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Klosterschatz

Der Magie verfallen III

von Tanja Rast (Autor:in)
200 Seiten
Reihe: Der Magie verfallen, Band 3

Zusammenfassung

Der Magie verfallen – das ist eine Gay-Fantasy-Reihe um Krieger und Magier, Priester und Diebe. Jeder Roman erzählt die Romanze zweier gegensätzlicher junger Männer – zwischen Gefahren, Abenteuern und großen Gefühlen. Schwer verwundet wird der Rebell Torik zusammen mit einer Handvoll Nonnen von den machthungrigen Eroberern gefasst, um in der Hauptstadt als abschreckendes Beispiel hingerichtet zu werden. Doch während einer Rast in einer Klosterruine erscheint Torik die atemberaubende Fiebervision eines hochgewachsenen, muskulösen jungen Mannes. Verblüffend nur, dass dieses Traumgebilde die Gegner mittels einer Schaufel niedermacht und sich während Toriks Genesung als ein rücksichtsvoller vormaliger Mönch namens Livan entpuppt. Zusammen mit den Nonnen schmieden die beiden ungleichen Männer einen Plan, das Reich von dem Joch der Eroberer zu befreien. Bis Livans dunkle Vergangenheit sie einholt …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Strandgut des Krieges

 

Livan verwünschte seine Unaufmerksamkeit. Das Wetter war daran schuld, der strömende Regen, die Finsternis, als wäre es mitten in der Nacht. Aber in erster Linie hatte Livan geträumt, während er durch Pfützen und Matsch gestapft war, bis er einen Ochsen brüllen gehört hatte und gleichzeitig beinahe mit dem Wachposten einer kleinen Soldatentruppe am Wegesrande zusammengestoßen war. Halzans Männer. Herzlichen Glückwunsch, Livan.

Und ohne Sinn und auch nur die geringste Provokation seitens Livans hatte im Lager jemand gebrüllt: »Ergreift ihn!«

Seitdem rannte er, obwohl er das Gefühl hatte, dass seine Lungen in Flammen standen und glühende Nadeln zwischen seinen Rippen staken.

Eine Körpergröße, dank der er so gut wie jeden überragte, konnte mitunter von Vorteil sein. Aber nicht bei einem Rennen um Leben und Tod durch den Wald, wo jeder tief hängende Ast, den Livan im niederprasselnden Wasser zu spät entdeckte, ihn fällen konnte, sodass die Verfolger bequem zu ihm aufschlossen, um ihm den Rest zu geben.

Außerdem hatte er längst die Orientierung verloren, drei Bäche übersprungen und hörte immer noch die Soldaten des Königs hinter sich. Anide und ihre Heerschar von Heiligen mochten ahnen, warum die Kerle nicht aufgaben! Die konnten doch nicht jeden harmlosen Bauern zu Tode hetzen!

Doch die Soldaten nahmen den Befehl wohl ernst.

Keuchend sprang Livan in vier langen Sätzen einen steilen Abhang hinab, prallte beinahe gegen einen Baum und hetzte am nächsten vorbei. Er brach durch Unterholz, und mit einem Mal rissen die Wolken für einen Wimpernschlag auf, gestatteten mattem, grünem Licht, eine alte Straße zu beleuchten, bevor der nächste Blitz den Himmel spaltete.

Livan hatte keine Ahnung, wohin diese Straße führen mochte, aber er rannte weiter. Seine Kehle fühlte sich wie von einer Raspel wund gerieben an. Jeder Atemzug machte es schlimmer, und wenn er die Bastarde nicht bald abhängte, würden sie ihn am Wegesrand einsammeln, während er sich gerade die Seele aus dem Leib kotzte.

Er überquerte die Straße, sprang über niedriges Buschwerk hinweg und schaffte es gerade noch, einen Schrei zu unterdrücken, weil es hinter der harmlosen Hecke etliche Ellen tief in einen breiten Graben hinab ging.

Mit einem Bauchklatscher landete Livan in brackig stinkendem Wasser, wobei er sich noch einigermaßen abstützen konnte. Er hob den Kopf, wollte sich gerade hochstemmen, als er vor sich eine Röhre erblickte, aus der schwarzes Nass quoll. Eine Zuwegung über den Graben, und damit das Wasser fließen konnte, war ein Tunnel unter der Straße verlegt worden.

Livan keuchte erleichtert, krabbelte durch Morast und viel dreckiges Nass und verbarg sich in der Röhre. Er kroch so tief wie möglich hinein, bis er sich sicher war, genau in der Mitte zu stecken. Und wenn seine Verfolger das irgendwie mit angesehen hatten, steckte er in der Falle.

Mühsam versuchte er, seine wilden Atemzüge zu beruhigen, sich im über seine Beine hinwegströmenden Wasser klein zusammenzukrümmen und ganz leise zu verhalten.

Die sture Verfolgung ging über seinen Verstand. Üblicherweise ging er Soldatengruppen soweit wie möglich aus dem Weg. Sie gehörten nicht in dieses Reich, sondern waren als Unterdrücker gekommen. Doch meistens gab es außer einer Gepäckdurchsuchung und ein paar bohrenden Fragen keine Unannehmlichkeiten, falls Livan wirklich einmal Truppen in die Arme lief. Schlimmer waren die Versprengten der herzoglichen Armee. Die träumten davon, immer noch echte Soldaten zu sein, obwohl sie in Höhlen hausten und gar nichts mehr waren. Die meisten wollten Livan als Rekruten einkassieren, und von den vormaligen Verteidigern der eigenen Heimat musste er sich blöde Sprüche anhören. Warum so ein riesiges Prachtexemplar wie er nicht dem Heer angehörte. Welchem Heer? Der Krieg war verloren. Ende. Je eher die Männer das einsahen, desto mehr würden lebend zu ihren Familien zurückkehren können.

Livan hielt die Luft an, als er in seiner Nähe Schritte vernahm, dann Fetzen einer Unterhaltung. Das wenige, das er verstand, lief darauf hinaus, dass seine Spur gründlich verloren worden war. Er schloss die Augen, lehnte den Hinterkopf an die Tonröhre und gestattete sich ein lautloses Aufatmen. Immer noch hämmerte das Herz in seiner Brust und erinnerte ihn daran, dass er alles Mögliche war, aber niemand, der stundenlang durch Wald und Matsch rennen konnte, ohne eine horrende Rechnung von seinem Körper vorgelegt zu bekommen. Und wenn er jetzt in dieser Röhre einschlief, wachte er vielleicht sogar als weißgewaschenes, mausetotes Treibgut wieder auf.

Also harrte er durchnässt aus, lauschte auf Geräusche in seiner Umgebung und fragte sich, wie lange er in der sanften Strömung kauern musste. Während des Rennens hatten seine Muskeln ihn warmgehalten, und es war nicht nur Regenwasser gewesen, das in Strömen an ihm hinabgelaufen war, sondern auch jede Menge Schweiß. Jetzt kühlte Livan langsam aus, und als seine Zähne zu klappern begannen, beschloss er, dass seine Feinde gefälligst weg zu sein hatten. Er konnte nicht mehr. Die Aussicht, nur in einem Windschutz zu zittern und zu frieren, weil er ein Feuer nicht riskieren konnte, verursachte sofort noch stärkeres Beben.

Auf Händen und Knien kroch Livan wieder aus der Röhre und wurde von einem Hagelschauer begrüßt. Doch er konnte nicht länger nass, kalt und untätig herumsitzen. Die Kleidung klebte an ihm, scheuerte bei jeder Bewegung. Das Bündel mit Livans Habseligkeiten, von denen etliche vom Wasser verdorben sein würden, wog schwer und ließ die Riemen tief einschneiden.

Geduckt kletterte er aus dem Graben, krallte die Finger um Grasbüschel oder grub sie in kalten Matsch, um endlich die Böschung zu erreichen. Er ließ den Blick schweifen, um ein Versteck, einen Unterstand zu finden, und genau in diesem Augenblick hörte der Hagel auf, und die tief hängenden Wolken schienen erst Kraft für den nächsten Regenguss sammeln zu müssen.

Vor Livan lag eine grüne Wildnis, in der die alte Straße verschwand. Doch das geübte Auge machte Konturen inmitten von Sträuchern, wuchernden Brennnesseln und jungen Bäumen aus. Steinklötze, die bitter vertraut wirkten: Ein Muster aus Rosenranken zierte sie, wo der Zahn der Zeit es noch nicht abgeknabbert hatte. Ein Kloster, womöglich vor Jahren schon aufgegeben. Livan merkte, dass er grinste. Wie passend, dass er dort Unterschlupf suchen würde, denn abgesehen von den Hauptgebäuden bestand ein Kloster aus vielen Hütten, Werkstätten und Stallungen inmitten einer schützenden Einfriedung, und im Gegensatz zu den königlichen Soldaten kannte Livan sich in einer solchen Anlage aus. Er würde ein Versteck finden, wo er den Rest des Tages und die Nacht verbringen würde, ohne dass irgendjemand ihn aufstöbern konnte.

So schnell wie möglich setzte er sich erneut in Bewegung, spürte die Wärme in seine Muskeln zurückkehren, zitterte trotzdem vor Kälte und trat durch eine Bresche, wo früher ein Torhaus gestanden haben mochte, auf den Hof des Klosters.

