Lade Inhalt...

Schmiedefeuer

Die Schatten von Mra'Theel 1

von Andrea Ego (Autor:in)
420 Seiten

Zusammenfassung

Eine Schmiedin, von den Göttinnen gesegnet. Ein magischer Schlüssel, auf den die Welt wartet. Ein wildes Feuer, der Verdammnis geweiht. Die zurückhaltende Tindra erlernt das Schmiedehandwerk. Durch Zufall gelingt ihr, was bisher nur die alten Meisterschmiede vollbrachten: Sie stellt einen magischen Schlüssel her. Durch dessen Auftauchen bröckelt das fragile Gleichgewicht der Welt. Als sie gefangen genommen wird, kann sie wie durch ein Wunder flüchten und ihr wird klar: Verschiedenste Parteien wollen sie und ihre Fähigkeiten für ihre eigenen Interessen einsetzen. Sie muss sich entscheiden: Verfolgt sie weiter ihre eigenen Träume oder gibt sie diese für ihre Freunde auf?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Glossar

Die Völker

Menschen: Sie leben in Kerase und Erendal. Ihre Gesellschaft ist einfach strukturiert. Ihre Felder versorgen die Bewohner von Mra’Theel weit über die Landesgrenzen hinaus mit Nahrungsmitteln. Zudem ist das Mittelgebirge bekannt für seine Bodenschätze. Die Länder sind allerdings weder besonders angesehen noch einflussreich.

Irin: Sie gelten als die am weitesten entwickelte Art in Mra’Theel und bevölkern das Land Vehni. Ihr Hang zu Forschung und technischer Entwicklung lässt die Städte zu Wissenshochburgen werden. Neben den Wissenschaften unterhalten sie eine angesehene Armee.

Kvor: Die Kvor sind zwar kleiner als Menschen, aber durch ihre gedrungene Statur zäh und überraschend ausdauernd. Sie gelten als friedliebendes Volk, das sich an den Küsten und in den Hügeln von Kvora niedergelassen hat. Ihre Leidenschaft gehört dem Bergbau, selbst einige Dörfer sind in den Berg gebaut.

Larhun: Die Larhun sind gefürchtete Krieger, gross und massig, und ein streitsüchtiges Volk, das sich nicht darauf einigen konnte, unter einem Banner zu gehen. Sie leben in den Nebelreichen, umgeben von Nebel, Bergen und Hügeln. Das Leben konzentriert sich auf wenige Stadtstaaten und ein paar Höfe rundherum. Die raue Lebensweise und die aufbrausende, kämpferische Art verhindern jeden Kontakt zu Mra’Theels Ländern.

Die Götter

Seylani: Als Göttin der Liebe, des Lebens, des Tages und des Krieges wird die blonde Göttin mit dem entschlossenen Ausdruck in den Augen verehrt. Ihr werden wilde Feste und das Lachen zugesprochen. Bei jungen Frauen ist sie äusserst beliebt. Sie gilt als unnachgiebig und hart, aber auch als gerecht.

Doana: Doanas Haut und Augen sind so dunkel wie die Nacht, die sie verkörpert. Als Göttin des Todes, der Ruhe und der Dunkelheit findet sie weniger Anhänger als ihre helle Schwester, dennoch wird sie geschätzt. Sie beendet einen Tag und läutet den nächsten ein, lässt Altes vergehen und Neues erblühen. Ihr grösstes Versprechen ist das eines Neuanfangs.

Der Graue: Der männliche Gott wird nur noch in den Nebelreichen angebetet, in denen der Nebel und die Welt dazwischen bei jedem Atemzug präsent sind. Er ist gerüstet, aber friedliebend. Wenn es notwendig ist, greift er zu den Waffen und lässt sich nicht bremsen, aber er selbst beginnt keinen Kampf. Nur wenige kennen ihn auch unter dem Namen Herrwhig.

Der Vergessene: Der Gott, dessen Antlitz auch in den alten Tempeln nicht mehr erkennbar ist, wurde vergessen. In ihm wohnt Schwärze und er sinnt auf Rache. Seine Anhänger sind jene, die in den Augen der Göttinnen keinen Gefallen finden: Gesetzlose, Abtrünnige und Freiwild. Niemand kennt ihn, sein Name ist nicht überliefert, doch in den Nebelreichen wird er gefürchtet.

Als Leserin bin ich keine Freundin davon, bei jedem neuen Städtenamen zur Karte am Anfang des E-Books zu springen und wieder zurück. Deshalb habe ich auf meiner Webseite die Karte samt Glossar zum Herunterladen und Ausdrucken hochgeladen.
https://andreaego.jimdo.com/bücher/buchvorstellung-schattenwanderer-1

Prolog

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Es gibt keine Magie.

Vielleicht gibt es sie im Kleinen, im Zwischenmenschli­chen, wenn ein Mann eine Frau zum ersten Mal sieht und von ihr verzaubert ist. Oder der Zauber des Lebens, wenn ein Kind geboren wird, ein Küken durch die Schale bricht. Wenn sich aus einem Samen ein winzig kleiner Keimling der Sonne entgegenstreckt, danach lechzend, zu einem grossen Baum heranzuwachsen.

Das aber ist keine echte Magie. Es ist der Lauf des Le­bens, die Natur, von den Göttern erschaffen, die uns mit unzähligen Wundern berührt. Sie nährt uns, lässt uns gedeihen und staunen, bis sie sich uns nimmt, wenn der Tag gekommen ist. Wunderschön und brutal zugleich. Doch dazwischen stecken diese Kleinigkeiten, die wir gern übersehen, die das Leben aber erst lebenswert machen.

Magie ist mehr. Wenn ein Mann mit Feuerbällen nach seinem Gegner wirft, ist das Magie. Oder wenn aus den Zinnen der Festungen der Irin ein Drache emporsteigt und die feindliche Armee mit einem einzigen, metallisch klingenden Schrei in alle Winde zerstreut. Wenn eine Frau einen Schritt tut und dabei die halbe Welt umrundet. Wenn sich jemand unsichtbar machen kann.

Ich kann mit Feuerbällen auf mein Gegenüber zielen, ich kann einen Drachen erscheinen lassen und eine ganze Armee in Angst und Schrecken versetzen. Ich kann einen Schritt tun und auf der anderen Seite des Sees wieder erscheinen.

Aber das ist keine Magie. Sie glauben es nur.

Es ist alles nur Illusion.

Täuschung

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Arin

Das Herz hämmerte hart gegen seine Rippen und schnitt ihm beinahe den Atem ab, während eine Schweissperle nach der anderen von seiner Stirn tropfte. Bei jedem Atemzug ertönte ein ohrenbetäubendes Keuchen. Erschöpft lehnte er sich an den Baum hinter ihm, versteckte sich im Schatten des Laubes.

Zu laut, viel zu laut. Er musste leiser werden. Die Krieger der Larhun verziehen keinen einzigen Fehler. Nie. Er kannte ein besseres Versteck, eines, das auch die Krieger nicht entdecken konnten. Doch er musste wissen, weshalb sie ihm folgten. Er musste sie belauschen können, aus nächster Nähe. Das konnte er nicht, wenn er sich in die Schatten zwischen den Welten begab.

Er schluckte und schloss die Augen. Seine Finger krallten sich in die raue Rinde, bis sie bluteten, doch der Schmerz drang nur gedämpft zu ihm durch. Er versuchte, seinen Puls zu beruhigen, indem er sich auf seine Atmung konzentrierte, auf die kühle Stütze, die ihm der Baum bot. Auch wenn es lächerlich war, der Laubbaum schenkte ihm Gelassenheit, sodass sich seine Gedanken klärten und sich vom zähen Nebel befreiten.

Er rief die Schatten, betrat sie jedoch nicht ganz. Nur einen Fuss setzte er in die kühle Dunkelheit, gerade so weit, wie es für sein Vorhaben nötig war.

Als er mit einem tiefen Atemzug in sich ging, dachte er an den Duft des Waldrandes, gemischt mit dem der weiten, hellen Weizenfelder, die sich über die umliegenden Hügel erstreckten. Er sog ihn ein, liess ihn in der Lunge herumwirbeln, bevor er ihn wieder ausstiess.

Er stellte sich den Baum an seinem Rücken vor, sah, wie dieser einsam am Wegesrand stand und der Wind mit zarten Fingern durch die Blätter fuhr, mit ihnen spielte. Er entlockte ihnen ein unbeschwertes Lied, das den anbrechenden Tag willkommen hiess. Das Licht des blauen Mondes zeichnete einen sanften Schattentanz in das saftig grüne Gras. Im Takt der Windmelodie wogte es um seine Füsse herum, durch sie hindurch.

Die Schatten um ihn woben sich dichter. Von seiner rechten Seite ausgehend, breiteten sie sich um ihn aus, bildeten einen Käfig, der ihn teilweise verschluckte. Aber er war noch da, konnte noch sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken, was passierte.

Den Rest seiner Anwesenheit löschte er in seiner Vorstellung komplett aus – seine Gestalt, den Gestank, den Atem, die Geräusche und die Wärme. Er erschuf eine Illusion um sich herum, machte die Welt glauben, dass auf diesem Hügel am Wegesrand nur ein mächtiger Baum stand. So, als wäre dort nichts, oder ein bisschen mehr als nichts, sodass es eben nicht auffiel, dass dort nichts war.

Er liess sich verschwinden, ging ganz in seiner Illusion auf. Sein Atem beruhigte sich weiter, der Schweiss erkaltete auf seinem Gesicht. Vielleicht, wenn sie ihm noch einige Augenblicke gewährten, funktionierte es und die Larhun würden ihn übersehen.

Nein, nicht übersehen, sondern nicht sehen.

Im Gegensatz zu den Menschen, Kvor oder Irin liess sich das Schattenvolk oftmals nicht durch seine Tricksereien täuschen. Ihm war es, als verfügten sie über einen sechsten Sinn, der den anderen Völkern unbemerkt abhandengekommen war. Vielleicht hatte ihn sein Meister deshalb vor den Reichen in den Nebeln gewarnt, in denen sie hausten.

Doch diesmal musste es einfach klappen, er hatte keine Wahl. Er musste wissen, wie sie ihn aufgespürt hatten und ihm nun so hartnäckig folgen konnten.

Natürlich waren sie hinter seiner Halskette mit dem Schlüssel her, dessen Gewicht ihn mit Nachdruck daran erinnerte, welch wichtige Aufgabe er übernommen hatte. Als Bote der Irin war er auf dem Weg ins Königreich Kvora. Tief unten in seiner Tasche befand sich ein Schriftstück, dessen Inhalt er nicht einmal erahnen konnte. Wenn seine Königin rief, hatte er ohne Fragen zu gehorchen.

So hatte Königin Thea ihn auch dieses Mal zu sich bestellt, um ihm eine Nachricht mit auf den Weg zu geben. Er sollte sich auf direktem Weg in die Hauptstadt von Kvora machen. Zunächst hatte also alles nach einem gewöhnlichen Botengang ausgesehen.

Erst als er bald nach seiner Abreise völlig überraschend die Anwesenheit einiger Soldaten der Larhun bemerkt hatte, wurde es zu einem nicht mehr ganz so gewöhnlichen Auftrag. Absichtlich hatte er Umwege auf sich genommen, um von sich abzulenken, doch sie folgten ihm auf Schritt und Tritt. Je öfter er die magischen Tore benutzte, desto näher kamen sie ihm. Wo immer er sich auch aufhielt, er spürte ihren kalten Atem im Nacken, die beklemmende Nähe ihres Schlüssels.

Vielleicht jagten sie gar seinen Geruch … oder besser Gestank. Er lachte in sich hinein. Möglich wäre es, sein letztes Bad hatte er vor vier Tagen im Palast der Königin genossen. Seither war er unterwegs. Aus einem gewöhnlichen Botengang war eine Flucht geworden.

Ob sie hinter ihm, dem Schlüssel oder der Nachricht her waren, vermochte er nicht zu sagen. Aber dass sie keine für ihn erfreulichen Ziele verfolgten, war nicht zu übersehen. Die Larhun galten als Abschaum, als das Gesindel Mra’Theels, des Kontinents der Entdecker. Nur wenige wagten sich in die Reiche der Nebel, nicht einmal ein kleiner Teil kehrte zurück.

Wenn er an Dämonen glauben würde, so würde er die Larhun als solche bezeichnen. Sie stanken, sie waren ungepflegt, gross, finster und vor allem Furcht einflössend. Wenn er den Erzählungen Glauben schenken konnte, dann war eine ihrer Hände grösser als sein Brustkorb, die Augen so finster wie die dunkelste Nacht, ohne irgendeinen Mond am Himmel.

Zuerst spürte er den kalten Wind in seinem Nacken, wie immer, wenn sich jemand mit einem Schlüssel näherte. Die Kälte der magischen Tore haftete ihnen an. Sie grummelten in der kehligen Stimmlage der Larhun, dann setzten sie sich in Bewegung. Erstaunlich, wie leise grosse Wesen wie sie sein konnten.

Erleichtert atmete er aus. Die Schritte und das Gemurmel entfernten sich, aber er konnte sie noch immer hören. Noch witzelten sie über die Dummheit eines Boten, sich durch das Versteckspiel in Sicherheit bringen zu wollen.

Von wegen dumm. Er führte sie gerade mit seiner Illusion in die Irre.

Plötzlich packte ihn jemand hart an der Schulter und riss ihn herum. Torkelnd fiel er auf den Hosenboden. Vor ihm baute sich ein breiter Oberkörper scheinbar bis in den Himmel auf, wo er in einen wuchtigen Schädel mit verzerrter Fratze überging. In den Augen stand so etwas wie Genugtuung, auch wenn sie zu schmalen Schlitzen verengt waren, und genauso selbstgefällig war das Grinsen auf den schmalen Lippen. Der Atem des Larhun fuhr ihm über das Gesicht.

Sein Puls schoss in die Höhe, Aufregung flutete seinen Körper. Sie verlieh ihm neue Kraft. Wie in vielen Kämpfen und Übungen antrainiert, schnellte seine Hand zum Schwertgriff am Gürtel, umfasste das Heft, doch bevor er die Waffe ziehen konnte, riss ein Schlag seinen Kopf herum. Einen Augenblick lang konnte er nicht atmen und rang nach Luft. Auf seiner Zunge breitete sich der metallische Geschmack nach Blut aus, sein rechtes Nasenloch schwoll zu.

Mit einem einzigen, erlösenden Aufschrei befreite sich seine Lunge von der Ohnmacht des Schlages. Er sammelte die in seinem Körper verbliebene Kraft und zog endlich das Schwert aus der Scheide. Links von ihm ertönte hämisches Gelächter. Eine schwere Hand trennte ihn von der Waffe.

Der dreckige Larhun, ohne dessen Griff der Bote vermutlich schon blutend am Boden gelegen hätte, stimmte in das Lachen mit ein. »Du hast verloren, Bursche.« Mit einem breiten Grinsen riss der Krieger an seiner Kette mit dem Schlüssel. Die filigranen Glieder sprangen auseinander.

Mit einem Stöhnen wand er sich unter dem harten Griff, als sich die Finger noch weiter in sein Fleisch gruben. »Gib sie mir zurück«, verlangte er schwach wie ein sterbender Vogel.

Der Schlag auf seinen Kopf wurde von einem hässlichen Knirschen begleitet, dann umfing ihn reine, pure Schwärze.

Schlüssel

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Tindra

Verdammt, sie war schon wieder spät dran. Der oberste Bogen der Sonnenscheibe würde bald über den Horizont blicken und das Land in warmes Licht tauchen. Wenn sie nicht wollte, dass Meister Juang sie wieder rügte, musste sie sich sputen.

Bevor die warmen Herbstwinde den goldgelben Ähren ein Rauschen entlockten, bevor das Knistern der Erde ertönte, das sich in den rostroten Felsen fortsetzte, wollte sie einen grossen Teil ihrer Arbeit geschafft haben. Obwohl schon Herbst war und es mit grossen Schritten auf den Winter zuging, liessen sich die Temperaturen Zeit, um sich anzupassen.

Tindra mochte den Sommer nicht, genauso wenig wie den Herbst oder den Winter. Nur mit dem Frühling konnte sie sich in diesem verschlafenen Nest anfreunden, wenn sich die ersten Blumen der Sonne entgegenreckten und die Bäche mit ihrem gurgelnden Lied die Luft erfüllten.

Gerade noch bevor die Priesterinnen im Tempel unten im Dorf den anbrechenden Tag besangen, schlüpfte sie unter dem Torbogen zum Anwesen ihres Lehrmeisters hindurch. Sie überquerte den viereckigen Hof und versuchte währenddessen, ihren Atem zu beruhigen, damit Juang und Sunyu nicht sofort merkten, wie sehr sie sich beeilt hatte.

Die offene Schmiede war an einen Stall angebaut, den der genügsame Esel Adalbert sein Reich nannte. Das graue Tier reichte Tindra gerade mal bis zur Brust und war sturer als die Mauer um das Anwesen des Schmiedemeisters.

Noch stand die Schmiede mit ihrem strohgedeckten Dach und den vor Russ schwarzen Holzpfosten im Schatten der mächtigen Eiche, die sich im Laufe der Jahre im Innenhof zu einer imposanten Erscheinung gemausert hatte. Neben ihrem Stamm, und damit selbst tagsüber oftmals im Schatten, sorgte ein Brunnen jederzeit für frisches, klares Wasser. Bei der Arbeit zwischen den beiden Essen, in der trockenheissen Luft, tat die Abkühlung des Wassers doppelt gut. Tindra lächelte, als ihre Augen über den kreisrunden Schacht glitten. Sie freute sich schon jetzt auf die Abkühlung.

Beide Essen waren bereits befeuert. Unerbittlich vertrieben sie die kühle Morgenluft, die Tindra gern ein wenig länger genossen hätte. Sunyu hämmerte an dem Dolch, den ein Dorfbewohner gestern in Auftrag gegeben hatte. Der gerade erst ausgelernte Schmied fand Gefallen an jeglicher Art von Waffen. Er hatte schon einige ausgefallene Schwerter geschmiedet, eines sogar aus dem seltenen Metall aus Kvora, das grünlich blau schimmerte. Vihtan hiess es, wenn sie sich nicht täuschte. Sie hatte keine Ahnung, wie er es in seine Finger bekommen hatte, aber sie beneidete ihn ein bisschen darum.

Auf seinem Kopf glänzten erste Schweissperlen. Schon jetzt, noch bevor die Sonne komplett aufgegangen war, hatte er sein Hemd ausgezogen und stellte seine muskulösen Oberarme zur Schau. Auf der Brust schlängelte sich ein tätowierter Drache bis zu seinem Hals und schien mit Sunyus Bewegungen zu tanzen. Oberhalb der Brust verschwand das mystische Wesen unter der ledernen Arbeitsschürze.

Sie wusste nicht, wieso, aber für sie hatte es immer wie ein Tanz ausgesehen, obwohl sich das übernatürliche Wesen wahrscheinlich zu einem Kampf bereit machte. Es passte auch besser zu dem brummigen Gesellen.

Vielleicht, wenn es nicht Sunyu gewesen wäre, hätte sie ihn gern bei der Arbeit beobachtet, so wie die anderen Mädchen im Dorf. Seit sie in der Schmiede arbeitete, waren diese plötzlich viel netter ihr gegenüber – und das hatte ganz bestimmt nicht mit plötzlicher Einsicht ihrer Altersgenossinnen zu tun. Schon in der Schule war Sunyu beliebt gewesen.

»Guten Morgen«, begrüsste Juang sie und holte sie aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er werkelte an einem filigranen Schmuckstück und versuchte, einen fein geschliffenen Rubin in der Vertiefung am Armband zu fixieren. Als der Edelstein davonrollte, fluchte der Lehrmeister und warf die Pinzette auf den Tisch.

