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Königsmacher

Der Magie verfallen I

von Tanja Rast (Autor:in)
235 Seiten
Reihe: Der Magie verfallen, Band 1

Zusammenfassung

Der Magie verfallen – das ist eine Gay-Fantasy-Reihe um Krieger und Magier, Priester und Diebe. Jeder Roman erzählt die Romanze zweier gegensätzlicher junger Männer – zwischen Gefahren, Abenteuern und großen Gefühlen.

Jiras und Belac sind Spitzel und Saboteure – und Meister ihres Fachs. Ausgesandt von verfeindeten Fürsten, die nur darauf lauern, die Nachfolge eines erbenlosen Königs an sich zu reißen, prallen die grundverschiedenen Männer inmitten des Intrigenspiels aufeinander.
Aus augenblicklicher Faszination füreinander wird rasch mehr. Doch zwischen Verschwörungen, zerstörerischer Magie und einer schier unlösbaren Aufgabe scheint die verbotene Liebe zum Scheitern verurteilt. Können Belac und Jiras angesichts des drohenden Thronfolgekriegs tatsächlich Diensteide und Loyalität über Bord werfen, um ihren ganz eigenen Weg zu gehen? Die Romane können unabhängig voneinander und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Alleine die Kurzgeschichtenbände Magiefunken machen mehr Spaß, wenn vorher die dazugehörigen Romane gelesen wurden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Das blonde Verhängnis

Die große Halle ähnelte an diesem Abend mehr denn je einem funkelnden Juwel, fand Belac. Auf den Wehrgängen der Festung brannten nur wenige Feuer in eisernen Körben, doch die Halle schien zu glühen. Ihre Fassade war mit Öllampen behängt, die auch den gepflasterten Hof beleuchteten. In rascher Folge fuhren Kutschen vor, und es herrschte eine Betriebsamkeit wie kurz vor einer feindlichen Attacke. Nur dass die Ankommenden geladene Gäste waren, die umsorgt wurden wie eine Bande Kleinkinder.

Die Wagen hielten vor der teppichbedeckten Haupttreppe, setzten ihre kostbare, seidengekleidete Fracht ab und wurden dann zu den Stallungen weitergeleitet. Die Pferdeknechte und Wachposten hielten sich natürlich im Hintergrund, aber Belac wusste, dass er nur außerhalb der Lichtkreise der mannshohen Fackelständer bleiben musste, um seine eigene Unsichtbarkeit leisten zu können. Nicht nur gegenüber Gästen und deren Kutschern, sondern auch gegenüber den anderen Bediensteten der Festung.

Derzeit harrte er im Schatten einer Mauer aus und betrachtete das Kommen und Gehen vor dem Portal. Männer in Kniehosen, die Waden in eng anliegenden Seidenstrümpfen; kunterbunt bestickte Westen über gestärkten Hemden, Spazierstöcke, Juwelen und Arroganz. Der Adel des Reichs, der dem Ruf des Fürsten von Torego zu einem Abend der sinnlosen Geselligkeit folgte. Damen in hochgeschlossenen Kleidern über lächerlichen Reifröcken, noch mehr Edelsteine, Gold und Silber, Fächer, hochhackige Schuhe und parfümumwölktes Geschwätz.

Ein leichter Zweispänner hielt, Lakaien rissen den Schlag auf und stellten einen Tritt davor, um dann einer jungen, hochgewachsenen Frau mit goldblonden Locken beim Aussteigen behilflich zu sein. Mit rauschenden Röcken, den Kopf nahezu königlich erhoben schwebte sie auf den blauen Teppich, strich ihren weit ausladenden Rock glatt und entfaltete ihren Fächer. Ein Blick ringsum, als würde das Anwesen ihr gehören, dann schritt sie unter den Baldachin und verschwand im Haus.

Belac wartete gelassen ab, bis eine weitere Kutsche die Person ablud, auf die er gewartet hatte. Adlernase, schwarzes Haar, stechende Augen. Breite Schultern und muskulöse Beine, die einen Krieger verrieten, wo Seide und Brokat ihn zu verbergen suchten. Belac lächelte.

Duenas, der Mann für alle Fälle. Der Kopf hinter Toregos Netzwerk von Spionen. Ein paar Schritte daneben stand ein älterer Mann, von dem Belac nur wusste, dass er Avigeo hieß und ebenfalls zu Toregos innerem Kreis gehören musste.

Lange genug hatte Belac es in der ihm fremden Festung ausgehalten, in die er sich als Mitglied der fürstlichen Garde eingeschlichen hatte. Tag für Tag hatte er sich beweisen müssen, Treue demonstrieren, das Vertrauen der anderen Gardisten erkämpfen, bis sie ihn wirklich als einen der Ihren ansahen. Aber es hatte sich gelohnt. Er kannte diese Festung in und auswendig. Die Pläne des Wohnturmes hatte er so oft studiert, dass jeder Flur, jedes Zimmer sich in sein Gedächtnis gebrannt hatten. Und das alles nur für diesen Ball, für diese eine Gelegenheit, Duenas endlich leibhaftig zu begegnen.

Er lächelte, stieß sich von der Wand ab und hielt sich auch weiterhin außerhalb der Lichtkreise der Fackeln, bewegte sich so gut wie lautlos an der Seite der großen Halle entlang. Das war das einzig Gute an einem Dasein als Gardist: Niemand schenkte einem solchen auch nur einen zweiten Blick oder gar einen Gedanken. Soldaten waren einfach allgegenwärtig und stets zur Hand, um die Drecksarbeit zu erledigen. Aber sie waren nicht wichtig, sondern entbehrlich, nur austauschbare Gesichter unter Helmen. Belac fand eine solche Einstellung hilfreich und sehr dumm – vor allem angesichts der Lage des Königreichs. Aber ihm kam das alles entgegen. Vielleicht würden schon am nächsten Morgen Köpfe rollen und sich alles ändern, doch dann war er schon weit weg und mit Nachricht auf dem Weg zu seinem eigenen Fürsten.

Ein Treppenturm verband Halle und Wehr. Belac stieg gemächlich hinauf und nutzte dann die kleine Pforte auf halber Strecke, die ihn auf eine Galerie oberhalb der Halle entließ. Diese Empore lief einmal um die Halle herum. Auf der anderen Seite, die an den Wohnturm grenzte, spielte eine Kapelle zum Tanz auf.

Unter Belac nur Wogen von Seide, Spitze und teurem Parfüm, das bis in die Deckenbalken stieg und die Luft klebrig machte. Er blieb im Schatten stehen, lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust, während er die Tanzenden betrachtete.

Goldflirrend das Mädchen, das ihm vorhin schon aufgefallen war. Ihre Röcke wogten, während sie sich im Kreis wirbeln ließ. Belacs Blick glitt weiter, bis er Duenas fand, der sich bei der mit Erfrischungen hoch beladenen Tafel aufhielt, ein Glas in der Hand, das Adlergesicht kalt wie immer. Neben ihm stand einer der kleinen Landherren, in der Rangfolge des Adels ein funzeliges Lichtlein ganz am Ende der Leiter. Nur eine Handbreit befand ein solcher sich über den reichen Händlern, von denen ihn meist nur sein Titel unterschied. Oder von Großbauern. Aber ein Titel war ja so kostbar, selbst wenn der Landherr morgens persönlich zum Melken der Kühe in den Stall ging. Belac kräuselte verächtlich die Lippen.