Vielleicht hätte Livan ein wärmeres Gefühl in der Herzgegend spüren sollen, als die Reste vertrauter Gebäude unter Wildwuchs ihn umgaben. Oder Grauen hätte kalte Krallen in seine Brust schlagen müssen angesichts der Zerstörung und Vernachlässigung. Eingesunkene Strohdächer, vom Wind fortgerissene Fensterläden, überall Brennnesseln, Brombeerranken und von Baumwurzeln angehobene Pflastersteine. Es gab vielerlei Gründe, warum ein Dorf oder auch ein Kloster aufgegeben wurde, wusste Livan. Krankheiten sorgten immer wieder dafür, dass die Leute mit Sack und Pack flüchteten. Oder ein vermuteter Fluch. Hier, erkannte er, war der Grund noch einfacher gewesen: Feuer. Offenbar war der Brand vor Jahren im Tempel, dem Mittelpunkt der Anlage, ausgebrochen und hatte diesen gründlich zerstört. Das hohe Dach, das bei allen Tempeln in dieser Form an den Rücken eines Wals erinnerte, existierte nicht mehr. Alle bunten Glasfenster waren geplatzt, ihre Scherben glitzernde Juwelen im Unkraut oder durch Ruß geschwärzt.

Eine Stätte, von der Göttin verlassen, und als Anide sich abgewandt hatte, waren ihre überlebenden Diener geflohen – hoffentlich. Wahrscheinlich, so verwildert, wie es hier aussah.

Ein friedlicher Ort, den die Natur sich zurückholte.

Livan fühlte sich sehr wohl hier.

Er packte die einschnürenden Riemen des Gepäcks fester, um seine Schultern zu entlasten, und bahnte sich einen Weg tiefer in den noch jungen Wald, der aus geborstenen Mauerresten spross und dort zu wachsen begann, wo früher Menschen und Tiere gelebt hatten. Der Regen ging in ein Tröpfeln über, und kleine Reste Tageslicht berührten das klatschnasse Grün, durch das Livan behutsam ging, um möglichst keinen weithin sichtbaren Trampelpfad zu hinterlassen, falls seine Verfolger doch noch nach ihm suchten.

Durch eine Öffnung, in deren Rändern noch Reste von Bleistreifen und Fensterglas hingen, kletterte Livan schließlich in den Tempel selbst, sah sich staunend um und entdeckte, dass der halbrunde Raum hinter dem Altar noch ein wenig überdacht war und Schutz für die Nacht bieten konnte.

Der Brand hatte unübersehbare Spuren hinterlassen, winterlicher Frost hatte den Rest besorgt. Glassplitter von zerbrochenen Schmuckfenstern bildeten bunte, glitzernde Pfützen inmitten Mörtelbrocken und zerschlagener Dachpfannen, die das Marmormosaik des Tempelbodens in eine Kraterlandschaft verwandelt hatten. Selbst im vormaligen Heiligtum erhoben junge Brennnesseln frischgrüne Zackenblätter und eroberten allen nutzbaren Boden, der ihnen früher verwehrt gewesen war.

Livan suchte sich wachsam einen Weg, hinterließ kaum Spuren, bis er die Hand auf den Altar legen konnte und diesen umrundete, wobei er nach oben zum Dachrest blickte, ob der noch eine weitere Nacht artig dort oben bleiben würde.

Der rechte Fuß trat ins Leere, und Livan warf sich zur Seite und zurück, hielt sich am Altar fest und starrte erschrocken in einen schwarzen Abgrund.

Eine gewaltige Säule war seit dem Brand umgestürzt und hatte den Boden durchschlagen. Livan fand sein Gleichgewicht wieder, zerrte sich die Riemen des Gepäcks über die Schultern und legte das triefend nasse Bündel auf die Steinplatte des Heiligtums. Eine Pfütze bildete sich unter dem Leinensack.

Langsam ging Livan auf die Knie, stützte sich mit den Händen ab und blickte in das Loch. Die Säule stak noch darin, war sie doch zusammen mit Mosaik und Bodenplatten in die Tiefe gerauscht. Der Schuttberg stützte den Pfeiler.

Aber da unten war noch mehr. Dort befand sich die Krypta. Livan wusste, dass auf dem Friedhof, der in der Regel an den Tempelplatz angrenzte, nur die einfachen Brüder und Schwestern und etliche Laiendiener bestattet wurden, während unter dem Altarraum in einem besonders geschützten und heiligen Keller die Klostervorstände, reiche Gönner und mitunter sogar Kleinadlige aus der Umgebung eine letzte Ruhestätte fanden.

Livan richtete sich wieder auf und fühlte Gänsehaut Arme, Rücken und Brustkorb überziehen. Seit vier Jahren schlug er sich irgendwie durch, grollte jedem Diener Anides, und jetzt führte ihn ein Zufall hierher! Eine wilde Flucht vor Königssoldaten, ein Schlammbad im Graben … Nein, nicht zu früh freuen. Der Brand lag mindestens drei Jahre in der Vergangenheit, das bewiesen die jungen Bäume, die sich an die Rückeroberung des Areals machten. Klein noch und schlank. In diesem Zeitraum konnte jemand anderes bereits den Zugang zur Krypta entdeckt haben. Aber die angespannte Freude ließ sich von diesen Gedanken nicht beeindrucken.

Hastig stand Livan wieder auf, öffnete die Schnüre des Bündels und suchte nach seiner Feuerbüchse und einem Talglicht. Mit ein wenig Glück hatten Regen und Grabenwasser den Zunder in der kleinen Metallkiste nicht aufgeweicht. Livan sah sich fahrig um, nachdem er den Zunder tatsächlich trocken vorgefunden hatte. Er benötigte Werkzeug. Ein Brecheisen, eine Schaufel, irgendetwas. Ein Seil befand sich in seinem Gepäck, nicht sehr lang, aber stabil.

Er tat einen tiefen Atemzug, um den rasenden Herzschlag zu beruhigen. Einen Schritt nach dem anderen tun. Und vielleicht gab es da unten auch gar nichts mehr zu holen. Aber falls doch …

Livan hastete zurück zu dem Fenster, durch das er den Tempel betreten hatte. Jedes Kloster verfügte über Werkstätten. Irgendetwas würde sich da bestimmt finden lassen.

 

Torik lag still in einem Winkel des Gitterkäfigs, schlotterte vor Kälte und versuchte, sich an seiner Lage zu erfreuen. Der Käfig besaß kein Schutzdach, nicht einmal eine alte Decke war darübergeworfen worden, als der Dauerregen in Hagel überging. Nun konnte Torik nur noch hoffen, dass eine Lungenentzündung ihn dahinraffte, bevor er die Hauptstadt Kelvers Hald erreichte, falls seine Wunden ihn nicht bis dahin erledigt hatten. Beides keine Todesarten, die irgendwie nach Heldenmut schmeckten, aber Torik zog beide einer öffentlichen Hinrichtung vor.

Er vernahm Unruhe rund um den Kerkerwagen. Gebrüllte Befehle, die ihn nichts angingen, denn er stellte nun wirklich keine Gefahr mehr dar. Zitternd krümmte er sich noch ein wenig mehr zusammen, um einen letzten Rest Wärme zu bewahren.

Irgendwann, als Torik es gerade beinahe geschafft hatte, trotz der nassen Kälte ein wenig wegzudämmern, klirrten die Schlösser am Wagen. Torik vernahm einen leisen Schrei – weiblich –, der ihn dazu bewegte, die Augen zu öffnen und den Kopf ein wenig zu heben. Gerade rechtzeitig, um sehen zu müssen, wie die Soldaten eine Frau in der unverkennbar dunkelroten Kutte einer Nonne der Anide in den Wagen stießen.

Einige der Soldaten lachten, und dann flog nahezu eine zweite Nonne in den Wagen, fiel hart auf die Knie, da sie nicht auf ihre Schwester stürzen wollte, und fing einen Zusammenprall mit der gegenüberliegenden Gitterwand knapp ab. Torik sah ein vor Angst bleiches Gesicht mit weit aufgerissenen Augen und sogar zwei kupferfarbene Löckchen, die unter der strengen weißen Haube hervorblitzten. Er versuchte daraufhin, sich hochzustemmen. Doch zu mehr als einer schwächlichen Bemühung reichte es nicht. Wie mit Feuerkrallen fraß der Schmerz der Bauchwunde sich in seine Eingeweide und raubte ihm den Atem.

Noch zwei Nonnen, dann wurde die Gittertür zugeschlagen und das Schloss erneut angebracht.

»Hab die Rebellenhuren in einem Dorf nicht weit von hier aufgegabelt. Die machten die Bauern aufmüpfig mit ihren Reden, da hab ich die Weiber einkassiert.« Eine fremde, tiefe Stimme, der Torik Kasernen und Bordelle anhörte. Rau, befehlsgewohnt und ein Großkotz.

Wie die Barmherzigkeit in Person rückten die Nonnen dichter zu ihm. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, sanft und behutsam, und Torik begriff, dass die Schwester nicht wünschte, dass er sich noch einmal aufzurappeln versuchte.

»Es tut mir so leid«, flüsterte er, obwohl er an dem Schicksal der Nonnen keine Schuld trug. Doch die Angst der Frauen schnitt ihm ins Herz. So weit war es in Kelverde schon gekommen, dass selbst Dienerinnen der Göttin nicht mehr sicher waren vor den groben Männern des Königs, der das ganze Reich mit Krieg überzogen hatte.