»Morgen.« Innerlich schmunzelte Tindra, doch sie konnte es ihm nicht verübeln. Die vielen Schmiedejahre hatten aus seinen Händen ledrige Pranken werden lassen, die jedem Bären Furcht eingeflösst hätten. Für feine Arbeiten wie Schmuck waren seine Finger immer irgendwo im Weg. Sie ging zu ihm, legte den Edelstein mithilfe der Pinzette in das Armband und bog die dafür vorgesehenen Metalldrähte so, dass sich der Rubin nicht mehr lösen konnte.

»Danke.« Juang seufzte und wischte sich den Schweiss von der Stirn. »Ich weiss schon, weshalb ich dich eingestellt habe.« Ein feines Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab.

Tindra lachte leise, Sunyu schnaubte. Sie wusste ganz genau, was er dachte: Eine Frau, ganz besonders sie, war nicht einmal in der Lage, ordentliche Nägel zu schmieden – und würde es auch nie sein.

Immer wieder nahm er sich Frechheiten ihr gegenüber heraus und liess es – meist sehr erfolglos – so aussehen, als sollte diese niemand hören oder sehen. Bisher hatte sie noch nicht herausgefunden, wo genau sein Problem lag, doch inzwischen ignorierte sie ihn.

»Guten Morgen, Sunyu.« Sie setzte ein überfreundliches Lächeln auf, bevor sie ins Hinterzimmer schritt und das beruhigende Gewicht der schweren Lederschürze auf ihren Schultern willkommen hiess.

Zurück am Arbeitsplatz schürte sie das Feuer und rückte die Kohle zurecht. Wenigstens das hatte sie in den letzten Wochen gelernt. Jedenfalls herrschte Juang sie deswegen nicht so häufig an wie Sunyu, der die Essen seit vier Jahren befeuerte, was sie ein wenig stolz machte. Nur zeigen durfte sie das nicht, ansonsten hätte sich der junge Mann bestimmt neue Gemeinheiten einfallen lassen.

Irgendwie hoffte sie, dass Juang ihn bald entlassen würde. Immerhin hatte er seine Ausbildung abgeschlossen und für drei Schmiede gab es in Steinwacht zu wenig Arbeit. Bald würde sie viele Aufgaben des Gesellen übernehmen können, da war sie sich sicher.

Wenigstens träumte sie davon.

»Beginne mit den dreihundert Nägeln, die wir nächste Woche abliefern müssen.« Meister Juang hob nur kurz den Blick. Was in seinen dunklen Augen stand, konnte Tindra nicht sagen. Der untersetzte, kräftige Mann gab ihr regelmässig Rätsel auf, doch sie mochte ihn so, wie er war. Er urteilte nicht, er nahm sie mit jeder ihrer schrulligen Eigenheiten an.

Davon konnte sich Sunyu eine dicke, dicke Scheibe abschneiden.

Sie holte sich das benötigte Eisen sowie einen Hammer und begann mit ihrer Arbeit. Als wüssten ihre Hände schon lange, was sie tun mussten, formten sie das Metall zu einer dünnen Stange, schnitten sie mit der Zange und formten Kopf und Spitze. Schnitt, drehen, Kopf und Spitze.

Als sich der erste Tropfen Schweiss von ihrer Stirn löste, zischte es auf dem heissen Metall. Wie ein gieriger Schlund hüllte die Hitze der Esse sie ein. Sie fand sich in einer anderen Welt wieder, in der es nur trockene Wärme, Schweiss und Blasen an den Händen gab. Ihre Kehle brannte, die Augen tränten, doch jeder weitere Nagel erfreute ihr Herz ein bisschen mehr.

Gerade weil Juang und Sunyu ihr an Kraft und Ausdauer deutlich überlegen waren, wollte sie mit ihrer Beharrlichkeit punkten. Noch wusste sie nicht, ob Juang bis zum Schluss zu seiner Entscheidung, sie zu einer Schmiedin auszubilden, stehen würde, oder ob er bei Gelegenheit aufgab. Wirklich viel hatte sie in den letzten Monaten nicht zustande gebracht, da musste sie Sunyu recht geben. Deshalb galt es so viel Einsatz zu zeigen, wie sie nur konnte.

Plötzlich entdeckte Tindra aus den Augenwinkeln eine blutrote Flamme am Holz. Erschrocken fuhr sie zusammen und beobachtete die Glut genauer, schüttelte aber den Kopf, als sie nichts Auffälliges bemerkte. Vielleicht hätte sie gestern Abend doch früher ins Bett gehen sollen. Verwirrt erhitzte sie das Eisen weiter, bis es formbar war.

Draht, Schnitt, Kopf, Spitze, Eimer.

Zum gefühlt tausendsten Mal nahm sie den Hammer in die Hand und holte aus. Mit dem Arm über dem Kopf hielt sie inne.

Auf dem Amboss lag ein reich verzierter Schlüssel. An seinem Griff glänzten verschiedenste Edelsteine, sorgfältig in Vertiefungen gelegt, und der Bart deutete kunstvolle Ranken wie die zarten Arme von Winden an.

Verwirrt hob sie den Blick. Hatte Sunyu ihr einen Streich gespielt? Doch weder der junge Schmied noch Juang stand nahe genug, um ihn ihr hingelegt haben zu können. Ausserdem hatte sie eben erst noch einen Nagel geschmiedet.

Vorsichtig griff sie nach dem Schlüssel und liess ihn gleich wieder fallen, als das heisse Metall ihre Finger verbrannte. Blasen formten sich vor ihren Augen, dann schälte sich die Haut ab. Sie schluckte.

»Juang?« Trotz des Brennens ihrer Haut konnte sie sich nur auf das Kunstwerk, nicht aber auf ihre Verletzungen konzentrieren.

Ihr Lehrmeister kam zu ihr, legte den Kopf schief und betrachtete den Schlüssel. Dann lachte er laut los. »Schöner Nagel, Mädchen.« Er klopfte ihr so heftig auf die Schultern, dass sie ein wenig in die Knie ging. »Fast hättest du mich reingelegt.« Er wandte sich breit grinsend an Sunyu. »Komm mal her und schau, was sich Tindra für uns ausgedacht hat.«

Übertrieben gelangweilt hob der junge Schmied den Kopf und musterte ihr Werk. »Wie soll das gehen, wenn sie keinen anständigen Nagel schmiedet?«

»Aber er ist noch heiss«, versuchte sich Tindra zu verteidigen und gab sich Mühe, die Spitze in Sunyus Worten zu überhören. »Er wurde gerade erst geschmiedet.«

Juang horchte auf und musterte sie aus schmalen Augen. Schliesslich seufzte er leise, ehe er sich entspannte. »Komm mit.«

Schweigend folgte sie ihrem Meister aus der Schmiede hinaus, bis zum Brunnen im Innenhof, wo er einen Kübel voll klaren Grundwassers hochzog. Ohne auf ihr Einverständnis zu warten, packte er ihre Hand und tauchte sie ganz ein. Das kühle Nass beruhigte die Verbrennung, erleichtert atmete Tindra aus.

»Weisst du eigentlich, weshalb ich dich eingestellt habe?«, begann ihr Lehrmeister das Gespräch.

Kleinlaut schüttelte sie den Kopf. »Nein.«

Er lächelte. »Ich habe das Feuer in deinen Augen gesehen, den tiefsten Wunsch in deinem Herzen, etwas mit deinen Händen zu erschaffen.« Gedankenverloren drehte er das Armband, das er zu reparieren versuchte, zwischen seinen Fingern. »Nun brennt es noch heller als damals.« Sein Blick fing den ihren ein und hielt ihn fest, sodass Tindra am liebsten peinlich berührt weggesehen hätte, doch sie schaffte es nicht.

»Danke.« Verwirrt schluckte sie und hoffte, dass dieses Gespräch bald zu Ende sein würde. Sie war es nicht gewohnt, dass der Meister ihr Komplimente machte. Selbst bei Sunyu hielt er sich zurück. Jetzt gerade hatte er sie zum ersten Mal gelobt – wenn man es denn als solches betrachten wollte.

»Lass dich nicht von Sunyu unterkriegen, eigentlich ist er ein ganz netter Kerl. Und er mag dich.«

Ungläubig schnaubte sie und warf einen Blick zwischen den Stützbalken hindurch auf den jungen Mann. »Natürlich, und ich bin eine Auserwählte der Seylani.«

Juang erhob sich seufzend und bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. »Vielleicht solltest du wenigstens versuchen, dich mit ihm anzufreunden.« Mit weit ausholenden Schritten ging er auf die Schmiede zu.

Überrumpelt von der versteckten Anschuldigung starrte sie ihm mit offenem Mund hinterher. Jetzt war sie also auch noch schuld an der schlechten Stimmung in der Schmiede. Dabei hatte Sunyu doch angefangen und konnte es nach wie vor nicht lassen, sie bei jeder Gelegenheit an ihre Unfähigkeit zu erinnern.

Etwas genervt beobachtete sie ihren Meister, der zurück zu seinem Arbeitsplatz ging und weiter an dem filigranen Armband werkelte. Mit wenig Abstand folgte sie ihm unter das Dach der Schmiede. Die Arbeit rief, ob mit oder ohne Schlüssel.

Mit noch feuchter Hand hob sie den Schlüssel auf. Wie er auf ihrem Amboss gelandet war, spielte keine Rolle. Sie musste endlich weiter an den Nägeln arbeiten. Wie Sunyu gesagt hatte, brauchte sie noch sehr viel Übung – falls Übung und Talent überhaupt jemals reichen würden, um sich ein Leben als Schmiedin irgendwo weit weg von Steinwacht aufzubauen.

Plötzlich wurde die Umgebung hell und kalt, als hätte jemand einen Schwamm genommen und alle Farben, die Wärme und Konturen von der Welt gewischt und nur diffuses Licht zurückgelassen. Verwirrt blieb sie stehen und drehte sich um die eigene Achse. Sogar die Glut in den beiden Essen leuchtete nur schwach rotorange. Eine einzelne blutrote Flamme flackerte so hell auf, dass es sie blendete.

Direkt neben dem Brunnen erschien eine golden leuchtende Tür mit filigranem, aber reich verziertem Rahmen. Metallene Pflanzen mit kleinen Blättern und hübschen Blüten wanden sich empor und vereinten sich an der höchsten Stelle zu einer Ode an die beiden Göttinnen.

Der Schlüssel in ihrer Hand glühte auf und wurde warm, wenn nicht gar ein wenig heiss. Vor Schreck liess sie ihn fallen und im selben Augenblick nahm die Welt ihre Farbe wieder an. Die Schmiede um sie herum war klar wie eh und je, nur düsterer, als würde sie sich im Wolkenschatten vor drohendem Regen verstecken. Trotzdem ahnte Tindra, dass es nur mit dem grellen Licht von vorher zu tun hatte. Das Tor verschwand so spurlos, wie es aufgetaucht war.

Ein eisiger Schauer erfasste ihren Körper und liess sie erzittern. Was sollte das?

Immer noch regungslos vor Schreck starrte sie auf das Stück Metall in Schlüsselform, das vor ihrem linken Fuss lag und verheissungsvoll flüsterte. Wie war das nur möglich? Bestimmt wurde sie langsam verrückt. Ihre Mitschülerinnen lagen mit den Anschuldigen wohl nicht ganz daneben. Eine Tür hier mitten im Hof, neben dem Brunnen, das konnte nicht sein. Noch immer zitternd holte Tindra Luft und versuchte, die flatternden Nerven zu beruhigen. Es gelang ihr nicht einmal ansatzweise.

Das Lachen der beiden Männer schallte zu ihr herüber. Sie fühlte sich ertappt, wandte ihnen den Blick zu. Keiner sah sie an, also hatten sie sich offenbar einen Witz erzählt.

Mit einem Seufzen drehte sie sich zum Amboss. Sie musste weiterarbeiten, die Zeit drängte. Aber dann musste sie den Schlüssel in die Hand nehmen, sie konnte ihn doch nicht einfach auf dem Boden liegen lassen. Doch wer wusste denn schon, was dann passierte?

Tindra schluckte.

Laut trommelte das Herz in ihrer Brust, als sie den schmucken Schlüssel mit geschlossenen Augen aufhob. Falls das Tor wieder auftauchte, wollte sie es nicht sehen.

Abermals vernahm sie Sunyus Lachen. »Schau, sie läuft mit geschlossenen Augen umher. Sie kann ihre eigenen Nägel schon gar nicht mehr sehen, weil sie wie Schlüssel aussehen!«

Tindra öffnete die Augen, um ihn wütend anzufunkeln, und sah gerade noch, wie der Meister Sunyu die Hand an den Hinterkopf schlug. Einen Moment verharrte sie sprachlos, dann unterdrückte sie das aufkommende Lachen. Ganz wollte ihr das nicht gelingen. Dass Juang Sunyu strafte, war etwas Neues, das hatte sie noch nie bei ihm gesehen.

»Hör auf mit deinen Gehässigkeiten. Wenn du nach kurzer Zeit schon dreihundert Nägel hättest schmieden müssen, hätte ich mein Geschäft schliessen können.«

Überrascht hielt Tindra die Luft an. Hiess das, dass sich Sunyu – wenigstens in der ersten Zeit – noch ungeschickter angestellt hatte als sie? Vor Freude wäre sie am liebsten in die Luft gesprungen, doch in diesem Moment verblasste ihre Umgebung wieder und wollte hinter dem grellen Licht verschwinden. Augenblicklich klopfte ihr Herz lauter gegen die Brust. Sie wollte nicht wieder in dieser Kälte bei diesem komischen Tor landen. Mit panischen Schritten eilte sie an ihren Arbeitsplatz, damit sie den warmen Schlüssel neben ihren Amboss legen konnte. Bevor sie ihn aus der Hand gab, warf sie einen Blick zum Brunnen zurück.

Das Tor brannte lichterloh.

Mit zitternden Fingern liess sie das Metall los und trat einen Schritt zurück. Trotzdem raunte ihr der Schlüssel verheissungsvoll zu, ihn wieder aufzuheben und die Tür damit zu öffnen.

Stattdessen trat sie die Flucht nach vorn an, indem sie sich an Juang wandte. »Gibt es eigentlich versteckte Türen?«

Sunyu lachte laut los. »Bist du nun von Seylani höchstpersönlich verlassen?« Offenbar fand er es so lustig, dass er vergass, sie abschätzig zu mustern. Stattdessen sah er sie mit einem amüsierten Blitzen in den Augen an.

Nervös schluckte sie. Diese haselnussbraunen Augen … Er war es also doch gewesen! Als Einziger hatte er sie freundlich willkommen geheissen.

Die entschlossene Stimme des Meisters riss sie aus ihren Erinnerungen. »Versteckte Türen gibt es überall.« Sein Blick wanderte zum Schlüssel und bliebt dort einen Moment zu lange hängen. Seine sowieso schon schmalen Lippen wurden noch dünner, als er sich abwandte.

Juang wusste also etwas, sie kannte ihn gut genug. Doch er schwieg eisern.

Schon am späten Nachmittag, als sich Tindra noch immer mit ihren Nägeln abmühte – sie hatte ganz besonders darauf geachtet, auch wirklich Nägel zu schmieden –, trat Juang zu seinen beiden Schützlingen. Unter dem Arm trug er ein dickes Buch, was Tindra so nicht von ihm kannte.

»Löscht die Feuer.« Juang wartete, bis sie die nötigen Handgriffe ausgeführt hatten, dann folgten sie ihm nach draussen an die frische Luft. Auch wenn die Schmiede zu zwei Seiten hin offen war, der Temperaturunterschied war deutlich zu spüren.

Trotz der Tatsache, dass die Herbstluft kühler sein sollte als im Sommer, brannte ihnen die Sonne unbarmherzig auf die Köpfe. Auf dem hellen Granittisch warteten neben einem Krug Wasser Kekse und eine Schale mit frischen Früchten. Sunyu setzte sich, ohne zu zögern, und griff nach einem grünen Apfel, genau die Sorte, die sie selbst wegen ihres säuerlichen Geschmacks auch so sehr mochte. Bestimmt hatte er absichtlich nach diesem gegriffen.

Juang liess sich auf der anderen Seite des Tisches nieder, legte das Buch auf die Steinplatte und strich nachdenklich, vielleicht sogar ein wenig wehmütig über den Einband.

Innerlich seufzte Tindra auf. Früher hatte sie gern gelesen, aber nachdem sie mit ihrer Familie nach Steinwacht gezogen war, hatte sie es aufgegeben. Die fremden Kinder hatten sie deswegen nur ausgelacht. Abgesehen davon war Steinwacht einer der letzten Orte in ganz Mra’Theel, der die alte Schrift noch benutzte, sodass sie einige Zeit gebraucht hatte, um im Unterricht überhaupt etwas lesen, geschweige denn schreiben zu können.

»Seit wann haben wir auch noch Theorie?«, grummelte Sunyu.

Unglaublich, wie es Juang die letzten vier Jahre mit diesem Brummbären ausgehalten hatte. Tindra verdrehte die Augen.

Geflissentlich überging ihr Lehrmeister den Seitenhieb Sunyus. Stattdessen warf er ihr einen Blick zu und zeigte auf die Schale mit den Früchten.

Ihrem Lehrmeister zuliebe nahm sie eine Aprikose und hiess die saftige Süsse willkommen, als sie hineinbiss. Normalerweise machten sie abgesehen vom Mittag keine Pausen. Wer durstig war, ging selbstständig zum Brunnen und holte Wasser aus der Tiefe. Nur selten unterbrach Juang sie in ihrer Arbeit, und wenn, dann hing es meist mit dem zusammen, was sie gerade taten. Oder sie lernten, mit den Gegenständen umzugehen, die sie schmiedeten, und da sie keine Nägel einschlugen, hiess das, dass sie gegeneinander kämpften.

Tindra seufzte, als ihr Blick bei diesem Gedanken auf die Schwerter fiel, mit denen sie die Übungskämpfe bestritten. Es stand ausser Frage, wer jeweils gewann. Sunyu liess keine Gnade walten, Juang ihre Nachteile in Bezug auf die körperlichen Unterschiede und mangelnde Erfahrung nicht gelten. »Ein Angreifer nimmt darauf auch keine Rücksicht«, pflegte er zu sagen.

Dass ein Angreifer niemals eine Frau bedrohen würde, hatte seine Gedanken noch nicht erreicht.

Der Meisterschmied öffnete endlich das Buch und blätterte einige Seiten um, dann verharrte er und drehte den Wälzer zu Tindra um. Neugierig lehnte sich auch Sunyu zu ihr herüber, sodass ihr sein herber Schweissgeruch in die Nase stieg.

Ihr verschlug es die Sprache. Sie erkannte das Bild eines Schlüssels, der, obwohl er ganz alltäglich wirkte, genauso aussah wie derjenige, den sie auf ihrem Amboss gefunden hatte. Der verschnörkelte Ring oben, der filigrane Schaft, selbst der Bart glich dem ihren aufs Haar genau. Wie war das nur möglich? Verwirrt sah sie erst Juang, dann Sunyu an.

Der junge Schmied schluckte ebenfalls und zog das Buch näher zu sich heran. Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte er den gezeichneten Schlüssel, dann überflog er den Text auf der linken Buchseite. Tindra wartete gespannt.

»Unmöglich!«, rief er schliesslich aus. Wie sie wenige Augenblicke zuvor, starrte er erst Juang an, doch als dieser nichts entgegnete, drehte er sich zu Tindra um. Sein zweifelnder Blick suchte in ihrem nach einer Antwort auf die unbekannte Frage.

»Was ist denn los?«

Juang seufzte, massierte sich das Gesicht mit beiden Händen. Sein Bart kratzte hörbar. Als er antwortete, wählte er die Worte mit Bedacht. »Ihr wisst, dass ich mich gern mit alten Geschichten und Legenden befasse. Als du heute nach der versteckten Tür gefragt hast, nachdem der Schlüssel aufgetaucht ist, habe ich mich an etwas erinnert, das ich vor langer Zeit einmal gehört habe. Hier habe ich eine Antwort gefunden.« Er tippte auf das Bild mit dem Schlüssel.