Er sah eine Geldbörse von Hand zu Hand wandern. Duenas nutzte den Ball, um Loyalität zu erwerben, natürlich. Jeder Gekaufte verstärkte das Heer des Fürsten Torego. Belac hielt Ausschau nach dem hohen Herrn und entdeckte ihn schließlich im lebhaften Gespräch mit dem Blondköpfchen, das sich eifrig Luft zufächelte und sehr aufgeregt schien. Torego streichelte ihren Arm und schien geneigt, die Kleine noch ein wenig mehr abzutasten. Sie erteilte ihm eine Abfuhr, indem sie den Fächer zuschnappen ließ und dem Fürsten damit einen Klaps auf die Hand gab. Immerhin schien Torego ausreichend interessiert, dass er lachte. Sah gezwungen aus. Wahrscheinlich platzte der Kerl gleich aus seiner Hose.

Statt weiter auf Tuchfühlung zu gehen, führte er die Schöne zu Duenas. Belac hob die Augenbrauen. Damit hatte er nicht gerechnet. Wer mochte die Kleine sein? Tochter eines Verwesers? Oder – so gewandt, wie sie sich in fast reiner Männergesellschaft bewegte – die Witwe eines solchen? Mehr auf jeden Fall als weiblicher Anhang eines Landherrn, dessen war sich Belac sich sicher.

Torego wandte sich anderer Beute zu, und das Mädchen sprach mit Duenas. Ein lebhaftes, waches Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem angenehmen Schimmer von Sonnenbräune. Schließlich verneigte Duenas sich leicht vor der Frau und reichte ihr den Arm, um sie aus der großen Halle zu führen.

Belac trat hastig den Rückzug an, rannte die Stufen ganz hinauf und eilte die Wehr entlang, die oberhalb des Dachs der großen Halle verlief. Der Wohnturm, natürlich. Duenas würde dort Quartier zugewiesen bekommen haben, und wo sonst konnte er sich ungestört mit der kleinen Blonden unterhalten – oder mehr? Das passte ganz gut zu Belacs Vorhaben. Männer neigten danach zu einer gewissen zufriedenen Benommenheit. Das machte Belacs Aufgabe leichter.

Zwischen Halle und Wohnturm gab es eine Holztreppe, die zur Plattform vor dem Eingang im ersten Stock führte. Alles Material, das im Falle eines Eindringens von Feinden in die Festung abgerissen werden konnte, um den Zugang zum Turm so beschwerlich wie möglich zu gestalten. Belac blieb kurz lauschend stehen, aber Duenas und das Mädchen hatten den Turm schon betreten, sonst würde er ihre Schritte auf dem Holz vernehmen. Gut so. Zuschlagen konnte er ohnehin erst, wenn das Mädchen das Zimmer verließ. Aber mit der unfreiwilligen Hilfe der Kleinen konnte er das Gemach leichter ausmachen. Ein paar Worte würde Duenas schon mit der Blonden wechseln, und das genügte Belac.

Leise eilte er über die Plattform und schlüpfte in den Wohnturm. Nicht einmal mehr Geräusche auf der steinernen Treppe. Er stieg die Stufen hinauf in den dritten Stock, in dem sich die Gästezimmer befanden. Doch bevor er noch die Wendeltreppe verlassen konnte, vernahm er das harte Klappern hoher Absätze und das Rauschen von Seide, die gegen das Mauerwerk rieb.

Verdutzt blieb Belac stehen, und da kam ihm die zu all dem Lärm zugehörige Frau schon entgegen. Das markante Gesicht ausdruckslos, die vollen Lippen halb geöffnet, eine Hand im Spitzenhandschuh in die Seide des Rocks gekrallt, um diesen am wilden Pendeln zu hindern. Kaum sah die Kleine Belac, blieb sie stehen und atmete tief ein. Die beträchtliche Oberweite hob sich dabei sichtlich. Belac legte den Kopf ein wenig schief. An wen erinnerte das Mädchen ihn, das nun den Kopf in großartiger Arroganz hob und den vermeintlichen Gardisten streng musterte, auf dass er ihr Platz mache?

Er lächelte. Natürlich. So hatte er sich immer Kevena, die Göttin des Krieges vorgestellt. Ein wenig zu groß, um gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen, starker Knochenbau und kalte Schönheit kombiniert mit üppigen weiblichen Rundungen.

Offenkundig dauerte der Dame dieser kurze gedankliche Ausflug in die Welt der Götter und Göttinnen zu lange, denn sie stieß aus: »Nun? Merkst du nicht, dass du im Weg bist?« Eine rauchige Stimme, die in jede Silbe die Privilegien von Jahrhunderten legte.

Belac biss die Zähne zusammen und neigte im Anschein von höflichem Gehorsam den Kopf. Erzwungenermaßen – der ausladende Reifrock beanspruchte die gesamte Breite der Wendeltreppe – trat er den Rückzug an bis zum Torbogen in den zweiten Stock. Dort durfte die Schöne passieren, die ihm nicht einmal einen Blick oder gar Dank gönnte, sondern stolz wie eine Königstochter die Treppe weiter hinabstieg.

Nur dass der König nicht einmal eine Tochter vorweisen konnte. Belac schüttelte den Gedanken ab und eilte die Treppe wieder hinauf. Dass er hier gesehen worden war, gefiel ihm weniger, aber wenn er nun zügig handelte, wartete im Stall ein schnelles Pferd auf ihn. Sein Gepäck – viel war es ohnehin nicht – stand ebenfalls bereit, um einen nächtlichen Abritt im Kielwasser der abrollenden Kutschen zu ermöglichen.

In der kleinen Halle im dritten Stock verharrte er, sah sich um und bemerkte, dass eine der Türen nicht ganz verschlossen war. Belac zog seinen Dolch und schlich näher, blieb lauschend stehen. Kein Geräusch aus dem Zimmer, doch ein wenig Licht von einer Öllaterne fiel in die Halle. Behutsam drückte er die Tür ein wenig weiter auf, um sie dann mit Schwung und einem Ruck ganz zu öffnen.

Eines der fürstlichen Gästezimmer, unverkennbar und wie auf den Grundrissplänen vermerkt. Ein Himmelbett, einige Truhen und ein lustiges tanzendes Feuer im Kamin. Richtig heimelig. Abgerundet durch einen Tisch, der als Abstellplatz für die Öllampe herhalten musste. Sonst nichts, so schien es. Aber Belac witterte über dem sanften Parfümduft des Mädchens und dem Geruch des Feuers noch etwas anderes.