»Beunruhige dich nicht«, wurde ihm leise geantwortet. Unter der tropfnassen weißen Haube entdeckte Torik ein altes Gesicht, aus dem ihm klarblaue Augen entgegenstrahlten. Weiche, nur ein wenig welke Haut und vor Empörung gerötete Wangen. Irgendwie erinnerte dieser Anblick ihn an einen Apfel, der am Ende seiner Lagerzeit angekommen war. Es war eine gütige Miene, abgesehen von der Nase, welche Furcht einflößend wirkte, ein wenig wie ein Schwert, gerade, groß und scharf wie eine Klinge.

Obwohl die Gefangenen, um die das Gespräch ging, direkt neben den beiden Hauptmännern im Käfig hockten, unterhielten die Männer sich weiter. Heißer Zorn stieg in Torik auf, als er zuerst die Stimme des Rothaarigen vernahm, der das Kommando über den Gefangenentransport innehatte und Torik bis vor zwei Tagen sogar noch getreten hatte, als er schon lange nicht mehr zur Gegenwehr fähig gewesen war.

»Wir nehmen sie mit zur sogenannten Hauptstadt, Kamerad. Sollen sich auf dem Weg dorthin nützlich machen, denn ich habe da einen Hochverräter, der vor dem Palast hingerichtet werden soll. Leider fault er mir gerade weg, und ich weiß, dass ich Anschiss kriege, wenn ich nur einen Kadaver dort abliefere.«

»Und ich habe eine Sorge weniger!« Der Kasernenbulle mit der Vorliebe für Bordelle.

Torik hasste beide Männer gleichermaßen.

Die alte Nonne neben ihm richtete sich gerader auf, jeder Zoll an ihr Würde und Gewohnheit, dass ihre Worte angehört und höflich berücksichtigt wurden. »Der Mann hat hohes Fieber und stinkt nach Eiter. Was er braucht, sind ein Bett und Wärme, viel heißer Tee und Ruhe. Und ich benötige unser Gepäck.«

»In dem du Gift und Waffen versteckt hast, möchte ich wetten. Vergiss es, Betschwester!« Der Rothaarige, und Torik fragte sich, wie ein Mann im Vollbesitz von so viel Dummheit es zum Befehlshaber über selbst die kleinste Soldatenschar gebracht haben konnte.

Die beiden Hauptmänner verabschiedeten sich, und die Gruppe schrumpfte wieder auf ihre ursprüngliche Kopfzahl: Der Rothaarige und sechs Mann, von denen zwei die Ochsen anzutreiben pflegten, während die anderen als Wachtrupp neben und hinter dem Karren hergingen.

»Ich will ein Dach über dem Kopf und ein Feuer, an dem meine Klamotten trocknen können. Dann sehen wir uns an, was die Frauen in ihrem Gepäck haben. Kleine Seidenhöschen, hoffe ich.«

Gelächter antwortete dieser dämlichen Bemerkung, die in Torik den Wunsch entfesselte, dem Rothaarigen zumindest noch ins Gesicht spucken zu können, bevor Wundbrand und Fieber ihn selbst dahinrafften.

»Laut der Karte müsste ein größeres Anwesen in der Nähe sein«, sagte ein anderer Mann.

Die Worte klangen hohl und von ganz weit entfernt, als ob sie vom obersten Rand eines tiefen Brunnens zu Torik herab gerufen werden würden. Ein Loch, in das der Rothaarige Torik wohl wegen des Gestanks zu gerne werfen wollte. Denn zumindest in der Hinsicht hatte der Kerl die Wahrheit gesprochen. Torik faulte. Er roch es selbst, Eiter und schwärendes Fleisch. Dabei war seine Verletzung gar nicht so schwer gewesen. Doch war sie unversorgt geblieben, er selbst schmutzig und nun schon von einigen Regengüssen durchnässt. Er spürte, wie sein Körper den Kampf gegen die Entzündung verlor, wie das Fieber auch seinen Verstand umnebelte und ihn über lange Strecken in wirre Träume zog.

 

Einer der Schuppen, der geschützt im Schatten der Mauer und unter den ausladenden Zweigen eines riesigen Baumes stand, hatte die Zeiten seit dem Brand verblüffend unbeschadet überstanden. Hier fand Livan fast alles, was er für den Abstieg in die Krypta benötigte. Ein ausreichend langes Seil und mehrere Gartenwerkzeuge, unter denen sich auch eine nur leicht verrostete Schaufel mit stabilem Holzstiel befand.

Mit heftig klopfendem Herzen bemächtigte Livan sich der Ausrüstung und lief zurück zum Tempel. Immer noch achtete er darauf, möglichst wenige Spuren zu hinterlassen, und als irgendwo ein Vogel ärgerlich schrie, suchte Livan sofort Deckung hinter einem Mauerrest und spähte wachsam um sich. Doch die Klosterruine lag verlassen und still unter den letzten Sonnenstrahlen des Tages, die das Unwetter so launisch abgelöst hatten.

Er hastete wieder in den Tempel, verankerte sein Seil rund um einen Säulenstumpf und blickte in die Krypta. Es ließ sich bestimmt viel Schlechtes über den Einfall des königlichen Heeres in das kleine Reich Kelverde sagen, aber für Leute wie Livan selbst offenbarten sich dadurch auch Möglichkeiten, auf die er niemals zu hoffen gewagt hätte.

Er schnürte Schaufel und sonstiges Werkzeug mit einem Lederriemen zusammen, ehe er sich das tropfnasse Hemd über den Kopf zog und es zum Trocknen über eine Ranke hängte. Dann schlang Livan sich den Lederriemen über eine Schulter und raffte seinen Mut zusammen, wirklich in die Krypta zu steigen. Alte Geschichten aus Kindertagen tauchten ungebeten auf, schwafelten von Störung der Grabruhe und von Gaben für das Jenseits. Energisch sagte Livan sich, dass er die Lebenden erheblich mehr fürchten sollte als staubige Überreste. Hexen zum Beispiel. Hastig führte er das Segenszeichen der Anide aus, das ihm von klein auf an so selbstverständlich geworden war. Nein, vor halb zerfallenen Knochen musste er keine Angst haben. Doch jemand, der seit über einhundert Jahren goldenen Wein schlürfte, konnte auch mal etwas für die Lebenden tun. Für Livan zum Beispiel. Eine knappe Handbewegung beförderte das freie Ende des sorgfältig aufgerollten Seils in das klaffende Loch hinter dem Altar.

Kelverde hatte jahrzehntelang in Frieden geschlummert und war nun überrannt worden. Schon immer hatten viele Adelsfamilien und reiche Händler überzählige Söhne in Klöster abgeschoben, damit die Erbfolge von ihnen unbelastet blieb. Das hatte sich natürlich bei dem Überfall gerächt. Starke junge Männer hatten dem Heer der Verteidiger gefehlt. Genaugenommen, dachte Livan, während er sich an den Rand des Lochs setzte und das Seil ein letztes Mal versuchsweise vor dem Abstieg belastete, hatte er selbst dem Heer ja auch gefehlt. Nicht sein Fehler. Die Klöster rafften schließlich auch jeden an sich, den sie bekommen konnten, um dann selbst kleinste angebliche Verfehlungen sehr übel zu nehmen, wenn sie von Brüdern geringeren Ranges verschuldet wurden. Verbrechen an Anide, ihren Heiligen und vor allem an ihren Dienerinnern und Dienern, während Livan fand, dass es einigen vollgefressenen Möchtegern-Priestern sehr gut bekäme, den feisten Hintern von mit seidenen Kissen belegten Sesseln hochzuwuchten und zur Abwechslung mal etwas Nützliches zu tun. Ganz davon abgesehen, dass Anide wahrscheinlich mit Migräne darniederlag, statt den Heerscharen Betender zur Hilfe zu eilen, hielt Livan die Vorstellung eines gemästeten Klostervorstands beim Hantieren mit einem Schwert für sehr erheiternd.

Doch der größte Vorteil des eroberungslustigen Königs Halzan für pfiffige Leute lag darin, dass nun auch jemand ohne Verbindungen, ohne eine andere Ausbildung als der der Schriften Anides und vieler Gebete, es mit ein wenig Kleingeld in der Börse zu einem Aufstieg bringen konnte. Die Eindringlinge würden sich nicht lange mit der Rolle der Unterdrücker zufriedengeben, sondern heimisch werden, Handel treiben wollen und dann jene, die sich als weniger störrisch und freigiebig genug erwiesen hatten, nicht vergessen.

Und hier in dieser Ruine lag Livans Schlüssel zu einer Zukunft, von der er sonst nur hatte träumen können. Hier wartete nichts anderes als Strandgut auf jemanden, der es aus dem Sand aufklaubte, denn es gab in der Ruine keine Herren und keine Knechte mehr.

Falls die Krypta seit dem Brand wirklich unberührt lag. Das würde Livan sogleich herausfinden. Behände seilte er sich ab, baumelte in schummrigem Dämmerlicht und bekam einen ersten Eindruck davon, was sich unter dem Tempel befand.

Worauf Livan fast nicht zu hoffen gewagt hatte: Die wuchtigen Steinsarkophage schienen unversehrt.

Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er ließ sich das letzte Stück zu Boden fallen, kniete in fieberhafter Aufregung nieder, um mit Stein und Stahl Funken zu schlagen. Beinahe konnte er sich kaum auf diese Aufgabe konzentrieren, weil er immer wieder den Blick heben und die stumme Versammlung der Grabstätten ansehen wollte. Doch kaum hatte das verkohlte Leinen einen Funken gefangen, entzündete Livan den Docht seines Talglichts und hob dieses hoch, während er aufstand.

Er konnte gar nicht fassen, was er hier sah. Einfache Betbrüder und Nonnen bestattete man im Kloster in ihren Kutten in einem schlichten Holzsarg. Höchstens ein Amulett aus Holz oder Ton wurde diesen Leuten mitgegeben. Aber die Reichen, Adligen und jene, die am Futtertrog die besten Plätze besetzten, deren Wangen vom Bratenfett glänzten und vom Rotwein glühten …

Livan musste sich die Hand an der Hose trocken wischen, bevor er sein behelfsmäßiges Brecheisen aufklauben konnte. Selbst wenn in jedem Sarkophag nur ein Schmuckstück liegen sollte … Er schluckte hart. Alleine die Ordensringe der Klostervorsteher waren jeder für sich genommen ein Vermögen wert. Und niemand war vor Livan auf die Idee gekommen, sich hier unten umzusehen.

 

Der Ochsenkarren setzte sich wieder in Bewegung, und im Schutze des Reifenknirschens über eine vom Regen vollkommen durchweichte Sandstraße flüsterte Torik noch einmal: »Es tut mir so leid, Mutter.«

Sie nickte, während ihr wachsamer Blick über die Soldaten des Königs, die stabile Gitterkonstruktion und schließlich über die drei anderen Schwestern flog. Ein herber Zug lag um ihren Mund, und Torik konnte das und die Sorge der Mutter um die jüngeren Nonnen nur zu gut verstehen. Er selbst war unfähig, auch nur das Geringste zum Schutz der Frauen zu leisten.

Der Karren rumpelte aus dem Forst und folgte offenbar einer alten, unter Moos und Wildpflanzen kaum erkennbaren Straße. Torik versuchte heldenhaft, wach zu bleiben, als könnte das den Nonnen irgendwie helfen oder ihnen zumindest Mut machen.

»Das ist kein Anwesen«, murrte ein Soldat, »das ist ein Wald!«

»Ruinen. Zeigt, wie alt die Karte ist. Ihr zwei, lauft vor und sucht ein Haus, das noch ein Dach hat. Der Verräter bekommt eine Nacht Ruhe und Pflege durch die Weiber. Morgen entscheide ich, was wir weiter machen.«

Torik fand sich in einem entsetzlichen Zwiespalt wieder. Noch vor Kurzem hatte er gehofft, an Wundbrand oder Fieber zu verrecken. Nicht nur, um einer öffentlichen Hinrichtung zu entgehen, die nach Willen der Eroberer ein paar Stunden dauern konnte, sondern vor allem auch, damit der Rothaarige teuer dafür bezahlen musste, den König und dessen Hofstaat um das besondere Vergnügen ebenjener Exekution gebracht zu haben. Doch nun galt es, die Nonnen zu bedenken, und obwohl Torik nie viel Kontakt zu Dienern der Göttin, Priestern oder gar Heiligen gehabt hatte, seitdem er als Jüngling über die Schwelle der Kaserne getreten war, besaß er doch einen tief verwurzelten Respekt vor diesen Menschen. Besonders vor Nonnen, während er junge Männer, die sich vor dem Heeresdienst ins Kloster flüchteten, von Herzen verabscheute. Ohne Zweifel würde der Rothaarige die Nonnen büßen lassen, falls Torik in dieser Nacht starb.

Der Karren hielt vor einem lang gestreckten Gebäude an, das zumindest zur Hälfte noch über ein intaktes Dach verfügte. Kleine Fenster wie Perlen an einer Kette durchbrachen die efeuüberwucherte Fassade, sodass das Haus ein wenig wie eine der Kasernen in Kelvers Hald auf Torik wirkte. Wahrscheinlich war dies einst das Wohnhaus der Klosterbewohner gewesen.

 

Livan saß mit klopfendem Herzen neben seinem Talglicht und drehte einen mit Perlen und Edelsteinen verzierten Ring in den schmutzigen Fingern hin und her, um jedes Kleinod kurz aufleuchten zu lassen.

Den Erzählungen der Priester zufolge nahmen die Verstorbenen die Grabbeigaben mit in jene andere Welt, die nur denen ohne Sünde und Fehl nach dem Tod offenstand. Dieser Ring – und die anderen Schmuckstücke, Amulette und goldenen Amtsketten, die Livan zwischen halb zerfallenen Knochen aus dem Staub geklaubt hatte – bewies, dass das Geschwafel der Priester eine Lüge war. Oder dass nicht ein einziger Klostervorstand, Gönner und Adliger in dieser Krypta frei von Verfehlungen das Zeitliche gesegnet, sodass Anide ihnen die Tür vor der Nase zugeknallt hatte. Wahrscheinlich saß die Göttin mutterseelenalleine auf ihrem goldenen Thron und langweilte sich zu Tode. So Göttinnen das zu tun vermochten.

Livan atmete tief durch, was sich ziemlich zittrig anfühlte. Egal. Angeblich war er ja schon jenseits jeder Vergebung gewesen, als er aus dem Kloster ausgeschlossen worden war. Nicht mehr bei sich als die dunkelrote Mönchskutte am Leib und ein mageres Bündel mit Leibwäsche, exakt drei Kupfermünzen der sogenannten Barmherzigkeit und einen Brotkanten. Er kam ohnehin nicht in die Halle, wo es goldenen Wein und eine gelangweilte Göttin gab.

Da konnte er es auch gleich richtig machen.

Er staubte jedes juwelenbeladene Schmuckstück an seiner Hose ab und verstaute die Kleinodien dann in einem Lederbeutel, der am Ende erstaunlich schwer wog. Einen Herzschlag lang drückte Livan diesen unerwarteten Reichtum an seine Brust. Vor ihm lag ein Leben, das seit einem Vierteljahrhundert nur auf ihn und den Klosterschatz gewartet hatte.

Die Furcht vor einer Rache der Toten hatte sich schon nach der ersten Sargöffnung gelegt, als Gold, Silber, Perlen und Rubine im Staub gelockt hatten. Niemand hatte sich erhoben, um den Grabschänder zu verjagen. Keine rächende Anide im Feuerschein war erschienen. Nur Knochenreste, Staub, Alter und Reichtum, der Livan den Atem nahm.

Ein Vermögen im Dreck, und kein Toter brauchte all das. Die Lebenden allerdings – allen voran Livan, der sich ganz leicht im Kopf fühlte – konnten mit all diesem Zierrat durchaus noch etwas anfangen!

Lederstiefel, die wirklich passten, deren Sohlen nicht binnen eines halben Jahres durchgelaufen waren. Mehr als ein Hemd zum Wechseln. Sich satt essen und zur Abwechslung in einem Gasthaus in einem echten Bett schlafen, statt nach schweißtreibendem Tagewerk auf einem Bauernhof ins Stroh kriechen zu müssen, in dem sich, dem Gestank nach zu urteilen, mehr als eine Katze erleichtert hatte.

All das war nun vorbei.

Livan zurrte den Beutel zu, sammelte seine Werkzeuge ein und machte sich an den deutlich mühevolleren Aufstieg. Das Gold im Ledersack schien ihn wieder hinabziehen zu wollen, und er kam keuchend und ein wenig verunsichert oben an, eilte vom Loch fort in den Schutz des verbliebenen Restes Dach und setzte sich neben sein durchweichtes Bündel. Aus dem Hemd tropfte noch immer Wasser, und nach kurzem Verschnaufen leerte Livan die wenigen Habseligkeiten aus seinem Gepäck, wrang Stoff aus und hängte ihn zu dem Hemd auf die Zweige. Das matschige Brot und den Klumpen, der vor dem Tauchbad im Graben Trockenfleisch gewesen war, ließ er im Geröll liegen. Dünger für die Brennnesseln.

Aus der Decke tropfte braunes Wasser. Auch den Packsack hängte Livan zum Trocknen auf. Die Sonne ging allmählich unter, ein Feuer durfte er sich nicht erlauben. Es würde eine kühle Nacht werden, und alleine das Bewusstsein um den frisch erworbenen Reichtum musste Livan wärmen.

Er rappelte sich auf. Er konnte noch etwas Reisig für ein Schlaflager aus dem Werkzeugschuppen holen. Dorthin umziehen wollte er nicht. Die Wäsche hing zum Trocknen, der Tempel lag zentral und bot in alle Richtungen freie Sicht und gleichzeitig Deckung. Außerdem war es irgendwie angemessen, dass Livan hier hinter dem Altar Anides schlief. Ein wenig Gerechtigkeit, nicht wahr?

Er verließ das kleine, feuchte Lager und ging zu dem Fenster, durch das er nun schon mehrfach ein- und ausgestiegen war. Und erstarrte, als er im rötlichen Dämmerlicht der untergehenden Sonne einen Ochsenkarren sah, der vor dem lang gestreckten Schlafgebäude stand. Ein Metallkäfig auf der Ladefläche, und die Männer, die das Fahrzeug umringten, trugen das unverkennbare Feuerrot königlicher Soldaten! Dann sah Livan die Nonnen.