»Eskild hat mir auch schon von den Schlüsseln erzählt …«, warf Sunyu zu Tindras Überraschung ein.

Sein Vater also, den er offenbar nicht ausstehen konnte. Jedes Mal, wenn die Sprache auf ihn fiel, wechselte der junge Mann das Thema, verabschiedete sich plötzlich vom Gespräch oder kehrte in sich. Meist trat eine Ader an seinem Hals hervor, ein Zeichen der Wut. Auch jetzt pulsierte die Haut über der geschwollenen Blutbahn im Takt seines Herzschlags. Sunyu schien sich von seiner Überraschung etwas beruhigt zu haben, doch ganz traute sie dem Frieden noch nicht.

»Sie sollen einzelne Orte miteinander verbinden, den Platz dazwischen zum Verschwinden bringen. Früher gab es gut zwei Dutzend solcher Schlüssel und noch weit mehr Tore, die ohne die Schlüssel unsichtbar und unbegehbar blieben. Nur ein Meisterschmied konnte sie erschaffen.«

Für Sunyu war das eine erstaunlich ausführliche Erklärung gewesen, vor allem, weil diese ohne einen einzigen Fluch auskam. Sein Blick blieb wieder an Tindra hängen, doch sie nahm das kaum wahr.

Meisterschmied … er hatte Meisterschmied gesagt. Tindra schluckte. Abgesehen von diesem einen Gedanken war ihr Kopf leer.

»Jetzt gibt es nur noch ein paar wenige. Wie viele es genau sind, weiss niemand. Bei Doana, das ist unmöglich …« Er schüttelte abermals den Kopf, sein Blick ruhte noch immer auf ihrem Gesicht.

»Ich traue der Sache nicht«, gestand Juang und versteckte das Gesicht hinter den riesigen Händen. Überforderte ihn die Situation derart? Sogar ein Zittern in seiner Stimme war zu hören, als er weitersprach. »Hast du ihr den Schlüssel hingelegt?«, fragte er Sunyu.

Dieser schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. Offenbar verunsicherte die Ratlosigkeit ihres Meisters nicht nur Tindra. Sie kannte den untersetzten Schmied nur als in sich gekehrte, aber durchaus selbstsichere Persönlichkeit, nicht als jemanden, der keinen Rat wusste.

»Tindra?«

Sie schrak hoch. »Ja?«

»Hast du den Schlüssel hergestellt?«

Was sollte sie sagen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, was genau sie gemacht hatte. Ihre Gedanken hatte sie schweifen lassen, während sie die Nägel schmiedete, und sie hatte keinen blassen Schimmer, wie der Schlüssel auf ihren Amboss gekommen war. Wenn sie es ganz genau nahm, dann hatte sie ein paar Augenblicke nicht ganz aufgepasst, was ihre Finger getan hatten. Aber sie konnte doch nicht einfach so einen Schlüssel herstellen, noch dazu einen solch filigranen, hübschen.

»Wir könnten in deinem Metallvorrat nachsehen. Die Nägel sind aus Eisen, der Schlüssel hingegen besteht aus nicht miteinander verschmolzenem Gold und Silber. Die einzige Möglichkeit, an Gold und Silber zu kommen, dürfte dein eigener Schrank sein«, schlug Sunyu vor. Unglaublich, wie konstruktiv er sein konnte, wenn er wollte. Davon hatte sie bisher noch keine Ahnung gehabt.

Tindra stand auf und holte den kleinen Schrank, in dem sie die wenigen edlen Metalle, mit denen sie arbeiten durfte, aufbewahrte. Ein Freund hatte ihn ihr als Abschiedsgeschenk gezimmert, nachdem ihr Vater seine Existenz wieder einmal aufs Spiel gesetzt und verloren hatte. Obwohl er nicht gewusst hatte, dass sie einmal Schmiedin lernen würde, passte sein Werk nun perfekt. Vorsichtig öffnete sie ihn.

Ein überraschter, erschrockener Laut kam über ihre Lippen. In ihrem Brustkorb hämmerte ihr Herz laut und viel zu schnell, als wäre es am liebsten aus der Situation geflohen. Gold und Silber fehlten komplett.

Sie schluckte nervös und sah Juang verzweifelt an. »Aber es kann doch nicht sein, dass ich so neben mir stehe und einen Schlüssel anstelle eines Nagels schmiede.« Inständig hoffte sie, dass er die Sache schnell aufklären würde. Seine und Sunyus zusammengezogene Augenbrauen machten ihr fast so viel Angst wie die Tatsache, dass der junge Schmied sie seit Beginn dieses Gesprächs nicht verbal angegriffen hatte.

»Seylani und Doana mögen uns beistehen«, flüsterte der breitschultrige Mann und schloss das Buch. »Wenn es das ist, was wir vermuten, dann ist der Schlüssel sehr mächtig. Und begehrt!« Er seufzte abermals. »Sunyu, bring Tindra nach Hause.«

»Nein«, erwiderten beide im Chor.

»Keine Widerrede«, beschwor der Meister sie und hob dabei den Zeigefinger mahnend in die Höhe. »Ich will, dass du sie nicht auch nur einen Wimpernschlag aus den Augen lässt, es ist zu gefährlich. Ansonsten bist du deine Anstellung hier los. Bewaffnet euch, bevor ihr geht – ihr beide.«

Tindra schluckte abermals. Falls jemand sie mit einem Schwert in der Hand entdeckte, war sie sich der Konsequenz durchaus bewusst. Selbst Trainingskämpfe waren schon grenzwertig.

Im Gegensatz zu ihr stellte sich Sunyu geschickt an. Er war begabt, schnell und kräftig. Abgesehen davon verfügte er über eine unglaubliche Treffsicherheit – nicht nur mit dem Schwert, auch mit seinen Sprüchen.

Tindra dagegen … Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. Was sie konnte, war nicht der Rede wert. Ausserdem würde sie mit jedem Schwerthieb in den Augen der Göttinnen an Ansehen verlieren. Ihr wohnte das Geschenk der Göttinnen inne, ein Funken Lebensmagie, der sie befähigte, Leben zu schenken und zu erhalten. Diese Fähigkeit durfte von niemandem angegriffen werden, ansonsten drohte ewiges Verderben. Deshalb wagte es niemand, eine Frau anzugreifen.

Wenn sie sich aber selbst gegen den Schutz des Lebens entschied, indem sie jemand anderes mutwillig verletzte, verweigerte sie das Geschenk der Seylani und der Doana und somit ihren Status als unantastbarer Funken göttlichen Wirkens. Sie würde zu Freiwild, einer Lebensform, die unter dem Dasein der Männer dahinvegetierte. Freiwild besass keine Rechte, ausser dem, sich zu verteidigen.

An der Drohung, seinen Schützling rauszuwerfen, konnte sie erahnen, wie ernst er die Situation einschätzte. Trotzdem fand sie es übertrieben. Ihr würde nie jemand zutrauen, etwas zu schmieden. Selbst Sunyu zweifelte täglich daran, obwohl er ihre Fortschritte sah. Also würde ihr auch niemand auf der Suche nach dem neuen Schlüssel hinterherspionieren.

Widerstrebend suchte sie sich einen Dolch und ein Schwert aus dem Hinterzimmer der Schmiede, nachdem sie ihre Schürze abgelegt hatte. Sunyu griff nach seinem Schwert mit der geheimnisvoll leuchtenden Klinge, das sie insgeheim schon immer bewundert hatte.

Ruppig

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Sunyu

Sunyu schlurfte neben Tindra her. Die Schotterpiste führte sie in einem lang gezogenen Bogen den Hügel hinauf, auf dessen Kuppe Tindras Eltern das leer stehende Haus gekauft hatten. Ihr Vater hatte Bier nach Steinwacht gebracht, richtiges Bier, nicht das wässrige Gesöff der Gebiete um Steinwacht herum. Bestimmt verdiente er sich und seiner Familie einen goldenen Arsch dabei.

Sein Blick fiel auf die angehende Schmiedin. Sie hielt den Kopf gesenkt und wartete nur darauf, dass ihm ein dummer Spruch einfiel – und auf den wartete er auch noch. So lustlos kannte er sie gar nicht. Selbst ihr dicker Zopf hing schlaff über der Schulter, anstatt mit ihr und dem Wind zu tanzen.

Sein Atem ging für einen Augenblick etwas schwerer, als würde Wasser auf seine Brust drücken.

Jedes Mal, wenn sein Vater ihm von den Schlüsseln erzählte, erwähnte er im selben Atemzug die glorreichen Schmiedemeister, die sie hergestellt hatten.

Tindra hatte es nach nicht einmal einem halben Jahr Ausbildung geschafft. Sie hatte einen magischen Schlüssel geschmiedet. Noch in der Schmiede hatte Sunyu beobachtet, wie sie ihn angestarrt und schliesslich in ihrer Kiste versteckt hatte.

Er hatte ihn heimlich mitgenommen.

In seiner Magengegend grummelte es. Dieser verdammte Schlüssel. Wieso hatte er nicht wenigstens versucht, einen zu schmieden, wenn er schon davon wusste? Auch wenn es nicht geklappt hätte, er hätte es wenigstens versucht.

Sunyu seufzte. Egal, wie man es drehte und wendete, er war eifersüchtig. Tindra hatte ein Meisterwerk erschaffen. Sie war besser als er, selbst Juang hatte das heute angedeutet.

So würde er nie seine eigene Schmiede bekommen. Juang würde seinen Betrieb an Tindra vermachen, wenn er ihn dereinst abgab. Dabei war Juangs Kinderlosigkeit Sunyus einzige Chance, sich in absehbarer Zeit eine eigene Existenz aufzubauen.

Beim dürren Arsch der Seylani und ihrem verfaulten Zeh!

Und jetzt drohte er ihm auch noch mit dem Rauswurf, so kurz nach Abschluss der Ausbildung. Ungerechter ging es nicht. Er brauchte das Einkommen und mochte sich nicht ausmalen, was sein Vater mit ihm anstellen würde, wenn diesem der Schnaps ausging.

Vielleicht sollte er Tindra eigenhändig auslöschen? Oder sie entführen und ihre Familie erpressen, immer genügend Bier zu ihm nach Hause zu liefern? Wenn er es sich recht überlegte, schien das ein gangbarer Weg. Vielleicht konnte er auch einfach anklopfen und Tindras verschrobene Mutter um die Hand ihrer Tochter bitten? Ein anderer wollte sie sowieso nicht. Und wenn das Bier ausging, konnte er genau mit diesem Argument mehr verlangen.

Der Plan war so perfekt, dass er versucht war, ihn hier und jetzt in die Tat umzusetzen. Tindra heiraten und von ihrem Alten das Bier einheimsen. Hörte sich machbar an.

Aber auch wenn er sie nicht mochte, sie, die so perfekt und fröhlich war, konnte Sunyu sie nicht einfach aus dem Weg räumen. Eskild hatte schon seine Mutter aus dem Weg geräumt. Das reichte.

Im Wald neben ihnen raschelte es, er schrak zusammen. Seine Hand lag angespannt auf dem Heft des schimmernden Schwertes. Sunyu starrte in den Wald hinein, der ihm finsterer schien als die tiefste Stelle von Seylanis dürrem Arsch.

Tindra lachte und riss ihn damit aus seinen Gedanken. »Das ist doch bloss ein Tier. Vermutlich fürchtet es sich mehr vor dir als du dich vor ihm.«

Er brummte. Natürlich hatte er keine Angst, so etwas gab es bei ihm nicht. »Komm endlich.« Nach diesem beschissenen Tag wollte er einfach nur nach Hause. Wobei … Er schüttelte den Kopf, sodass seine Bartzöpfe nur so flogen. An sein Zuhause wollte er nicht denken. Es war besser, wenn er Tindra nach Hause brachte – dann konnte er seinem Alten noch ein wenig ausweichen.

»Warum bist du immer so ruppig?«

Die Frage traf ihn völlig unvorbereitet. Bisher hatte sie ihn noch nie so direkt angesprochen, erst recht keine Frage gestellt. Ruppig? Er? Sie hatte seinen Vater noch nicht kennengelernt, der war ruppig … und noch viel mehr. »Du träumst, Mädchen.« Wie ein Bär, der vor sich hin brummte. Vielleicht hatte sie ja doch ein bisschen recht?

Sie drehte sich mit erstaunlich wachen Augen zu ihm um. Das Zucken in ihnen verriet ihre Unsicherheit. »Ich bin mir ziemlich sicher«, begann sie mit ihrer weichen Stimme, »dass du mich an meinem ersten Schultag angesprochen hast. Freundlich sogar.«

Er schluckte nervös. Mit ihrer überraschend direkten Art hatte er nicht gerechnet, sie war doch sonst nicht so … nicht so selbstsicher, forsch. Ihre Augen suchten nach einer Bestätigung in seinem Gesicht, doch er lächelte nur herablassend. »Du träumst immer noch.«

Ein weiteres, lauteres Rascheln unterbrach das Gespräch. Sunyu schnellte herum, sein Schwert lag in seiner Hand. Aus dem Wald sprangen sechs riesige Männer, etwas grösser, als er selbst es war.

Der Anblick der Gestalten stellte ihm auch ohne genauere Betrachtung die feinen Härchen im Nacken zu Berge. In Zotteln hingen ihnen die fettigen Haare bis teilweise über die Schultern hinab, und die gespenstisch blasse Haut leuchtete in der Sonne, die sie sonst kaum zu Gesicht bekamen.

Die Larhun, das Schattenvolk.

Tindra schrie erschrocken auf. Einer der Männer lachte und packte sie am Arm, zerrte sie zu sich.

Sunyu nutzte die Ablenkung von Tindras schwacher Gegenwehr und stürzte sich auf einen der Riesen. Sein Schwert fuhr herum, doch der Angreifer schlug es ihm mit der blossen Hand weg. Nur ein dünner Schnitt zog sich über den Unterarm des Kriegers. Haut wie gegerbtes Leder, zumindest so hässlich war sie.

»Abschaum wie du kann nichts gegen uns ausrichten.«

Wütend ballte Sunyu die Hand zur Faust und holte aus, um sie dem Larhun mit voller Wucht von unten ans Kinn zu schmettern. Unter der Wucht brach etwas – ob es seine Hand oder der Kiefer des Schattenkriegers war, vermochte er nicht zu sagen. Den Schmerz in seinen Fingern nahm er kaum wahr, als er den Fall des Soldaten beobachtete.

Wenigstens gelohnt hatte es sich.

Sein Atem ging heftig, die Schultern bebten. Er suchte nach Tindra, die er um alles in der Welt beschützen musste. Ansonsten war er seine Anstellung los und mit ihr verlor er jegliche Perspektive auf ein eigenständiges Leben. Was ihm dann noch blieb, waren die Minen – ein Leben in der Dunkelheit zwischen funkelnden Edelsteinen.

Bestimmt schüttelte er den Kopf. Er würde sicher nicht aufgeben, nicht jetzt, da er endlich Gold für seine Arbeit bekam. Gold, das er dringend brauchte, um irgendwann seine eigene Schmiede zu eröffnen.

Mit grimmiger Entschlossenheit rammte er einem Angreifer den Ellbogen in die Magengrube, sodass dieser sich auf die Strasse übergab.

Ein Schwert stach nach ihm, er wich aus, doch der nächste Knauf erwischte ihn an der Schläfe. Kurz tanzten Sterne vor seinen Augen. Er achtete nicht darauf und wirbelte herum, in der Hoffnung, einen der Angreifer mit seiner Hand im Gesicht zu erwischen, doch der Angriff ging ins Leere. Der Schwung brachte ihn aus dem Gleichgewicht, er taumelte, machte einen Ausfallschritt.

Verdammte Scheisse.

Ein Schattenmann mit erstaunlich gepflegten, kurzen Haaren holte aus und traf ihn mit voller Wucht am Kinn. Es knackte hässlich. Der Schmerz trieb Sunyu die Tränen in die Augen, er fiel auf die Knie.

»Fesselt ihn. Und die Kleine auch«, befahl der Kurzgeschorene in ruhigem Ton. Ihm war nicht anzumerken, ob er wütend oder aufgebracht war.

»Aber Bram, eine Frau wird doch nicht …«, wandte einer der Krieger ein, wurde aber vom Anführer unterbrochen.

Verdammte Scheisse, diese Hurentochter von Seylani. Wieso griff die Göttin des Tages nicht endlich ein und beschützte ihre Tochter? Tindra sah ihr mit dem ebenmässigen Gesicht, den grossen Augen und dem fröhlichen Aufblitzen in ihnen so ähnlich, wenn sie voller Freude vom Ausflug mit ihrer Schwester Reina erzählte.

Zu deutlich war Tindras Nähe zu Seylani. Sie gehörte ins Licht.

Nicht so er, Sunyu.

Aber die Larhun sahen das anders. »Sie trägt Hosen, hat kräftige Arme und rissige Hände. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie die gesuchte Schmiedin ist, verschwindend klein ist, so dürfen wir es nicht riskieren, sie fälschlicherweise hierzulassen.«

Sunyu schmeckte Blut im Mund, ein Zahn fühlte sich locker an. Der Schlag dieses Mannes war unglaublich, die Wucht hatte selbst ihn zu Boden geworfen. Ihre Schmiedin? Diese Larhun waren also tatsächlich hinter dem Schlüssel her.

Der Soldat, den ein anderer Bram genannt hatte, ging vor ihm in die Knie und legte ein Messer an sein Kinn. Das kalte Metall zwang ihn, den Anführer anzusehen. In den dunklen Augen konnte er endlose Abgründe erkennen, die er alle durchwandert hatte. Ein Mann wie er würde nicht zögern, einen Kopf abzuschlagen.

»Lasst sie gehen«, brachte Sunyu gebrochen hervor, auch wenn es ihn in seinem Innersten schmerzte. Er hätte sich für sich selbst, nicht für Tindra einsetzen sollen. »Sie ist nicht die, die ihr sucht.«

Brams Messer schliff mit der Klinge über sein Kinn, hinterliess eine brennende Spur. Der Anführer erhob sich lachend. »Und einem Bastard wie dir soll ich Glauben schenken? Passt gut auf die Kleine auf, sie darf uns nicht entwischen.«

Bei Seylanis verfluchtem Arsch, das durfte doch nicht wahr sein! Woher wussten die Männer überhaupt von diesem verdammten Schlüssel?

Zwei der Larhun packten ihn an je einem Ellbogen, fesselten seine Hände hinter dem Rücken und zerrten ihn auf die Beine. Obwohl er ähnlich breit und schwer gebaut war wie sie, hatten sie keine Mühe damit. Was machten diese Männer tagein, tagaus, dass sie so viel Kraft entwickeln konnten?

Der Schmerz in seinem Kinn machte ihn etwas benommen. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete er, wie einer der Männer Tindra fesselte und sie sich wie einen Sack Getreide über die Schulter warf. Für eine Frau war sie breit gebaut und kräftig, trotzdem deckte sie die eine Schulter nicht komplett ab. Sie warf Sunyu einen angsterfüllten Blick zu, er wandte den seinen ab.

Er hatte versagt.

Er würde seine Stelle verlieren – oder seinen Kopf, was wesentlich wahrscheinlicher war.

Wie gern hätte er Tindra befreit, nicht nur wegen seiner Stelle. Eine leise, blutrote Flamme entfloh seiner Hand, schlängelte sich an seinem Arm entlang nach oben, dorthin, wo der Schattenmann ihn festhielt. Sie kroch unter die ledrige Haut, doch im letzten Moment, als er sie überhaupt erst bemerkte, rief Sunyu sie zurück. Den letzten Wunsch seiner Mutter würde er respektieren, egal, was es ihn kostete.

