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Magiefunken I

Der Magie verfallen V

von Tanja Rast (Autor:in)
190 Seiten
Reihe: Der Magie verfallen, Band 5

Zusammenfassung

In vier längeren Kurzgeschichten erzähle ich, wie es weitergeht für meine Helden aus »Königsmacher«, »Elfenstein«, »Klosterschatz« und »Feuerzauber«. Was erwartet Jiras und Belac bei ihrem ersten Auftrag als Ritter der Königin? Welche Auswirkungen hat das erste Zusammentreffen mit Terez' Eltern für Noriv und Terez? Wie finden Livan und Torik sich in einem gemeinsamen Leben in Friedenszeiten zurecht? Und warum hat Talon schon wieder Geheimnisse vor Griv? Der Magie verfallen – das ist eine Gay-Fantasy-Reihe um Krieger und Magier, Priester und Diebe. Jeder Roman erzählt die Romanze zweier gegensätzlicher junger Männer – zwischen Gefahren, Abenteuern und großen Gefühlen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Königsmacher - Der Auftrag

Atames Hald duckte sich unter einem kraftvollen Regenschauer, der auf den Straßen Unrat in die Rinnsteine wusch. Nur ein paar Wachen drehten ihre Runden, der Rest der Bewohner hatte sich ins Trockene geflüchtet. Unter Stoffdächern hervor blickten Händler missmutig auf die leer gefegten Straßen.

Die Kutsche rollte hinter Belac her, der durchweicht unter einem Ledermantel auf seinem Rappen saß und sich unwohl und beobachtet fühlte. Hinter dem Wagen folgte ein Trupp Berittener mit königlichen Abzeichen. Am Stadttor hatte man Belac nach nur einem Blick auf Rüstung und Wappen der Königin sofort passieren lassen, doch war er sich sicher, dass auf Seitenwegen schon ein Bote zum Fürstensitz geschickt worden war, um die Ankunft eines Störenfrieds zu melden. Hatten die Soldaten eine Ahnung, wie sehr Belac zu stören plante!

Dreimal hatte Belac schon nach dem Weg gefragt, und jetzt erlaubte er sich ein Aufatmen, als eine eindeutig prächtigere Straße vom Hauptweg mit den Läden abzweigte. Eine leichte Steigung, und Belac ließ sein Pferd antraben, damit die Kutschpferde in seinem Gefolge es leichter hatten.

Unter dem triefenden Saum der Kapuze hindurch zählte er die Häuser ab, suchte nach einem hinter einer Rosenhecke, wie es ihm beschrieben worden war.

Endlich kam es in Sicht. Ein großes Gebäude, an das sich eine Tordurchfahrt zu einem eigenen Hof anschloss. Belac hielt das Pferd sanft vor einem Bogendurchlass der Hecke an und wartete, dass einer der anderen Berittenen zu ihm kam, um ihm die Zügel abzunehmen. Kein Lakai oder Knecht eilte herbei. Diesen Umstand fand Belac schon sehr merkwürdig.

Er sprang zu Boden, als die Kutsche ebenfalls anhielt, stieg die Stufen zur Haustür empor und klopfte mit Nachdruck. Dann schlug er den Mantel auf und die Kapuze zurück, um demjenigen, der das Portal öffnete, gleich klarzumachen, wer da vor ihm stand.

Eine kleine Klappe öffnete sich im Holz der Pforte, und Belac nahm ein Augenpaar hinter einem Schutzgitter wahr.

»Ich bin Ritter der Königin und begleite Rat Tadoz und dessen Tochter. Rat Wilnes erwartet uns.«

Keine Antwort von der anderen Seite der Tür, aber die Klappe wurde geschlossen, dann erklang das Geräusch von Riegeln, die zurückgeschoben wurden. Das Portal schwang auf und offenbarte eine hagere Frau, die blass aussah, beständig zwinkerte sich eine Hand mehrfach am Rock abwischte. Ihr Blick hing wie festgenagelt auf dem königlichen Wappen an Belacs Rüstung. »Rat Wilnes ist nicht da«, flüsterte die Frau.

»Du willst uns nicht vor der Tür im Regen stehen lassen, bis er heimkehrt, nicht wahr?«

»Nein. Nein, natürlich nicht … Ritter der Königin …« Sie atmete tief durch. »Dich schicken die Götter.«

»Später mehr«, antwortete Belac rasch, der keinesfalls wichtige Dinge mitten auf der Straße besprechen wollte. »Gibt es Knechte und Diener in diesem Haus?« Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Schlag der Kutsche geöffnet wurde.

»Knechte im Stallhof. Im Haus nur mich und meinen Sohn. Das Gepäck, selbstverständlich …« Ihre Augen weiteten sich, nun starrte sie zur Kutsche.

Belac wandte sich halb um. Rat Tadoz war kleiner selbst als Jiras, kahlköpfig und besaß außer einem hellwachen Blick eigentlich keine erwähnenswerten Vorteile. Doch nun stand er neben dem Schlag und reichte die Hand einer hinreißenden jungen Frau, die hoheitsvoll ihren Reifrock durch die Enge des Kutschschlags manövrierte, unter einem kleidsamen Hütchen eine Masse goldener Locken und ein Gesicht vollkommener Süße präsentierte.

Obwohl er Jiras‘ Verkleidungskünste kannte und angemessen würdigte, verblüffte es Belac nicht zum ersten Mal, wie vollkommen Jiras seine Rolle spielte. In Mönchsgewändern war er ein junger, demütiger Betbruder, in Bettlerkleidung ein hinkendes Bündel Elend. Als Tochter eines königlichen Rats verströmte er hochnäsigen Adel und weibliche Anmut. Kein Wunder, dass die Frau im Türrahmen ihn staunend betrachtete.

Eilig führte der Rat seine vermeintliche Tochter die Stufen empor und ins Haus, während auch die unabdingbare Zofe aus der Kutsche stieg.

»Meine Männer werden im Stallhof unterkommen«, sagte Belac. »Die Knechte sollen sich um sie, die Tiere und das Gepäck kümmern.« Er schloss die Tür, als auch Jiras‘ Dienerin die Schwelle übertreten hatte. »Und jetzt wüsste ich gerne, wo Rat Wilnes sich aufhält.«

»Das weiß niemand«, antwortete die Haushälterin, oder was immer sie war. Auf jeden Fall ergriff sie Jiras‘ Hand, als wollte sie eine junge Dame vor scheußlichen Enthüllungen schützen.

Tadoz warf Belac einen seiner hellwachen Blicke zu. »Das erklärt, warum Wilnes mich um Unterstützung anschrieb, nicht wahr? Gute Frau, fürchte dich nicht. Ritter Belac und ich sind hier, um die Dinge zu ordnen. Wann hast du Rat Wilnes das letzte Mal gesehen?«

»Vor vier Tagen. Und sollte … sollte ich deiner Tochter und ihrer Zofe nicht vielleicht ihr Zimmer zeigen?«

»Meine Tochter ist kein nervöses, behütetes Geschöpf.«

Jiras warf Belac einen funkelnden Blick zu, in dem stummes Gelächter stand. Doch wie schwarze Gewitterwolken sah Belac auch die Sorge um Wilnes und darum, welches Spiel Atame betreiben mochte. Und wie sie diesem begegnen und die Pläne des Fürsten durchkreuzen sollten.

Belac räusperte sich. »Zeig uns unsere Zimmer, bitte. Und dann möchte ich auch deinen Sohn und die Knechte im Hof sprechen. Unsere Königin hat es nicht so gerne, wenn ihre Räte verschwinden.«

»Ich möchte Rat Wilnes‘ Arbeitszimmer sehen«, sagte Tadoz sanft. »Vielleicht finde ich in seinen Unterlagen einen Hinweis.«

Die hagere Frau knickste und übernahm dann die Führung.

 

Jiras wartete ungeduldig ab, dass die Tür hinter der Haushälterin ins Schloss fiel, bevor er sich hastig die hochhackigen Schuhe von den Füßen streifte, leise und zufrieden seufzte und die Zehen krümmte. Er konnte mit Haarnadeln, Parfüm und Schminke ebenso wie mit einem Korsett leben, aber Damenschuhe würden ihm auf ewig ein Gräuel bleiben.

Die Zofe legte den Kopf schräg und lächelte beinahe mütterlich. »Ich würde dich ja auch aufschnüren, aber ich glaube, wir sollten vorsichtig sein.«

»Dienstboten klatschen gerne«, stimmte er zu. »Und wir wissen nicht, ob nicht vielleicht einer oder alle hier im Haushalt einen Zusatzlohn von Atame erhalten.«

Die Zofe nickte und machte sich dann daran, Jiras‘ Kleidertruhen auszupacken und Seide, Brokat und bretthart gestärktes Leinen sowie etliche Ellen Spitze in Kleiderschränke und Kommoden zu räumen.

Wenigstens trug Jiras für ihn maßgeschneiderte Garderobe. Ein Luxus, den er durchaus zu schätzen wusste, wenngleich dies alleine der Starrsinnigkeit von Königin Lesina zu verdanken war. Dabei hatte Jiras ganz höflich gefragt, ob er sich aus dem königlichen Kleiderschrank bedienen durfte.

»Ganz bestimmt nicht. Wir wissen genau, was aus dem letzten Kleid geworden ist, das ich dir lieh.«

»Das war aber nur begrenzt meine Schuld.«

»Ich übergab dir ein Kleid aus apfelgrüner Seide. Und bekam angeschmorte Fetzen und ein zerschnittenes Korsett zurück. Bleib meinem Kleiderschrank fern, Jiras. Aber ich werde dir meine Schneiderin schicken.«

Er lächelte bei der Erinnerung. Empörung stand Lesina und verwandelte eine nicht eben hochgewachsene Königin in einen furchterregenden Gegner. Immerhin hatte die Schneiderin ganze Arbeit geleistet, wobei sie Jiras nie zu Gesicht bekommen hatte. Die Zofe der Königin hatte sich um alles gekümmert. Jetzt war sie Jiras‘ Zofe, und er argwöhnte, dass die kleine Frau früher das Kindermädchen der jetzigen Königin gewesen war. Lesina mochte frisch auf dem Thron sein und sich an vieles erst gewöhnen müssen, doch war sie die Tochter des verstorbenen Seefürsten und schien militärisches Denken von klein auf an zu ihrer persönlichen Leidenschaft erklärt zu haben. Ihre Generale bissen sich auf jeden Fall gerade die Zähne an ihr aus.