Er trat vor, umrundete das Bett und blieb erschrocken stehen. Duenas. Wundervoll reglos, so vollkommen tot, wie Belac ihn hatte verlassen wollen. Ein sauberer Kehlschnitt. Belac schnappte nach Luft, zählte zwei und zwei zusammen, fügte noch eine Zwei hinzu und begriff, dass er jetzt sehr schnell sein musste. Wer auch immer die blonde Schöne war, sie wäre selten dämlich, nicht Alarm auszulösen und Belac die Schuld an Duenas’ verfrühtem Ableben in die Schuhe zu schieben. Besser konnte sie sich gar nicht aus der Affäre ziehen.

Er wirbelte herum und begriff, dass die Kleine noch schneller als erwartet gewesen war. Offenbar konnte sie verdammt rasch denken und ihre Vorteile ruchlos ausnutzen. Denn in der Tür standen zwei Soldaten der Festung mit angelegten Armbrüsten, daneben der Kommandant der Garde. Dieser trat vor, schlenderte mit einem Sicherheitsabstand an Belac vorbei und warf einen Blick auf den Toten. Leise pfiff der Mann durch die Zähne, was Belac so unpassend erschien, dass er gegen ein Grinsen ankämpfen musste.

»Lass die Waffen fallen!«, befahl der Kommandant hart. Dann spuckte er aus. »Ein Verräter in den Reihen meiner eigenen Garde!«

»Ich fand den Mann tot vor. Ich war auf der Wehr und glaubte, einen Ausruf gehört zu haben«, versuchte Belac, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er wusste, dass das Unterfangen zum Scheitern verurteilt war, aber die Instinkte und Erfahrungen der letzten Monate sprangen ihm bei.

»Sicher. Lass die Waffen fallen. Du bist verhaftet und wirst dich morgen vor unserem Fürsten rechtfertigen müssen.«

Belac zuckte die Schultern und entledigte sich des Dolchs und des kurzen Gardeschwerts. Ohnehin eine plumpe, hässliche Klinge.

Der Kommandant packte Belac am Oberarm und zerrte seinen Gefangenen mit sich, der willig genug mitging. Auf der Wendeltreppe mochte sich vielleicht eine Gelegenheit … Nein, denn dort standen noch zwei Soldaten. Fünf Gegner, zwei davon mit dämlichen Armbrüsten, die selbst in der Enge des Treppenturmes noch effektiv sein konnten. Belac gab sich so fügsam wie möglich. Er ließ sogar den Kopf ein wenig hängen. Sich hoffnungslos geben, um die Wachsamkeit der Gardisten zumindest ein wenig erlahmen zu lassen, darin sah er im Augenblick seine einzige Möglichkeit auf Erfolg.

»Kommandant, wirklich, ich sage die Wahrheit«, murmelte er so kleinlaut wie möglich.

»Das kannst du morgen dem Fürsten erzählen!«, schnappte der Mann zurück.

Belac ließ die Schultern nach vorne sinken, dann warf er sich mit vollem Gewicht zur Seite, um den Kommandanten zwischen der eigenen Masse und der Außenwand einzuklemmen. Er hörte, wie dem Kerl beim Aufprall aller Atem aus dem Körper gedrückt wurde, duckte sich unter einem Armbrustbolzen weg, der einen der Soldaten vorne durchbohrte, packte die Waffe des zweiten Schützen und stieß sie beiseite.

Steinsplitter prasselten gegen seine Wange, als der Bolzen ins Mauerwerk einschlug. Der Schütze wollte die nun leere und nutzlose Armbrust nicht loslassen, und so riss Belac ihn samt der Waffe herum, wischte dabei den ersten Schützen beiseite und die Treppe hinab und schleuderte den zweiten gegen den Kommandanten, der sich gerade wieder aufzurappeln versuchte. Jetzt ließ der Soldat los, und Belac nutzte die Armbrust wie eine Keule, um jeden, der noch bei Bewusstsein war, ins Reich der Träume zu senden.

Einen Augenblick stand er noch still da, atmete tief und bewusst und grinste dann beinahe wider Willen. Das war alles andere als lautlos gewesen, und er sollte sich jetzt besser beeilen. Er ließ die Armbrust fallen, bewaffnete sich mit Dolch und Schwert des Kommandanten und sprang über die Niedergemachten hinweg, bis er wieder feste Steinstufen unter den Stiefeln spürte.

Das Pferd im Stall, das Gepäck – alles verloren, denn es dauerte zu lange. Belac öffnete die Tür zur hölzernen Plattform, spürte um sich herum die Unruhe von Soldaten, die meinten, etwas gehört zu haben – aber noch keine Befehle erhalten hatten und sich nun fragten, ob Gefahr für sie persönlich bestand.

Noch schützte die Gardeuniform Belac, und er zwang sich, Plattform und Holzleiter zügig, forsch, aber nicht hastig hinter sich zu bringen.

Gerade rollte eine leichte Kutsche mit vier wundervollen Grauschimmeln vor die große Halle.

Ach, warum denn nicht?

Belac verlängerte seine Schritte, rang die Atemlosigkeit nieder, die ihn immer noch vom Kampf her verfolgte. Wachsam behielt er seine Umgebung im Auge, sah den prunkvollen Adligen aussteigen und im gleichen Moment die blonde Mörderin unter dem Baldachin auftauchen, als wollte sie sich überzeugen, dass ihr Plan aufgegangen war. Die leuchtend grünen Augen unter den geschwungenen Brauen weiteten sich, als das Mädchen Belac eindeutig erkannte. Nun, das entschied sein Fluchtmanöver.

Die Kutsche rollte wieder an, um in Richtung der Stallungen gefahren zu werden. Belac packte einen Metallbeschlag und zog sich behände auf den Kutschbock, stieß den verdutzten Mann darauf zur Seite und packte die Fahrleinen.

Hinter sich hörte er ein Lachen. Das Mädchen. Wie gerne würde Belac die Kleine erwürgen. Er vernahm Warnrufe, ließ die Fahrleinen auf die Rücken der Pferde klatschen und feuerte die Tiere mit einem Ruf an. Galopp vor der Kutsche waren sie bestimmt nicht gewohnt. Adlige wurden nicht gerne durchgeschüttelt. Aber die Schimmel sprangen vorwärts, als hätten sie ihr Leben lang nur auf diese Gelegenheit gelauert.

Die Hufe hämmerten auf dem Kopfsteinpflaster. Soldaten sprangen beiseite, als das dahinfliegende Gespann auf sie zudonnerte. Durch das Torhaus, über die Zugbrücke, bevor irgendjemand noch begreifen konnte, was da eigentlich genau vor sich ging. Kaum auf der Straße angekommen, streckten sich die Grauschimmel erst richtig. Belac erkannte, dass die Bande gerade mit ihm durchging. Feurige Rennpferde aus der Ebene, auf Schnelligkeit und Mut gezüchtet, und jetzt lagen ihre Fahrleinen in den Händen eines Mannes, der noch nie zuvor etwas Schnelleres als einen Ochsenkarren gelenkt hatte.