Angesichts der Tatsache, wie fit und gross gewachsen die Schattenmänner waren, konnte er seine Angriffe wohl als Teilerfolg werten. Immerhin hatte einer einen gebrochenen Kiefer, genau wie er, und ein anderer hatte sein Mittagessen wieder hergegeben.

Als die Männer ihn knebelten, durchzuckte Schmerz seinen Körper. Mit an einem kurzen Seil zusammengebundenen Händen und dem Fetzen schmutzigen Stoffs im Maul hatte er keine Chance, sich zu wehren oder gar zu flüchten. In seinem Inneren loderte das Feuer, doch er hielt es unter Kontrolle.

Als er Tindra einen kurzen Blick zuwarf, stellte er fest, dass es ihr etwas besser erging als ihm. Betäubt vor Angst hing sie über der Schulter des Mannes und liess alles stoisch über sich ergehen. Wieso wehrte sie sich nicht? Von ihr hätte niemand erwartet, dass sie sich gegen die Angreifer auflehnen würde, sie hätte bestimmt eine Chance gehabt. Na ja, vielleicht. In den Übungsstunden stellte sie sich mehr als ungeschickt an. Einmal war sie über ihre eigenen Füsse gestolpert und hatte sich selbst die Wange aufgeschnitten. Einen dünnen, roten Strich sah man jetzt noch, wenn man sie genau betrachtete.

Mann, wie hatte er gelacht. Köstlich war es gewesen.

Einsam

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Arin

Sein Kopf hämmerte, als wäre eine Horde Reiter mit ihren beschlagenen Pferden über ihn hinweggedonnert. Mit einem Stöhnen griff sich Arin an die Stirn. Sofort bereute er die Bewegung. Wie ein Blitz durchzuckte der Schmerz seinen Arm, ihm wurde übel. Er versuchte sich an einem Blinzeln, doch mehr als dunkle Leere konnte er nicht ausmachen.

Trotzdem gab er nicht auf. Als er die Augen zum wiederholten Male öffnete, schärften sich die Konturen zu Baumstämmen und Blättern, Steinen und braunem Boden. Erleichtert atmete er aus. Wenigstens war die Schwärze vor seinen Augen verschwunden, auch wenn ihm der Schädel brummte.

Noch tanzten dunkle Flecken durch sein Gesichtsfeld, also wartete er einige Atemzüge, bevor er die Knie näher an seinen Körper zog. Als sich sein Rücken rundete, spürte er die harte, raue Oberfläche des Baumstamms und wie steif er sich fühlte. Wie lange hatte er hier geruht? Dem Sonnenstand und der Wärme nach zu urteilen könnte es um die Mittagszeit herum sein.

Mit klammen Händen griff er nach dem Holz und zog sich am Stamm hoch. Sein Sichtfeld wurde von aussen her schwarz, die Ohren füllten sich mit Watte, bis ein Pfeifen erklang. Gerade als er aufgeben und sich wieder setzen wollte, klang es ab. Langsam erkannte er auch seine Umgebung wieder. Er hasste es, wenn er sich so schutzlos fühlte.

Arin sah sich um, entdeckte aber niemanden. Vereinzelt hörte er das Trällern eines Vogels, aber meist wurden die leisen Rufe vom Rauschen des Windes in den Baumkronen überdeckt. Seine Stirn wurde feucht vor Anstrengung. Er lehnte sich an den Baumstamm, griff mit den Händen an die harte Rinde und schloss die Augen.

Er ging in sich, suchte nach dem Summen seines Schlüssels, den die Krieger der Larhun nun bei sich trugen. Normalerweise spürte er die Schwingungen der magischen Gegenstände, jeder trug eine andere Melodie in sich. So lange wanderte er schon mit seinem Meisterstück herum, dass er das Singen so gut kannte wie den eigenen Körper. Es vibrierte in seinem Inneren. War es nicht da, fühlte er sich leer und nackt.

Und beim Vergessenen, dem alten Gott, an dessen richtigen Namen sich niemand erinnern konnte, wie leer er sich fühlte. Nicht einmal ein einziger Ton verriet ihm die Richtung, in die die Schattenmänner abgehauen waren. Plötzlich fühlte sich Arin hilflos, so klein und allein in dieser Welt. Bisher hatte er den Larhun immer wieder ein Schnippchen geschlagen, hatte sie verwirrt, zum Narren gehalten, um genau zu sein – und jetzt hatten sie ihn erwischt.

Der Druck in seinem Kopf nahm dermassen zu, dass sich die Übelkeit verstärkte und er den kümmerlichen Rest in seinem Magen beinahe von sich gegeben hätte. Sein Kopf ruhte am kühlen Holz, er schluckte.

Nachdem er kurz zu Bewusstsein gekommen war, hatte er sich hinter die ersten Baumreihen zurückgezogen. Falls er im Land der Kvor gelandet war, konnte es nur hinderlich sein, wenn sie ihn in diesem Zustand aufgriffen. Vor allem, weil er die lang ersehnte Nachricht nicht bei sich trug. Eine Strasse wie der Kiesweg, auf dem er verdroschen worden war, lud geradezu dazu ein, dort zu spazieren oder zur Arbeit zu gehen.

Er schluckte abermals, sein Hals schmerzte. Trotzdem wandte er den Kopf und versuchte, einen Blick auf die Umgebung zu erhaschen. Hinter seiner Stirn hämmerte es wieder lauter, doch er versuchte, es zu ignorieren, auch wenn ihn der rebellierende Magen hartnäckig darauf hinwies, wie beschissen es ihm ging.

Als er die Weite ausserhalb des Waldes sah, hielt er für einen Augenblick die Luft an. Sofort war das Elend vergessen, sein Mund klappte auf. Wie unglaublich weit der Blick schweifen konnte. Einen Moment liess er die Stimmung auf sich wirken und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Arin erblickte einen Hügel auf der Ebene vor dem Gebüsch, er musste sich also auf einer Anhöhe befinden. Nicht weit vom Baum schlängelte sich der Kiesweg zwischen grüner Wiese und dunklem Wald zu einem Dorf, aus dem Rufe und Gespräche bis zu ihm hallten, wenn er sich darauf konzentrierte. Doch bald wuchsen die Schmerzen wieder derart an, dass das Rauschen in den Ohren alle Umgebungsgeräusche übertönte. Wirklich etwas verstehen konnte er nicht.

Wenn er so nah an einem Dorf war, musste er sich erst einmal verstecken. Vielleicht fand er einen Ort, an dem er sich erholen und einen Schluck Wasser aus einem Bach trinken konnte. Noch wusste er zu wenig von diesem Teil Mra’Theels, an den ihn sein Schlüssel geführt hatte. Bevor er in eine Auseinandersetzung geriet, wollte er seinem Körper eine Pause gönnen. Und er brauchte einen Plan, wie er sich den Irin und den Kvor erklären konnte.

Arin schätzte, dass der späte Nachmittag schon angebrochen war. Das warme Licht der Sonne, das leicht orange wirkte, sprach dafür. Sein Magen knurrte jedenfalls, entnervt sah er sich um. Sofort pochte sein Kopf heftiger. Ganz verschwunden waren die Schmerzen nie, aber wenigstens waren sie vor der abrupten Bewegung erträglich gewesen. Vielleicht hätte er doch besser beim Dorf bleiben sollen? Bestimmt hätte er jemanden gefunden, der ihm geholfen hätte.

Aber er kannte die Gründe nur zu gut, weshalb er es nicht getan hatte. Als Bote der Irin war er einer der ranghöchsten Offiziere in ihrer Streitmacht. Es winkte ihm zwar ein guter Lohn, wenn er die Nachrichten überbrachte, aber gleichzeitig war er durch die brisanten Inhalte beliebtes Ziel von Intriganten und verfeindeten Völkern. Erst durch seine Tätigkeiten hatte er erfahren, was es hiess, zwischen den Fronten zu stehen, das Ziel eines jeden zu sein. Manchmal verfluchte er sein einsames Dasein. Niemandem durfte er vertrauen, jeder könnte sich irgendwann gegen ihn stellen.

Plötzlich erklang in seinem Herz das Lied eines magischen Schlüssels. Nicht summend und unterschwellig wie das des Schlüssels der Irin, sondern laut, durchdringend, einvernehmend. Der Gesang vibrierte so heftig in ihm, dass er mit der Hand an seine Brust griff und die Hände in sein Hemd krallte. Er stöhnte auf.

Für jemanden wie ihn, der es gewohnt war, auf die feinen Schwingungen zu achten, war das Lied des unbekannten Schlüssels wie die Sonne für einen Maulwurf, der aus dem Boden gezerrt wurde.

Er hätte ihn doch hören müssen, als er sich genähert hatte. Kein Gegenstand erschien einfach so aus dem Nichts. Doch genau danach fühlte es sich an, als wäre er vom einen Augenblick zum anderen da gewesen. Hätte der Schlüssel ein Tor passiert, hätte er die Macht des Tores doch gespürt. Aber dieses helle Lied erfüllte alles in ihm, selbst das Blut in seinen Adern rauschte im Takt der Musik durch den Körper, ohne ihm auch nur ein kleines bisschen zu verraten, woher der Schlüssel kam.

So intensiv hatte er seinen eigenen Schlüssel nie gespürt, auch wenn er ihn nah am Körper getragen hatte.

Seinen weichen Knien zum Trotz erhob er sich. Wenn er sich nicht täuschte, lag das Dorf, das er heute schon durch die Bäume hindurch gesehen hatte, dort, wo das Singen herkam.

Einen winzigen Moment fragte er sich, was wäre, wenn jemand einen Schlüssel geschmiedet hätte. Doch fast gleichzeitig schüttelte er den Kopf. Er war so tief in Gedanken versunken, dass er die Schmerzen nur am Rande wahrnahm.

Seit Jahrhunderten hatte niemand mehr einen magischen Schlüssel oder gar ein Tor hergestellt, vom Verfahren war nichts überliefert. Es war so gut wie unmöglich, einen Schlüssel zu schmieden. Dennoch war einer aus dem Nichts aufgetaucht.

Obwohl ihn jeder Schritt schmerzte und er wie ein alter Mann humpelte, machte er sich auf den Weg zurück zu der Stelle, an der er zusammengeschlagen worden war.

Bisher hatte er geglaubt, dass nur noch drei Schlüssel existierten. Seit er die Melodie desjenigen gehört hatte, den die Larhun nutzten, hatte er auch alle einmal gespürt.

Einen hatten die Irin, das hochgeborene Volk, ihm anvertraut, damit er seine Nachrichten schnell und zügig an die Kvor übermitteln konnte. Hin und wieder, wenn ihm unwohl war und er sich beobachtet fühlte, nahm er einen Umweg. Wenn man wusste, wie, konnte man die Schlüssel dazu bringen, selbst einen Weg zu wählen. Offenbar hatte es diesmal nichts gebracht, denn er war trotzdem brutal überfallen worden.

Den zweiten Schlüssel hatten die Krieger der Larhun mit sich getragen, als sie ihm aufgelauert hatten. Falls er so laut gesummt hätte, hätte Arin das gehört. Ausserdem klang er anders, feiner, als würde er vorsichtig fragen, ob er singen dürfte.

Arin schüttelte den Kopf und lehnte sich an einen Baumstamm. Gedankenverloren blickte er auf den Hügel etwas abseits des Dorfes. Von dort kam das Lied, noch immer hell, aber nicht mehr ganz so durchdringend. Vielleicht schützten sich seine Sinne auch selbst, indem sie nicht mehr so empfindsam reagierten.

Der dritte Schlüssel lag irgendwo tief in den Bergen Kvoras. Obwohl die Königin des kleinen Volkes darauf beharrte, dass sie wusste, wo sich das magische Artefakt befand und wie es zu benutzen war, glaubte Arin selbst nicht daran. Die Halle, in der sich nur ein Schlüssel und ein magisches Tor befanden, konnte nur über einen langen Weg in die Tiefen der Berge erreicht werden.

Arin schüttelte den Kopf. Wer nutzte die Möglichkeit nicht, sicher, schnell und bequem zu reisen, wenn er die Gelegenheit dazu hatte?

Das Lied schwoll wieder an, aus einem starken, gurgelnden Bach wurde ein reissender Strom, so betäubend, dass sich Arin intuitiv die Ohren zuhielt, auch wenn er die Töne in seinem Herzen und nicht mit den Ohren hörte. Zweifellos stand jemand mit dem magischen Artefakt vor einem Tor und war im Begriff, dieses zu öffnen. Der Durchgang rief ihn, er machte einen Schritt darauf zu.

Die Melodie verstummte abrupt.

Blinzelnd versuchte Arin, das eben Erlebte in einen Zusammenhang mit seinem Wissen über die Schlüssel zu bringen, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Die Irin hatten immer wieder betont, dass sie im Besitz des mächtigsten noch existierenden Schlüssels waren.

Vielleicht hatte er sich den Gesang in seiner Erschöpfung auch nur eingebildet? Ein Trugbild seiner schwindenden Sinne?

Wie gern hätte er der aufkeimenden Hoffnung Glauben geschenkt, doch er zweifelte zu sehr, um sich verleiten zu lassen.

Arin schrak aus seinem Dämmerschlaf hoch. Verwirrt sah er sich um. Nur langsam fiel ihm wieder ein, wo er sich befand: in einem Wald nahe eines ihm unbekannten Dorfes. Auch wenn sich sein Magen vor Hunger grummelnd zusammenzog, ging es ihm schon wesentlich besser als noch am Nachmittag. Wenigstens war ihm nicht mehr derart übel, dass er sich jeden Augenblick übergeben wollte.

Trotzdem fühlte er sich ungewohnt rastlos. Als er sich am Nachmittag neben den Stein gesetzt hatte, hatte ihn die Gewissheit beruhigt, dass er jetzt sowieso nichts an seiner Situation ändern konnte. Den Larhun war er nicht gewachsen, sein Körper benötigte erst einmal Ruhe, um sich wegen der Verletzungen zu regenieren, und weder die Irin noch die Kvor würden in den nächsten Tagen Spione oder Häscher nach ihm ausschicken, um den vermeintlichen Verräter zu stellen.

Irgendetwas, ganz nahe und doch weit weg im Land der Träume, beunruhigte ihn. Etwas nagte an seinem Bewusstsein.

Ein Schrei! Ein durchdringender Schrei hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Angestrengt lauschte er in den Wald hinein, doch mehr als einige unterdrückte Flüche und ein Lachen aus tiefster Männerkehle konnte er nicht hören.

War es wirklich der Schrei einer Frau gewesen, der ihn geweckt hatte? Hätte er sie nicht wieder hören müssen, wenn das Gerangel auf dem Kiesweg ein ausgewachsener Streit gewesen wäre?

Ein Rascheln durchdrang die Stille, Schritte entfernten sich, bis es irgendwann wieder still wurde. Die Auseinandersetzung war offensichtlich vorbei.

Obwohl sein Körper rebellierte, versuchte, ihn zu warnen, näherte er sich leise dem Ort des Geschehens. Vielleicht entdeckte er ja noch Spuren davon, was gerade Anlass des Streits gewesen war. Auch wenn er sich besser um den magischen Schlüssel gekümmert hätte, wollte er sichergehen, dass keine Frau zu Schaden gekommen war. Das Geschenk der Göttlichkeit durfte nicht mit Füssen getreten werden.

Zweimal musste er eine kurze Pause einlegen und sich an einem Baumstamm abstützen. So kraftlos fühlte er sich sonst nicht, an zitternde Beine hatte er bisher noch nie gedacht. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Lag es nur am Schlag, der ihn niedergestreckt hatte?

Dabei wusste Arin nur zu gut, dass die Krieger der Larhun keine Gnade kannten, wenn sie ihr Opfer gefunden hatten. Dass er überhaupt überlebt hatte, grenzte schon an ein Wunder. Er konnte von Glück sprechen, dass er noch bei klarem Verstand war.

Wenn er es denn war.

Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen. Falls er nicht bei klarem Verstand war, es aber dachte, konnte er kein Problem erkennen.

Schwer atmend hielt er inne, sobald er den Kiesweg vor sich überblicken konnte. Nichts deutete auf einen Angriff oder ein Handgemenge hin. Die Welt brauchte einige ruhige Momente, um sich nicht mehr zu drehen.

Mit einem Stöhnen setzte er sich neben einen Stein, lehnte sich gegen die warme Oberfläche. Obwohl die Sonne die Luft noch spürbar erwärmte, fröstelte es ihn. Er schlang die Arme enger um seine Knie, zog sie zu sich und legte den Kopf darauf. Hier konnte er bleiben, bis die Dämmerung ihm ein wenig Schutz bot.

Irgendwann jedoch würde sich die Nacht über das Dorf legen, das er manchmal zwischen den Baumstämmen hindurch erahnen konnte. Bestimmt würden die Kvor bis dahin schon nervös Däumchen drehen und Seylani und Doana um Rat bitten. Die Kvor erwarteten die Antwort der Königin der Irin bis heute Abend. Nun lag die gut geschützte Nachricht in den Händen der Larhun. Arin blieb nur die Hoffnung, dass die dummen Männer es nicht schafften, die Rolle zu öffnen, und diese war gross, so intelligent waren die Larhun nun auch wieder nicht. Nur gross und stark und Furcht einflössend.

Aber auch wenn sie nicht an die Nachricht gelangen konnten, war sein Schicksal besiegelt. Er hatte sie verloren, etwas anderes zählte bei den Irin nicht. Ob er die wertvolle Rolle freiwillig oder unfreiwillig abgegeben hatte, wurde als dasselbe Vergehen geahndet. In den Augen der Hochgeborenen hatte er sie verraten.

Arin schloss die Augen und versuchte, die bitter aufsteigende Verzweiflung hinunterzuschlucken. Er musste unbedingt zu seinem Meister zurück. Vielleicht fiel diesem ein Ausweg aus der verfahrenen Situation ein. Wenn er den Irin nicht bald seinen – ihren – Schlüssel zurückbrachte und die verschollene Nachricht wieder in die Finger bekam, würden sie ihm die Hölle heiss machen.

Angst

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Tindra

Bei jedem Schritt schlug sie mit dem Oberkörper gegen den Rücken des Soldaten, der doppelt so breit war wie sie. Tindra wusste nicht, wie ihr geschah, weshalb die Krieger sie und Sunyu aufgegriffen hatten. Nur ein Alarmglöckchen im Hinterkopf erinnerte sie daran, dass es vermutlich einen Zusammenhang zwischen dem Schlüssel und diesem Angriff gab, doch sie wollte es nicht wahrhaben.

Die Männer schleiften Sunyu schonungslos hinter sich her. Seine Fussfesseln waren so eng, dass er ständig stolperte und auf die Knie fiel. Rücksichtslos zerrten die Männer ihn wieder auf die Beine. Hin und wieder stöhnte er gequält auf, seine Hose färbte sich über einem Knie dunkelrot. Sie war sicher, dass er die Umgebung nur noch durch einen Schleier wahrnahm. Sein Kiefer schwoll an, am Mundwinkel trocknete das bisschen Blut, das zwischen seinen Lippen herausgeflossen war.

Als könnte ihn nichts stoppen, hatte er unter den Angreifern gewütet. Nach Kräften hatte er sich gewehrt, hatte die Männer mehrmals überrascht und dann doch verloren. Niemand hatte seine Attacken vorausgesehen oder gar erwartet, dass sich ein einfacher Mensch aus Erendal so zur Wehr setzen konnte. Ihr war der Mund vor Staunen offen gestanden. Erst der Schlag mit einem Schwertknauf auf den Hinterkopf hatte das Blatt gewendet.

Tindra hatte sich nicht gewehrt – die Männer hatten ihr einfach das Schwert aus der Hand genommen und sie in Fesseln gelegt. Sie war wie gelähmt gewesen, die Angst hatte sie zittern lassen. Kein vernünftiger Gedanke hatte sich in ihrem Kopf geformt, nicht einmal die Füsse hatten sich umgedreht und waren davongerannt. Beschämt wandte sie ihren Blick ab. Wie feige, wie unglaublich feige sie war.