 

Die Gittertür wurde entriegelt, das Schloss geöffnet, und auf eine barsche Aufforderung hin kletterten die Schwestern vom Wagen. An ihrer Stelle stiegen zwei der Soldaten in den Käfig. Torik biss die Zähne zusammen und harrte der Schmerzen, die die grobe Behandlung mit sich bringen würde. Doch obwohl die Männer erstaunlich behutsam mit ihm umgingen, ihn nicht ein einziges Mal traten und ihn eher schleppten, denn mit sich schleiften, schrie er, so jämmerlich sich das auch anfühlte.

Tränen brannten in seinen Augen, die Feuerkrallen bohrten sich immer tiefer in seine Eingeweide und ließen ihn hilflos nach Luft schnappen. Seine Beine trugen ihn nicht, und so wurde er zwei flache Stufen hinauf zu einem schief in den Angeln hängenden Portal verfrachtet und unter dem Türsturz hindurch in eine kleine Halle.

Wie eine kleine Schar dunkelroter Hühner hatten die Schwestern sich in einer Ecke des Raumes versammelt, standen dicht beieinander, und Torik sah weiße, schmale Hände, die sich an der Kutte der älteren Nonne festklammerten. Er fühlte tiefes Mitleid mit den Frauen, die Blut, Dreck und Gewalt nicht gewohnt sein konnten. Als die Soldaten ihn in der Ecke bei den Frauen auf einer alten Decke ablegten, schrie er wieder. Und wusste, dass die Nonnen keine Aussicht auf Erfolg besaßen, ihn dem Tod vorzuenthalten.

»Verdammt, dass der andere Kerl entwischt ist. Wenn der Drecksrebell auf dem Wagen verreckt, brauche ich Ersatz. Naja, wir werden unterwegs schon jemanden aufgabeln, falls es soweit kommt.«

Hatte Torik bislang gedacht, den Rothaarigen zu hassen, so erkannte er nun zornbebend, dass es bisher nur eine leichte Abneigung gewesen war. Und es machte auch Toriks Wunsch, einfach in der Nacht zu sterben, so sinnlos. Ganz davon abgesehen, dass die Nonnen für diesen Tod bezahlen würden.

 

Einen sehr feigen Augenblick lang erwog Livan, in Deckung zu bleiben, Augen und Ohren zu verschließen und sich nicht einzumischen. Immerhin war er alleine auf sich gestellt und kein Krieger. Außerdem lag endlich ein Leben voller Annehmlichkeiten vor ihm, und das fortzuwerfen, indem er sich mit einer bewaffneten Übermacht anlegte, erschien ihm sündiger als alles, weswegen er aus dem Kloster verbannt worden war.

Doch eine Kindheit als Waisenknabe, der im Kloster aufgezogen und unterrichtet worden war, erwies sich als stärker als jene als Vernunft getarnte Verzagtheit im Angesicht einer größeren Feindesschar.

Livan knirschte mit den Zähnen. Aber da lag es vor ihm, und es war so simpel, dass er sich nicht wehren konnte. Er mochte so viel über vollgefressene Klostervorsteher schimpfen, wie er wollte, aber wehrlose Nonnen in der Gewalt der königlichen Truppen – das ertrug er nicht. Nicht jeder Soldat würde die Kutte als vollkommenen Schutz dieser Frauen respektieren.

Sieben Gegner! Dennoch erinnerte er sich einiger formidabler Schwestern, die ganz genau wussten, wann Strenge und wann freundliche Nachsicht bei der Erziehung störrischer Waisenknaben angebracht gewesen war. Untrennbar mit den Schwestern verbunden war für Livan der Duft nach Apfelkuchen und Zimtplätzchen – Bestechungsmittel der liebevollen Art. Nein, er konnte diese vier Nonnen nicht ihrem Schicksal überlassen.

Er atmete tief durch, ballte die Fäuste und hastete dann zum Altar zurück, um dort seinen neu gewonnenen Schatz im Schutt zu verbergen. Falls er scheitern sollte, durfte dieses Gold nicht in die falschen Hände geraten. Wenigstens das! Er packte das Brecheisen, starrte diese behelfsmäßige Waffe an und dachte noch einmal nach.

Er legte die Eisenstange zurück und umfasste den Schaufelstiel. Besser. Mehr Reichweite. Je weiter er sich einen ausgebildeten Soldaten mit einem Schwert in der Faust vom Leibe halten konnte, desto besser standen die Chancen, die Nonnen wirklich zu befreien, nicht selbst in einer roten Lache zu enden und herauszufinden, was an den Geschichten der Priesterinnen wahr sein mochte.

Nur mit der Schaufel als Waffe und dem Dreck der Klosterruine als Tarnung in Haaren, Kleidung und auf der Haut machte Livan sich auf, um diese dämliche Stimme in seinem Inneren zum Schweigen zu bringen, die ihm beständig irgendwelche Sprüche aus dem Buch der Gerechten zuflüsterte.

Er kletterte aus dem Fenster, duckte sich zwischen Brennnesseln und jungen Bäumen und schlich auf das lang gestreckte Gebäude zu, in dem die Bande verschwunden war. Zwei Männer führten gerade die Ochsen in eine Ruine, die für die massigen Tiere als Stall herhalten sollte.

Gut. Sollten die Soldaten sich ein wenig aufteilen. Das war sehr entgegenkommend von ihnen!

Livan beschleunigte, um zu den Kerlen aufzuschließen.

2.

Der Kriegshammer der Anide

 

Torik lag ganz still, schwitzte vor Schmerzen, glühte vor Fieber und war so dankbar, als eine der jungen Nonnen ihre Hand in seine schob, damit er sich an ihr festhalten konnte.

Die beiden Männer, die die Tiere versorgen sollten, waren noch nicht zurückgekehrt. Ein Soldat durchstöberte das karge Gepäck der Frauen, pfiff hin und wieder anzüglich und reichte die kleinen Bündel schließlich weiter. Die jungen Schwestern rafften ihre Habe an sich und verschanzten sich dann wieder hinter dem Bollwerk, das die ältere Nonne abgab. Diese schien im Augenblick überhaupt nicht auf ihre Umgebung zu achten, sondern schnitt die schmutzigen Verbände auf, die Toriks Wunde bedeckten.

Er klammerte sich noch fester an jene Hand, die ihm so hilfreich gereicht worden war. Die Welt verschwamm vor seinen Augen, und Torik spürte den Abgrund unter sich gähnen, auf den er die letzten Tage so verzweifelt gehofft hatte. Nun aber kämpfte er gegen die Schwärze an, hielt sich an der jungen Nonne fest, die ihm zärtlich schweißfeuchte Haare aus der Stirn streichelte und tapfer lächelte, während die Alte die Wunde reinigte.

Glühende Messer schienen sich in Toriks Eingeweide zu bohren, machten jeden Atemzug zu einer schmerzhaften Anstrengung, während er sich nur auf die schmale Hand in seiner konzentrierte, um die Finger der Nonne nicht zu zerquetschen.

»Hol mal einer Holz. Keine Lust, mir hier den Arsch abzufrieren. Nun, Betschwester, wie übel ist es?«

»Barmherzigkeit ist mir Pflicht, heilige Aufgabe und Selbstverständlichkeit zugleich. Ihr wollt aus niederen Gründen, dass dieser Mann am Leben bleibt. Ich will ihm Linderung verschaffen, weil ich weiß, dass dies dem Willen meiner Göttin Anide entspricht. Ich kann und werde ihm helfen.«

»Deine verdammte Anide kann mich mal.«

Gelächter folgte auf diese Worte. Die alte Nonne presste die Lippen fest aufeinander, bis sie nur noch einen schmalen Strich im Gesicht bildeten, wie ein Messerschnitt.

Torik befeuchtete sich die Lippen, wollte etwas sagen, was wahrscheinlich erneut nur eine Entschuldigung gewesen wäre.

»Es ist gut. Sei nun tapfer. Diese Salbe brennt ein wenig, aber sie wird die Entzündung aufhalten.«

Torik zwinkerte Tränen und Schweiß fort, rang keuchend um Atem und schaffte es durch reine Willenskraft, einen Schrei zu unterdrücken, der wieder nur zur Belustigung der Feinde beigetragen hätte.

Er wünschte sich die verschwommenen Augenblicke zurück, da das Fieber ihn so sehr schüttelte, dass er kaum etwas ringsum mitbekam, keine Schmerzen bewusst spürte. Phasen, die nur Schemen an ihn heranließen.

Aber diese Zeiten waren vorbei, seitdem die Nonnen zu ihm in den Käfig gestoßen worden waren. Und so schwach und erbärmlich, wie Torik auch war, fasste er doch den Entschluss, den Schwestern irgendwie behilflich zu sein. So er die Nacht überlebte. Aber mit einem Mal wollte er am Leben bleiben. Den Schatten entkommen, die mit faserigen Fingern an ihm zupften. Schweiß rann ihm in die Augen, brannte salzig, und in gewisser Weise fühlte Torik sich, als würde dieser Schweiß das Fieber aus ihm ziehen.

Die Salbe brannte wie Feuer, ätzte sich in Haut und Muskeln, und endlich trug die Alte noch eine weitere Tinktur auf, die das Gefühl, von glühenden Raupen gefressen zu werden, ein wenig milderte.

»Setzt ihn auf, Schwestern. Ich will frische Verbände anlegen.«

»Was machen wir mit den kleinen Käfern? Lose ziehen, Hauptmann?«

Torik versuchte, sich auf einen Ellenbogen hochzustemmen, als er diese Frage vernahm und als Echo auf sie dreckiges Gelächter.