Erst seit vier Wochen auf dem Thron, und jeder Tag war ein kleiner Machtkampf gegen die vier alten Fürstenfamilien und ihre Anhänger, von denen sich alle einen starken Mann – bevorzugt den eigenen Fürsten – auf dem Thron gewünscht hatten. Nun, Lesina hatte Belac und Jiras und verfügte glücklicherweise über einen Willen aus Gusseisen.

Jiras wanderte zum Fenster und spähte nach draußen, während er die Hutnadeln entfernte und endlich die federgeschmückte Kopfbedeckung loswurde. Besonders die schwarze Feder hatte ihn seit der morgendlichen Abfahrt gestört, weil sie ihm beständig auf die Nasenspitze wippte.

»Was hältst du von der Haushälterin?«, fragte er leise.

»Sie macht ihre Arbeit gut. Kein Staub auf den Regalen, keine Wollmäuse unter dem Bett. Die Bettwäsche ist trocken, sauber und riecht frisch gelüftet.«

»Sie machte mir einen besorgten Eindruck«, fuhr Jiras fort. »Aber das kann natürlich auch schlichtweg an unserer Ankunft liegen. Niemand, der einen Rat verschwinden lässt, möchte Besuch von einem königlichen Ritter bekommen.«

»Ich werde ja mit ihr und ihrem Sohn in der Küche essen. Ich halte die Ohren offen.«

»Und sei vorsichtig, Grear.«

»Das bin ich immer. Oh, was ist das? Das habe ich nicht eingepackt.«

Er sah rasch zu ihr. Ja, das hatte er selbst in die Kleidertruhen gestopft. Waffen, einen Satz Einbruchswerkzeug und andere Dinge, die Jiras gerne in seiner Nähe wusste. »Ein Reifrock bietet sich zur Tarnung an«, sagte er ruhig. »Alles, was ich benötige, kann in kleinen Beuteln verstaut am Drahtgestell des Rocks befestigt werden.«

Grear musste sich auf die erste ausgepackte Kiste setzen. Ihr Gesichtsausdruck sprach dabei von fassungslosem Staunen, wenngleich sie lächelte. »Niemand würde eine Dame durchsuchen. Oder ihr überhaupt zutrauen, einen Dolch verborgen am Leib zu tragen. Sehr weise, Herr Jiras.« Ihre blauen Augen leuchteten vergnügt.

Er schüttelte verweisend den Kopf, und Grear schlug sich die Hand vor den Mund. Sie nickte, und Jiras war sich sicher, dass ihr diese Anrede nicht wieder entschlüpfen würde.

»Das ist nicht alleine auf meinem Mist gewachsen. Rat Wilnes war so vorausschauend, Rat Tadoz und dessen Tochter einzuladen. Sein Brief war besonders vage gehalten, was mich vermuten lässt, dass er befürchtete, die Nachricht würde abgefangen und gelesen werden. Rat Tadoz hat aber gar keine Tochter, und das lieferte Belac und mir den Hinweis, dass Wilnes der Meinung schien, mir einen getarnten Auftritt bieten zu müssen.«

Die Zofe nickte. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun. Und deswegen wirst du jetzt Pantoffeln anziehen. Eine Dame rennt nicht barfuß herum.«

Jiras starrte die zierlichen Schühchen vernichtend an, beugte sich aber Grears Anspruch. Selbst die Pantoffeln hatten Absätze. Es war doch zum Haareraufen.

Er mochte Wilnes, der nicht nur ein tüchtiger Rat im Dienste seiner Königin war, sondern nebenbei auch deren Schwiegervater. Verdammt, das ganze Reich befand sich immer noch in Aufruhr, woran die Fürstenfamilien ganz und gar nicht unschuldig waren. Atame war obendrein der Einzige von ihnen, der das Gerangel um die Thronfolge überlebt hatte. Seine Konkurrenten in den anderen drei Fürstentümern waren Verwandte oder andere Adlige, die nun versuchten, die Macht an sich zu reißen. Frischlinge, während Atame ein alter Fuchs war.

Gehorsam schlüpfte Jiras in die Pantoffeln und verließ dann seine Gemächer, um sich einen Überblick über das Haus zu verschaffen. Das Arbeitszimmer von Rat Wilnes war sein erstes Ziel, aber nebenbei wollte er auch in Erfahrung bringen, wo Belac untergebracht war. Die Anwesenheit fremder Diener, deren Zuverlässigkeit unbekannt war, würde gemeinsame Nächte so gut wie unmöglich machen. Rat Tadoz‘ Töchterchen sollte nur schmückendes Beiwerk sein, möglichst im Hintergrund bleiben und keinen Anlass zu Gerede geben, bis es an der Zeit war, dass Jiras aus der Tarnung heraus zum Einsatz kam.

Aber Belac konnte weder lesen noch schreiben, also wurde Jiras gebraucht, um Tadoz bei der Sichtung der Unterlagen zu helfen. Außerdem würde die Haushälterin im Gespräch mit einer jungen Dame aus gutem Haus vielleicht mehr ausplaudern, als wenn Belac die Frau verhörte. So beruhigend und angenehm Jiras die hoch aufragende Größe des Geliebten fand, so einschüchternd würde sie jemandem erscheinen, der vielleicht kein ganz reines Gewissen hatte.

Der Flur wies vier Türen auf, die allesamt wahrscheinlich zu Schlafzimmern führten. Jiras musste annehmen, dass der Raum neben seinem dem vermeintlichen Vater Tadoz gehörte. Er huschte auf die andere Seite des teppichbelegten Ganges und öffnete lautlos die erste Tür, die seiner gegenüberlag. Der Geruch nach Leder sowie Belacs ganz eigener Duft nach Kiefernwäldern, über die eine stürmische See ihre Gischt geworfen hatte, sagten ihm, noch bevor er das Gepäck entdeckte, wessen Schlafzimmer das war. So nah, und wegen der Dienerschaft trotzdem unerreichbar. Jiras entließ einen kleinen Seufzer, zog die Tür wieder ins Schloss und wollte sich eben auf den Weg zur Treppe machen, als er von unten eine Unterhaltung in gedämpftem Tonfall vernahm, die ihn innehalten ließ.

Männerstimmen, von denen er keine kannte. Das konnten natürlich die Knechte sein, doch die Respektlosigkeit passte nicht zu diesem ersten Gedanken.

»Noch so ein alter Knacker. Die Frau gibt auch nicht auf, was?«

»Unser Fürst wird ihr schon noch Manieren beibringen.«

Jiras atmete geräuschlos ein und wich zurück, bis er wieder in sein Schlafzimmer schlüpfen konnte. Er drückte die Tür zu und legte den Riegel vor.

Grear, die immer noch mit viel kostbarer Wäsche beschäftigt war, blickte lächelnd auf. Was sie auf Jiras‘ Gesicht sah, ließ die heitere Miene schlagartig verschwinden. »Was …«

»Still, Grear. Soldaten von Atame im Haus.«

Sie wurde ein wenig blass, nickte aber energisch.

»Wo sind meine … Sachen?«

»Kommode unter dem Fenster. Glaubst du … sie werden doch nicht wagen …«

»Ich habe keine Ahnung. Mir wird nur niemals jemand vorwerfen können, ich wäre unvorbereitet.«

Er eilte zur Truhe und kramte natürlich erst einmal raschelnde Stoffe beiseite. Grear war nicht dumm. Wie sehr sie mitdachte, bekam Jiras zu spüren, da sie bereits den Gürtel des Rocks löste, während er die ersten Gegenstände heraussuchte, die er sicherheitshalber im Gestänge des Reifrocks befestigen wollte. Schwere Seide fiel, und nun stand Jiras nur noch in knielanger Hose und dem Gestell des Rocks da.

»Einfach festbinden?«, fragte Grear atemlos und riss ihm den ersten Beutel nahezu aus den Händen.

»Möglichst in Reichweite – nicht hinten oder zu weit oben oder unten! Aber so, dass es halbwegs gleichmäßig verteilt ist und die Sachen nicht aneinanderschlagen können.«

Grear nickte. Zu zweit arbeiteten sie in fieberhafter Eile, weil sie beide nicht ahnen konnten, was unten vor sich ging. Jiras befürchtete das Schlimmste und vor allem in absehbarer Zeit das Erscheinen von Schwerbewaffneten in seinem Zimmer, und dann musste er einsatzbereit und vor allem wieder vollständig bekleidet sein. Der Tarnmantel als harmlose Tochter eines Ratsherrn konnte vielleicht ihrer aller Rettung sein.

Er biss die Zähne zusammen, knotete weiter Schnüre an das Gestell und wartete dann ungeduldig, dass Grear ihm half, erneut den Rock darüber zu ziehen und den Gürtel zu verschnallen.

»Bleib hier, Grear. Falls es zum Äußersten kommt, bist du als Dienerin hoffentlich sicher. Niemand hier kann ahnen, wessen Zofe du wirklich bist.«

Grear richtete sich auf und blickte ihn streng an. »Keine Zofe, die auch nur einen Funken Anstand hat, würde ihre junge Herrin alleine zu einer Gruppe Männer gehen lassen.«

»Rat Tadoz ist mein Vater.«

»Und mindestens Belac ist da, selbst falls wir vorgeben, dass wir nichts von den Männern Atames wissen.«

»Grear, bleib hier«, sagte Jiras entschieden.

Sie blickte bockig, nickte aber nach kurzer Zeit. »Sei vorsichtig, bitte.«

»Das habe ich vor. Aber ich möchte ungern Belac alle Arbeit alleine überlassen.«

Er strich den Rock glatt, richtete sich noch gerader auf und rauschte aus dem Zimmer, wie selbst Lesina es kaum königlicher vermocht hätte. Den Flur entlang bis zur großen Treppe, an deren oberen Ende Jiras kurz stehen blieb, sich einen Überblick verschaffte, wie viele Soldaten in der Halle herumstanden. Vier. Kinderspiel für Belac, so er nur ein wenig Unterstützung bekam.