Der unebene Waldboden bereitete den Kriegern kaum Mühe, obwohl kein Weg zu erkennen war. Immer wieder umrundeten sie einen Stein oder sprangen, mit ihr auf der Schulter, über ein wildes Bachbett. Nur Sunyu quälte sich mühsam durchs schäumende Wasser.

Von den ungezähmten Fluten war in Steinwacht nichts mehr zu sehen, obwohl die Wassermassen auf das Dorf zuhielten. Jeder einzelne Tropfen versickerte und trat unterirdisch in den Rem, der am unteren Ende des Dorfes entsprang. Er war breit, schmutzig und träge. Lieber hätte Tindra einen Fluss weniger, dafür zwanzig Bäche mehr gehabt. Sie mochte das Plätschern und Schäumen der Wellen, die kühle Melodie, die sie in die Welt hinaus sangen, wie sie das Leben priesen.

Bei jedem Bach machten sich die Krieger einen Spass daraus, Sunyu beim Kampf gegen die Wassermassen zu beobachten. Unverschämt grinsend wetteten sie. Wer verlor, fluchte.

Als die Strömung Sunyu von den Füssen riss, lachten sie noch lauter. Sein Kopf verschwand im wilden Wasser, das Seil, an dem einer der Krieger ihn führte, zerschnitt die Wasseroberfläche in einem Zickzackweg.

Tindra wollte die Luft anhalten, trotzdem entwich ihr ein erstickter Schrei am Knebel vorbei. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus, dann hämmerte es hart gegen ihren Brustkorb. Es schnitt ihr den Atem ab, heiss glühte die Angst in ihrer Brust. Ihre gefesselten Fäuste trommelten im selben Takt auf den Rücken des Larhun. Sie wand sich unter dem erbarmungslosen Griff, wollte am Seil ziehen, das an Sunyus Handgelenken festgezurrt war, doch der Hüne hielt sie fest, als wäre sie nicht mehr als eine Fliege, die auf seinen ungepflegten Zottelhaaren herumlief.

Endlich hob der Anführer der Larhun die Hand. Gleichgültig wandte er sich ab und setzte seinen Weg fort, während zwei der Krieger dem jungen Schmied aus den Fluten halfen, indem sie am Seil zogen. Mit zitternden Armen zog sich Sunyu ans Ufer. Er hustete, erbrach dem Larhun Wasser und sein Mittagessen vor die Füsse, hustete wieder. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund, sein Atem ging pfeifend. Hasserfüllt hob er den Blick und funkelte Tindra an, als hätte sie ihn ins Wasser gestossen.

Vor dem nächsten, immerhin trockenen Bachbett hielten die Männer an und warteten auf Sunyu und seinen Wächter, der ihn mit schadenfrohem Gesicht vor sich hertrieb. Sobald der junge Schmied innehielt, bedrohte er ihn mit einem Messer, das er im Sonnenlicht aufblitzen liess.

Tindra hatte nicht das Gefühl, dass Sunyu danach wirklich schneller ging. Trotzdem war sie froh, dass niemand damit gedroht hatte, sie umzubringen, sollte er sich nicht beeilen. Wie er sich entschieden hätte, war kein Rätsel. Bestimmt hätte er beim Schnitt durch ihre Kehle grinsend zugesehen. Sunyu hätte gelacht und freudig miterlebt, wie sie ihren Kopf verlor.

Es war eine Schande, dass sie sich so um ihn sorgte.

Die Männer setzten sich wieder in Bewegung. Anstatt wie bisher weiter auf gleicher Höhe zu bleiben, folgten sie dem ausgetrockneten Bach den Hügel hinauf.

Nach einer Weile hob der Mann, der sie trug, sie von seiner Schulter. Sie wollte schreien, doch durch den Knebel brachte sie nur ein klägliches Murmeln zustande. Lachend legte er sie auf die andere Schulter und tätschelte ihr den Allerwertesten. »Keine Angst, Süsse, ich lasse dich nicht fallen.«

Als ob sie deswegen Angst hätte.

Der Anführer – Bram nannten sie ihn – schnellte zu ihm herum. »Wenn du sie anfasst, wirst du das Wunder der Seylani erleben!«, zischte er.

Der Mann zuckte zusammen und grummelte etwas Unverständliches in seinen Bart hinein, ein weiterer Klaps folgte aber nicht.

Tindra schloss die Augen. Das musste alles ein schrecklicher, böser Traum sein. Unmöglich, dass sie einen Schlüssel erschaffen hatte und deswegen angegriffen wurde. Sie dachte an das Bild der Doana, deren weiches Lächeln sie immer aufgemuntert hatte. Die Göttin mit den freundlichen Augen, obwohl sie als Herrscherin der Nacht und des Todes gefürchtet wurde.

Doch der Tod musste einem keine Angst bereiten, es war ein Schritt im Leben, wie der erste Schrei nach dem Eintritt in diese Welt auch. Überall starb etwas oder jemand, damit das Leben an anderer Stelle weitergehen konnte.

Tindra seufzte. Doana hatte sie einmal gerufen, hatte sie in einem Traum besucht. Sie hatten lange diskutiert und Milch mit Honig getrunken. Die Göttin hatte sie in die Priesterschaft rufen wollen. Doana hatte gesagt, sie sei eine von wenigen, die die richtige Bedeutung der Nacht und des Todes verstehe. Es war nicht nur ein Ende, sondern ein Neuanfang, und im Gegensatz zu Seylani, die als Göttin der Liebe und des Tages verehrt wurde, versprach Doana mit dem Neuanfang auch das Vergessen des Alten, des Vergangenen – der Sorgen, des Hasses, der Trauer. Sie versprach einen Neuanfang, wie ihn sich Tindra immer gewünscht hatte.

Tindra hatte das Angebot abgelehnt, obwohl es eine grosse Ehre war, in den Bund der Schwestern einzutreten. Seither fühlte sie sich der dunklen Göttin noch mehr verbunden, Seylani spielte in ihrem Alltag keine Rolle mehr. Doana, die Schwarze, war ihre Göttin.

Manchmal hatte sie noch mit ihrer Entscheidung gehadert, doch es hatte sich in diesem Moment einfach richtig angefühlt. Und seit sie in der Schmiede arbeitete, ging es ihr wieder besser. Die nagenden Fragen suchten sie nur noch selten heim, das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, verstärkte sich.

Und nun lag sie gefesselt und geknebelt über der Schulter eines Riesen. Das wäre ihr im Dienst der Göttin bestimmt nicht passiert.

Die Männer entfernten sich etwas vom Bachbett und hielten auf eine Ansammlung von Steinen und Felsen zu. Bram nickte zwei Männern zu und wartete, bis diese das Laub zur Seite gewischt hatten. Darunter kam eine primitive Tür aus Holzlatten zum Vorschein, die er öffnen liess und als Erster in die Höhle hinabstieg. Der Mann mit ihr über der Schulter folgte ihm, anschliessend ein Krieger und Sunyu mit seinem Wächter. Den Schluss bildeten zwei, die den Zugang wieder tarnten.

Im spärlichen Licht sah sich Tindra um, konnte aber nur die umherhuschenden Schatten der Soldaten erkennen.

»Nun denn, dann wollen wir mal wieder nach Hause.«

Gerade als sich Tindra fragte, wo das Zuhause dieser Männer lag, brachte Bram eine Kette mit einem Schlüssel daran zum Vorschein.

Sie riss ihre Augen auf. Ein Schlüssel! Als Bram ihn berührte, verschwand er vor ihren Augen hinter einer dichten Nebelwand, die sich in feste Luft zu verwandeln schien. Die Krieger griffen sich an den Händen, einer krallte seine Finger in Sunyus Schulter, sodass dieser scharf Luft holte und in die Knie ging. Die Männer lachten.

»Bastard.«

Bastard?

Tindra wandte ihren Blick Sunyu zu, wollte in seinen Augen nach der Antwort auf ihre unausgesprochene Frage suchen. Im selben Augenblick verlor die Umgebung alle Farbe, nur ein Leuchten von dort, wo Bram verschwunden war, erhellte die konturenlose Umgebung. Ein eisiger Wind kam auf, ohne dass sich die Luft bewegte. Ihr Kopf schnellte herum. Bram stand vor ihr, ihre Reaktion mit einem stolzen Lächeln beobachtend.

»So sieht der Weg in die Reiche der Larhun aus.«

Nebel

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Sunyu

Die Eiseskälte kühlte seinen Kiefer und den Kopf. Obwohl er nur unscharf sah und weiterhin Sterne vor seinem Blickfeld tanzten, hatte er den Schlüssel an Brams Hals gesehen. Er glich demjenigen, den Tindra geschmiedet hatte. Ausserdem war Bram auf dieselbe Art verschwunden wie Tindra, als sie ihren Schlüssel in die Hand genommen hatte.

In der Schmiede hatte er gesehen, wie sie plötzlich nicht mehr da gewesen und dann wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht war.

Ihm war es unheimlich, und mittendrin im kalten Nebel zu sein, machte die Sache an sich nicht besser, auch wenn die Kälte seinem zerschundenen Gesicht guttat. Die Höhle war verschwunden, stattdessen leuchtete ein weisser, wabernder Nebel um sie herum. In ihm schien ein unsichtbarer, aber spürbarer Wind zu wüten, gnadenlos, erbarmungslos. Verlor man sich hier, würde niemand einen finden.

Vor ihnen hatte sich ein golden leuchtendes Tor mit verschnörkeltem Metallrahmen manifestiert. An der Seite wanden sich Blumen empor. Im Gegensatz zum Rahmen wirkte die alte Holztür selbst schmucklos, wenn nicht gar schäbig. An einer Stelle ragte gar ein fingerdicker Splitter heraus.

Bram steckte den Schlüssel ins passende Schloss, und ohne ein Geräusch zu verursachen, schwang die schwere Holztür auf. Obwohl er sich anstrengte, konnte Sunyu nicht sehen, was sich dahinter verbarg. In ihm stieg Panik auf, er wollte fliehen. Koste es, was es wolle, aber er durfte nicht unter diesem Torbogen hindurchtreten. Niemals wieder würde er unbehelligt hierher zurückkehren können.

Wäre der verdammte Knebel nicht gewesen, hätte er laut aufgelacht. Als ob er hier in Steinwacht bleiben wollte. Die Fesseln an seinen Handgelenken schnürten noch etwas tiefer ins Fleisch, als er sich zu befreien versuchte, die aufgescheuerten Fussgelenke waren schon so taub, dass er bei jedem Schritt stolperte. Bei dem bisschen Kraft, die ihm geblieben war, würden die Schattenmänner es nicht einmal bemerken, wenn er sich wehrte.

Er sah die Angst in Tindras Gesicht, als der Larhun mit ihr über der Schulter durch das Tor trat. Das konturenlose Leuchten unter dem Torbogen verschluckte sie.

Die Männer hinter ihm schubsten ihn näher zum Tor. Sunyu sträubte sich dagegen, stemmte die Füsse in den Boden, so fest es ging, doch der Krieger grunzte nur, versetzte ihm einen Stoss und lachte, als er durch das Tor fiel.

Warum auch immer, er hatte erwartet, dass Schwärze sie umfangen würde, doch kaum war er in das Licht getreten, fand er sich auch schon im hellen, weissen Nebel wieder, in den Brams Schlüssel sie befördert hatte. Nichts unterschied sich von der anderen Seite.

Als der Anführer der Truppe den Schlüssel sicher in einem Beutel an der Innenseite seiner Rüstung verstaute, veränderte sich an der Umgebung nur wenig. Der Nebel wirkte düsterer und unter ihren Füssen knirschten Kiesel.

Sunyu brauchte einen Moment, bis er begriff, dass sie auf einer leblosen, toten Hochebene in einer verflucht kalten Gegend standen. Obwohl seine Sicht noch immer verschwommen war, erkannte er hin und wieder einen entfernten Hügel zwischen den Nebelfetzen, der genauso steinig war. Eine feuchtklamme Wüste. Zwischen seinen Füssen konnte er eine einsame gelbe Blume erkennen, klein und geduckt.

Er atmete tief durch.

Wunderschön.

Die Männer um ihn herum sogen den Anblick genauso gierig ein wie er.

»Endlich zu Hause«, murmelte einer.

Der Soldat, der Tindra über der Schulter trug, als wöge sie kein Gramm, nickte glücklich.

Offensichtlich war Sunyu nicht der Einzige, der sich im grauen Schatten der Nebel wohlfühlte.

Er hatte den Nebel vermisst.

»Macht es der Kleinen etwas bequemer. Und die Fussfesseln des Bastards könnt ihr auch lösen.« Bram nickte seinen Männern zu. Offenbar sahen sie in ihm und Tindra in der Heimat kaum mehr eine Gefahr.

Innerlich lachte Sunyu auf. Sie waren auch keine Gefahr mehr. Selbst wenn sie sich befreien konnten, waren sie auf dieser tristen Hochebene einfacher zu fassen als eine lahme Kuh im Stall. Kein Gebüsch, keine Hügelkette versprach Schutz. Es sei denn, sie schafften es durch das Tor.

Dem Befehl ihres Anführers folgend, befreiten sie seine Füsse, während Tindra auf ihre noch wackligen Beine gestellt wurde. Er erkannte es an ihrem zögerlichen Schlucken, doch als sie offenbar wider Erwarten aufrecht stand, atmete sie erleichtert aus. Ein wenig senkten sich ihre Schultern.

Ihre Blicke trafen sich. Der Moment, ein Wimpernschlag nur, schien ewig zu dauern. In ihm glühte ein Funke auf, kribbelnd und beängstigend stark zugleich – Hoffnung? Er legte sich klamm um sein Herz, gleichzeitig befreite er die schweren Atemzüge, die ihn am klaren Denken hinderten.

Hoffnung fühlte sich merkwürdig an.

Sunyu wusste, was er zu tun hatte, und auch, wie er es erreichen könnte. Er nickte langsam, registrierte ihre aufgerissenen Augen und sah, wie sie stumm den Kopf schüttelte und ihr Gesicht jede Farbe verlor.

Es ging um seine Anstellung.

Mit einem Schrei spannte er die Arme an, das dicke Seil riss. Dem einen Wächter schlug er die Faust so hart ins Gesicht, dass dieser zu Boden ging. Bram fuhr erschrocken herum, genau im richtigen Augenblick, um diesem den Ellbogen in die Magengrube zu rammen. Der Anführer fiel würgend auf die Knie.

Der Larhun, der Tindra getragen hatte, stürzte sich mit zu einer Grimasse verzerrtem Gesicht auf ihn. Bis er jedoch bei ihm war, rief Sunyu eine seiner Flammen. Freudig löste sie sich vom Feuer in seinem Inneren und schnellte nach vorn. Dieses eine Mal durfte er Mutters Wunsch doch wohl überhören.

Tindras Fesseln lösten sich, glitten lautlos zu Boden.

Noch während die junge Schmiedin verdutzt auf ihre freien Hände starrte, griff er in seine Tasche, fühlte das kalte Metall unter seinen Fingern und warf Tindra ihren Schlüssel zu. »Lauf!«

Sie fing ihn auf und blinzelte verwirrt.

»Du dumme Kuh, lauf, bei Seylanis dürrem Arsch!«

Endlich schien sie zu begreifen, machte auf dem Absatz kehrt und rannte los. Ihre Gestalt verschwand im Nichts. Hoffentlich fand sie das Tor, sie musste einfach.

Er hoffte es wirklich. Und dass er hier rauskam und sie dann vor Juang bezeugen würde, dass er sie gerettet hatte.

Wie ein Blitz durchzuckte ihn die Erkenntnis: Tindra hasste ihn. Selbst wenn er jemals zurückkehrte, sie würde ihm nicht helfen.

Sich zu voller Grösse aufrichtend, wandte er den Blick Bram und seinen Männern zu. »Ich bin der Schmied, den ihr sucht. Lasst sie gehen, und ich schmiede, was immer euer Herz begehrt.«

Sein Schicksal war besiegelt, das alte Leben vorbei. Nur Doanas Versprechen auf einen Neuanfang hing in der Luft.

Noch bevor er sich sein neues Leben ausmalen konnte, traf ihn Brams harter Schlag am Kinn. Vor Schmerz taumelte er, ein weiterer Faustschlag in die rechte Seite folgte, sodass er nach Atem ringend zu Boden glitt.

Verdient hatte er es.

Flucht

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Tindra

Schwer atmend tastete sich Tindra durch die konturenlose, hellgraue Schattenwelt. Sie wusste, in welcher Richtung das Tor liegen musste und folgte dem noch schwachen Leuchten, das aus dieser Richtung kam. Leise flüsterte es ihr zu, säuselte ihr süsse Versprechen ins Ohr.

Tausende Fragen schwirrten in ihrem Kopf. Wieso hatten sich ihre Fesseln plötzlich gelöst? Und woher hatte Sunyu gewusst, dass sie sich lösen würden? Ob Bram, wenn er seinen Schlüssel in die Hand nahm, sie hier finden würde? Oder würde er in einem anderen Nichts auftauchen?

Trotz ihrer Neugier atmete sie erleichtert aus, als sie endlich vor dem verschnörkelten Tor stand. Bei Bram hatte es so einfach ausgesehen, als er den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte. Ob ihr Werk hier überhaupt passte? Immerhin hatte sie ohne eine Vorlage gearbeitet – vorausgesetzt, sie hatte tatsächlich den Schlüssel geschmiedet. So sicher, dass Sunyu ihr keinen Streich gespielt hatte, war sie sich nicht, und es war unwahrscheinlich, dass der Bart stimmte.

Vor ihren Augen begann der Schlüssel hell zu glühen, wurde warm in ihrer Hand. Goldene Lichtspuren tanzten um den Schlüssel und ihre Finger, wanden sich zum Schloss und verschwanden dort, als wollten sie ihr zeigen, wie sie zusammenführen musste, was zusammengehörte.

Obwohl sie wusste, dass sie nichts sehen würde, drehte sie sich noch einmal um. Vielleicht hatte Sunyu den Schlüssel der Larhun in die Finger bekommen. Vielleicht folgte er ihr bald, würde im nächsten Augenblick auftauchen.

Doch im Nichts erschien nur Brams Furcht einflössende Gestalt. Erst konnte sie sein siegessicheres Grinsen nicht erkennen, doch je näher er kam, desto deutlicher zeichnete es sich auf dem breiten Gesicht ab. Aus einer Platzwunde an der Stirn rann Blut über die Nasenwurzel zum rechten Auge.

Ihr Herz machte einen Satz. Hektisch steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Er drehte sich von allein. Das Tor schwang auf und kaum war der Spalt breit genug, presste sich Tindra hindurch. Bevor sie losrannte, knallte sie das Tor ins Schloss.

Kein Ton erklang.

Der Schlüssel verschwand in ihrer Hosentasche. Panisch fanden ihre Füsse den Weg, stolperten aus der dunklen Höhle, in der sich das Tor befand. Nach dem hellen Nichts des Nebels gähnte Schwärze zwischen den Felsbrocken. Sie erkannte kaum die Hand vor Augen.

Ihr Atem rasselte. Sie kämpfte sich über den mit losem Laub bedeckten Boden, schlüpfte durch eine Lücke zwischen der Holztür und einem Felsen hinaus in den Wald. Die herbstlichen Blätter unter ihren fliegenden Füssen raschelten so laut, dass sie nicht hörte, ob ihr jemand folgte. Auf ihrer Flucht hetzte sie von Baum zu Baum. Ihre Lunge brannte wie flüssiges Feuer in der Brust, die Zunge wund und blutig, bemerkte Tindra, wie ihre Beine nachgaben. Nach Atem schnappend, liess sie sich an einem Baumstamm auf den feuchtweichen Boden sinken. Unbarmherziges Feuer erweckte ihre Beine kribbelnd wieder zum Leben. Alles brannte, ihre Arme, die Brust, selbst die Augen.