Der Fahrtwind trieb Belac Tränen in die Augen. Auf Dauer würde ein Kutschgespann berittenen Verfolgern unterlegen sein. Und er musste sich etwas einfallen lassen, wie er das auffällige Gefährt loswurde, ohne sich erneut in Gefahr zu bringen. Zumindest der Auftrag war abgeschlossen. Anders als erwartet, aber das zählte jetzt nicht. Darüber und über die junge Frau konnte er sich später den Kopf zerbrechen. Sobald er herausgefunden hatte, wie er vier entfesselte Rennpferde zum Anhalten bewegen konnte …

 

Jiras lehnte sich mit einem wohligen Aufseufzen in die weichen Polster, streckte die Beine aus und beschloss, den Luxus einer gut gefederten Kutsche voll auszukosten. Bedauerlich nur, dass ihm dafür nicht viel Zeit blieb.

Er setzte sich auf, schnappte mühsam nach Luft und trat sich als Erstes die hochhackigen Schuhe von den Füßen, krümmte die Zehen und stöhnte leise. Alles hatte seinen Preis. Er selbst ebenfalls, und seine Fähigkeiten wurden großzügig entlohnt – auch durch Schutz. Nicht zu verachten.

Der Schmuck landete in einer kleinen Schatulle, dann flogen die Spitzenhandschuhe zu Boden, und Jiras arbeitete sich die Front des Kleides hinab, einen winzigen Knopf nach dem anderen. Die Wollknäuel fielen zu Boden, und endlich konnte Jiras das Korsett aufhaken. Luft! Er füllte seine Lunge gierig und genoss das Gefühl von Freiheit, bevor er aufsprang und das Kleid abwärts streifte, bis es in schimmernden Seidenwogen den Boden der Kutsche bedeckte. Spitzenbänder hielten die langen Strümpfe am unteren Saum des Korsetts, und endlich wurde Jiras den ganzen Putz los und fühlte Nachtluft erfrischend auf der nackten Haut.

Er zerrte die Nadeln aus dem hochgesteckten Haar, raffte die Locken zusammen zu einem strengen Pferdeschwanz, flocht den Zopf und knotete ein weiteres schwarzes Band an dessen Ende. Ein nasser Lappen, der neben dem Schmuckkästchen auf Jiras gewartet hatte, entsorgte die dezente Schminke, die aus einem gut geschnittenen Männergesicht eine markante weibliche Schönheit gemacht hatte. Dann endlich konnte Jiras in seine eigene Kleidung schlüpfen, vertrautes Leinen auf der Haut, Platz zum Atmen und – ganz wichtig – lange Stiefel ohne Absätze, sondern mit weichen Ledersohlen. Eine Wohltat für malträtierte Füße.

Jiras schloss die Knöpfe der Stiefel, zerrte die Marschriemen fest und legte seinen Waffengurt an, bevor er sich einen dunklen Mantel um die Schultern warf und die Kapuze über den Kopf zog. Jetzt konnte er sich erneut in den gepolsterten Sitz kuscheln, um so lange wie möglich die Fahrt zu genießen und sich von den Aufregungen des Abends zu erholen, bevor der Kutscher ihn irgendwo im Nirgendwo aussetzen würde.

Das Schaukeln der Kutsche wirkte einschläfernd. Bilder vom Ball tanzten vor Jiras’ innerem Auge, während er sich den Kopf darüber zerbrach, wo dieser Gardist hergekommen, wieso der Kerl ihm und Duenas gefolgt war. Seine Flucht konnte Jiras nur spektakulär nennen. Wenn sie denn überhaupt gelungen war. Die Garde hatte hoch zu Ross die Verfolgung aufgenommen, und ein berittenes Pferd musste einfach schneller sein als vier, die vor einem Wagen rannten.

Mit einem Ruck kam die eigene Kutsche zum Stehen. Jiras stieß ein Seufzen aus, ergriff seine Gepäckrolle und stieg wortlos aus. Natürlich nieselte es. Er zog den Mantel enger um sich und fröstelte. Im Schein der Kutschlaternen erkannte er, dass der Fahrer ihm die Richtung wies. »Halbe Meile«, knurrte der Mann, dann schnalzte er, und die Pferde zogen erneut an. Die Kutsche verschwand im Grau des Regens und der heraufziehenden Dämmerung.

Jiras blieb am durchweichten Straßenrand zurück, schwang sich den Lederriemen des Gepäcks über eine Schulter und marschierte los. Das Geräusch von Wagenrädern und Pferdehufen wurde immer leiser, bis sie vom Niesel, der sich aufmachte, ein ausgewachsener Regen zu werden, vollkommen übertönt wurden. Eine halbe Meile bei Sonnenschein stellte gar kein Problem dar. Selbst jetzt sollte sie Jiras nicht über Gebühr anstrengen, aber seine Beine waren schlichtweg müde. Er verstand zwar, warum der Kutscher ihn nicht näher zum Treffpunkt gebracht hatte - natürlich, denn ein Fußgänger konnte sich einem Gebäude einfach unauffälliger nähern -, fröhlich stimmte es ihn trotzdem nicht. Zumal die Pfützen in den Radspuren, denen er anfangs noch ausweichen konnte, immer mehr anwuchsen, bis sie ein einziges Rinnsal bildeten.

Schließlich – deutlich mehr als eine Meile Fußmarsch später – schälten sich die Konturen eines einsamen Hauses aus dem Grau des niederprasselnden Regens. Möglicherweise eine Wechselstation, vielleicht ein Gasthof, wahrscheinlicher ein Bauerngehöft. Obwohl diese – nach Jiras’ eher oberflächlich zu nennenden Kenntnisse vom Landleben – meistens inmitten Äckern und großer Stallungen standen, oder?

Er stapfte missmutig näher, erkannte nicht ein einziges Licht, das ein Willkommen in die graue Nacht sandte, und betrat endlich einen durchweichten Vorplatz und dann drei wenig vertrauenerweckende Stufen zur Haustür. Bevor er klopfen konnte, schwang die Pforte auf. Dahinter nur kalt riechende Dunkelheit und ein Schemen, der noch ein wenig schwärzer wirkte.

»Du wurdest früher erwartet.«

»Der Kutscher setzte mich ab und sprach von einer halben Meile. Ich schätze, er befand sich im Irrtum. Soll ich hier stehen bleiben?« Er gab sich redlich Mühe, gelassen zu klingen, aber der Mantel hatte angesichts des Regens kapituliert, und inzwischen war Jiras nass bis auf die Haut.

»Nein. Könnte dich jemand sehen. Komm herein.« Der Schemen trat beiseite, damit Jiras dieser Aufforderung Folge leisten konnte.

Drinnen regnete es zwar nicht, aber es erschien Jiras noch kälter als auf der Straße. Der Schemen schloss die Tür sorgfältig und ging dann voraus in einen schimmelig riechenden Raum, in dem kümmerliches Kerzenlicht die Schatten zu betonen versuchte. Die Fenster waren verriegelt und mit altem Sackleinen verhängt. Ein Sessel stand in dem Raum, und auf diesem nahm der Schemen Platz, musterte Jiras abschätzend von oben bis unten und merkte leise an: »Mir wurde zugetragen, dass du eine sehr überzeugende Frau abgibst. Ich kann es mir kaum vorstellen. Aber nun gut. Duenas ist tot? «

»Vollkommen«, antwortete Jiras, der fror und dessen Beine immer noch müde waren. Er kam sich wieder einmal schlecht behandelt vor. Ein wenig mehr Respekt hatte er sich doch wohl verdient, oder?