Die Männer gafften zu ihm empor, und eingedenk seiner Rolle als junge Frau aus gutem Hause schritt Jiras die Stufen hinab, den Kopf hoch erhoben und den Blick ganz gewiss nicht auf niederen Pöbel gerichtet. Manche Adelige behandelten alles, was hierarchisch unter ihnen stand, als Möbel oder stumme Mauern, und genau dieses Verhalten rief Jiras nun zu seiner Unterstützung.

Natürlich sah er die Blicke, die über die Vorderseite seines Brustkorbs krochen, wo zwei sorgfältig platzierte Wollknäuel unter Korsett und Stoffschichten des Kleides für weibliche Rundungen sorgten. Und er hörte auch das dreckige, leise Lachen. Dinge, denen niemand ausgesetzt sein sollte, die aber in Bezug auf Rat Tadoz‘ Tochter eine Frechheit darstellten, die diese Männer mit öffentlicher Prügel auf Befehl ihres Fürsten zu bezahlen hätten – falls sie das alles nicht sogar mit Atames Billigung taten, um nicht vorhandenen Respekt vor einem Gesandten der Königin auszudrücken.

»Der kleine Käfer könnte mir auch das Bettchen wärmen«, raunte einer der Kerle durchaus nicht leise.

Möbel. Alte Sessel mit gesprungenem Bezug und Fettflecken. Angestoßene Kommoden. Wie gut, dass Grear oben geblieben ist.

Jiras kam am Fuß der Treppe an und hüllte sich in die Arroganz des Adels. Egal, wie leer dessen Kassen waren, zumindest die Nase in der Luft ließ kein Landherr, kein Verweser sich nehmen, und immerhin war Jiras selbst adeliger Abkunft, wenngleich die Familie ärmer als mancher Bettler in der Hauptstadt gewesen war. Würdevoll und ohne unziemliche Hast schritt er an den grinsenden Kerlen vorbei zur Arbeitszimmertür.

Er spürte die Blicke im Rücken, hörte das anzügliche Tuscheln und das Lachen eines Mannes, das ihn vor Abscheu erbeben ließ. Forsch öffnete er die Tür und rauschte mit Seidengeraschel in das Arbeitszimmer von Rat Wilnes.

Am Schreibtisch saß Tadoz, bleicher als gewöhnlich, die Hände um Briefbögen gekrampft, die in diesem Griff bereits zerknittert waren. Zwei Männer von Atames treuer Wache hatten zwischen dem Rat und Belac Position bezogen.

Der Große stand mit allen Anzeichen von Gelassenheit am Kamin, die Arme vor der Brust verschränkt, der Blick der stahlgrauen Augen wachsam. Bei Jiras‘ Eintritt weiteten sie sich leicht und flackerten dann zur Seite, hefteten sich auf etwas seitlich der Tür.

Diese schwang hinter Jiras halb zu, und jetzt spürte er die zusätzliche Bewegung, gleich darauf Körperwärme, als jemand rasch halb hinter, halb neben ihn trat und eine Hand um seinen Unterarm schloss. Jiras schnappte erschrocken nach Luft – nicht einmal gespielt –, als er begriff, dass er Belacs Warnung zu spät erkannt hatte. Dies war der erste gemeinsame Auftrag, nachdem sie sich quer durch die Fürstentümer geschlichen hatten, um Gelens Hald zu erreichen. Offiziell hatten sie auf verfeindeten Seiten gestanden und dann überraschend mitten in einem aufziehenden Bürgerkrieg die Liebe füreinander und dann einen Sinn in Ausbildung und Ausrüstung erkannt: genau diesen nahenden Krieg zu verhindern. Sie mochten in einem Scharmützel bereits gut aufeinander eingespielt sein, aber diesen raschen Blick hatte Jiras nicht schnell genug deuten können, und jetzt stand ein Soldat, der hinter der aufschwingenden Tür in Deckung gewesen war, allzu nah bei ihm. Und keine Waffe zur Hand, noch zwei Mann im Raum, in der Halle vier weitere.

Belac ließ die Lider halb sinken, die Spur eines grimmigen Lächelns tauchte in seinen Mundwinkeln auf, und Jiras sandte ein kleines Gebet zu Alakanta, dass er wenigstens das nicht missverstand.

»Nun, wir scheinen komplett. Gefällt mir auch besser, als von meinen Männern ein schreiendes Mädchen aus seinem Zimmer zerren zu lassen. Rat, bist du jetzt vernünftig?«

»Vater?«, flüsterte Jiras, als Tadoz gar nicht auf diese Aufforderung reagierte.

Der alte Mann schien wie erstarrt und sah nur Hilfe suchend zu Belac.

»Wir wurden aufgefordert, in den Fürstensitz … umzuziehen«, murmelte Tadoz und hielt die Briefbögen immer noch fest.

Ein kleiner, alter Mann mit einem großen Sinn für das Lächerliche, seit Jahren befreundet mit Rat Wilnes, um den er in großer Sorge sein musste. Jiras konnte sehr wohl nachvollziehen, dass es einen solchen Mann aus der Bahn warf, nicht nur vermutete, sondern tatsächliche Gefahren vorzufinden.

»Keine Aufforderung, Rat Tadoz, sondern eine höfliche Einladung meines Fürsten, die deiner Sicherheit und vor allem der deiner Tochter dient«, schnurrte der Mann hinter Jiras.

Er wandte halb den Kopf, um mehr von diesem Kerl zu sehen als nur die Hand, die Jiras‘ Unterarm fest umschloss.

Hochgewachsen, wenngleich er nicht an Belacs Körpergröße heranreichte. Ein Helm verbarg das meiste vom Gesicht, und so erhaschte Jiras nur einen Blick auf volle Lippen und ein energisches Kinn. Jiras fluchte im Geiste, dass er nicht auf die Idee gekommen war, ein Stilett oder zumindest eine Hutnadel im Ärmel verborgen zu haben. Verdammte Eile und Hast, die nun Jiras ein Bein stellte und ihn wehrlos machte. Vielleicht war es aber auch ganz gut so, denn hätte Atames Soldat ihn am anderen Arm gepackt, wäre ihm die Waffe unter Stoff aufgefallen. So fühlte Jiras sich ebenso hilflos, wie er die Rolle der Tochter zu spielen hatte. Alleine das Wissen um die Ausrüstung unter seinem Rock stellte einen kleinen Trost dar – und dass niemand bei einer möglichen Durchsuchung des Gepäcks auf diese netten Kleinigkeiten stoßen konnte.

»So kommen wir nicht weiter«, sagte der Mann. »Ich habe den Befehl meines Fürsten, und diese Order wird ausgeführt. Du, Ritter, wirst jetzt deine Waffen und Rüstung ablegen.«

Jiras erwog, ob er eine Ohnmacht spielen sollte, fürchtete aber, dass er das nicht überleben würde, als sich eine Klinge an seine Kehle legte. Also beschränkte er sich auf ein wimmerndes Keuchen und zwang sich zu einem Schauder, der hoffentlich als verschrecktes Zittern durchgehen würde.

In Belacs Augen tobte eine stürmische See, harte Linien gruben sich neben seinem Mund ein. Langsam, damit der Kerl hinter Jiras das nicht als Beginn einer Attacke werten konnte, schnallte er den Waffengurt auf und ließ ihn zu Boden sinken.

»Die angebliche Königin hat doch zwei Ritter ernannt, oder? Wo ist der zweite?«

»Jiras hat sich noch nicht von dem Magieangriff im Tempel erholt«, sagte Belac mit eisiger Ruhe. Atames Spione wussten von zwei Rittern, dann war ihnen gewiss auch bekannt, was im Großen Tempel geschehen war. Tatsächlich war Jiras ja noch nicht lange wieder auf den Beinen.

Ein meckerndes Lachen war die Antwort. »Das wird er wohl auch nie. Nett von der selbst ernannten Königin, einem Todgeweihten ein Abzeichen umzuhängen. Und so nützlich!«

Tadoz ließ endlich die Briefe los und erhob sich hastig.

»Ganz ruhig, alter Mann«, befahl der Kerl mit dem Dolch. »Wir machen gleich alle zusammen einen kleinen Spaziergang, und wenn ihr beiden brav seid, passiert dem kleinen Goldvögelchen hier nichts. Ankann!«, rief er über die Schulter. »Schnapp dir eine Magd und lass ein paar Sachen für das Mädchen packen. Und achte darauf, dass keine Hutnadeln oder ähnliches den Weg in die Kiste finden!«

»Kümmere mich darum!«, erklang es aus der großen Halle.

Nun war es an Belac, einen besorgten Blick zu Jiras zu senden. Sie wussten ja beide, was er alles im Damengepäck verstaut hatte. Leider standen außer dem Bastard mit dem Dolch an Jiras‘ Kehle noch zwei Soldaten im Raum, sodass Jiras sich nur ein winziges Lächeln gestatten konnte, das hoffentlich ausschließlich sein großer Geliebter sah.

»Sehr schön. Ritter, weitermachen. Auch die Rüstung. Ich weiß, dass Kerle wie du und ich immer noch eine Überraschung irgendwo verstecken. Nicht mit mir. Unter wem hast du gedient, bevor die Frau den Thron wegschnappte?«

»Miskel«, antwortete Belac knapp und machte sich daran, die Armpanzer abzulegen. Er arbeitete zügig und schoss immer wieder grimmige Blicke zu den drei Gegnern, die er nicht angreifen konnte und durfte, wollte er Jiras‘ Leben nicht aufs Spiel setzen.