Verdammt, weshalb hatte Sunyu das getan? Und warum war sie geflohen? Sie hätte ihm helfen müssen.

Ihre Faust schlug gegen den Baum. Ein pulsierender Schmerz jagte ihr Tränen in die Augen. Na toll! Doch gegen das Stechen in ihrer Brust schien es lächerlich. Unwichtig.

Auch wenn sie den Schmied nicht mochte und er sie immerzu demütigte, das Schicksal, das ihm nun bevorstand, hatte er ganz bestimmt nicht verdient. Und sie wollte nicht schuld an Sunyus ungewisser Zukunft sein.

Dabei hatte Doana doch allen einen Neuanfang versprochen, und kein Ende.

Zitternd drehte sie sich um, zog die Knie näher und wiegte sich selbst vor und zurück.

Irgendwann wagte sie es, aufzusehen. Sie war weit und breit allein, Doanas bevorstehende Nacht rief den leuchtenden Mond Yuna hinter dem Horizont hervor. Zwischen einzelnen Baumstämmen konnte sie Lichter eines Dorfes sehen. Etwas abseits auf einem Hügel lag ein einsames Anwesen. Aus einem der drang Fenster Licht. Juangs Schmiede. Sie war in Steinwacht.

Sie spürte das Gewicht ihres Schlüssels in der Hosentasche, wagte aber nicht, ihn mit blosser Hand zu berühren. Unvernünftigerweise bildete sie sich ein, dass Bram im Nebel auf sie warten würde, dass er auf einen Fehler ihrerseits hoffte. Bestimmt war er hinter dem Schlüssel her. Und offenbar auch hinter demjenigen, der ihn geschmiedet hatte.

Hinter der Schmiedin, korrigierte sie sich in Gedanken.

Seufzend erhob sie sich. Hier konnte sie nicht bleiben, auch wenn sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Sie betrat den Weg, der das Haus ihrer Eltern mit dem Dorf verband. Als sie hierhergezogen waren, hatte ihr Vater ein Haus etwas abseits von Steinwacht gekauft. Es war nicht wirklich weit entfernt, aber so, dass niemand spontan bei ihr klopfte. Durch das Küchenfenster konnte sie den Schimmer eines Feuers sehen. Bestimmt machte sich ihre Familie schon Sorgen, wenn sie so lange verschwunden blieb.

Oder sie hofften darauf, dass sie mit Freunden unterwegs war. Wie lange schon träumte zumindest ihre Mutter davon, dass Tindra Anschluss fand, jetzt, wo doch ihr Vater endlich an einem Ort glücklich war.

Ihr Blick wanderte zum Dorf. Beinahe zuoberst, ganz nahe am Waldrand, stand das kleine Haus, in dem Sunyu zusammen mit seinem Vater wohnte. Soviel sie erfahren hatte, war seine Mutter vor wenigen Jahren gestorben. Tindra hatte sie nur einmal kurz gesehen. Sie war eine schöne Frau gewesen, voller Herzensgüte und Wärme – ganz im Gegensatz zu Sohn und Mann.

Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Ganz sicher würde sie Sunyus Vater jetzt nicht mehr informieren, was seinem Sohn widerfahren war. Der angehende Schmied war alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, ausserdem konnte er gut seine eigenen Entscheidungen fällen.

Sie nahm den Weg zu ihrem Zuhause, als sie im zertrampelten Gras neben dem Kiesweg ein blaugrünes Schimmern sah: Sunyus Schwert. Der helle Mond spiegelte sich in der Klinge. Einen Moment hielt sie inne, dann hob sie die Waffe, die die Luft teilte, als wäre sie erfüllt von einer inneren Magie. Ein Meisterstück, das Sunyu selbst aus dem grünlich blauen Metall der Kvor hergestellt hatte. Unglaublich, dass seine Pranken so fein schleifen konnten.

»Möge Seylani dir die Wege aufzeigen, die du gehen kannst.«

Tindra fuhr herum. Reflexartig hob sich ihre Schwerthand, die Klinge zeigte geradewegs in die Richtung, aus der die Stimme kam. Im Schein des dunklen Mondes erkannte sie einen jungen Mann mit breitem Lächeln. Die dunkelblonden Haare waren vielleicht einmal sorgfältig zurückgekämmt gewesen, doch jetzt hingen sie ihm in unordentlichen Zotteln vom Kopf. Um seine Schultern wehte ein Mantel, als wäre das Gewebe schwerelos, obwohl Tindra keinen Lufthauch auf ihrer Haut spürte. Woher kam er so plötzlich? Seine hellen Augen blitzten amüsiert, als er den Kopf zur Seite neigte. Obwohl er durchaus freundlich wirkte, senkte sie die Schwertklinge nicht.

»Sieh, ich bin unbewaffnet. Und ich bin kein Larhun.« Zwinkernd hob er beide Hände zum Beweis, dass er keine versteckte Klinge in der Hand trug.

Tatsächlich war er schmächtiger gebaut als die Krieger, die sie angegriffen hatten, seine Haut strahlte von der getankten Sonne in einer attraktiven Bräune. Etwas, was zwischen den nebelverhangenen Hügeln in den Reichen der Larhun kaum möglich war. Ausserdem überragte er sie nicht um zwei Köpfe, eher um eine Handbreit.

Trotz seiner Offenheit – oder gerade deswegen – glaubte Tindra ihm nicht. »Aus dem Weg«, knurrte sie und hoffte, dabei angsteinflössend genug zu wirken.

Dem Mann entlockte es lediglich ein heiteres Lachen, bei dem er den Kopf in den Nacken warf. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hätte sie es an seiner Stelle wohl auch getan.

Als er sich etwas beruhigt hatte, musterten seine Augen sie amüsiert und er stemmte die Hände in die Hüften. Er mochte fünf, vielleicht auch acht Jahre älter sein als sie.

»Mein Name ist Arin. Wie heisst du?«

»Geh weg.«

Ergeben hob er die Hände auf Schulterhöhe, ging zwei Schritte zurück, bis er auf der anderen Seite des Weges stand. »Ich tu dir nichts. Versprochen.« Seine Stimme hörte sich so unglaublich weich, wenn nicht gar vertrauenerweckend an.

Tindra war müde und wollte einfach nur nach Hause. Trotzdem wollte sie sich von seinem Tonfall nicht einlullen lassen, sie musste sich gegen ihn zur Wehr setzen, auch wenn die Gefahr nur unterschwellig war. »Das kann jeder sagen«, warf sie ein.

Nun liess er die Schultern hängen, drehte sich ein wenig ab und schob die Unterlippe etwas vor. Wie ein reumütiger Hund sah er sie von der Seite her an. »Bitte.«

Tindra versuchte, es zurückzuhalten, doch das Zucken ihres Mundwinkels konnte sie nicht verhindern. Erleichtertes, überdrehtes Lachen drang ihr aus der Kehle, wie Lava bei einem Vulkanausbruch, mächtig und voller Energie. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie zum letzten Mal so befreit gelacht hatte. Ihre Schwerthand sank und mit ihr die Anspannung in ihrem Körper.

Arin wahrte den Abstand zu ihr, als sie sich langsam von ihrem Lachanfall erholte. Seine Augen lächelten noch etwas breiter als die fein geschwungenen Lippen. Im Licht des aufgehenden Mondes schimmerten sie hell, wie ein ruhiger See in einer wolkenlosen Vollmondnacht, wenn alle drei Monde am Himmel standen.

»Ein schönes Schwert hast du da. Ist es von hier?«

Eifrig nickte sie. Wenn sie Arins Augen begegnete, konnte sie sich ein Lächeln nicht verwehren. Normalerweise vertraute sie nicht so schnell, doch dieser Mann hatte es ohne grosse Anstrengung geschafft, ihre Schale zu knacken. Ob sie ihrem Bauchgefühl trauen konnte?

»Ich suche nach einem Schmied. Kannst du mir sagen, wo ich einen finde?« Noch immer lächelte er, doch plötzlich wirkte es ein wenig zu angestrengt.

Tindra wurde hellhörig. Hätte Arin heute Morgen nach einem Schmied gefragt, hätte sie ihn freudig zu Meister Juang begleitet, doch wegen der heutigen Erfahrungen mit den Schattenkriegern dachte sie nicht daran, ihm zu erzählen, wo die Schmiede lag. Bestimmt war auch er nur hinter dem Schlüssel her.

»Wofür?« Ihre Stimme klang kälter, als sie eigentlich geplant hatte, doch ihr war nicht nach einer Entschuldigung zumute. Sorgfältig griff sie das Schwert fester, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Während sein Blick von ihr wich, griff er sich an den Nacken. Sie hatte ihn ertappt. »Hör zu, ich …«, begann er. Als er schluckte, hüpfte sein Adamsapfel aufgeregt auf und ab.

Mit zusammengekniffenen Augen unterbrach Tindra ihn. »Bist du etwa hinter Schlüsseln her?«

Vor Überraschung blieb sein Mund offen stehen, selbst seine Hand glitt von seinem Nacken. Sie konnte in seinem spitzbübischen Gesicht sehen, wie die Gedanken dahinter ratterten. Endlich bekam er einen zu fassen. »Weisst du etwas darüber?«

Sie wich einen Schritt zurück und konzentrierte sich auf das Gewicht des Metalls in ihrer Tasche. Der verfluchte Schlüssel war noch da. »Die Frage ist eher, wie viel du weisst«, forderte sie mit leicht vorgerecktem Kinn.

In Tindra wütete ein Sturm, der sie in den Grundfesten zu erschüttern drohte. Er sägte an ihren Beinen und am Glauben an die Welt, wie sie sie kannte. Ein unterkühltes Zittern kroch von ihren Füssen zum Bauch und weiter bis ins Herz.

Wenn Arin von den Schlüsseln wusste, auf welcher Seite stand er dann? Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie ihm vertrauen konnte – oder vielleicht wünschte sie sich das angesichts seines offenen Lachens einfach –, doch seit heute Nachmittag passierten zu viele angsteinflössende Dinge. Dieser Schlüssel beschwor Ereignisse, vor denen sie am liebsten die Augen verschlossen hätte.

Vielleicht sollte sie das Teil im nächsten See versenken. Dumm nur, dass der nächste nennenswerte See zwei Tagesreisen entfernt war. Aber für den Notfall würde es auch der Rem tun.

Abwehrend hob Arin die Hände und seufzte. »Ich weiss sehr viel darüber. Ich bin ein Bote der Irin und jahrelang mit einem Schlüssel gereist. Meist führten mich meine Aufträge zu den Kvor, seltener nach Kerase. Beim jetzigen Auftrag haben mich die Krieger der Larhun aufgespürt und mir aufgelauert. Es ist ihnen gelungen, meinen Schlüssel und die Botschaft zu entwenden.« Er schluckte, während er Tindra mit gerunzelter Stirn musterte. »Ich brauche sowohl die Botschaft als auch den Schlüssel zurück. Heute habe ich kurz die Macht eines mächtigen Schlüssels gespürt, etwas ausserhalb des Dorfes. Wenn ich den Schmied finde, der ihn hergestellt hat, kann er ihn mir vielleicht leihen, damit ich meinen Auftrag beenden kann. Mein Leben …«

Er musste den Satz nicht zu Ende sprechen, Tindra begriff auch so. Ohne den Schlüssel war er nichts mehr wert, und ein Bote, der die Nachricht verlor, erst recht nicht.

Tindras Schwert zitterte ein wenig. »Gehst du in die Reiche der Larhun?«

Er bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. »Ich habe keine Wahl.«

Sunyu hatte viel für sie riskiert. Das schlechte Gewissen nagte an ihr, sie war sich sicher, dass es sie in der Nacht heimsuchen würde. Einen ruhigen Schlaf konnte sie so bestimmt nicht finden – nie mehr, bis ihre Schuld beglichen war.

Es kostete sie einige Überwindung, die Waffe zu senken, schliesslich stand ein Unbekannter vor ihr. Einer, der von magischen Schlüsseln wusste und von abenteuerlichen Reisen erzählte. Doch sie konnte jede noch so kleine Hilfe gebrauchen.

»Ich muss auch dorthin«, gestand sie leise. »Ich muss jemanden befreien. Wenn du mir hilfst, leihe ich dir das.« Sie griff in ihre Hosentasche.

Versprechen

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Arin

Arins Mund klappte auf. Die junge Frau mit den strahlend grünen Augen und dem Muttermal unter dem rechten Auge, deren Namen er noch immer nicht kannte, zeigte ihm einen Schlüssel. Sie hielt ihn sorgfältig in einem Zipfel ihres Hemdes und achtete darauf, dass ihre Finger das Metall nicht berührten. Und sie tat gut daran.

Auch ohne dass der Schlüssel sang, hörte er sein Summen. Diesen einen hatte er heute Nachmittag gespürt, ganz sicher. Am liebsten hätte er ihn gleich an sich genommen, doch eine wehrlose Frau wegen eines Schlüssels anzugreifen, widersprach seinen Prinzipien.

Arin schluckte nervös, und wie so oft, wenn er unsicher war, griff er sich an den Nacken. »Darfst du ihn mir denn überhaupt leihen?«

Ihr selbstsicherer Blick traf ihn völlig unvorbereitet. »Ich habe ihn geschmiedet.«

Ihm brannte eine Antwort auf der Zunge, dann hielt er sie zurück, weil sie nicht passte. Wieder holte er Luft, um etwas zu erwidern. Doch es war nicht das, was in ihm vorging. Schliesslich atmete er betont langsam aus und hielt ihren Blick fest, um Stärke zu zeigen, auch wenn er sich alles andere als stark fühlte. »Du?«

Sie nickte. Ein kleines Unwetter zog in ihre Augen, als wollte sie ihn herausfordern, das Gegenteil zu beweisen. Bestimmt musste sie diese Fragen Tag für Tag beantworten, die ständigen Zweifel an ihrem Tun zur Seite räumen – wenn sie tatsächlich Schmiedin war. So jung und doch so selbstständig, das wäre er in ihrem Alter auch gern gewesen.

»Es tut mir leid. Nichts lag mir ferner, als an dir zu zweifeln. Nur ist mir bisher nie eine Frau begegnet, die freiwillig einer tieferen Arbeit nachgegangen ist.«

Sie liess den Schlüssel zurück in ihre Tasche gleiten, griff sich mit der Hand an den Arm und strich über die Haut, als würde sie frieren. »Die Arbeit ist nicht tiefer. Sie ist schön. Ich erschaffe etwas aus dem Nichts und es hat Bestand. Es wird für alle Ewigkeit da sein und mich nicht verlassen.«

Ihr Blick wanderte in die Ferne und mit ihm wohl auch ihre Gedanken. Wie gern hätte Arin gewusst, was in ihrem hübschen Kopf vor sich ging, doch erst musste er ihr Vertrauen gewinnen. Das war schwieriger, als er anfangs gedacht hatte. Frauen in Mra’Theel hatten nichts zu befürchten, der Glaube an die Göttlichkeit in ihrem Tun war zu stark.

Aber er musste sich eingestehen, dass er sich auch nicht besonders geschickt angestellt hatte. Normalerweise bereitete es ihm keine Mühe, Leute um den Finger zu wickeln. Doch bei ihr hatte sich das als schwieriger als erwartet gestaltet – was womöglich auch daran lag, dass er sie nicht hatte um den Finger wickeln wollen.

Er brauchte diesen Schlüssel, dringend. Und sie brauchte Arin, damit jemand sie durch das Reich der Larhun zu demjenigen führte, den sie befreien wollte. Insgeheim zweifelte er daran, dass dieser jemand noch lebte, doch vielleicht würde die junge Frau die Reise auch ohne ihn wagen – und dann würde ihr fröhliches Lachen vom Antlitz dieser Welt verschwinden. Wenn er das verhindern konnte, würde er es tun.

»Ein schöner Gedanke, um Schmiedin zu werden«, lächelte er und riss sie damit aus ihren Tagträumen.

Verwirrt sah sie ihn an, dann erwiderte sie sein Lächeln und senkte den Blick. »Danke. Niemand sonst versteht es, ausser …« Ein Seufzen entwich ihrer Kehle.

»Derjenige, der in den nebelverhangenen Reichen gefangen ist?«

Als sie den Kopf schüttelte, flog ihr Zopf wild durch die Luft. »Nein.« Ihre Stimme klang hart. Wollte sie diesen Jemand wirklich befreien oder drängte ihr Pflichtgefühl sie dazu? »Er …« Jetzt zögerte sie doch. »Ich glaube nicht, dass er es begreifen würde. Aber mein Meister Juang versteht mich.« Ihr Blick hielt dem seinen nur kurz stand.

Er seufzte. Wie gern hätte er noch mehr erfahren, hätte gefragt, wen sie befreien wollte, doch auf ihrer Reise würde er noch genügend Gelegenheiten dazu haben. Abgesehen davon wirkte sie wieder distanzierter. Einsamer.

Entschlossen schüttelte er den Kopf. Eine schöne Frau wie sie war doch nicht einsam.

»Wir sollten uns ausruhen. Der Tag morgen …«

Plötzlich raschelte es im Wald und er fuhr herum. Wie hatte er nur so unaufmerksam sein können? Hier, an dieser Stelle, hatte der Kampf heute Nachmittag stattgefunden. Hier hatten ihn die Schattenkrieger zum ersten Mal überfallen und nun war er stehen geblieben, weil er von den leuchtenden Augen der jungen Frau so angetan gewesen war, dass er ganz vergessen hatte, in welcher Gefahr sie schwebten.

Nervös entfernte er sich vom Wald, trat neben die Frau mit dem goldenen Haar. Ihre grossen Augen sahen ihn unsicher an, sie hob ihr Schwert, richtete es aber auf den Wald und nicht auf ihn. Auch wenn er es nur ungern zugab, ein wenig erleichtert war er schon.

Er hörte die Schritte, spürte die Kraft, mit der die Krieger auf den Boden stampften und sich ihnen näherten. Der jungen Frau neben ihm schlotterten die Knie. Erst jetzt fielen ihm die Schürfwunden an den Handgelenken auf. Hatte sie sich etwa aus den Fängen der Larhun befreien können? Dann wussten sie bestimmt nicht, dass sie den Schlüssel bei sich trug. Dafür wären sie über ihre Leiche gegangen.

Bestimmt auch über die Leichen von Frauen.

Was auch immer sie unternahmen, Arin konnte sich der Übermacht nicht allein stellen. Die junge Frau hielt zwar ein Schwert in der Hand, das aber so unsicher, dass er nicht mit nennenswerter Hilfe ihrerseits rechnen konnte. Vorsichtig griff er an ihre Schulter und hoffte, dass sie nicht zu sehr zurückschrecken würde. Doch nach einem letzten verängstigten Blick zum Wald hin, starrte sie ihn stumm aus ihren frühlingsgrünen Augen an.

So fühlte es sich also an, wenn ihm jemand vertraute. Es kribbelte warm in seinem Bauch. Wie oft hatte er sich gefragt, ob es möglich war, dass eine Frau einen Mann vom ersten Augenblick an verzaubern konnte, doch sie hatte es geschafft … und er kannte noch immer nicht ihren Namen. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht.

Dann konzentrierte er sich, beschwor die Schatten, die ihm auf Schritt und Tritt folgten. Sie umhüllten ihn, legten sich wie ein Tuch über ihn und die junge Frau. Die Schritte der Larhun verstummten, das grüne Gras wurde grau und trüb und das Licht des Yuna verschwand, bis nicht mehr als eine angebissene, farblose Scheibe am Himmel stand.

Sie, mit den grünen Augen, blieb strahlend wie bisher.