»Nicht«, sagte die alte Nonne sanft, Leinenstreifen in beiden Händen, während die jungen Schwestern eher an Torik Halt suchten, statt ihm wirklich beim Aufsetzen zu helfen. Als wollten sie sich alle hinter ihm verstecken.

»Klingt nach einer guten Idee. Oder wollt ihr wählen, Mädchen?«

»Ihr werdet meine Schwestern nicht anrühren.« Langsam und würdevoll erhob die alte Nonne sich, und prompt drängten die jungen Frauen noch mehr hinter Torik. »Wir unterstehen dem Schutz der Göttin Anide.«

»Ihr seid dreckiges Rebellenpack! Ihr habt versucht, Dörfler zum Kampf gegen euren neuen Herrn aufzustacheln. Komm mir nicht mit Frömmigkeit, Betschwester. Dich wird schon keiner anfassen, aber die Mädchen …«

»Tritt näher, und du wirst den Zorn der Göttin spüren!«

Aber es klang so hilflos und verzweifelt. Torik presste eine Hand auf seine Bauchdecke, spürte die Salben und darunter das Glühen der Wunden, stemmte sich in eine sitzende Position und schnappte schmerzhaft nach Luft.

»Und was tut deine feine Göttin? Die kann gerne mit mir das Lager teilen. Wird ihr Spaß machen.«

Leider hatte der Kerl entsetzlich recht, dass er keine Strafe von Andide erwarten musste. Sie ist personifizierte Sanftmut, dachte Torik bitter. Vor Jahrhunderten sollte sie Gesandte auf die Welt geschickt haben, die etwas wehrhafter waren. Aber gerne hatte die freundliche Göttin das gewiss nicht getan.

»Anide wird meine Gebete erhören«, gab die Nonne mit unumstößlicher Gewissheit zurück. Torik hörte den Zorn in ihrer Stimme beben und wünschte sich, er käme ein bisschen mehr auf die Beine. Auf die Knie wäre schon eine Verbesserung. Er konnte nicht einfach daliegen und Verbrechen geschehen lassen! Schwarze Flecken tanzten in seinem Gesichtsfeld. Immer noch lachten die Kerle, allerdings verstummte mit einem Mal das widerwärtige Geräusch, kehrte absolute Stille in der zugigen Halle ein.

»Anide schickt mich, Mutter.« Eine Stimme wie das sanfte Grollen von Donner. Tief, kraftvoll, und doch hatte dieser Satz nahezu freundlich geklungen. Torik war sich sicher, ein Lächeln im Donnerhall vernommen zu haben.

Mühsam hob er den Kopf und starrte zur Eingangstür, in deren Rahmen sich eine Gestalt auftürmte, die jeden der drei verbliebenen Soldaten und auch den Rothaarigen überragte. Die letzten Sonnenstrahlen beleuchteten kurze, blonde Haare und eine dramatische Silhouette. Als hätte Anide von all ihren Gesandten den mit den meisten Muskeln geschickt.

Der Mann trat einen lässigen, langen Schritt vor. Torik lächelte und ließ sich auf die Decke zurücksinken. Er betrachtete die Erscheinung, die nur eine Ausgeburt seines Fiebers sein konnte, wohlwollend.

Riesengroß, breitschultrig. Der sanfte Goldschimmer seines Haars stand in perfekter Harmonie mit klarblauen Augen unter dunklen Brauen, einem leicht verwilderten Bart. Reizvoll, besonders wenn der Hüne so lächelte, wie er es gerade tat. Nicht wirklich freundlich, aber es verlieh ihm trotzdem etwas Jungenhaftes, was vom Rest des Körpers Lügen gestraft wurde.

Letztes Tageslicht streichelte über einen nackten Oberkörper, dessen Linien nur göttlichen Ursprungs sein konnten. Torik ließ den Blick anerkennend über einen prachtvollen Brustkorb und eine flache Bauchdecke mit deutlicher Ähnlichkeit zu einem Waschbrett gleiten. Eine fleckige Lederhose betonte muskulöse Oberschenkel.

Anides Gesandter. Der Kriegshammer, wie die sanfte Göttin ihn schon vor Jahrhunderten geschickt hatte, um Kelverde vor einer Eroberung zu beschützen. Obwohl der Hammer an der Seite dieses Traumbilds verblüffende Ähnlichkeit mit einer Schaufel aufwies.

Torik runzelte erneut verwirrt die Stirn. Ungewöhnlich, aber durchaus reizvoll. Das Ende des hölzernen Stiels ruhte auf dem Marmorboden, und am Schaufelblatt selbst haftete Rost. Sanfter Zweifel nagte an Torik, ob Anide in ihrer Gnade wirklich den Kriegshammer gesandt hatte. Sehr viel wahrscheinlicher lag Torik doch gerade fiebernd im Sterben und sah wundervolle Dinge. Die Priester sagten das doch immer, dass kurz vor dem Tod ein erster Blick in die Nachwelt geworfen werden konnte. Torik seufzte. Zu schade, dass dieser sehr angenehm zu betrachtende Hüne nur eine Schöpfung des Fiebers war. Die Nonnen könnten ein wenig Hilfe gut gebrauchen, und der Mann würde bestimmt leicht mit den Königlichen fertig. Obwohl die Schaufel tatsächlich eine sehr ungewöhnliche Waffe war. Torik zwinkerte. Natürlich, er bildete sich die Schaufel nur ein, das war die Erklärung.

»Dank sei Anide«, sagte die ältere Nonne mit deutlicher Zufriedenheit in der Stimme. »Junger Mann, diese Soldaten aus dem Heer der Eindringlinge fallen meinen Schwestern lästig.«

»Und du denkst, dass ein schmutziger Bauer uns an ein wenig Zeitvertreib hindern wird?«, schnappte der Rothaarige und kam einen drohenden Schritt näher zur furchtsamen Gruppe der Nonnen.

Torik schoss einen Blick zum Kriegshammer. Der war gar nicht so schmutzig. Außerdem stand ihm das ausnehmend gut und betonte die eindrucksvollen Konturen seiner Muskeln sehr ansehnlich.

Jetzt seufzte der Hüne leise. Ein Funkeln im dunkelblauen Auge, bevor er unvermittelt vorwärts sprang. Klarer Fall von Fiebertraum, sagte Torik sich traurig, denn ein so großer Mann konnte sich gar nicht derartig schnell bewegen.

Der Schaufelstiel wirbelte in der starken Hand, das Ende traf einen der Soldaten am Kopf, bevor das Schaufelblatt herzlich Kontakt mit des Rothaarigen Gesicht aufnahm. Beide Männer sanken ohne einen weiteren Laut zu Boden.

Das brachte die zwei restlichen Kerle natürlich nicht zur Vernunft. Kein Wunder, da Torik sich all das ja nur erträumte und wohlwollend einen Blick auf eine knackige Kehrseite erhaschte, als der Kriegshammer in eine Drehung flog. Lange, muskulöse Beine. Das speckige Leder der Hose saß immerhin eng genug, dass Torik nun leise und zufrieden seufzte, sich tiefer in die Decken kuschelte und erstmalig über sein Fieber freute, das ihm so eine nette Vorstellung bot. Vielleicht war Wundbrand doch gar nicht so übel.

Leider war das Spektakel recht rasch vorbei, und alle vier Soldaten lagen still am Boden. Wenigstens verlieh ein dünner Schweißfilm der Heldenbrust nun einen leichten Schimmer.

»Dich hat wirklich die Göttin gesandt. Aber draußen sind noch drei weitere Soldaten, und der Kampflärm könnte sie anlocken.« Die alte Nonne klang besorgt und gleichzeitig zufrieden. Torik konnte es ihr nicht verdenken.

»Die Gefahr besteht nicht mehr. Die Kerle, die die Ochsen versorgten, liegen gut verschnürt im Stall. Einem einsamen Holzsammler bin ich auf meinem Weg hierher noch … begegnet. Ich sollte mich um die Männer kümmern, bevor sie munter werden. Irgendwelche Vorschläge, wie ich mit ihnen verfahren soll, Mutter?«

Torik räusperte sich. Er wollte so gerne etwas sagen, die wundervolle Erscheinung anflehen, nicht zu gehen. Die Schwestern benötigten Schutz, und wenn der Kriegshammer der Göttin nun entschwand … Aber er bekam keinen Ton heraus, konnte die hünenhafte Gestalt nur verlangend anstarren und eine zitternde Hand heben.

Jedoch war die Göttin voller Liebe und Gnade, denn der Große bemerkte die Bewegung und kam näher, ging neben Torik in die Hocke – wodurch die Muskeln der Oberschenkel sich noch reizvoller unter dem Leder der Hose abzeichneten – und blickte fragend zur Mutter.

»Ein Rebellensoldat, der bei dem Versuch, die Erbin des Herzogs zu befreien, verwundet und gefangen genommen wurde. Wir werden ihn weiterhin umsorgen. Ich bin Mutter Venia, und ich spreche in unser aller Namen, wenn ich dir sage, wie dankbar wir für dein Erscheinen sind.«

»Glück und eine gute Portion Frechheit standen mir zur Seite, Mutter Venia. Mein Name ist Livan.«

Torik fand diesen Namen wunderschön – wie den ganzen Mann. Zu schade, dass er wie der Morgentau verschwinden würde. Niemand konnte einen Fiebertraum oder einen Göttergesandten festhalten. Der Gedanke schmerzte. Lautlos fragte Torik sich, wie viele der Ereignisse rund um sein Schmerzenslager überhaupt real waren. Livan war es auf jeden Fall nicht. Alles erschien wie in hauchdünne Seidentücher eingehüllt, ein wenig schemenhaft und undeutlich, die Farben blass. Denken fiel so schwer.