»Rein zufällig etwas mit einer in die Luft gejagten Eisenschmelze oder einer in Brand gesetzten Bibliothek samt Magier zu tun?«

»Nein, das war einer von Venerris Männern. Minhan Miskel hat geschäumt, dass mir jemand zuvorgekommen ist.«

Jiras gab sich Mühe, sein Gesicht ausdruckslos zu halten. Die Schmelze ging auf Belacs Konto, das Feuer – das übrigens der Magier Silino selbst entfacht hatte, weil er seine Gabe angesichts eines verflossenen Liebhabers einfach nicht unter Kontrolle gehabt hatte – konnte Jiras auf seine Liste setzen. Sie steckten nicht nur in einfachen Schwierigkeiten, verdammt! Mit jedem Atemzug kam ein neues Problem dazu.

Als hätte der Kerl mit dem Dolch seine Gedanken gelesen, setzte er hinzu: »Deine Soldaten pennen übrigens friedlich. Was ein wenig Schlafmittel im Bier doch ausmacht. Erwarte also keine wundersam auftauchende Unterstützung. Ich sage dir das nur, falls du in deinen schönen Stiefeln, die du jetzt auch ausziehen wirst, noch eine Überraschung versteckt hast. Dummheiten mag ich nämlich gar nicht.«

»Ich bin Rat der Königin«, erwachte nun Tadoz aus seiner Starre. »Und ich verlange, dass Fürst Atame mich auch als solchen behandelt. Gib auf der Stelle meine Tochter frei!«

»Du wirst ebenso behandelt werden wie Wilnes. Und jetzt halt die Klappe, verdammt! Oder willst du zusehen, wie dein kleines Mädchen zuckend ausblutet?«

Belac streckte eine Hand nach Tadoz aus, eine beruhigende Geste, und der kleine Ratsherr blieb tatsächlich stehen. Jiras war sich beinahe sicher, dass die unüberlegte Vorwärtsbewegung des Rats an vollkommener Überforderung lag. Absichtlich riskierte der Mann bestimmt nicht Jiras‘ Leben. Hoffte er.

Belac schlüpfte nun auch aus den Stiefeln und warf sie auf eine herrische Bewegung eines Soldaten hin diesem zu, der sie auf Waffen überprüfte und dann zurück zu Belac trat. Wenigstens wurde von dem Großen nicht erwartet, barfuß zum Fürstensitz zu spazieren.

Jiras entsann sich schlammiger Straßen. Und dann erinnerte er sich, dass er selbst nur lächerliche Pantoffeln mit einem Fellpompon auf dem Zehenbereich und hohen Absätzen trug. Er konnte nur beten, dass Grear, die ja angewiesen worden war, für Kleidung zu sorgen, auch an etwas vernünftigere Schuhe gedacht hatte.

 

Belac musste ein Zornbeben unterdrücken, da der Hauptmann von Atames Trupp Jiras auch weiterhin festhielt, während alle nach draußen strömten. Ein Leiterwagen stand vor der Tür, auf den weitere Soldaten Belacs eigene Männer verluden. Betäubt, entwaffnet und gebunden. Selbst die kleine Grear wurde mitgenommen und zusammen mit Jiras‘ Kleidertruhe auf den Wagen geladen.

Nur Wilnes‘ Personal blieb zurück, und die Art, wie die hagere Haushälterin mit einem Knicks und keinerlei Anzeichen von Angst die Soldaten passieren ließ, bewies Belac, dass diese Leute auf der Lohnliste Atames standen oder anderweitig gefügig gemacht worden waren. Also war nicht nur vom Stadttor aus Nachricht an den Fürsten gesandt worden, sondern auch von diesem Haus aus. Knechte hatte es in den Stallungen ja ausreichend gegeben. Irgendjemand musste auch das Bier für die Soldaten mit Betäubungsmitteln versetzt haben. Belac knirschte in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen, dass er in diese Falle spaziert war, sich darauf verlassen hatte, dass Wilnes‘ Leute über jeden Verdacht erhaben waren. Verdammt, die waren möglicherweise auch allesamt ausgetauscht worden, und die Hagere stammte aus Atames eigenem Haushalt und hatte gut geschauspielert.

Belac spürte das dringende Bedürfnis, ihr den Hals umzudrehen. Er konnte nur hoffen, dass er später Gelegenheit dazu haben würde. Jetzt musste er erst einmal hilflos zusehen, wie Jiras von jenem Hauptmann und dem Fahrer des Leiterwagens auf dem Kutschbock eingekeilt wurde. Jede Berührung konnte die Entdeckung bedeuten. Selbst aus der Nähe betrachtet war Jiras glaubwürdig eine junge Dame, doch all der Stoff, das Korsett und der Reifrock verbargen einen athletischen Körper mit gestählten Muskeln, wie keine Frau sie durch Sticken, Kochen oder Putzen erwerben konnte.

Die Warnung an Jiras war zu spät erfolgt, das war die traurige Wahrheit. Verdammt, Jiras war nach der Magierattacke so lange krank gewesen, dass sie danach zwar gemeinsam auf dem Kasernenhof geübt hatten, sich aufeinander einzuspielen, doch es mangelte an den Feinheiten, was ein kurzer Blick, das Heben einer Braue, das Runzeln der Stirn zu bedeuten hatte. Der einzige, winzige Trost, den Belac noch auftreiben konnte, als er und Rat Tadoz über die regennasse Straße dem Karren zu folgen gezwungen wurden, lag in der Tatsache, dass es keinen Aufruhr bei der Überprüfung von Jiras‘ Gepäck gegeben hatte. Seine eigene Bekleidung hatte er natürlich aus Sicherheitsgründen gar nicht erst eingepackt, und jene martialischen Ausrüstungsgegenstände, deren Entdeckung Belac befürchtet hatte, waren nicht gefunden worden, weil Jiras sie unter seinem Rock versteckt haben musste. Er war nicht wehrlos. Ein kleiner Hoffnungsschimmer.

Dass der Hauptmann überhaupt Kleidung und die Zofe hatte mitnehmen lassen, ließ den Schluss zu, dass Jiras und Grear nicht im Kerker landen würden. Denn das, wusste Belac, war sein eigener Bestimmungsort. Zusammen mit Tadoz und wahrscheinlich auch Wilnes. Sowie den königlichen Soldaten, die bierselig und voller Schlafmittel auf dem Wagen lagen und leise schnarchten. Die Bande würde sich einen Anschiss der besonderen Güte bei Belac abholen dürfen, wenn die Männer erwachten. Belac hoffte, dass sie verkatert sein würden, damit seine Worte nicht nur Eindruck machten, sondern auch für Kopfschmerzen sorgten und sich dadurch besonders gut einprägten.

Jiras wandte leicht den Kopf, um wie ein verschrecktes Reh zu angeblichem Vater und verhindertem Beschützer zu blicken. Ein barscher Befehl ließ ihn wieder nach vorne sehen und ein wenig in sich zusammensinken.

Belac kämpfte ein grimmiges Lächeln nieder. Sein Geliebter war nicht eingeschüchtert. Der nicht! Wenn Jiras sich jetzt nicht den Kopf zerbrach, seine Möglichkeiten ausrechnete, kannte Belac ihn schlecht.

»Belac?«, begann Tadoz leise neben ihm.

»Ab jetzt wird nicht ein Augenblick ohne Lauscher vergehen, Rat. Jedes Wort wird gehört werden.«

Der Rat sank ein wenig in sich zusammen, doch der Blick, den er Belac zuwarf, sah nach Rebellion und nicht nach Aufgabe aus. Tadoz mochte klein und alt sein, aber Lesina umgab sich nicht mit schwachen Beratern. Der Ratsherr war sehr wahrscheinlich ebenso zornig wie Belac.

Regen strömte auf sie nieder, und als Tadoz in einem aufgeweichten Pferdehaufen ausrutschte, griff Belac zur Seite und bewahrte damit das Gleichgewicht des Ratsherrn.

Atames Hald erinnerte Belac nicht das erste Mal an einen Dunghaufen, auf dem merkwürdige Pilze wuchsen. Die Burg war ein Klotz in all dem Weichen, und erst, als der Tross mit den Gefangenen auf einem der Innenhöfe ankam, erkannte Belac, dass auch hier die Düngewirkung eingesetzt hatte, denn alles war efeuüberwuchert und schwitzte Feuchtigkeit. Es hätte Belac nicht gewundert, wenn in dunklen Ecken kränklich leuchtende Pilze gewachsen wären.

Den ganzen Marsch über waren drei Armbrustbolzen auf Belac gerichtet gewesen. Keine Möglichkeit, irgendetwas zu bewirken, außer brav dem Wagen zu folgen und sich verschiedene Szenarien auszumalen, die Belac und Tadoz erwarten mochten. Er rief sich die Pläne der Festung in Erinnerung und wunderte sich deswegen nicht im Geringsten, als es durch ein inneres Tor auf den eigentlichen Festungshof ging, an dessen Mauer sich der Wohnturm erhob, der auf der rechten Seite, wo einst die Bibliothek gestanden hatte, entlaubt und zum Teil schwarz gefärbt war. Gegenüber der Brandruine stand die große Halle. Dorthin rumpelte der Leiterwagen, während Belac und Tadoz in Richtung der geschwärzten Mauerreste gedrängt wurden.

Jiras wandte sich halb um und rief mit ersterbender Stimme: »Vater!«

Belac musste Tadoz sanft anstoßen, damit der Rat diesem vermeintlichen Hilferuf seiner angeblichen Tochter entsprechen konnte. »Ich verlange, bei meiner Tochter zu bleiben!«

»Wozu? Großer Beschützer bist du ohnehin nicht«, gab ein Soldat zurück und stieß Tadoz vorwärts. Belac musste den alten Mann auffangen und behutsam mit sich ziehen, um weitere Gewalt zu unterbinden. Aber wenigstens hatte der Ratsherr die Starre des Schreckens abgeschüttelt, die ihn in Wilnes‘ Arbeitszimmer befallen hatte. Er würde schon bald wieder ohne Aufforderungen an alles denken.