»Dies ist die Schattenwelt«, flüsterte er und hoffte, dass er sie damit nicht erschreckte. Wie lange hatte er sich nicht mehr in die Welt zwischen den Welten begeben, dort, wo es weder Tag noch Nacht gab, wo ein Schritt wie tausend und eine Ewigkeit wie ein Augenblick sein konnten? Doch er wollte ihr das, was sie ihm anvertraut hatte, das kleine Stückchen Ich, als sie über ihr Handwerk gesprochen hatte, zurückgeben. »Eine Grenze, dünn wie ein Tuch, trennt die sichtbare Welt von der Schattenwelt, die unzertrennlich mit ihr verbunden ist.«

Arin hatte schon vergessen, wie es sich anfühlte, hier zu sein. Die Ruhe. Wie gern er in den Schatten war. Doch seine Eltern hatten ihn deswegen von sich gestossen, er hatte keine Freunde gefunden, keine Frau wollte mit ihm Zeit verbringen. Irgendwann hatte er beschlossen, die Schatten für immer zu verlassen. Doch jetzt, mit dieser aussergewöhnlichen Frau neben ihm, fühlte es sich richtig an.

Er beobachtete, wie sie sich mit grossen Augen umsah und die schemenhaften Gestalten, die aus dem Wald traten, betrachtete. Mit offenem Mund sah sie zu, wie sich zwei Dutzend Männer in Richtung des Dorfes aufmachten. Ihr Körper zitterte.

Sie streckte die Hand zur Grenze hin aus, die vor ihnen in einem unsichtbaren Wind flatterte. Unter ihren Fingern fühlte sich die sanfte Oberfläche an wie fliessendes Wasser oder ein Lufthauch, der flüchtig die Haut berührte, um zu sagen, dass er da war.

Er wusste, wie es sich anfühlte.

»Wunderschön«, hauchte sie.

Erschrocken liess er sie los. Im selben Moment prasselten Lärm, grelle Farben und der Gestank auf sie ein. Die junge Frau wich einen Schritt zurück, kniff die Augen zusammen und bedeckte ihre Ohren mit den Händen. Die Schmiedin fiel auf die Knie.

Ihm selbst erging es nicht besser, doch im Gegensatz zu ihr hatte er gewusst, was ihn erwarten würde, und sich entsprechend gewappnet. Der Gestank aus dem Wald betäubte seine Sinne, liess die Augen tränen, obwohl er sie wegen des durchdringenden Lichts geschlossen hielt.

Wieder der altbekannte Wahnsinn. Darauf hätte er gut verzichten können, aber es war noch immer wie damals.

»Es tut mir leid, ich wollte es nicht so plötzlich enden lassen, doch dass es dir gefällt …« Er lachte kopfschüttelnd in sich hinein. »Bisher habe ich noch niemanden getroffen, den es so fasziniert hat. Ich war wohl ein bisschen überfordert.« Wieder griff er sich an den Nacken. Im selben Moment verfluchte er sich dafür.

Sie sah ihn aus unergründlichen Augen von unten her an. Der Wind trug einen Hauch ihres Duftes zu ihm. Köstlich.

»Sieh nur zu, dass du nicht überfordert bist, solange die Schattenmänner in unserer Nähe sind.« Ihr Blick wanderte zum Dorf, wo die Männer lärmend durch die Strassen zogen. »Sie machen mir Angst.«

»Zu Recht. Komm. Wenn wir ein Tor finden, können wir schneller in die Reiche der Larhun reisen, die Nachricht wieder zurückholen und deinen Freund befreien.« Wie gern hätte er ihr gesagt, dass sie keine Angst zu haben brauchte, doch das wäre gelogen gewesen. Die Krieger der Larhun waren gefährlich. Alle Larhun waren gefährlich. Unnahbar. Und vor allem gnadenlos. Ein jeder tat gut daran, sich von ihnen fernzuhalten.

»Er ist nicht mein Freund«, erwiderte sie beinahe gefühllos, wenn nicht gar kalt.

Verwundert hob er eine Augenbraue. Auch wenn es ihn juckte, nachzufragen, hielt er sich zurück. Es ging ihn nichts an. Wenn sie ihm weit genug vertraute, dann würde sie es ihm erklären. Vielleicht war es ihr Bruder oder auch ein Onkel, den sie befreien wollte.

»Nun denn, schöne Frau, dann befreien wir eben deinen Bekannten.« Als sie ihn mit unsicherem Blick musterte, lächelte er. »Wie heisst du?«

»Tindra.«

Er liess den Namen seinen Geist durchrieseln, kostete ihn, spürte ihn. Tindra … Er hörte sich wie ein Versprechen aus einer fremden Welt an.

Aufbruch

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Tindra

Während Tindra den Larhun hinterherblickte, verschwendete sie den einen oder anderen Gedanken an Arin. Er war ein komischer Kauz. Mal gab er sich als offenes Buch, dann wieder wirkte er geheimnisvoll und unnahbar. Doch irgendwie fühlte sie sich bei ihm wohl. Und sein Trick mit der Schattenwelt schien ganz praktisch zu sein. Wenn man darin nicht nur stehen, sondern auch gehen konnte, könnte er sich überall anschleichen, wo er nur wollte, und niemand würde ihn bemerken. Vielleicht hatte er sich ihr auch so genähert.

Einerseits war ihr das unheimlich. Andererseits, wenn sie an sein Kompliment zurückdachte, konnte sie sich ein Lächeln nicht verwehren. Er fand sie schön. Das hatte er jedenfalls gesagt.

Noch nie hatte ihr jemand ein solch offenes Kompliment gemacht. Dabei prangte dieses hässliche, dunkle Muttermal auf ihrer Wange, direkt unter ihrem rechten Auge. Vielleicht hatte Arin es in der Dunkelheit einfach nicht gesehen?

Von seiner offenen, unkomplizierten Art leicht überfordert, räusperte sie sich und konzentrierte sich auf ihr Ziel: Sunyus Befreiung. Wenn sie dadurch auch noch den Schlüssel, der schwer in ihrer Tasche lag, jemandem geben konnte, der damit umzugehen wusste, dann war es umso besser. Sie plante schon jetzt, Arin den Schlüssel zu schenken, sobald sie und Sunyu wieder zu Hause waren, falls sich der Bote so lange anständig verhielt.

»Ich kenne ein Tor«, hörte sie sich selbst sagen. »Im Wald.«

Er runzelte die Stirn. »Aus dem die Larhun gekommen sind?«

Sie nickte und sah in die Dunkelheit zwischen den Baumstämmen hinein, die ihr allein beim Gedanken daran einen Schauer über den Rücken jagte. Vermutlich hatte er recht. Nur nicht wieder da hinein, nicht wieder zu den Larhun. Noch immer fühlten sich ihre Beine an wie heisses Blei.

»Sie werden es bewachen«, sinnierte Arin. »Wir sollten ein anderes finden. Weder du noch ich sind in der Lage, einen Kampf zu gewinnen.« Sie warf ihm einen fragenden Blick zu und er deutete auf seinen Hinterkopf. »Da habe ich heute schon einen Schlag kassiert. Der sitzt noch immer.« Sein schiefes Lächeln liess sie schmunzeln.

Zögerlich sah sie zu Juangs Schmiede. Dort gab es auch ein Tor, sie hatte es gesehen. Doch was, wenn die Krieger aus den Reichen der Larhun es ebenfalls kannten? »Dort.« Eigentlich hatte sie es nicht sagen wollen. Sie erschrak, als sie ihre Stimme hörte, doch es war zu spät, ihr Finger zeigte schon auf den Hügel etwas abseits des Dorfes.

Arin warf ihr einen verwirrten Blick zu, dann lachte er. »Tindra, es ist mir eine Ehre, die Reise mit dir anzutreten.« Fröhlich streckte er die Hand aus und bat sie, ihm zu folgen. Immer noch etwas verunsichert, aber auch erleichtert schlug sie ein.

Wenn er wirklich gewollt hätte, dann hätte er ihr den Schlüssel schon lange abgenommen.

Wenn er wirklich gewollt hätte, dann hätte er sie schon lange überfallen.

Wenn er wirklich gewollt hätte, dann hätte er das Tor auch ganz allein gefunden.

Sie spürte, wie Arin die Schatten rief und sich diese wie ein weicher Mantel um sie legten. Sie dämpften die Geräusche, bis diese nicht mehr da waren, nahmen Licht, wo es zu viel davon gab, und gaben es, wenn zu wenig vorhanden war, bis ihre ganze Umgebung aus einer einzigen grauen Landschaft ohne scharfe Konturen oder Farben bestand. Und immer trennte sie dieser Schleier von der sichtbaren Welt.

Zu gern hätte sie mehr über Arins Schattenwelt erfahren. Bisher hielt er sich ziemlich bedeckt darüber, was genau sie war. Noch kannten sie sich erst wenige Augenblicke, wahrscheinlich war das der Grund. Und um sich anzuschleichen oder ungesehen über die Felder zu streifen, dafür liebte sie seine Schatten jetzt schon.

Sie spazierten sogar unbehelligt durch die Mauer hindurch, die das Anwesen ihres Meisters und damit die Schmiede vor Fremden schützte. In der Regel erfüllte sie auch genau diesen Zweck.

Einen Augenblick hielt Tindra inne, als sie den Hof so still und verlassen vor sich liegen sah. Selbst wenn sie sich die Abgeschiedenheit der Schatten wegdachte, wirkte der ihr vertraute Ort plötzlich so einsam. Beinahe wünschte sie sich das tägliche Leben zurück. Hätten die Göttinnen Juangs Frau mit Kindern gesegnet, sie hätten hier ein wahrlich schönes Leben gehabt, einmal ganz abgesehen von wundervollen Eltern.

Als Tindra einen Blick zur Esse zurückwarf, mit deren Hilfe sie die Metalle für den Schlüssel geschmolzen hatte, glomm ein Rest Glut farblos auf. Nur an einem Scheit leckte eine winzige, blutrote Flamme. In Farbe. Real.

Weltendurchdringend.

Sie schluckte und wandte dann den Kopf ab. Was auch immer das war, es war ihr nicht geheuer, und sie hielt es für besser, Arin nichts von ihrer Beobachtung zu erzählen.

Mit klopfendem Herzen griff Tindra in ihre Hosentasche, in der der Schlüssel verheissungsvoll flüsternd auf sie wartete. Noch einmal kontrollierte sie den Innenhof von Juangs Schmiede, um sicherzugehen, dass sie niemand beobachtete, doch nichts regte sich.

Arin liess den Schleier gehen, diesmal langsam, und nach und nach sickerten die alltäglichen Geräusche der Schmiede zu ihr durch. Auch wenn der beissende Geruch des Esels in ihre Nase drang, lächelte sie, als sie hörte, wie er auf dem duftenden Heu herumkaute. Grillen musizierten und der leise Gesang des gelben Mondes begleitete die Fledermäuse auf ihrem nächtlichen Flug.

Doch noch bevor sie alle Geräusche zuordnen konnte, verschwand alles hinter dem kühlen Nebel des magischen Tores. Gerade noch rechtzeitig griff sie nach Arins Unterarm.

Obwohl seine Schatten dem Nebel um die Tore auf eine Art ähnlich waren, fühlte sie sich im Tornebel nicht wohl. Vielleicht lag es daran, dass sie bisher jeweils von den Soldaten der Larhun begleitet gewesen war. Beim Gedanken daran warf sie einen Blick über die Schulter zurück, um sicherzugehen, dass Bram nicht aus dem Nichts auftauchte.

Wenn sich die Gelegenheit ergab, wollte sie Arin über die verschiedenen Welten und Nebel ausfragen. Dass ihr so viele Geheimnisse Mra’Theels verborgen geblieben waren, konnte sie nur schwer glauben. Ausserdem fehlte ihr der Durchblick, sie konnte die Schatten und Nebel kaum voneinander unterscheiden, ausser sie stand mittendrin.

Als Arin von seiner Schattenwelt erzählt hatte, hatten seine Augen geglänzt. Sie machte ihn glücklich.

Das Wort kribbelte in ihren Gedanken und legte sich als prickelndes Versprechen auf ihre Zunge, auf der sie es langsam und genüsslich zergehen liess.

Nachdenklich hielt Tindra in ihrem Tun inne, den magischen Schlüssel hatte sie gerade erst aus der Tasche geholt. Er wog schwer und warm in ihrer Hand. Vielleicht, irgendwann, wenn sie sich viel Mühe gab, fand auch sie ihr Glück. Immerhin war sie auf dem besten Weg dazu, hatte sie doch einen Beruf und eine Anstellung gefunden, die sie glücklich machten. Bisher hatten die ständigen Ortswechsel ihrer Eltern dazu geführt, dass sie sich nirgends heimisch fühlte. Auch Steinwacht war nicht Tindras Zuhause, würde es nie werden. Doch die Schmiede hinter diesen den Witterungen trotzenden Mauern, das Lächeln in Juangs Augen und ihre Arbeit, die endlich etwas hinterliess, etwas, das nicht gleich wieder verschwand, sondern Bestand hatte, fühlte sich für sie wie ein Zuhause an.

Aber bevor sie glücklich werden konnte, musste sie Sunyu retten, ansonsten würde ihr schlechtes Gewissen sie ein Leben lang quälen und ihr schlaflose Nächte bereiten. Sie konnte nicht einfach so jemanden in den Fängen der Larhun zurücklassen.

Sie wandte sich dem Tor mit seinen ineinander verschlungenen Metalldrähten zu. Obwohl es von der Anmut und dem Glanz dem Tor in der Höhle der Schattenkrieger glich, wirkte es auf sie freundlicher. Sie mochte es. Es lag da, wo es trotz der Ruhe und der Leere im Nebel noch nach Heimat roch. Ein Wort, das sie sich seit ihrer Kindheit verboten hatte und erst jetzt wieder in den Mund nahm.

»Ich kenne ein Tor in Kvora, ganz in der Nähe der Reiche der Larhun. Die Kvor sind mir wohlgesonnen, sie kennen mich dort.« Er holte Luft, als wollte er weitersprechen, schwieg dann aber. Tindra wagte es nicht, nach dem Unausgesprochenen zu fragen. »Möglicherweise können wir dort etwas über deinen Freund … deinen Bekannten in Erfahrung bringen. Oder ob sie von einem erfolgreichen Angriff der Larhun wissen.«

»Und woher weisst du, wohin dieses Tor führt?« Sie wagte nur ein Flüstern, alles andere hörte sich in der Leere so unglaublich laut an.

Arin lachte befreit auf, es schallte durch die ganze Sphäre. »Überallhin und nirgendwo.« Er schüttelte sich, dann betrachtete er sie mit einem warmen Blick.

So fühlte es sich vielleicht an, so angenommen zu werden, wie man war. Nervös wandte Tindra den Blick ab. Nur einmal hatte jemand sie so angesehen, auch damals hatte sie sich zurückgezogen.

»Das Tor führt an den Ort, an den man beim Eintritt denkt.« In seinen Augen blitzte es amüsiert, als er durch das Tor voranschritt. »Vertrau mir«, hörte sie seine Stimme.

Mit einem entschlossenen Schritt trat sie über die Schwelle. Das Tor in ihrem Rücken leuchtete ein letztes Mal auf, bevor Tindra den Schlüssel in ihrer Hose verstaute. Noch immer trug sie die festen Arbeitskleider und die schweren Schuhe. Das konnte ihr zum Nachteil gereichen, immerhin erzählte man sich, die Kvor seien äusserst konservativ. Und eine Frau in Hosen entsprach nicht unbedingt diesem Bild. Doch je nachdem, was ihnen bevorstand, konnte sie froh sein, dass sie kein schönes Kleid anhatte.

»Und wenn ich an keinen Ort denke?«

In der Dunkelheit hörte sie sein leises Lachen, das aber eher trocken als belustigt klang. »Dann landest du auch an keinem Ort.«

Tindra schluckte und konzentrierte sich auf die Umgebung. Sie konnte nichts erkennen, dafür war es zu dunkel. Nur der Geruch nach Vogelkot und etwas, das schon länger verweste, drang ihr in die Nase. Sie nieste. Arins Lachen wurde von einem Hustenanfall unterbrochen.

»Geschieht dir recht«, schmunzelte Tindra, während sie Schritt für Schritt nach einem Anhaltspunkt suchte, wo sie gelandet waren.

Auf jeden Fall schien keine Menschenseele – oder Kvorseele – in der Nähe zu sein.

Bisher hatte Tindra nur Gerüchte über die Kvor gehört. Als ein verschlossenes Volk, das am liebsten in hohen Bergen und an wilden Flüssen hauste, dessen Frauen aufgestellter waren als alles andere der bekannten Welt, erblickte man auch nur selten einen Kvor ausserhalb des Reiches. Offenbar waren sie sogar kleiner als die Menschen, aber ungleich zäher. Und sie liebten Feste und Feiern.

»Hier«, durchbrach Arins Stimme ihre Gedanken und zerstörte dabei das Bild an einen kleinen, runzeligen Mann vor ihrem inneren Auge, der bei einem Humpen Bier und Schweinshaxen einer jungen Frau, mit ebenso vielen Runzeln im Gesicht, beim Tanz zusah. »Eine Tür.«

Erleichtert folgte Tindra der Stimme. Unerwartet fühlte sie einen kräftigen Arm unter ihrer Hand. Sie schrie erschrocken auf und sprang zurück. Arins lautes Lachen und ein zweiter Hustenanfall folgten. Tindra entspannte sich wieder.

Sie hatte nicht erwartet, dass der schlaksige Mann so sehnige Arme hatte, doch das getraute sie sich nicht zu sagen. Für einen Moment hatte sie gedacht, da wäre noch jemand anderes.

Erst weigerte sich die Tür, doch als sich Arin gegen sie warf, schwang sie knarzend auf. Noch immer fand kaum Licht den Weg zu ihnen, doch die Luft roch frischer. Sie ertasteten eine Treppe, die in engen Kreisen nach oben führte.

Als der befreiende Ruf einer Eule sie erreichte, traten sie unter den von Yuna beschienen Nachthimmel hinaus. Tindra schloss die Augen und genoss den Wind im Haar, die Weite, die sie umgab.

Sie standen auf einem Hügel, nicht weit entfernt von einem hell erleuchteten Dorf. Frohe Rufe und Musik drangen an ihre Ohren. Offenbar wurde hier ein Fest gefeiert. Die Luft war deutlich kühler als in Steinwacht, sodass Tindra die Arme um sich schlang.

Neugierig sah sie zurück. Offensichtlich war das Tor in einem Wehrturm versteckt, dessen Mauerkrone einzelne Steine vermisste. Die hölzerne Eingangstür verbarg sich teilweise vermodert hinter einem Haselnussstrauch und hing nur noch an der unteren, rostigen Angel. Der Zahn der Zeit nagte am Gemäuer und zeugte davon, dass sich niemand mehr um die Anlage kümmerte.

Doch wofür die Wehranlage gebaut worden war, schien nur zu deutlich, als ihr Blick über die angrenzende Ebene schweifte. Zu der Seite fiel der Hügel steil ab. Fast golden schimmerte der Nebel bis zu ihnen hoch, griff mit klammen Fingern mal nach einem Baum, mal nach einem verirrten Vogel. Eine gespenstische Stille lag über der Ebene und hing an den Türmen, die mitten aus dem Nebel auf die bewaldete Hügelkette blickten.

Tindra lief es kalt den Rücken hinab. Diesen Nebel kannte sie – er hatte sie auf der Hochebene der Nebelreiche berührt. Ihr war nicht wohl gewesen dabei.

In ihrer Erinnerung sah sie Sunyus Blick, kurz bevor er ihr den Schlüssel zugeworfen hatte. Sie schluckte, ihre Kehle schmerzte. Auch wenn sie ihn immer wieder verwünscht hatte, das hatte er ganz bestimmt nicht verdient. Ob er überhaupt noch lebte?

