seele, doch er hielt es zurück. Es hätte sie nur verwirrt, verunsichert. »Vielleicht ein wenig.« Er schluckte. »Ganz am Anfang, als ich die Schatten in mir entdeckte, waren sie kaum spürbar. Ein paar Farben gaben ihre Intensität ab, ich konnte sogar noch das ein oder andere Wort verstehen. Manche sahen mich und durch mich hindurch.«

Tindra schmunzelte schwach. Die durchwachte Nacht und die Reise setzten ihrer Fröhlichkeit zu, auch wenn er über ihre Ausdauer staunte. Doch mit zu wenig Nahrung und Schlafmangel schwand auch diese, genau wie seine.

Er lachte leise in sich hinein, einerseits, weil er an eine bestimmte Situation dachte, als er sich im Schulzimmer verstecken wollte und die Lehrerin seinen Geist gesehen hatte. Andererseits hoffte er, Tindra dadurch etwas aufzumuntern. »Oft ist es mir nicht passiert.«

Tindra fiel in sein Lachen ein, dann breitete sich Schweigen zwischen ihnen und über der Steppe aus. Es war friedlich und gleichzeitig … unheimlich. Nicht geheuer.

»Können wir eine Pause machen?«, brach Tindras schwache Stimme die Stille der Welt und zwischen ihnen.

Erschrocken wandte er ihr den Blick zu. Ihre Hautfarbe unterschied sich kaum von dem grauen Hintergrund, einzig schimmerte sie heller. »Tindra!«, entfuhr es ihm. Mit freundlichem, aber bestimmtem Druck zwang er sie, sich zu setzen und reichte ihr seinen Wasserschlauch.

Sie schlotterte wie ein Schlosshund, die Lippen waren blau. Sie zog die Beine an. Sonnenlicht, Wärme! Arin schickte die Schatten mit einem herrischen Befehl fort, doch sie wollten nicht gehorchen. Sie klebten an ihm und setzten sich in seiner Brust fest, als wäre nicht er Herr der Schatten, sondern die Schatten über ihn.

Das grelle Sonnenlicht blendete, der Wind heulte in den Ohren wie ein Sturm in den Bergen. Sandkörner raspelten an ihren Gesichtern. Eine Gluthitze drückte auf seine Lunge und brannte auf der Haut, als sässe er in einem Schmiedeofen, um nach fremdem Willen geformt zu werden.

Tindra schloss erschöpft die Augen, ein leises Seufzen entfloh ihrer Kehle.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739492124
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Magisches Feuer Matriarchat Magische Schwerter Fantasyroman Fantasyromantik Starke Frau High Fantasy Schmiedin Göttinnen Fantasy düster dark Romance

Autor

  • Andrea Ego (Autor:in)

Die Autorin Andrea Ego entdeckte schon in ihrer frühesten Schulzeit Bücher für sich. Das Abtauchen in fremde Welten hat sie von Beginn weg fasziniert. In ihrer Jugendzeit hat sie mit dem Schreiben begonnen und seither hat es sie nie mehr so richtig losgelassen. Andrea liebt neben dem Schreiben ihre Familie über alles, die Schweizer Berge, Schokolade, ihren Garten und das Fotografieren.
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Titel: Schattenherz