»Und hast du eine Ahnung, wen du da hast entkommen lassen?«

Jiras hob fragend eine Augenbraue. »Ich habe niemanden … Du meinst den Gardisten?« Er verdrängte die aufkeimenden Sorgen, die ihn schon in der Kutsche befallen hatten, weil dieser große Kerl ihm so eindeutig gefolgt war. Aber der war doch nur einer von Toregos Männern, der für seine Neugierde die Quittung erhalten hatte, weil er im Zimmer des Toten erwischt worden war. Oder? »Der war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich bezweifle, dass er weit gekommen ist, bevor die Garde ihn wieder einfing.«

»Falsch in allen Punkten, Jiras.« Ein unangenehmes Lachen erklang. »Der Mann heißt Belac. Fürst Miskels Mann für … spezielle Aufgaben. Jemand wie du. Und er ist der Garde selbstredend entkommen.«

»Ich habe darüber keine Auskünfte erhalten, bevor ich meinen Auftrag antrat. Wäre ich in Kenntnis gesetzt worden, hätte ich auf ihn achten können.« Er beherrschte sich, um nicht mit den Zähnen zu knirschen. Natürlich, auch in der Festung Torego gab es reichlich Spitzel, und einer von denen hatte das ganze Manöver beobachtet und wahrscheinlich einen Raben mit einer Nachricht ausgesandt, damit dieser Kerl hier mit Wissen protzen konnte.

»Du musst auch nicht alles wissen. Wir lassen dir die Nachrichten zukommen, die für dich bedeutend sind. Nun, jetzt ist dieses Wissen bedeutend. Sollte Toregos Garde den Kerl zu fassen kriegen, ist alles in Ordnung. Besser ist es, wenn du ihnen zuvorkommst. Besser und spurloser. Und gründlicher.«

Auf den Platz verwiesen wie ein räudiger Hund. Jiras musste die Zähne fest aufeinanderbeißen, um nicht hörbar mit ihnen zu knirschen. Der gehässige Schemen stammte aus irgendeiner Schreiber- oder Händlerfamilie. Vielleicht war diese reicher als die von Jiras. Vielleicht war verarmter Adel wirklich nichts, worauf man sich etwas einbilden sollte, aber Jiras tat es trotzdem. Er wusste, dass er seinen Stammbaum – gelangweilt und in vielen alten Büchern blätternd – bis zur Reichsgründung zurückverfolgen konnte, während der Schemen da froh sein konnte, wenn er den Namen seines Erzeugers kannte.

»Dein Hauptauftrag wird es sein, bei Fürst Atame Zugang zu seiner Privatbibliothek zu erlangen. Gib dich als Schreiber aus – oder lass dir einfach etwas einfallen.« Der Schemen erhob sich. »Ich bin beauftragt worden, dich mit einigen Münzen auszustatten.«

»Wonach suche ich genau bei Atame?«

»Ich vermute, dass einer der Kontakte vor Ort es dir sagen wird. Viel Erfolg. Oh, und denk an Belac. Unser Fürst wünscht nicht, dass der Kerl uns noch einmal in die Quere kommt.«

Jiras bekam eine schmale Börse und einen Briefumschlag ausgehändigt. Kontaktpersonen rund um Atames’ Festung. Leute, die ihm notfalls helfen würden, falls er vorzeitig verschwinden musste.

Der Schemen verschwand und ließ Jiras im kalten Haus alleine. Nach einiger Zeit vernahm er Hufschlag. Es wäre eine nette Geste gewesen, ihm ebenfalls ein Reittier zu verschaffen. Nun, je nachdem wie üppig der Inhalt der Börse ausfiel, konnte er ein Pferd kaufen oder mieten. Keinesfalls würde er das halbe Reich zu Fuß durchqueren.

Und dann blieb immer noch diese Sache mit Miskels Mann fürs Grobe. Belac. Hochgewachsen, gut aussehend und allem Anschein nach im Militär verwurzelt. Jiras wusste, wie gut er selbst darin war, seine eigene Abkunft zu verschleiern, welcher Kostümierungen er sich bedienen konnte. Steckte er in der Verkleidung als alter Mann, war er ein alter Mann. Doch dieser Belac hatte sich auch in Augenblicken, da er sich nicht beobachtet wähnte, wie ein Soldat bewegt. Musste an den ganzen Muskeln liegen.

Deutlich mehr als einen Kopf größer als Jiras und eine ganz andere Gewichtsklasse. Eine direkte Konfrontation wäre schiere Dummheit. Aber vielleicht hatte Toregos Garde den Kerl schon lange aufgespürt, sodass Jiras Belac von seiner Liste der Aufgaben streichen konnte. Das galt es, sicher festzustellen. Noch einmal würde Jiras sich nicht von einem dahergelaufenen Kontaktmann so tadeln lassen.

2.

Eine erfrischende Abkühlung

Keine Vorräte, keine Wäsche zum Wechseln und an Bewaffnung schleppte Belac nur Dolch und Schwert des Hauptmanns mit sich herum. Das war verbesserungswürdig, aber immerhin besser als die Standardausrüstung eines einfachen Gardisten. Das Schwert des Hauptmanns war sogar vernünftig ausbalanciert und ausreichend scharf.

Von dem Brustpanzer, der allzu sehr nach Uniform aussah, selbst wenn Belac alle Abzeichen entfernen könnte, hatte er sich schon trennen müssen. Beim letzten Nachtlager in weicher Erde eingegraben. Blieben Beinschienen, Armschützer und die Lederunterrüstung. Kümmerlich. Und bis zum nächsten sicheren Kontakt würde er mindestens vier bis fünf Tage unterwegs sein, zu Fuß und querfeldein. Noch befand er sich obendrein in Toregos Machtbereich, in dem jeder Mann vom bartlosen Jüngling bis zum zittrigen Greis Belacs Beschreibung in und auswendig kennen und auf eine fürstliche Belohnung scharf sein würde. Phantastische Aussichten!

Seitdem Belac die Kutsche verlassen hatte – ein kühner Sprung in eine dichte Hecke war das Mittel der Wahl gewesen, weil die Pferde schlichtweg unaufhaltsam rannten –, schlug er sich durch das Unterholz eines Waldes und hoffte beständig, nicht im Kreis zu laufen. Die Entdeckung eines breiten Bachs, der sich seinen Weg in einem tief ausgewaschenen Bett bahnte, bedeutete eine gewisse Erleichterung. Solange Belac diesen Wasserlauf nicht querte, schien es schlecht möglich, den Wald in Spiralen zu erforschen. Außerdem lockte Wasser Menschen an, sodass er hoffen konnte, irgendwann auf eine kleine Siedlung zu stoßen. Zwar musste er diese dann weiträumig umgehen, aber eine Straße, der er mit gebührendem Sicherheitsabstand folgen konnte, wäre hilfreich.