Ein Tor stand in einem Winkel der Umfriedungsmauer offen, dahinter führten Treppenstufen in die Tiefe. Die Kerker. Belac hasste es, wenn er recht hatte. Fürst Atame legte also derzeit keinen Wert auf eine Befragung seiner Gefangenen … Belac riss den Kopf hoch und drehte sich halb, obwohl er gestoßen wurde, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. Jiras wurde in diesem Augenblick von zwei Männern eskortiert durch die Tür zur großen Halle gebracht. Ein Fußtritt trieb Belac vorwärts, während eiskalte Angst um den Geliebten in seiner Magengrube nistete. Es war eine Sache, eine Horde Soldaten zu täuschen oder auf einem Ball die große Dame zu spielen, wie Jiras das in der Festung von Fürst Torego getan und damit sogar Belac vollkommen getäuscht hatte. Aber eine ganz andere Sache war es, vor Atame geführt und womöglich verhört zu werden … Oder wenn irgendein Bastard meinte, diese schöne Frau hätte all die Jahre nur auf seine beglückenden Fähigkeiten gewartet … Wie lange konnte Jiras die Tarnung aufrechterhalten? Lange genug, bis er an seine Waffen kommen konnte?

Die Tür zum Festungshof knallte ins Schloss, während Belac und Tadoz immer tiefer in die Eingeweide des Kerkers gebracht wurden.

Belac fiel unterwegs ein, dass Atame vielleicht sehr wohl vorhatte, auch ihn zu verhören. Es gab da ja durchaus mehrere Möglichkeiten!

 

Jiras klammerte sich mit allen äußerlichen Merkmalen der verständlichen Furcht einer jungen Frau an Grear, die tatsächlich ängstlich bebte und eiskalte Finger um Jiras‘ Hände schloss.

Er kannte dieses Gebäude, in dem er im Gefolge des alten Hohepriesters und in der Tarnung einer Mönchskutte am untersten Ende des Tisches mit Fürst Atame gespeist hatte. Nur ein junger Mönch unter mehreren, und es stand zu erwarten, dass der Fürst den niederen Rängen des Tempelpersonals keinen Blick geschenkt hatte. Trotzdem spürte Jiras unangenehm das heftige Schlagen seines Herzens in der Brust, musste sich fragen, ob die Verkleidung dieses Mal ausreichte. Es erfüllte ihn mit böser Vorahnung, dass ausgerechnet Grear und er selbst aus einer Gruppe lohnender Ziele auserkoren worden waren, vor Atame geführt zu werden.

Im Erdgeschoss der großen Halle lungerten Atames Spießgesellen herum. Binsenteppiche lagen auf dem Boden, darauf Decken, Felle und Männer, die beim Anblick einer vermeintlichen Dame mitsamt ihrer Zofe aufsahen. Jiras senkte sofort den Kopf, denn ein solches Angaffen mit einem harten Blick zu beantworten, konnte ihn in Lebensgefahr bringen. Halb zog er Grear weiter, halb gab die kleine Frau sich Mühe, ihm Unterstützung zu sein. Einmal quer durch den ganzen Schlafsaal, bis eine breite Wendeltreppe am Ende des Raumes auftauchte. Davor zwei Wachen, die beiseitetraten.

Jiras fror in den vielen Schichten Seide. Seine Füße steckten immer noch in den zehenfreien Pantöffelchen, die für einen längeren Marsch noch schlechter geeignet waren als die üblichen Schuhe. Er mühte sich die Treppe empor, wurde durch einen kleinen Vorraum gezogen, bevor eine Tür aufschwang, und warme Luft ihm entgegenschlug.

Atames große Halle, der Speisesaal für Gäste und – in deren Abwesenheit – bestimmt auch für seine Männer.

Der Fürst saß mit zwei anderen Männern vor der großen Feuerstelle und blickte auf, als seine Soldaten eintraten. Jiras erkannte ihn sofort wieder: Hochgewachsen, gut gebaut, ein Dutzend Jahre vielleicht älter als Jiras, mit markanten Zügen und einer nahezu lässigen Art, seine Fürstenwürde zu tragen, die ihn angenehm von Jiras‘ früherem Herrn, dem Fürsten Venerri unterschied. Ein Mann, der durchaus im Gedächtnis bleiben konnte, wenn man – wie Jiras – dunkelhaarige Männer bevorzugte.

»Was ist das? Ich habe nicht nach einem Weibsbild verlangt.«

»Die Tochter von Rat Tadoz, mein Fürst. Ich hatte keine Befehle von dir erhalten, wie mit ihr umgegangen werden soll, und wusste nicht, ob ich sie ebenfalls in eine Zelle sperren soll«, antwortete der Kerl, der Jiras den Dolch an die Kehle gehalten hatte.

»Ich wusste nicht einmal, dass der alte Mann eine Tochter hat.« Atame ließ den Blick über Jiras fliegen, der sich daraufhin bemühte, noch ein wenig kleiner zu wirken, und wie schutzsuchend dichter an Grear drängte.

Der Fürst erhob sich, gab den Männern, die mit ihm zusammengesessen hatten, einen Wink, woraufhin die beiden sich entfernten. Die Soldaten blieben.

Jiras rechnete sich seine Möglichkeiten aus, irgendjemandem eine Waffe zu entreißen und sich und Grear lebendig aus der Halle zu schaffen. Aussichtslos gegen diese Übermacht, befand er. Und sich einen Pantoffel vom Fuß zu ziehen und mit dem spitzen Absatz ein Auge zum Ziel zu nehmen, würde einfach zu lange dauern. An die Waffen unter dem Rock reichte er auch nicht so einfach heran.

»Bitte, meine Liebe, nimm doch Platz. Du musst vollkommen durchgefroren sein«, sagte Atame und wies auf einen der Sessel.

»Ich möchte zu meinem Vater«, wisperte Jiras betont schwächlich.

»Nein, das möchtest du gewiss nicht. Ich hoffe, ich muss nicht deutlicher werden. Setz dich. Es wird alles wieder gut. Ich bin sicher, dass dein Vater sehr besorgt um dich ist. Eine Nacht, in der er sich ausmalt, was dir alles geschehen kann, wird ihm gut tun. Bestimmt wird er sich dann zu einer Zusammenarbeit bewegen lassen – im Gegensatz zu Rat Wilnes, der die Verbohrtheit in Person ist. Du möchtest nicht störrisch und dumm sein, nicht wahr, meine Liebe?«

Nein, Jiras wollte ihn gerne abstechen, um Belac aus dem Kerker zu befreien. Aber die kaum verhüllte Drohung in Atames Worten – so sanft und nahezu väterlich der Mann auch sprach – zeigte Jiras, dass er auf eine bessere Gelegenheit warten sollte, in der er selbst die Regeln bestimmen konnte. Jemand wie Belac konnte sich wie ein Rammbock seinen Weg bahnen, während Jiras lieber genauer plante, sich auf alles vorbereitete und dann umso überraschender zuschlug. Wenigstens schien Atame ihn tatsächlich nicht erkannt zu haben.

Jiras kam also näher, wobei er sich Mühe gab, wie ein scheues Reh zu wirken. Außerdem musste er Grear mit sich ziehen, die tatsächlich vor Angst nahezu gelähmt schien. Er nahm auf der vorderen Kante des zugewiesenen Sessels Platz, stellte die Füße dicht zusammen und umklammerte Grear, um diese auf die Seitenlehne zu ziehen.

Atame wandte seine Aufmerksamkeit erst einmal dem Soldaten zu, der Jiras mit dem Dolch bedroht hatte. »Beide Ritter?«

»Nein, mein Fürst. Nur der Große, der früher in den Diensten von Miskel stand. Der andere soll krank sein.«

»Ja, davon habe ich gehört. Aber auch, dass er auf dem Wege der Besserung sein soll.«

Er wirbelte herum, und Grear schrak gegen Jiras, der sich Mühe gab, ebenfalls verängstigt zu zucken. Spione im Palast. Eine Auskunft, die sich später, falls er und Belac hier heil wieder herauskamen, als nützlich erweisen konnte.

»Nun, Mädchen, zu dir. Dein Vater ist Rat bei Hofe, ich vermute also, dass du zum Gefolge dieser Frau Lesina gehörst?«

Jiras nickte einfach.

»Sehr schön. Du und ich werden uns gut verstehen, kleine Dame. Morgen zum Frühstück wirst du deinen Vater wiedersehen, und er wird sehr erleichtert und dankbar sein, dass du in einem Stück bist. Beantworte mir doch ein paar Fragen.«

Grear rückte ein wenig näher, und Jiras warf ihr einen Blick zu, der hoffentlich Hilfe suchend genug aussah, um Atame zu versichern, es mit einem eingeschüchterten Mädchen zu tun zu haben.

»Hat Lesina noch mehr Ritter außer diesen beiden?«

Kopfschütteln und weit aufgerissene Augen. Der Kerl ist zu nahe, fand Jiras. Wie ein Raubvogel, der mit halb entfalteten Schwingen über seiner Beute thront.

»Und der andere – wie heißt er? – ist schwer krank?«

»Jiras. Er … Es ging ihm besser, aber … dann wieder sehr schlecht«, wisperte Jiras.

»Das freut mich zu hören. Du wirst jetzt dein Köpfchen sehr anstrengen und mir die Namen aller Räte nennen.«

 

Die Wanderung in die Tiefe endete vor einer eisenbeschlagenen Holztür. Ein Soldat klopfte, und eine winzige Klappe, ganz wie in der Eingangstür zu Wilnes‘ Haus, schwang auf. Ein mürrisches Gesicht war kurz zu erkennen, dann wurden Riegel beiseitegeschoben. Belac merkte sich, dass auf seiner Seite der Pforte keine Balken lagen. Das war schon einmal etwas.

Tadoz und Belac wurden in einen modrigen Gang gestoßen, dann durch eine weitere Tür in einen Zellenblock, der aus Gitterkäfigen bestand. Eine schwache Bewegung zur Linken: Rat Wilnes hob den Kopf, atmete tief ein und rappelte sich mühevoll auf.

Erbärmlich sah der alte Mann aus, aber Belac konnte auf den ersten Blick zumindest keine Spuren von Folter erkennen. Wobei es ja unterschiedliche Arten gab, und alleine die Ungewissheit, die nasskalte Unterbringung und die Angst konnten bei einem Mann wie Rat Wilnes ausreichen.