Er klammerte sich an seinem zerfasernden Bewusstsein fest, streckte noch einmal die zitternde Hand nach der leuchtenden Gestalt aus Träumen aus, und tatsächlich ergriff Livan nun die fieberheißen Finger. Es fühlte sich so gut und beruhigend an. Die blauen Augen so klar und freundlich.

»Keine Angst. Niemand lässt dich im Stich«, sagte Livan sanft.

»Du gehst nicht weg?« Torik zitterte vor Angst und Kälte.

»Nur ganz kurz, um die Soldaten wegzusperren. Versprochen.«

»Ich will nicht, dass du weggehst. Nie zuvor sah ich jemanden, der so schön ist wie du. Ich gehöre dir, wenn du nur willst.«

Die blauen Augen weiteten sich, und ein Schimmer von Röte stieg in die hohen Wangenknochen, doch Livan lächelte noch immer. »Das ist ein Vorschlag, dem ich unter anderen Umständen umgehend Folge leisten würde, mein kleiner Rebell. Aber du siehst nicht so aus, als ob das im Augenblick eine gute Idee wäre.«

Eine der jungen Nonnen kicherte, es klang beinahe erschrocken.

Sanft streichelte Livan eine nassgeschwitzte Haarsträhne aus Toriks Gesicht. »Du schläfst jetzt am besten.«

»Du gehst nicht weg?«

»Wenn du aufwachst, sind wir alle noch da.«

Torik schoss einen Hilfe suchenden Blick zu Mutter Venia. Sie hatte Tränen in den Augen und die Lippen ganz fest zusammengepresst. Ihre Wangen glühten rot. Das hatte er gar nicht bedacht, dass er vor Nonnen einem Fiebergeist keine Liebeserklärung machen durfte.

Sie hüstelte leise. »Livan spricht die Wahrheit. Und du solltest nun wirklich schlafen. Sobald wir ein Feuer haben, koche ich Tee und wecke dich dann wieder.«

Hastig blickte Torik zu Livan, der bestätigend nickte. Und da dieses ganze Kämpfen gegen Erschöpfung, Fieber und Müdigkeit einfach zu viel war und beide ihm versprochen hatten, dass sie ihn nicht alleine lassen würden, schlief Torik ein, das Bild des blonden Kriegshammers vor Augen, seine Finger immer noch in der großen, warmen Hand geborgen.

 

»Wir müssen uns einfallen lassen, was wir mit den Feinden machen. Warst du Soldat, bevor unser Reich überfallen wurde?«, fragte Mutter Venia.

Livan war dankbar für diese Ablenkung. Noch immer hielt er die trockene, heiße Hand in seiner, musste sich zusammenreißen, nicht über den Handrücken des kleinen Soldaten zu streicheln. Er war sich ziemlich sicher, dass die Welt für einen Augenblick sich ganz alleine um ihn und diesen jungen Mann gedreht hatte, dass alle Geräusche und Bewegungen ringsum für mindestens vier Herzschläge nicht existiert hatten. Mit so ziemlich allem hatte Livan gerechnet, als der Kranke flehend die Hand in seine Richtung erhoben hatte. Mit einer Bitte um Rache oder Nachricht an Verwandte. Keinesfalls damit, ein so eindeutiges Angebot zu erhalten! Und ein Kompliment obendrein, das Livan noch mehr verwirrt hatte.

Die Frage der alten Nonne war einfach zu beantworten. Etwas Umfangreicheres, gab Livan vor sich selbst zu, hätte ihn in diesem Augenblick, da der Schweiß auf seiner Haut ihn langsam abkühlte und frösteln ließ, überfordert. Trotzdem benötigte er noch zwei Wimpernschläge, um den Blick von dem Kranken zu nehmen und den Kopf zu heben. Er sah der Nonne in die Augen, als er antwortete: »Nein. Ich war zuletzt Stallknecht bei einem Bauern, bis der seinen Hof verließ. Ich habe Kühen beim Kalben geholfen, Dächer geflickt und mich hin und wieder als Totengräber betätigt. Ich kann einen Türstock richten, Pferde beschlagen und Beete umgraben. Vor allem, Mutter, bin ich kein Schlächter, der einem halben Dutzend Bewusstlosen die Kehle durchschneidet.«

»Das hätte ich auch niemals von dir verlangt«, antwortete sie mit einem Lächeln.

»Ausziehen«, sagte eine der jungen Nonnen mit einem Mal.

Livan war in Gedanken noch bei dem Angebot, das der Fiebernde ihm so unvermittelt unterbreitet hatte. Dieser knappe Kommentar ließ nun wirklich kochend heißes Rot vom Nabel aufwärts über Bauch und Brust steigen und in die Wangen klimmen. »Was?«, schnappte Livan fassungslos und starrte das Mädchen mit den leuchtend grünen Augen an. Er musste sich verhört haben!

Die junge Nonne krauste ihr sommersprossiges Näschen, und in den Mundwinkeln zuckte es verdächtig, während die Kleine sich um einen würdevollen Gesichtsausdruck bemühte. Beinahe wäre sie daran gescheitert, aber selbst das half Livan nicht, das Kreiseln des Bodens zu bekämpfen. Er musste sich klarmachen, dass diese junge Frau keine Ahnung haben konnte, welche Bilder ihr knapper Kommentar in Verbindung mit dem besonderen Angebot des Verletzten in Livans Kopf tanzen ließ.

»Die feindlichen Soldaten. Stiefel und Waffenröcke. Barfuß können sie uns nicht so schnell folgen. Und die Röcke können wir vielleicht noch zur Tarnung benötigen.«

Livan blickte in das schmale, nun im Schlaf entspannte Gesicht des jungen Kriegers. Sein Herzschlag beschleunigte sich dabei leicht. Dann nickte er, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, die Verantwortung aufgebürdet zu bekommen und obendrein nach der Pfeife einiger Nonnen zu tanzen. Allerdings bemerkte er widerwillig, dass altvertrautes Verhalten die Kontrolle übernahm. Dabei hatte er doch gedacht, sich vom Joch des Klosterlebens befreit zu haben! Vielleicht konnte er sich einreden, dies nicht für vier Nonnen, sondern für den Verletzten zu tun, dessen Worte ihm beim bloßen Erinnern noch einmal eine glühend heiße Gänsehaut über die Bauchdecke trieben.

Er räusperte sich leise und kämpfte das Verlangen nieder, dem Verwundeten wieder eine schweißfeuchte Locke aus der Stirn zu streicheln, den Vorwand zu nutzen, um eine weitere Berührung zu ermöglichen, noch einmal die heiße Haut unter den Fingerkuppen zu spüren, Nähe zu erschleichen. Nicht jetzt, nicht solange der junge Mann nicht Herr seiner Sinne war.

»Ich habe in der Ruine Schutz vor Soldaten gesucht. Dabei habe ich vielleicht etwas entdeckt, wo wir die Kerle halbwegs sicher unterbringen können.«

»Du warst das! Ja, der Hauptmann wollte einen Ersatz für diesen jungen Mann haben, falls er stirbt. Er gehört zu den Rebellen, und ihm war offenbar eine großartige Hinrichtung zugedacht. Die Soldaten wollten nicht mit leeren Händen nach Kelvers Hald kommen.«

Livan riss den Kopf hoch und starrte die alte Nonne an, die so weltgewandt erschien und spröde klang. Als hätte sie alles schon gesehen, jede Niederung, in die menschlicher Ehrgeiz seinen Träger treiben konnte. Was Livan mehr entsetzte, konnte er gar nicht sicher sagen: Dass man ihn einfach hatte verhaften wollen, damit der Hauptmann irgendjemanden exekutieren lassen konnte – oder dass der Verwundete dafür vorgesehen worden war. »Nun, wir haben ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht«, brachte er mühsam hervor.

»Vor allem du. Wenn wir nur genug Seile hätten, könnten wir die Soldaten fesseln und …«

»Nein, Mutter. Ich bin kein Mörder. Wenn wir die Männer gebunden zurücklassen, wäre es gnädiger, ihnen die Kehlen durchzuschneiden, statt sie in Fesseln verdursten zu lassen oder sie zu leichter Beute für Raubtiere zu machen. Ich habe eine bessere Idee. Im Tempel gibt es einen Zugang zur Krypta. Dort können wir die Kerle einigermaßen sicher unterbringen.«

»Das klingt vernünftig. Die Schwestern werden dir zur Hand gehen, Livan. Ich bleibe bei dem jungen Mann. Bitte denkt auch an Feuerholz.«

Livan fragte sich, ob es bei den Rebellen seit Neuestem weibliche Hauptmänner gab. Wenn ja, dann war die alte Nonne einer davon. Aber er musste widersprechen. »Die Soldaten werden, wenn sie wieder munter sind, einen Weg hinaus finden. Aber das wird sie wertvolle Zeit kosten, die wir nutzen können. Und ich für meinen Teil möchte nicht in der Ruine übernachten, wenn die Kerle jeden Augenblick herausklettern und auf Rache sinnend zu uns kommen können. Ich schlage vor, wir verstauen sie dort, schnappen uns ihre Ausrüstung und den Ochsenkarren und suchen ein sicheres Versteck.« Er wollte sich auf die Zunge beißen, aber er konnte die nächsten Worte nicht unterdrücken. »Was fehlt ihm? Er wird nicht sterben, oder?«

»Er ist schwer verwundet und hat hohes Fieber. Aber ich bin in der Heilkunde sehr bewandert und verfüge über Salben und frisches Leinen. Er wird gesund werden.«

»Ja, sein Zustand erklärt manches.« Livan betrachtete die schlanke Gestalt eingehend. Vor allem erklärte das Fieber, warum das schmutzige Hemd wie eine zweite Haut an einem wohlgeformten Oberkörper klebte, die Atmung des halb Besinnungslosen viel zu rasch erfolgte und eine zarte Röte auf den eingefallenen Wangen lag. Hoffentlich erklärte das Fieber nicht das reizvolle Angebot. Und Livan kannte noch nicht einmal den Namen des jungen Mannes.