Doch bis er all das entdeckte, blieb er brav im Wald. Die umliegenden Dörfer wimmelten bestimmt nur so von Soldaten, und die Nachricht, dass ein flüchtiger Attentäter sich in der Gegend herumtrieb, hatte bis jetzt garantiert jeden Dörfler erreicht, der sich Hoffnungen auf ein Kopfgeld machte. Aber irgendwann gaben auch die eifrigsten Gardisten auf, und die ganze Aufregung würde sich allmählich legen.

Eine Nacht hatte Belac schon unter einem mit Tannenzweigen gedeckten Unterschlupf verbracht. Sein Magen knurrte, aber für den selbst gefertigten Speer hatte sich noch kein Beutetier gezeigt. Wenn er damit überhaupt etwas umbringen konnte, da es sich nur um einen Stecken mit einer durch den Dolch geschnitzten Spitze handelte. Kaninchen sausten wahrscheinlich davon, bevor Belac seine Waffe überhaupt werfen konnte. Und mit einem ausgewachsenen Wildschwein wollte er sich besser nicht anlegen.

Missmutig stapfte er weiter, hörte dem fröhlichen Murmeln des Bachs, dem Säuseln des Windes in den Baumwipfeln und besonders dem Gesang der Vögel zu. Verstummte Letzterer oder wurde von schrillem Geschrei unterbrochen, störte die gefiederte Welt des Waldes sich an etwas Ungewohntem. Bislang war Belac sich sicher, dass sie nur ihn als Störenfried ansahen.

Sein Magen knurrte lauter, und Belac näherte sich dem Bach, der breiter wurde und langsamer floss, als wollte er sich ein wenig stauen. Etwas Silbriges schoss davon, und Belac atmete auf. Fische. Nun, es war einen Versuch wert, ob er eines der Viecher mit dem Speer erwischte. Tief genug im Wald sollte er sein, um sich ein Lagerfeuer erlauben zu können. Er spürte, wie ihm das Wasser im Munde zusammenlief.

Fisch, Unterstand, Feuer, Bad. Die Wünsche eines einfachen Mannes, und Belac fand nicht einen einzigen davon ausverschämt.

Tatsächlich erreichte Belac eine kleine Lichtung, die nach dem Sturz eines uralten Baumes geschlagen worden und nun mit jungen Bäumen und Buschwerk bestanden war. Der Bach verbreiterte sich hier und füllte eine natürliche Mulde, bevor er über einige Steine unter dem gestürzten Baumriesen hinwegplätscherte. Windschutz, vielleicht ein wenig Anglerglück. Belac sah zum Himmel. Noch etwa zwei Stunden Tageslicht. Aber einen besseren Rastplatz für die Nacht würde er so schnell nicht finden. Also blieb er hier.

Er legte Waffen und Rüstungsreste ab und verstaute alles in einem Farngebüsch, bevor er zum Ufer des Tümpels marschierte und den Speer zückte. Dann versteinerte er einsatzbereit und wartete, bis die Fische sich an seine Anwesenheit gewöhnten. Selbst der Kleinste in diesem Tümpel wäre schon ein Segen der Götter, wenn der Speer ihn erwischen konnte!

Belac kannte Hunger, und das dumpfe Grollen in der Magengrube war erst eine freundliche Erinnerung an lichtlose Winter, in denen Baumrinde zerstampft und unter das ranzige Mehl gemischt wurde, um genug Brot für die ganze Familie backen zu können. An diese Zeiten wollte er nicht anknüpfen, doch Ungeduld half ihm nicht weiter. Er musste ausharren, bis der richtige Augenblick gekommen war.

Dann stach der Speer zu und bohrte sich in ansehnliche Beute. Belac atmete erleichtert auf. Und jetzt durfte er einen Feuerstein suchen, sonst gab es rohen Fisch zum Abendbrot.

 

Das Feuer brannte rauchlos und verbreitete ein klein wenig Wärme. Der Fisch war auch ungesalzen köstlich gewesen, der Unterstand war errichtet, und Belac ertappte sich dabei, immer wieder zum Tümpel zu sehen. Keine Wechselwäsche, aber ein Bad würde ihm trotzdem gut tun, beschloss er. Eine solche Gelegenheit würde sich so schnell nicht wieder bieten.

Erst am Ufer zog er sich aus und legte die Kleidung auf einen flachen Stein. Langsam watete Belac ins Wasser, bis es ihm bis zu den Hüften reichte. Dann sank er in die Knie, atmete fröstelnd ein und tauchte schließlich unter. Frisch und belebend umspülte das Wasser ihn, und er fühlte sich befreit. Morgen würde er vielleicht auf ein Dorf stoßen und sich orientieren können.

Ein Fisch schoss dicht an ihm vorbei. Eindeutig von etwas aufgeschreckt, das nicht Belac war. Er spähte um sich. Der Tümpel wirkte wie geschmolzenes Silber vom Licht des Mondes, der direkt über der Lichtung zu stehen schien. Behutsam tauchte Belac wieder auf, lauschte und gab sich Mühe, sich ganz entspannt und unaufmerksam zu geben. Tropfen perlten an ihm hinab. Er schöpfte mit einer Hand Wasser und spürte die Bewegung nahe dem Ufersaum, bevor er noch den dunkleren Schemen dort sehen konnte.

Er katapultierte sich auf die Beine, sprang vorwärts, fühlte Morast zwischen den Zehen, grub diese tief in den weichen Boden, um Halt zu haben. Jetzt sah er das Gesicht unter der Kapuze, das kurze Blinken von Stahl.

Seine Hand schoss vor, schloss sich um ein feindliches Handgelenk, während die Finger der anderen einen Hals packten und den somit verhinderten Attentäter mit einem Ruck ins Wasser zerrten.

Kleiner als er selbst – aber das war kein Kunststück. Belac blickte in geweitete Augen und tauchte seinen Gegner energisch unter. Er übte Druck auf das Handgelenk aus, das er immer noch umklammert hielt, spürte hektische Bewegung und das Wolken von Umhangstoff gegen seine Beine.

Die freie Hand des Angreifers umspannte Belacs Unterarm. Fingernägel kratzten in beginnender Panik des Untergetauchten über seine Haut. Endlich ließ der Kerl den Dolch los, und Belac zerrte sein Opfer zurück an die Oberfläche. Die Kapuze rutschte dabei vom Kopf des kleineren Mannes und offenbarte im Mondlicht weißes Haar, streng zurückgekämmt. Bei Tag musste es reines Gold sein.

Der Fremde keuchte nahezu schmerzhaft nach Luft. Große, dunkle Augen, in denen sich Sternenglitzern spiegelte, richteten sich mit einem Ausdruck verzweifelten Flehens auf Belac.