»Belac!« Wilnes krallte die Finger um die Gitterstäbe.

Er nickte nur und ließ sich dann in eine Zelle stoßen, in der schimmlige Binsen auf dem Boden den einzigen Komfort darstellten.

Wilnes hangelte sich am Gitter entlang, bis er wieder direkte Sicht auf Belac hatte. »Bei den Göttern, Belac!«

Tadoz kam in die Nebenzelle. Ketten klirrten, dann verließen die Soldaten den Kerkerraum. Belac war sich sicher, dass die Kerle entweder an der Tür lauschen würden oder andere Öffnungen in den Wänden zur Verfügung hatten. Und er saß hier mit zwei Ratsherren fest, von denen einer vollkommen am Ende war.

»Wie konnte das geschehen?«, flüsterte Wilnes – weniger, wie Belac erkannte, weil der alte Mann Lauscher befürchtete, sondern weil er so erschöpft war.

»Die Wachen am Tor dürften bei meiner Ankunft Alarm ausgelöst haben. Und ich denke, dass deine Haushälterin auf Atames Lohnliste steht. Sie war leider sehr überzeugend.«

»Und … und Jiras?«

Tadoz schüttelte den Kopf, sah Belac aus den Augenwinkeln, aber Wilnes nahm das offenbar gar nicht wahr.

»Nach wie vor zu krank, um nützlich zu sein. Er ist immer noch in der Hauptstadt.« Bei diesen Worten blickte Belac Wilnes streng an und hoffte, dass zumindest diese Nachricht ankam. Tat sie leider nicht.

»Aber er befand sich doch deutlich auf dem Wege der Besserung, als ich aufbrach.«

»Ein Rückfall. Kommt bei magischer Ladung wohl öfter vor. Rat, wie lange bist du schon hier?«

»Ach, ich weiß nicht. Zu lange. Tadoz … ich schrieb der Königin, dass ich deine Hilfe benötige. Es tut mir so leid, dass du nun zusammen mit mir hier festsitzt. Belac, was soll nun werden?«

»Abwarten und Zähne zusammenbeißen. Die Königin wartet auf meinen Bericht. Kommt der nicht in angemessener Zeit bei ihr an, wird sie Verstärkung schicken«, behauptete Belac. Mehr wagte er nicht zu sagen, denn Wilnes sah so aufgelöst aus, dass Belac ihm durchaus zutraute, auf einen Fingerzeig auf eine gewisse Tochter mit einer verräterischen Antwort zu entsprechen. Verblüffung über die plötzliche Vaterschaft seines Freundes würde schon ausreichen.

Er sah sich nach einem ausreichend trockenen Fleckchen um, wo er sich hinsetzen mochte. Abwarten, ja. Aber nicht auf königliche Truppen hoffen, denn die würden niemals rechtzeitig eintreffen. Eher verarbeitete Atame Belac zu Schabefleisch auf der Suche nach Antworten, die seine Pläne unterstützen würden. Wie auch immer diese aussahen. Und über kurz oder lang würde Belac auf der Folterbank landen. Das war ihm klar gewesen, noch bevor er Wilnes mit der angeblich auf einen Bericht wartenden Königin zu beruhigen versucht hatte.

Doch in welcher Klemme mochte Jiras nun stecken? Konnte er überhaupt helfen, oder hatte Atame ihn schon durchschaut oder ein Soldat sein Glück bei der holden Maid versucht und eine Überraschung erlebt? Was konnte Jiras auf sich alleine gestellt in einer feindlichen Festung überhaupt bewirken, verdammt?

 

Die Tür fiel ins Schloss, und Jiras hörte dem Schlüssel zu, der darin energisch umgedreht wurde. Er atmete lautlos auf, zumindest für den Augenblick unversehrt Atame entronnen zu sein. Er war nicht durchsucht worden, was für ihn erneut untermauerte, dass der Fürst in einem verschreckten Frauenzimmer keinen kleinen Mönch erkannt hatte und schon gar nicht ahnte, wen er da wirklich unter seinem Dach beherbergte.

Das Zimmer war eine Soldatenunterkunft im Wohnturm. Zwei Betten, eine Truhe, deren Deckel offenstand und in der nichts mehr vorhanden war. Atames Männer hatten gründlich aufgeräumt. Jiras schnupperte und verzog das Gesicht. Nicht vollkommen gründlich. Unter einem Bett war der Nachttopf stehen gelassen worden. Dem Mief nach zu urteilen, war das Utensil gut gefüllt.

Grear sah ein wenig gefasster aus, aber Jiras wusste, dass die Frau kurz vor einem Zusammenbruch stehen musste. Verdammt, er hatte Hilfe mit der Garderobe einer Edelfrau benötigt, und die Zofe der Königin war die einzig mögliche gewesen, die Lesina ihm hatte mitgeben können. Selbst wenn Wilnes‘ Haushälterin keine Verräterin gewesen wäre, blieb es doch ein Ding der Unmöglichkeit, Belac zum Korsettschnüren zu rufen. Jeder unbekannte Diener bedeutete ein Risiko.

Er sandte ein Stoßgebet in göttliche Gefilde, obwohl die Vergangenheit ihn gelehrt hatte, dass gerade seine bevorzugte Göttin mitunter eine sehr humorvolle Art hatte, ihn absichtlich falsch zu verstehen. Liebste Alakanta, dein treuer Diener könnte ein klein wenig Hilfe gebrauchen. Und falls Kevena einen Augenblick ihrer kostbaren Zeit erübrigen könnte: Da ist ihr getreuer Diener, der im Kerker schmachtet und mich braucht.

Er hastete zu Grear und packte sie behutsam an den Schultern, beugte sich zu ihrem Ohr vor und wisperte: »Ich brauche deine Hilfe, ich benötige eine Ablenkung.«

Sie straffte sich unter seiner Berührung und nahm beinahe kriegerisch den Kopf hoch. »Was kann ich tun?« Leise wie das Säuseln einer milden Brise.

»Du musst dich und mich spielen. Vor der Tür werden Wachen stehen, und ich will nicht, dass die hören, wie ich mich auf ihren Untergang vorbereite. Du musst für mich weinen, Grear, und gleichzeitig die tröstende, liebe Zofe spielen, die sich um ihre Herrin kümmert.«

Grears Augen füllten sich mit Tränen, ein leises Wimmern schlich über ihre Lippen, und Jiras erschrak, dass er der Frau zu viel abverlangt hatte, dass selbst diese Hilfe nicht möglich sein würde. Aber dann lächelte Grear plötzlich, während schimmernde Tropfen über ihre Wangen rollten. »Sie werden dir nichts tun. Das wagen sie nicht«, sagte sie mit ihrer beinahe normalen Tonlage, bevor sie herzzerreißend schniefte und Luft holte für ein Schluchzen, das ihren Körper durchschüttelte.

Jiras tätschelte ihr die Schulter und machte sich dann unter diesem Schutzwall von Leid und Trost daran, den Rock zu schürzen und die kleinen Beutel am Gestänge zu betasten.

Zwei lange, schlanke Stilette befreite er aus ihren Hüllen und stach sie sich wie Hutnadeln in die aufgesteckten Locken, wo er die Waffen leicht erreichen konnte, sie aber bis zuletzt von Gegnern nicht wahrgenommen werden würden. Nach einigem Suchen und viel Weinen und Murmeln seitens Grear entdeckte er endlich seine Dietriche. Noch etwas später förderte Jiras den Beutel mit den Einzelteilen einer Miniaturarmbrust zutage. Die gewaltigen Vorteile, Ritter der Königin zu sein, waren nicht von der Hand zu weisen. So gut war Jiras noch nie ausgerüstet worden, und er hatte es genossen, sich so ziemlich alles aus den königlichen Werkstätten aussuchen zu dürfen. Eilig setzte er die kleine Armbrust zusammen, befestigte den Köcher mit den Stahlbolzen an seinem Mieder und atmete tief durch. Gut, nicht mehr wehrlos.

Grear gab derweilen alles und wechselte ihre Rollen beständig. Für jemanden vor der Tür sollte es sich echt anhören, beschloss Jiras. Er schlüpfte aus den Pantoffeln und schlich auf bloßen Füßen zur Tür. Die Kälte des Steins biss in seine Sohlen, was ihm klarmachte, dass er auf der Suche nach Belac die verdammten Schühchen tragen sollte. Er lauschte am Holz, vernahm gar nichts und war sich trotzdem sicher, dass mindestens eine Wache in der Nähe sein würde. Tadoz‘ vermeintliche Tochter mochte nicht als Gefahr gesehen werden, aber eine wertvolle Geisel war sie allemal. Atame hatte als einziger der vier Fürsten das Wettrüsten vor einem Bürgerkrieg überlebt, als diese großen Männer begehrliche Blicke auf den Thron warfen. Ein König ohne Erben, alt und krank dazu. Die Fürsten hatten sich vorbereitet und schon vor dem offiziellen Tod ihres Herrschers tatkräftig den Konkurrenten Steine in den Weg gelegt. Atame hatte sich stets vorsichtig und vor allem vorausschauend verhalten, was Jiras beständig im Hinterkopf zu behalten versuchte, damit er nicht blindlings in sein Verderben stöckelte.

Er winkte Grear zu und gab ihr ein Zeichen, ihre Bemühungen lauter zu gestalten. Mit ein wenig Glück würden diese das metallische Schaben im Schloss übertönen, wenn Jiras sich nun daran machte, es zu öffnen.

Grear brach prompt in Tränen und haltloses Schluchzen aus. Obwohl er grinsen musste, da die Zofe der von ihm gespielten Tochter unterstellte, ein wahres Gießkännchen zu sein, bewunderte Jiras Grears Durchhaltevermögen. Vielleicht stopften mögliche Wachen sich gerade Werg in die Ohren, weil die Dauerweinerei ihnen auf die Nerven ging.

Er tastete mit den Haken am Ende des Metallstabs nach dem Schlossmechanismus, drückte ganz behutsam, damit es leise ging, und spürte, wie der Bolzen zur Seite glitt.