Arin erzählte sie besser nichts von ihren Zweifeln, ansonsten hätte er die Suche bestimmt abgebrochen. Nur vielleicht, wenn seine Nachricht wichtig genug war, hätte sie eine Chance gehabt, dass er sie auch so begleitete. Wahrscheinlicher aber war, dass er sie an Ort und Stelle zurückgelassen hätte, nachdem er sie um einen Schlüssel erleichtert hätte.

Der junge Mann schritt voraus und warf ihr einen lachenden Blick über die Schulter zu. »Komm, ein Fest wird gefeiert. Eine schöne Frau wie du soll sich nicht verstecken.«

Schon wieder hatte er sie eine schöne Frau genannt. Obwohl sie wusste, dass es nur ein Scherz war, wurden ihre Wangen heiss.

Schöne Frau …

Fassungslos schüttelte sie den Kopf.

Sie gingen um den verlassenen Wehrturm herum und fanden mithilfe der Lichter des feiernden Dorfes und des Mondes Yuna einen Weg, der im Zickzack den bewaldeten Hügel hinunterführte. Die Festgeräusche kamen immer näher, eines der fröhlichen Lieder erkannte Tindra sogar wieder. Es erinnerte sie an ihre Kindheit, als sie es in der Schule gelernt hatten. Sie war noch ganz klein gewesen und hatte an einem Ort weit entfernt von Steinwacht gelebt.

Arin blieb am Waldrand stehen. »Nebelwehr.«

Welch passender Name für diesen Ort.

Sie folgte seinem Blick zum Dorf, das mit einem hohen Palisadenzaun, Graben und in den Boden gerammten, spitzen Pfählen geschützt wurde. Eine Weile beobachtete er das Dorf, von dem sie nur eine Wiese aus wogenden Herbstblumen trennte, dann wandte er sich an sie. »Eine befreundete Familie lebt hier«, gestand er ihr mit einem freundlichen Lächeln. »Komm, wir sollten sie besuchen. Und dann gehen wir feiern.«

Vehement schüttelte Tindra den Kopf, sie würde jetzt bestimmt nicht feiern gehen. Erstens trug sie immer noch ihre Arbeitskleider und stank nach Schweiss und Metallstaub, zweitens war sie gar nicht in der Laune dazu. Sie war heute von einer Horde wild gewordener Schattenmänner angegriffen worden und Sunyu hatte seine Freiheit geopfert, um ihr die Flucht zu ermöglichen.

Dies war kein Tag zum Feiern.

Trotzdem folgte sie dem Boten, der mit weiten Schritten auf das Dorf zuging. Offensichtlich freute er sich, ob auf das Fest oder auf seine Freunde, vermochte Tindra nicht zu sagen. Sie erreichten den Eingang und traten an den Wachen vorbei ein, als er sich direkt nach links wandte. Mitten im Dorf, ein wenig vom Hauptweg entfernt, blieb er vor einem strohgedeckten, niedrigen Lehmhaus stehen und klopfte an. Aufgeregtes Stimmengewirr ertönte, bevor sich die Tür öffnete.

Vor ihnen stand eine rüstige Frau mittleren Alters mit üppigen Kurven, die sie mit ihrem eng anliegenden Kleid zusätzlich betonte. Sie blinzelte einen Moment verwirrt, dann breitete sie die Arme aus.

»Meine Güte, Arin, wie schön, dass du zu unserem Dorffest erscheinst«, rief sie erfreut und strahlte über das ganze, von einer Knollennase dominierte Gesicht. »Wieso hast du nichts gesagt? Wir hätten dir und deiner Begleitung ein Zimmer bereit gemacht.« Dabei warf sie Tindra einen neugierigen Blick zu.

Sie hat nicht ganz so viele Runzeln, wie es die Geschichten immer weismachen wollen, fuhr es Tindra durch den Kopf.

Der Bote lachte und drückte die Frau, die ein wenig kleiner war als Tindra, an sich. »Elisa, es ist schön, dass es dir so gut geht.«

Mit einer energischen Handbewegung winkte sie die beiden herein und trat zur Seite. Von einem engen Gang ging eine Tür in die helle, erleuchtete Stube ab, in welche Elisa sie hineindirigierte. Kinder schrien erfreut auf, als sie Arin sahen. Ein Mann im Alter der Hausherrin sprang auf und umarmte ihn so heftig, dass dieser nach Atem rang. Das kleine Mädchen konnte sich gar nicht mehr von seinem Bein losreissen.

Arin nahm sie auf den Arm, fuhr ihr durch das aschblonde Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Naina, Süsse, ich habe dich so vermisst.«

In der ganzen Aufregung kam sich Tindra etwas verloren vor. Jeder kannte Arin, wollte mit ihm sprechen, und sie war genauso unsichtbar wie die Holzwand hinter ihr.

Genau das hatte sie sich in den letzten Jahren gewünscht: unsichtbar zu sein. Doch jetzt hoffte sie, dass wenigstens irgendjemand auf sie aufmerksam wurde. Je länger sie Arin und seine Freunde beobachtete, desto mehr fühlte sie sich wie ein Schatten im Nebel, etwas, das keiner bemerkte, ein Niemand. Dabei wäre sie so gern ein Teil dieser warmen Gesellschaft, um sie zu begrüssen und sich mit ihnen zu freuen. Sie wäre gern wie Arin gewesen, der mit einem offenen Lächeln alle Herzen für sich gewinnen konnte und viele Freunde hatte.

»Tindra«, riss Arins Stimme sie aus den Tagträumen. Als sie den Blick überrascht hob, lachte er und streckte den Arm nach ihr aus. »Das ist Tindra, eine Freundin. Wir sind auf der Durchreise.« Entschuldigend zwinkerte er Elisa zu und neigte den Kopf zur Seite. »Deshalb ist der Besuch so spontan.«

Sie lachte und winkte mit der Hand ab. »Möchtet ihr auch zum Fest mitkommen? Es gibt Braten, leckere Suppe und frisches Brot. Alles, was das Herz begehrt! Wir können euch was zum Anziehen leihen. Ich weiss ja, du reist mit leichtem Gepäck.« Sie warf einen Blick auf Sunyus grünlich blau schimmerndes Schwert in Tindras Hand und runzelte die Stirn. »Das lassen wir aber lieber hier, ansonsten fallen gleich alle über dich her, Kindchen.«

Staunend betrachtete sich Tindra in dem kleinen Spiegel, den ihr Elisas Tochter hinhielt. Eine andere band die Schärpe, die unter ihrer Brust um den Oberkörper reichte, zu einer kunstvollen Schlaufe, ehe sie zufrieden zwei Schritte zurücktrat und die Hände in die Hüften stemmte. Die Schärpe und der grosszügige Ausschnitt brachten ihre Kurven zur Geltung und lenkten von den kräftigen Oberarmen und den zerrissenen Händen ab.

Ihr Gesicht schien von innen heraus zu strahlen, ihre Augen leuchteten wie zwei grüne Feuer und ihr Haar schimmerte wie ein Weizenfeld bei Sonnenuntergang, das über die Schultern bis zu ihrer Hüfte fiel. Martha hatte drei elfengleiche Zöpfchen hineingeflochten, die ihr die Haarpracht aus dem Gesicht hielten, und dabei einige Blumen eingearbeitet. Tanja hatte ihr das Gesicht in derselben Zeit so unauffällig und doch kunstvoll geschminkt, dass sie nur staunen konnte. Tindra und ihre Schwester Reina hatten noch nie so etwas hinbekommen, obwohl sie schon so oft geübt hatten.

Arin nippte an einem Glas Wein, als sie zusammen mit den beiden Jugendlichen in die Stube trat. Er trug dunkelbraune Leinenhosen und eine graue Weste, die seine lockere Art unterstrichen. Als er sie sah, wurden seine Augen weit und sein Lächeln noch breiter, als es sonst schon immer war.

Er erhob sich und bot ihr seinen Arm an. »Schöne Frau.«

Offenbar sollte sie sich besser daran gewöhnen.

»Husch, husch, wir sind schon spät dran. Wenn wir noch Braten wollen, sollten wir uns beeilen«, scheuchte Elisa die Truppe auf.

Ihr Mann, die Schwiegereltern und ihre sieben Kinder standen auf und folgten ihrer Aufforderung. Es bestand kein Zweifel, wer hier das Sagen hatte.

Auf dem Dorfplatz herrschte emsiges Treiben. Über einem der Feuer wurde ein Spanferkel gegrillt, über den anderen Suppe gekocht oder Gemüse gebraten. Überall steckten Kinder Süssknollen in die Glut und stahlen sich dann davon, in der Hoffnung, dass die Erwachsenen noch wussten, wo die eigene Knolle garte.

Obwohl Tindra eigentlich keine Lust zum Feiern hatte, lächelte sie, als die Stimmung, die Musik und die Freude der Menschen zu ihr durchsickerten. Sie hatte immer gehofft, dass die Feste in Steinwacht genauso würden wie dieses hier, doch meist war es für die Jugendlichen nur eine weitere Gelegenheit gewesen, ihren Frust an ihr auszulassen.

Nun mittendrin und akzeptiert zu sein und sich ungezwungen mit Gleichaltrigen unterhalten zu können, bedeutete ihr sehr viel. Sie war Arin dankbar, dass er es ihr ermöglichte.

Sie holten sich etwas zu essen und setzten sich an einen der wenigen freien Tische. Arin trug dabei immer das kleine Mädchen auf dem Arm, das offenbar sein Patenkind war. Irgendwie erwärmte es Tindra das Herz, dass er so beliebt und sogar Pate eines Mädchens der Kvor war. Es zeigte, dass die Völker doch in Frieden und Freundschaft miteinander leben konnten, wenn sie nur wollten.

»Habt ihr auch Probleme mit den Larhun?«, unterbrach Elisas Mann Konrad Tindras Gedanken und zog damit ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Arin reagierte blitzschnell. »Wie meinst du das?«

»Seit einiger Zeit tauchen sie wie aus dem Nichts auf, überfallen Dörfer und Städte, rauben Boten und Händler aus. Sie stiften Unruhe. Niemand weiss, woher sie genau kommen oder weshalb sie es tun, doch sie versetzen Kvora in Angst und Schrecken.« Er hielt einen Moment inne, ehe er die Stimme senkte. »Man sagt, die Welt sei im Umbruch.«

Arin lachte laut auf, als er den Bratensaft mit einem Stück Brot vom Teller aufsaugte. »Konrad, die Welt ist ständig im Umbruch, das ist nichts Neues.« Seine Augen blitzten belustigt auf, als er Tindras Blick bemerkte. Ein wenig ernster fuhr er fort: »Aber wie könnt ihr in Anbetracht dieser Bedrohung ein Fest feiern? Nur zwei Mann bei den Eingängen, keiner trägt seine Waffen bei sich, selbst die Priesterinnen der Seylani und der Doana haben ihre Gesänge unterbrochen. Ist das nicht ein wenig leichtsinnig? Wenn das Schattenvolk angreift, ist Nebelwehr der erste Ort, der fällt.«

Konrads Augen verdüsterten sich, als er den Blick über den Platz schweifen liess. »Wie gesagt, die Larhun tauchen irgendwo auf. Vor einigen Tagen konnten wir sie zurückschlagen. Diesen Sieg feiern wir nun. Weisst du, mein Freund, wenn sie uns wirklich mit ihrer düsteren Armee angreifen, werden wir fallen. Wir können uns verkriechen, bis wir alt und schrumpelig sind, oder wir können unser Leben geniessen. Am Ende gibt es nur diesen einen Unterschied: Ob wir gelebt oder uns zu Tode gefürchtet haben.« Mit leerem Blick trank er einen grossen Schluck aus dem Bierhumpen.

Dem lang gezogenen Seufzen nach zu urteilen nahm Konrad die Angelegenheit doch nicht ganz so gelassen, wie er weismachen wollte.

Arin strahlte, als er Tindra auf die Tanzfläche führte. Durch den Wein angenehm benebelt, schwebte sie an seinem Arm zwischen den anderen Paaren hindurch. Mehrmals brauchte sie seinen Halt, um nicht aus dem Takt zu kommen oder zu stolpern.

Der Bote lächelte sie glücklich an, suchte ihren Blick, ihre Wärme. Tindra genoss diesen einen perfekten Moment. Mit einem leisen Seufzen schloss sie die Augen, sog die Freude und das wogende Leben tief ein. Erst als warmer Atem über ihr Gesicht strich, öffnete sie sie wieder.

Im selben Moment erhaschte sie eine Bewegung in den Schatten ausserhalb des Dorfes, ein kalter Luftzug streifte ihre Wange. Es fühlte sich an wie ein magischer Schlüssel.

»Weg hier!«, zischte sie und packte Arin an der Hand.

Vilgrim

C:\Users\Andre\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.Word\Schlüssel.png

Sunyu

Er warf einen Blick durch das kleine Fenster auf die niederen Berge vor der Kleinstadt. Grimsvik war weder für seine Kulinarik noch für den Meerblick bekannt, dafür umso mehr für den immerwährenden Nebel und die heftigen Schneestürme im Winter. Bisher hatte er nur von diesem Ort gehört, nun war er endlich hier. Wenn er sich recht erinnerte, war es eine der südlichsten Siedlungen von Mra’Theel überhaupt.

Mra’Theel, der Kontinent der Entdecker.

Er schüttelte den Kopf. Abgesehen von einem verdammten Drecksloch in seiner Kindheit und dem verdammten Drecksloch, in das seine Eltern ihn geschleppt hatten, kannte er nichts von diesem Kontinent der Entdecker. Und wieso genau der einzige bekannte Teil der Welt so genannt wurde, war ihm auch schleierhaft. Was man kannte, konnte man nicht entdecken.

Er lehnte sich zurück, die Fesseln rasselten. Brams Männer hatten nicht noch einmal den Fehler gemacht, ihm die Fussfesseln abzunehmen. Nachdem er sich ihnen als Schmied präsentiert hatte, hatte er noch zwei Faustschläge, einen Tritt und einen Hieb mit der Breitseite eines Schwerts kassiert, aber dann hatten auch die tumben Larhun begriffen, dass er sich ihnen fügen würde.

Er hoffte nur, dass Tindra ihre Chance gut nutzen würde. Sie musste sich verstecken. Die Larhun wussten, dass sie einen Schlüssel bei sich trug, nur schon deshalb würden sie nach ihr suchen. Sobald ihnen bewusst wurde, dass er nicht ihr gesuchter Schmied war, hatten sie einen Grund mehr, sie zu finden. Aber Tindra war nicht dumm, das wusste er. Nur manchmal etwas naiv.

Und zu wenig modebewusst.

Und – und das war das Schlimmste – einfach eine totale Nervensäge.

Bei diesem Gedanken fragte er sich unweigerlich, wieso er sie überhaupt befreit hatte. Er mochte sie nicht, das war eine Tatsache, aber gleichzeitig …

Energisch schüttelte er den Kopf und unterbrach die eigenen Gedankengänge.

Die Larhun hatten ihn ins höchste Zimmer des Gefängnisturmes gesteckt. Dieser stand mitten auf einem fünfeckigen Platz, der von den gewöhnlichen Zellkomplexen eingefasst war. Für eine Kleinstadt zeugte das von ungeheurer krimineller Energie, doch im Schatten der Nebel war nichts anderes zu erwarten. Das ständige Dämmerlicht machte jeden irgendwann depressiv, deshalb auch der hohe Alkoholkonsum.

Aus einem Kraut, das nur in den Hochebenen wuchs, wurde ein Schnaps gebraut, der so ekelhaft war, dass Sunyu ihn nur einmal probiert und sich geschworen hatte, nie mehr auch nur einen Schluck des Gesöffs zu trinken. Es brannte auf der Zunge wie Schmiedefeuer auf dem Gesicht, das mit der Gluthitze der Sonne unter dem offenen Dach der Schmiede verschmolz. Eher würde er verdursten als noch einmal Rakevin zu trinken.

Er hörte, wie der Riegel vor seiner Zellentür zurückgeschoben wurde und erhob sich. Obwohl er an Händen und Füssen gefesselt war, bereitete er sich auf eine Auseinandersetzung vor – so konnte ihn niemand überrumpeln.

Vier erstaunlich sauber gekleidete Wachen traten ein und postierten sich in der Zelle, sodass eine kurze Gasse vor der Tür entstand. Die Männer trugen über leise rasselnden Kettenhemden weisse Roben aus feinem, aber schwerem Stoff mit blauen, golddurchwirkten Borten. Über jeder Schulter warnte der Griff eines Zweihänders vor einer unbedachten Tat in ihrer Anwesenheit, an der Hüfte hingen Scheiden mit Schwertern und Säbeln, und als wäre das nicht genug, hielten sie lange Speere in ihren Händen. Obwohl Wimpel sie schmückten, würde sich Sunyu hüten, den Männern einen Grund zu geben, sie zu gebrauchen. Die Enden der Speere schlugen sie alle gleichzeitig in den Boden und gaben so ihrer Herrin das Zeichen, dass sie gefahrlos eintreten konnte.

Sunyu blieb der Mund offen stehen. Anstelle einer Herrscherin trat ein Mann ein, gekleidet in edle, aber unauffällige Stoffe. Ein Mann. Ein Mann als Fürst dieses vermaledeiten Reiches!

Vielleicht war er auch nicht der Fürst. Doch die Ehrerbietung, die aus den Bewegungen der Wachen sprach, wurde keinem normalen General zuteil.

Auch wenn der Fremde kaum so gross wie Tindra war, umhüllte ihn eine Ausstrahlung, die jeden anderen in die Flucht gejagt hätte. Dem kleinen Mann, gut eineinhalb Köpfe kleiner als er selbst, reichten die leicht gewellten, schwarzen Haare bis zu den Schultern. Im Gegensatz zu vielen Larhun wirkte er gepflegt, nicht einmal ein Bartschatten war auf dem jungenhaften Gesicht zu sehen. Trotz seines Äusseren blitzte in seinen Augen das Bewusstsein über die Macht, die er innehatte, und was er dafür getan hatte.

Mit harter Hand regieren, keine Schwäche zeigen und niemals nachgeben. Töten, wenn es nötig war.

Auf den schmalen Lippen zeigte sich ein dünnes Lächeln. »Das also ist mein Meisterschmied. Sei hier willkommen.«

»Wenn ich willkommen wäre, würdest du mich nicht in einen Kerker stecken«, knurrte Sunyu.

Jetzt lachte der Schwarzhaarige, doch es klang kalt und hart. Es brachte die Nebel zum Singen, nicht die Sonne in die Herzen derer, die es hörten. »Mit Verlaub, Schmied, du hast meine Männer mit deinem Widerstand überrascht. Vom Menschenvolk sind wir das nicht … gewohnt, wenn du so sagen willst. Es ist eine reine Sicherheitsmassnahme.« Er trat näher und blickte ihm dabei fest in die Augen. »Abgesehen davon wäre doch ein Kerker ungleich düsterer und kälter. Sieh nach draussen und geniesse die Aussicht. Nicht jeder findet in seinem Leben die Gelegenheit dazu.« Es war Witz und Warnung zugleich.

Unglaublich, wie dieser Mann genau spürte, welche Autorität er ausstrahlte – und niemand diese anzweifelte.

Bei Seylanis verfaulendem Zeh, was hat er auf seinem Weg zur Macht alles getan, um sich diesen Respekt zu verdienen?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739492148
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Bestimmung Krieg Freundschaft Entscheidungen Fantasy Feuer Gerechtigkeitssinn Waffen düster dark

Autor

  • Andrea Ego (Autor:in)

Die Autorin Andrea Ego entdeckte schon in ihrer frühesten Schulzeit Bücher für sich. Das Abtauchen in fremde Welten hat sie von Beginn weg fasziniert. In ihrer Jugendzeit hat sie mit dem Schreiben begonnen und seither hat es sie nie mehr so richtig losgelassen. Andrea liebt neben dem Schreiben ihre Familie über alles, die Schweizer Berge, Schokolade, ihren Garten und das Fotografieren.
Zurück

Titel: Schmiedefeuer