»Wer hat dich geschickt?«

Die Antwort nur ein verstocktes Kopfschütteln, und Belac tauchte den Fremden wieder unter Wasser. Es täte ihm leid, den Jungen nun umzubringen, aber genau darauf würde es hinauslaufen, bevor diese Nacht vorbei war. Alles aus dem Blondschopf herausholen, was Belac nützlich sein konnte, und dann kam der Dolch zum Einsatz. Einen mordlustigen Schatten auf seinen Fersen konnte er ganz bestimmt nicht gebrauchen.

Die Gegenwehr unter ihm erstarb schlagartig. Stattdessen hob sein Verfolger beide Hände. Aufgabe. Belac rupfte sein Opfer wieder an die frische Luft und lockerte seinen Griff um den Hals des Mannes ein wenig.

»Wer hat dich geschickt?«

»Du weißt, dass ich diese Frage nicht beantworten kann.« Atemlos, vom Ringen nach Luft in handliche Bruchstücke zerhackt, und doch kannte Belac diese Stimme, die ihm eine Gänsehaut über den nackten Rücken rieseln ließ. Die Arroganz des Adels fehlte, und das hier war ganz bestimmt kein Mädchen!

»Du hast Duenas umgelegt.« Er sagte dies grinsend, beobachtete, wie die dunklen Augen sich in Fassungslosigkeit weiteten. »Wir werden uns ausführlich unterhalten, mein Junge, sobald ich mir etwas angezogen habe.«

»Oh, nicht meinetwegen«, schnappte der verhinderte Mörder und schlug unvermittelt nach Belacs Gesicht, die Finger zu Klauen gekrümmt, wie um mindestens ein Auge auszukratzen.

Belac stieß ihn von sich, sprang vor und zur Seite und landete einen krachenden Hieb gegen den Unterkiefer seines Feindes, der sich daraufhin umgehend zusammenfaltete. Belac bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor der Blonde untergehen und ertrinken konnte. Obwohl das vielleicht gnädiger gewesen wäre. Stattdessen schleifte er ihn an Land und ließ ihn im Morast des Ufersaums zu Boden fallen. Knochenlos wie eine Lumpenpuppe stürzte der Bewusstlose in den Schlamm. Schwarzer Umhangstoff klebte an einer schlanken, drahtigen Gestalt, deren flache Bauchdecke und kraftvoller Brustkasten nur durch das klatschnasse Leinenhemd betont wurden.

Belac fischte den Dolch aus dem Wasser und stand dann einen Augenblick still und abschätzend über dem Besinnungslosen. Nein, er brauchte Antworten. Er hastete zu seiner Rüstung, zerrte die Lederriemen aus den Verbindungen und kehrte zu dem Jungen im Ufermorast zurück, drehte ihn auf den Bauch und fesselte ihm fest die Hände auf den Rücken. Ein zweites Lederseil verschnürte die Fußknöchel und würde dank der langen, bis über die Knie reichenden Stiefel nicht ganz so viel Schaden anrichten. Als ob es darauf noch ankam.

Hastig kleidete Belac sich an, sammelte die Rüstungsreste zusammen, sah sich wachsam um und entdeckte die Spur des Blonden recht schnell. Er beugte sich zu dem wehrlosen Angreifer hinab, schulterte die schlanke Gestalt und hielt dann auf die Fährte zu. Niemals im Leben war der Kerl ein Waldläufer. Er würde irgendwo Gepäck zurückgelassen haben. Vielleicht mit Feuerstein und Stahl, etwas Essen, einem zweiten Mantel. Alles Dinge, die der Blondschopf nicht mehr brauchte, die Belac aber dringend benötigte.

 

Die Augenlider wollten nicht gehorchen. Jiras redete ihnen gut zu, und endlich hoben sie sich einen Spaltbreit. Die Aussicht war nicht berauschend. Waldboden, platt gewalztes Farnkraut. Behutsam drehte Jiras den Kopf auf schmerzenden Nackenwirbeln ein wenig und erkannte seinen langen Kapuzenumhang, der zum Trocknen über ein Gebüsch geworfen worden war.

»Fein, du bist wach.« Mit vollem Mund gesprochen, und Ärger kochte in Jiras hoch, als er seinen Peiniger ins Auge fasste, der sich ungebeten aus seiner Gepäckrolle bediente und herzhaft von einem Brot abbiss, das Jiras ganz bestimmt nicht für diesen groben, allzu wehrhaften Kerl gekauft hatte.

Dann erst begriff er, dass er viel zu stramm gefesselt worden war und bäuchlings auf kaltem Erdboden lag.

»Ich hoffe, du möchtest jetzt etwas gesprächiger werden. Du stehst wie ich im Dienste eines Fürsten. Das weiß ich, versuch also nicht, mir etwas vom Wegelagerertum vorzuschwätzen. Dafür habe ich deinen Auftritt in der Festung Toregos noch zu genau vor Augen. Was ich wissen möchte …«

»Wollknäuel«, unterbrach Jiras ihn lächelnd. »In jeder gewünschten Größe herstellbar und weich genug, um als weibliche Brust durchzugehen.«

»Interessant, allerdings für mich vollkommen nutzlos. Schon du bist einen Hauch zu groß, um ein Mädchen darzustellen. Mir würde es niemand abnehmen. Kommen wir also zu Auskünften, mit denen ich etwas anfangen kann. Vorweg: Ich weiß, was Loyalität ist. Aber du weißt auch, dass es Mittel und Wege gibt, einen Mann zum Sprechen zu bringen. Warum kürzen wir das alles nicht einfach ab, indem du mir sagst, was ich wissen will? Dann können wir die unerfreulichen Dinge, die ich dir sonst antun werde, einfach überspringen.«

»Nein.«

»Es täte mir leid, dieses hübsche Gesicht in Streifen zu schneiden«, sagte Belac und klang beinahe bedauernd.

Ein Schauder überlief Jiras. Aber er war klatschnass und bäuchlings im kalten Dreck, bestimmt lag es daran. Seine Phantasie regte sich schüchtern und zeigte ihm abscheuliche Bilder, was dieser riesige Kerl alles anstellen mochte, um ihm die Zunge zu lockern. Jiras biss die Zähne zusammen und stieß diese lebhafte Schwarzseherin zurück in die Schatten. Die Bilder blieben.

»Fangen wir zum Aufwärmen mit etwas Leichtem an«, schlug Belac vor und wickelte ein Wachspapierpäckchen mit getrockneten Apfelringen aus. »Wie hast du mich aufgestöbert? Ich frage aus reiner Neugierde, denn einen Mehrwert stellt deine Antwort nicht für mich dar.«

»Leichte Übung. Ich kam in ein Dorf, in dem die Kutsche eingefangen worden war. Die Dörfler – und etliche Soldaten von Torego – suchten die Straße und benachbarte Weiler ab. Aber da ich im Gegensatz zu ihnen weiß, dass du zu Miskels Sammlung stumpfer Waffen gehörst, kam ich als Einziger auf die Idee, dich im Wald zu suchen. Einfach, weil das die logische Wegrichtung heim zum Fürstenhof ist, solange du dich in Toregos Machtbereich befindest. Du hast nicht viele Spuren hinterlassen, das gebe ich zu. Aber ich fand sie.«

Belac nickte und verstaute alles bis auf seine Waffen und Jiras’ eigenen Dolch wieder in der Gepäckrolle und schnürte diese zu. Der Waldboden federte leicht unter seinen Schritten, als der große Kerl neben Jiras trat, die Rolle zu Boden fallen ließ und seinen gefesselten Gefangenen auf die Knie zerrte.