Jiras erhob sich, verstaute das Werkzeug, legte einen Bolzen in die Armbrust und behielt einen zweiten in der Hand. Er spannte die Sehne, atmete noch einmal tief durch. Dann drückte er die Klinke nieder und riss die Tür auf.

Ein langer Satz trug ihn in den Flur, mit einem hastigen Blick ringsum erfasste er zwei Wachen, die in einiger Entfernung – das Geheul hatte sie wahrscheinlich wirklich vertrieben – standen und nun viel zu langsam herumfuhren.

Der Bolzen flog, und Jiras legte den zweiten in fieberhafter Hast ein, zerrte die Sehne auf den Haken und zog den Abzug, noch bevor der erste Mann auf dem Boden aufgeschlagen war. Der zweite Soldat stürzte auf seinen Kumpanen. Es schepperte unvermeidbar, aber keiner der beiden hatte Zeit für einen Alarmruf gehabt. Jiras atmete aus und eilte zu den beiden stillen Gestalten, um seine Pfeile wieder einzusammeln.

Hastig kehrte er zu Grear zurück und schlüpfte auch wieder in die verhassten Pantoffeln. Seine Füße waren eiskalt, und der grobe Stein hatte in die Sohlen geschnitten. Jetzt trug er zwar eiskalte, hochhackige Schuhe, doch das war angenehmer, als womöglich eine Stunde oder länger barfuß durch die Festung zu schleichen.

»Nimm dir eine Decke von einem der Betten mit, Grear. Ich schaffe dich nach draußen, aber ich werde dich irgendwo verbergen müssen, bevor ich den Kerker stürme.«

»Kann ich irgendwie helfen?«

Er blickte auf sie nieder. Klein, nicht mehr ganz jung, aber mit einem so kriegerischen Funkeln in den Augen, dass Jiras schließlich nickte und unter den Falten des Rocks nach einem ganz bestimmten Beutel suchte. Er zog ihn hervor und ließ aus dem Futteral eine schwere Lederwurst in seine Hand fallen. »Das ist mit kleinen Eisenabfällen aus der Schmiede gefüllt. Schlag einem Mann damit auf den Kopf, und du sendest ihn ins Reich der Träume. Mindestens. Sag, wenn das nicht geht, Grear.«

»Oh, ich weiß, wohin ich Männer noch schlagen muss, sollten sie dir oder mir zu nahe kommen, Herr Jiras.«

Er nahm unwillkürlich die Knie zusammen. »Grear, du überraschst mich.«

»Ich möchte lieber unsere Gegner überraschen. Wo willst du mich zurücklassen?«

»In der Brandruine. Du setzt dich da friedlich in eine Ecke und wartest auf mich. Ich kenne den Grundriss des niedergebrannten Gebäudes. Ich finde ein sicheres Versteck für dich.«

»Und falls …«

»Ich komme wieder. Mit den Räten und mit Belac.« Es auszusprechen, ließ es nicht wahr werden, das wusste er. Die Lage sah ziemlich finster aus, die Übermacht gewaltig, aber es gab keinen anderen Weg. Ohne Belac ging Jiras exakt nirgendwohin!

Grear richtete sich noch gerader auf. »Gehen wir. Und ich wünsche, dass Fürst Atame zur Rechenschaft gezogen wird.«

»Das wird er«, versprach Jiras und trat wieder auf den Flur, die Armbrust feuerbereit und alle Sinne wachsam.

 

Als das Geräusch fallender Riegel Tadoz zusammenzucken ließ, blickte Belac gemächlich auf. Es war ja zu erwarten gewesen, dass man die Gefangenen nicht einfach nur im eigenen Saft schmoren lassen würde, fand er. Bei Wilnes mochte das ausgereicht haben, um ihn in ein Nervenbündel zu verwandeln, und Tadoz war wie sein alter Freund ein eher friedfertiger Mensch, der wahrscheinlich Freude an Debatten hatte und sich nun mehr als überfordert fühlte.

Doch Belac hatte Atame Feuer unter dem Hintern gemacht, als er von einer zu erwartenden Verstärkung beim Ausbleiben eines Berichts gesprochen hatte. Möglicherweise schreckte der Fürst zumindest ein wenig davor zurück, die Räte mit Gewalt zu beeindrucken – bei einer stumpfen Waffe, die früher Miskel gedient hatte, sah es bestimmt anders aus.

Belac sandte ein stummes Gebet an seine bevorzugte Göttin Kevena – jene Herrin des Krieges, der er seit Jahren diente, die ebenso lange schützend die Hand über ihn hielt. Als tatsächlich Atame – Haltung, Kleidung und der Respekt der Männer ließen keinen anderen Schluss zu – an der Spitze einiger schmierig aussehender Kerle und einer Handvoll Soldaten in den engen Zellenblock trat, fügte Belac ein zweites Gebet an Alakanta hinzu, dass diese heute Nacht noch besser als sonst auf ihren Schützling Jiras achten möge. Denn diese Übermacht stellte Belac, zumal unbewaffnet und ohne Rüstung, vor eine zu große Herausforderung. Leicht würde er es den Kerlen nicht machen. Groß, schwer und stark konnte er zumindest ein prächtiger Hemmschuh sein, wenn die ihn aus der Zelle schaffen wollten.

Doch zuerst – er hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken, und blickte so ausdruckslos wie möglich – bezog Atame Position vor der Gitterwand. Schön außer Reichweite, worauf auch seine Soldaten achteten. Belac konnte sich nun also ein wenig darin sonnen, dass ihm ein gewisser Ruf vorauseilte. Oder der Fürst hatte ihn nach kurzer Musterung als kräftig und blöd genug eingestuft, dass Belac durch das Gitter einen Fürstenmord versuchen könnte. Was zwar das Reich von einem ehrgeizigen Mann befreien, Belac und die beiden Ratsherren aber nicht einen einzigen Schritt dichter an ein Entkommen bringen würde.

»Es gibt da ein paar Fragen, auf die du mir Antworten liefern wirst«, begann Atame.

Ein Echo aus einer anderen Zeit driftete zu Belac, und jetzt hatte er wirklich gegen ein Grinsen zu kämpfen. Jiras und er auf verfeindeten Seiten, und Kevena höchstpersönlich hatte Belac den Gegner ausgeliefert. Nur dass Jiras sich keinesfalls als wehrloser Gefangener gesehen hatte:

»Was ich wissen möchte …«

»Wollknäuel«, unterbrach Jiras ihn lächelnd. »In jeder gewünschten Größe herstellbar und weich genug, um als weibliche Brust durchzugehen.«

Zu gerne hätte Belac nun Atames Einleitung ebenso schlagfertig gekontert, aber an Jiras‘ Frechheit und Schlagfertigkeit würde er niemals heranreichen. Also beschränkte er sich auf einen düsteren Blick.

Er wurde angenehm überrascht, als Tadoz an das Gitter drängte, die Finger um die Stäbe krallte und rau hervorstieß: »Wo ist meine Tochter?«

Wilnes hob langsam den Kopf. Die ganze Haltung straffte sich ein wenig. Er presste die Lippen fest zusammen, als wollte er verhindern, dass ihm eine Äußerung entschlüpfte.

Belac erfasste, dass sie nun zu dritt auf Jiras hofften, dass Wilnes trotz seines erbärmlichen Zustands und der offensichtlich hoffnungslosen Lage begriffen hatte, dass sein Brief, die Aufforderung an Tadoz, die Tochter mitzubringen, verstanden worden war.

»Eine reizende junge Dame. Ein wenig schüchtern für meinen Geschmack. Ihre Mutter muss eine Schönheit gewesen sein«, bemerkte Atame.

Diese Beleidigungen kamen mit auf die Rechnung, die Belac hoffte, dem Fürsten in Bälde präsentieren zu können. Er selbst blieb sitzen, schonte seine Kräfte und blickte Atame nur an. Er war die stumpfe Waffe, und der Fürst durfte ihn gerne als nichts weiter einstufen.

Atame lächelte kühl. »Sie ist unversehrt und in einem sicheren Gemach. Noch, Rat Tadoz. Viel hängt von dir ab.«

»Ich bin Ratsherr der Königin.«

»Ja, Wilnes‘ Schwiegertochter … Da liegt das Problem. Wie leicht ist es einem Ratsherrn gefallen, einem alten, geistig nicht mehr ganz auf der Höhe stehenden Mann einzureden, Lesina als Erbin einzusetzen? Wie viel leichter noch, als einem Sterbenden dumme Ideen in den Kopf zu setzen, selbst das Testament aufzusetzen und den gewünschten Namen einzutragen, um über eine solche Marionettenkönigin die eigene Macht zu mehren? Das sind Fragen, die im ganzen Reich erörtert werden, Rat Tadoz.«

»Das ist eine böswillige Unterstellung!«, brauste Wilnes auf und offenbarte einen Kampfgeist dabei, den Belac ihm schon nicht mehr zugetraut hatte. »Unsere Königin ist die Tochter des Seefürsten …«

»Ja, ich weiß. Ich kenne den Stammbaum der Dame. Witwe deines einzigen Sohnes, Rat Wilnes. Tochter von Celon, Mutter eines hoffnungsvollen Knaben. Doch der Verdacht bleibt und klebt an dir. Sie ist von niederem Adel und simplen Geistesgaben, vollkommen ungeeignet, um als Mutter des nächsten Erben, der ebenfalls von dir erzogen und lenkbar gemacht wird, auf dem Thron zu sitzen und auf ihre Räte zu hören.«

»Nichts dergleichen!«, schäumte Wilnes in ohnmächtiger Wut weiter, dem es dabei gewiss auch um das eigene Ansehen ging.

»Ich sammle Beweise. Und für ein gewisses goldlockiges Mädchen mit ansehnlichen Kurven hoffe ich doch sehr, dass Rat Tadoz ebenso an der Wahrheit gelegen ist wie mir. Du brauchst Bedenkzeit, Tadoz, um dir alle Einzelheiten wieder ins Gedächtnis zu rufen, ich weiß. Derweil werden wir uns mit – Belac, richtig? – dem sogenannten Ritter der Königin unterhalten, was er zur Wahrheitsfindung beizutragen hat.«

»Du denkst wirklich, wenn du die Königin vom Thron stößt, dass das Reich dich krönen wird?«, fragte Tadoz, und beinahe klang es, als würde er mühsam ein Lachen zurückhalten.