Er stemmte sich auf die Beine, griff nach dem Schaufelstiel, und die jungen Nonnen sprangen eifrig an seine Seite. Nicht der Schimmer von Furcht mehr zu erblicken, aber kein Wunder, so weltabgeschieden wie diese Frauen bislang gelebt hatten, war die kurze Unterhaltung zwischen Livan und dem Verletzten doch wohl selbst für diese unerfahrenen Mädchen eindeutig gewesen. Nun, zumindest konnten sie sich in Livans Gegenwart absolut sicher fühlen.

»Könnt ihr zu zweit einen Mann aus dem Haus schleifen? Packt die Kerle an den Beinen, dann könnte es gelingen.«

Die Mädchen nickten und stürmten los. Flink wie Rehe, Erleichterung leuchtete aus den drei Gesichtern unter den gestärkten weißen Hauben. Tatsächlich stellten sie sich sehr geschickt an, zogen den Soldaten zuerst die Stiefel aus und schleiften die Burschen dann über den schmutzigen Steinboden.

Von der Halle zum Hof führten zwei flache Stufen, und während Livan einen gefällten Gegner schulterte und einen zweiten am Waffengurt hinter sich herzog, vernahm er das dumpfe Klopfen von zwei Köpfen die Treppe hinab. Er konnte es den Schwestern nicht verdenken, dass sie ein wenig rücksichtslos mit ihren Gegnern umgingen, und vielleicht bedeuteten die angeschlagenen Schädel ein wenig mehr Zeit, bevor die ersten Soldaten wieder munter wurden. Sonst würde die Schaufel erneut zum Einsatz kommen müssen.

Zwei Männer lagen noch gebunden im Ochsenstall. Der Holzsammler schlummerte in einem Gebüsch weiter hinten. Livan nickte selbstvergessen. Es war machbar!

»Was immer ihr tut, Schwestern, tut es schnell. Die Kerle werden nicht ewig schlafen. So fest habe ich ja nicht zugeschlagen.«

Er dachte an das Geschmeide im Versteck hinter dem Altar. An die Verantwortung, die er sich aufgebürdet hatte. Aber es gab noch ein Ochsengespann als Dreingabe, und die Nonnen konnte er in irgendeinem Kloster abliefern. Blieb nur der Verletzte, und Livan musste sich zwingen, nicht an die dunklen, flehenden Augen, die bebende, ihm hingestreckte Hand zu denken, nicht an die Worte, die der Fiebernde hervorgestoßen hatte. Denn wenn Livan sich ein Verweilen in Tagträumen gestattete und in Phantasien der anregenden Art erging, wachten die Soldaten des Königs tatsächlich auf, bevor sie allesamt in der Krypta landeten.

 

In der nächsten Stunde schufteten sie mit vereinten Kräften und schafften angeschlagene Soldaten durch das geborstene Fenster über schuttbesäten Marmor bis hinter den Altar. Bis auf einen, der noch sehr friedlich zu schlafen schien, fesselte Livan die Männer und ließ sie dann am Seil in die Krypta hinab. Während die Mädchen einem weiteren Soldaten die Stiefel auszogen, entsann Livan sich, wie unschicklich die strenge Mutter Venia es bestimmt fand, dass er mit freiem Oberkörper herumlief – in Sichtweite dreier junger Nonnen. Sein Hemd war immer noch nass, aber er zog es sich trotzdem über den Kopf.

Dann seilte er den letzten Gegner in die Schatten der Krypta. Für einige Stunden sollte die unterirdische Grabkammer die Eindringlinge wundervoll gefangen setzen. Livan streckte seinen von den Anstrengungen schmerzenden Rücken. Es gab noch viel zu tun. Der Käfig musste vom Ochsenkarren gewuchtet werden, und wenn Livan sich die jungen Frauen besah, wusste er genau, wer das machen durfte.

Nur Talglichter, die eine der jungen Nonnen herbeigeschafft hatte, beleuchteten das verlassene Heiligtum. Jetzt, da die erste Arbeit getan war, sanken die Schwestern nacheinander auf die Knie und senkten die Häupter, die Hände artig vor der Brust gefaltet.

Livan knirschte mit den Zähnen. Natürlich, damit hätte er rechnen müssen. Aber es bedeutete, dass noch viel mehr an ihm hängen bleiben würde, als er nach dem ersten lebhaften Einsatz der jungen Nonnen gedacht hatte.

Lautlos, um die Betenden nicht zu stören, packte er seine eigene, immer noch nasse Habe zusammen und verstaute vor allem den Lederbeutel mit den Kostbarkeiten der Krypta so leise wie möglich zwischen einem klammen Hemd und einer ebenso feuchten Hose im Tragebündel.

Er begann, seine Decke aufzurollen, um sie oben auf seinem Gepäck festzubinden, als die Mädchen schon wieder aufstanden. Vor Überraschung riss er den Kopf hoch. Die Nonnen schüttelten ihre Kittel aus und hasteten eilfertig zur Fensteröffnung. Wenigstens ein Talglicht ließen sie bei Livan, damit er seine Habseligkeiten verstauen konnte. Er war verblüfft, wie rasch die Nonnen ihre Gebete gesprochen hatten.

Dann dachte Livan wieder daran, wie die jungen Frauen sich furchtsam hinter der alten Venia zu verstecken und selbst den fiebernden Rebellensoldaten als Schutzwall zwischen sich und die Männer des Königs zu bringen versucht hatten. Nicht verwunderlich, dass sogar behütete Klosterschwestern einsahen, dass Anide zurzeit nur das an Gebet und Preisung zu bekommen hatte, was in der knappen Zeit möglich war. Und es würde vieles erleichtern, dass die Mädchen praktisch dachten. Nur wenige Tage, bis Livan sie in irgendein Kloster bringen konnte. Und dann würde er weitersehen, wie es dem Verwundeten bis dahin ging.

Die Herzogin befreien! Was für ein wagemutiger, irrsinniger Plan! Wie viele Männer wohl gefallen waren? Nur einer hatte überlebt. Für eine Idee!

Der Krieg war verloren. War das so schwer einzusehen? Oder konnten Soldaten wirklich nicht aus ihrer Haut und waren erst zufrieden, wenn alles in Schutt und Asche lag?

Livan schulterte sein Bündel, sah noch einmal in die Krypta, wo die Königsmänner friedlich und mit blauen Flecken und Blutergüssen dicht beieinanderlagen und hoffentlich noch ein paar Stunden länger so artig blieben.

Die Nonnen versenkten die Stiefel der Soldaten im Brunnen und trugen schier unermüdlich rote Waffenröcke und Decken zum Ochsenkarren. Neben diesem stapelten sie auch das meiste Gepäck. Livan vermutete und hoffte, dass sie die Habseligkeiten der Soldaten durchgesehen hatten. Als er eine der jungen Schwestern mit einem alten Eimer wieder zum Brunnen eilen sah, lächelte er. Ja, die Nonnen hatten bestimmt etliches aussortiert, auf das sie gut verzichten konnten. Diese jungen Schwestern machten auf ihn einen so viel patenteren Eindruck als alle anderen Gottesdiener, die er bisher kennengelernt hatte. Und das waren viele. Angefangen bei den alten Frauen, die sich um die Waisenkinder gekümmert hatten, weiter über die lehrenden Mönche, die ebenjenen Waisen Lesen und Schreiben beibrachten, bis hinauf zum feisten Klostervorsteher, der die Hilfe zweier junger und kräftiger Mönche benötigte, um sich aus seinem Sessel hochzuwuchten. Und noch einige andere mehr, die sich aber in der Hierarchie der Bruderschaft weit genug oben befanden – gleich Fettaugen auf einer Suppe –, um nicht wie Livan des Klosters verwiesen zu werden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739390949
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Schlagworte
schwul Fantasy Gay Romance Romance Liebe Gay Liebesroman

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Nun habe ich neben meinen bisherigen und zukünftigen Verlagsveröffentlichungen das Abenteuer Selfpublishing für mich entdeckt. Ich schreibe Fantasy in allen möglichen Richtungen: Urban, Geistergeschichten, Gay Romance und Heroic Romance („Schmachten & Schlachten“, wie ich dieses Subgenre mit einem Augenzwinkern nenne) und noch viel mehr.
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Titel: Klosterschatz