Belac musterte den Fürsten. Irgendwie hatte er eher damit gerechnet, dass Atame Spione einschleusen und hohe Ämter mit seinen Vertrauten besetzen würde. Sogar einen Versuch, um Lesina zu werben, hatte er ihm zugetraut, doch dieses Spiel war neu.

»Davon gehe ich aus. Tadoz, sei kein Narr und mach die Augen auf. Ich bin der Letzte, der noch einen Thronanspruch geltend machen kann.«

»Sehr glaubwürdig, nachdem du das Testament anfechten willst.«

»Das werde nicht ich erledigen, keine Sorge. So viel Weitsicht darfst du mir gerne zutrauen. Torego versuchte, den Thron mit Gewalt an sich zu reißen. So dumm bin ich nicht. Aber ich habe euch beiden gesagt, was ich für notwendig erachtete. Belac, du darfst dich erheben, wenn ein Fürst mit dir spricht.«

Belac stieß einen Seufzer aus und erhob sich langsam. Ein kleiner Genuss wurde ihm zuteil, als Atame die Lippen fest aufeinander presste, da er zu Belac aufblicken musste.

Ein Wink, und die Soldaten traten vor. Das Türschloss wurde entriegelt.

»Ich habe da ein paar Fragen«, sagte Atame.

»Sie werden auch durch wiederholte Ankündigung nicht spannender«, versetzte Belac. Nicht ganz so schlagfertig wie etwas, was Jiras dem Fürsten vor die Füße geschleudert hätte, aber besser als nichts.

Atame lächelte. »Auch dich kriege ich klein.«

 

Jiras schlich eine Wendeltreppe hinab und lugte ein Geschoss tiefer vorsichtig in eine öllampenbeleuchtete Halle. Keine Wachen in Sicht. Bislang hatte sein ganzer Ausbruch keinen Aufruhr verursacht, was ihn auf höchste Aufmerksamkeit seitens Alakanta hoffen und gleichzeitig befürchten ließ, dass das dicke Ende noch kam. Er war sich bedauerlicherweise nicht sicher, in welchem Stockwerk des bulligen Wohnturms er sich befand, wusste aber, dass es vom zweiten Stock aus über ein alleine der Fürstenfamilie vorbehaltenes Heiligtum eine Verbindung zur Wehr gab. Auf jeden Fall ein besserer Weg als durch die Haupttür hinaus und quer über den Hof an der Brandruine vorbei zum Eingang in die Kerker, wie Jiras fand.

Nach den Grundrissplänen, die er verinnerlicht hatte, sah diese kleine Halle vielversprechend aus. Also lauschte Jiras noch einen Augenblick, bevor er sich zierlichen Schritts, falls in einem uneinsehbaren Winkel doch noch jemand lauern sollte, vorwärtswagte. Grear folgte ihm dichtauf, und beinahe meinte er, den hämmernden Herzschlag der Zofe zu hören.

»Fräulein Naseweis! Wo denkst du, gehst du hin?«, donnerte unerwartet eine Männerstimme durch den Vorraum, als Jiras gerade meinte, einen Erfolg verheißenden Torbogen entdeckt zu haben.

Grear schnappte nach Luft, und Jiras wirbelte herum, die Armbrust noch in den Falten des Rocks verborgen.

Ein Soldat stürmte aus einem zweiten Treppenhaus. Der Mann hatte seine Waffe nicht gezogen und sah entrüstet aus, was Jiras kurz zögern ließ, ob er den Soldaten einfach umbringen sollte. Außerdem fürchtete er einen Alarm, denn die Stimme des Mannes war bestimmt auch in einem Stockwerk tiefer zu hören gewesen. Dann war es auch schon zu spät, und eine kraftvolle Hand schloss sich um Jiras‘ Oberarm.

Die Augen des Fremden weiteten sich. Natürlich, am Handgelenk konnte jeder Jiras gerne packen, da fielen die körperlichen Unterschiede zu einer Frau nicht wirklich auf. Er riss den freien Arm mit der Armbrust empor, als es ein dumpfes Geräusch gab und der Soldat sich mittels eines formvollendeten Bauchklatschers zu Jiras‘ Füßen niederlegte.

Grear blickte grimmig auf ihren gefällten Gegner nieder.

»Sehr gut! Das hast du ganz hervorragend gemacht«, meldete sich eine weibliche Stimme aus der Richtung des Torbogens, den Jiras hatte ansteuern wollen. Eine junge Dame trat aus dem Schatten. Ihr Reifrock übertraf das von Jiras getragene Modell noch an Umfang. Dunkle Augen blitzten vergnügt, und in einer schmalen Hand hielt die Frau ein Holzscheit, das offenkundig aus einem Feuerholzvorrat stammte.

Sie ließ das Brennholz nun fallen. »Du Arme! Du bist die Tochter des Rats, nicht wahr, den mein liebreizend Onkelchen«, aus ihrem Mund klang das spöttische Kosewort wie die einzelheitenreiche Beschreibung einer entstellenden Krankheit, »hat verhaften lassen! Deine Zofe ist sehr patent! Komm schnell, ich bringe dich in Sicherheit!« Mit diesen Worten trippelte sie näher und legte vertraulich einen Arm um Jiras‘ Mitte, bevor dieser noch irgendwelche Abwehrmaßnahmen ergreifen konnte. Ihm stand bei dieser neuerlichen Entwicklung beinahe der Mund offen, woran die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der die junge Frau sich auf extrem hohen Absätzen bewegte, Anteil hatte. Jiras konnte auf hochhackigen Schuhen laufen, aber bei dieser Frau vermutete er, dass sie Rennen gewinnen könnte.

»Wer bist du?«, brachte er hervor.

»Atames Nichte. Ich zerbreche mir schon den ganzen Abend den Kopf, wie ich dich befreien kann. Allerdings sperrt Onkelchen mich in meine Zimmer ein, und meine Zofe – lass dir das gesagt sein – steht auf seiner Lohnliste. Aber einer meiner Vertrauten ließ mir eine Nachricht zukommen, deswegen habe ich mir meinen Weg mit einem Stück Holz gebahnt. Ich lasse mich nicht länger meiner Rechte berauben, und immerhin kann ich dich so in Sicherheit führen. Ist das nicht aufregend? Ein Ritter der Königin! Endlich tut sich etwas. Ich wollte durch das Heiligtum auf die Wehr. Ich habe Verbündete in der Burgbesatzung. Komm, wir können hier nicht herumstehen. Im Heiligtum sind wir für den Augenblick sicher, damit ich dir alle Fragen beantworten kann. Arme! Ich hoffe, Onkelchen hat dir nicht zu viel Angst gemacht.«

Sie zog, und da Grear offenbar beschloss, der jungen Dame zu vertrauen, und dementsprechend schob, gab Jiras der doppelten weiblichen Gewalt leicht verdattert nach.

Es ging durch den Torbogen, einen Flur entlang direkt in das Heiligtum. Grear schloss die Tür, und bevor Jiras etwas sagen konnte, hatten die beiden Frauen sich schon mit einem Blick verständigt und rückten mit vereinten Kräften eine Truhe, in der sich wohl Weihegegenstände befanden, vor die Pforte.

Im klaren Licht der Kerzen entpuppte Atames Nichte sich als drahtige Gestalt, die keine Aussicht hatte, das derzeit vorherrschende Ideal einer Sanduhrfigur zu erreichen. Messingfarbene Löckchen umrahmten ein herzförmiges Gesicht, das von dunkelblauen Augen beherrscht wurde und einen starrsinnigen Zug um den Mund aufwies.

Die junge Frau wandte sich wieder Jiras zu und entdeckte nun die Armbrust. »Dein Vater scheint ein ungewöhnlicher Mann zu sein! Du bist bewaffnet!« Ihr Blick flog über Jiras, und beim Anblick von dessen goldblondem Haar verzog sie verdrießlich den Mund.

»Warum sperrt Atame dich ein?«, fragte Jiras.

»Ich bin die Alleinerbin meines Vaters. Ich bin Arfina von Kastol-Atame. Mein Vater war der jüngere Bruder des Fürsten.«

»Und du bist nun sein Mündel?«

»Unsinn. Ich bin großjährig. Aber da Atame keine Kinder hat, bin ich auch seine Erbin, und natürlich will er mich mit irgendjemandem verheiraten, der ihm in den Kram passt. Und obwohl ich keine Beweise habe, weiß ich, dass mein Vater nicht während der Jagd einen dummen Unfall erlitten hat. Er war schon immer beliebter als Atame und war sein Erbe. Die beiden konnten sich noch nie ausstehen, also hat Onkelchen einen unliebsamen Konkurrenten ausgeschaltet, um seine Finger auf mein Vermögen legen und mich in seine Gewalt bringen zu können. Aber jetzt bin ich entwischt. Er hat seine Truppen auf die Ratsherren und den Ritter angesetzt – und natürlich auf dich. Das hat mir eine Gelegenheit verschafft, meine Zofe und meine Wächter niederzuschlagen. Dumm, dass ich das Holz habe fallen lassen. Aber ich bin sicher, dass ich etwas anderes finde. Obendrein bist du bewaffnet und hast deine Zofe. Meine Leute warten nur auf ein Signal von mir. Wir befreien deinen Vater!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739409818
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Februar)
Schlagworte
schwul Fantasy Gay Romance Romance Liebe gay Liebesroman Roman Abenteuer

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Nach zahlreichen Geschichten, die ich rückblickend als „Versuche, das Schreiben zu lernen“ bezeichne, habe ich neben meinen bisherigen und zukünftigen Verlagsveröffentlichungen das Abenteuer Selfpublishing für mich entdeckt. Ich schreibe Fantasy in allen möglichen Richtungen: Urban, Geistergeschichten, Gay Romance und Heroic Romance und noch viel mehr.
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Titel: Magiefunken I