Jetzt galt es. Eisige Kälte nistete in Jiras’ Eingeweiden. Ob seine Ahnen ihm zur Hilfe kamen? Zumindest zur moralischen Unterstützung, während dieser Kerl ihm das Gesicht zerschnitt und anderes tat, um ihm die Zunge zu lockern? Wie lange konnte er wirklich widerstehen?

»Dein Name?«

Die flache Seite der Klinge beinahe liebkosend gegen Jiras’ Bauchdecke gedrückt. Er konnte kaum noch atmen und begriff, dass er noch nie wirkliche Schmerzen gefühlt hatte. Er schluckte hart. »Jiras.« Das von, den Nachnamen und vor allem den leeren Titel verschwieg er. Ob Belac das Zittern in seinen Muskeln spürte, das sich vom Knochen ausgehend an die Oberfläche kämpfte?

»Welcher Fürst?«

Jiras schüttelte den Kopf.

Die Dolchklinge glitt tiefer.

Mit einem tiefen Atemzug, in dem er selbst das Beben hörte, schloss Jiras die Augen, schüttelte noch einmal den Kopf und biss die Zähne so fest zusammen, dass die Kiefergelenke schmerzten.

»Da ist der Bastard!«

»Zwei!«

Fremde Stimmen. Jiras hörte, wie Belac einen Fluch ausatmete, dann fühlte er sich auf die Beine gerissen, die Fesseln um seine Handgelenke fielen, nachdem eisiger Stahl über seine Haut gestreichelt hatte. Er riss die Augen auf, sah Mondlicht auf Waffen und Rüstungen blitzen und spürte, wie Belac auch den Lederriemen um seine Fußgelenke zerschnitt.

»Schnapp dir deinen Mantel, verdammt!«

Aber er stand noch da und starrte fassungslos auf den dunkelhaarigen Hünen, der sich den Riemen der Gepäckrolle über die Schulter warf.

Toregos Männer, so viel begriff Jiras, der sich wie in einem warmen Kokon aus Verblüffung gehüllt fühlte. Bis Belac ihn am Oberarm packte und mit sich zerrte. Er strauchelte neben dem großen Kerl her und fand erst langsam wieder Gefühl in den Beinen. Und Begreifen. Toregos Männer, die ihn zusammen mit Belac aus dem Hause Miskel gesehen hatten. Die sie beide für Verbündete halten mussten. Die sich sein Gesicht merken würden.

Und Belac zog ihn mit sich ins Unterholz. Vorbei am tropfnassen Kapuzenmantel, der nun für die Verfolger hängen blieb.

»Verdammt, beweg dich schneller!«, zischte Belac. »Du weißt doch, was die mit uns machen, wenn sie uns erwischen.«

»Du hast mir ebenfalls Folter angedroht.«

»Sei nicht albern. Ich hätte noch zweimal gefragt und dich dann barmherzig umgebracht. Ich mag eine stumpfe Waffe sein, aber ich bin kein Folterknecht.«

Dieser Seitenhieb auf die unschmeichelhafte Bezeichnung, die Jiras ihm stolz vor die Füße geschleudert hatte, zeigte, wie übel Belac sie genommen hatte. Und trotzdem hatte er Jiras nicht gefesselt und hilflos Toregos Männern überlassen. Mehr Menschlichkeit in dem großen Kerl, als Jiras auch nur zu hoffen gewagt hätte.

»Waffengurt«, knurrte Belac, ließ Jiras’ Arm los und reichte stattdessen Gurtwerk, Dolch und Schwert herüber. Jiras wäre beinahe verdutzt stehen geblieben, fing sich aber im letzten Augenblick.

»Wir hinterlassen eine deutliche Fährte«, merkte er an und versuchte, die Fassungslosigkeit zu überspielen.

»Lässt sich nicht ändern. Aber ich diktiere gerne die Bedingungen eines Zusammenstoßes. Außerdem bist du so durchgefroren, dass dir Bewegung vor einem Kampf gut tut. Verdammt, da sind noch zwei von der Sorte!«

Jiras zerrte Leder durch eine Schnalle, wobei er den Blick senkte und seine eigene Börse an Belacs Gürtel entdeckte. Er lächelte böse, zog den Riemen des Waffengurts stramm und war so gut wie bereit.

Vor ihnen lag eine Lichtung, auf der vor einigen Wochen ein Köhler sein Handwerk betrieben haben mochte. Schwarzer Boden, freie Fläche – und zwei Soldaten des Hauses Torego, die mit gezogenen Schwertern auf die Flüchtigen zuhielten.

»Ich hoffe, du kannst mehr, als reizend auszusehen«, sagte Belac, und ein Lächeln wärmte seine Stimme, während er Dolch und Schwert zog. Mit einem unvermittelten Kampfschrei sprang er dem ersten Mann entgegen und trat ihm zur Begrüßung herzhaft vor das Knie.

Brachial – aber schnell. Jiras war wider Willen beeindruckt und trug nun an seiner eigenen Niederlage gegen Belac auch nicht mehr ganz so schwer. Er riss sich vom Anblick des großen Kriegers los und nahm sich seinen eigenen Gegner vor. Der schien sich zu freuen, dass der Zufall ihm den kleineren Feind vor das Schwert getragen hatte. Seine Freude schlug allerdings rasch genug in Entgeisterung um, als Jiras unter einem gewaltigen Hieb hinwegtauchte, federleicht um den Soldaten herumtänzelte und den Dolch oberhalb des Rüstungskragens in den Nacken des Mannes versenkte. Schnell, sauber und beinahe lautlos.

»Zu mir!«, befahl Belac herrisch, der den ersten Mann ebenso rasch erledigt hatte.

Da hinter ihnen noch mindestens vier von Toregos Männern durch das Unterholz brachen, kam Jiras dieser Aufforderung ohne Widerworte nach und bezog mit ausreichend Abstand zu Belac seine Position. Das Rennen durch den Wald und der kleine Kampfeinsatz hatten ihn aufgewärmt, obwohl die Kleidung immer noch kalt und nass an ihm klebte. Den Blick, den Belac über ihn fliegen ließ, sah er ganz genau. Abschätzend und hart, aber ein verdächtiges Funkeln in den stahlgrauen Augen. Irritierend, und so war es gut, dass die Häscher in diesem Moment brüllend auf die Lichtung stürmten.

Jiras wartete darauf, dass Belac sich als Erster in Bewegung setzte. Einfach weil er so groß war, dass es lohnenswert schien, in seinem Kielwasser zu verharren, um dann wie eine Schlange aus der Deckung vorzustoßen. Außerdem sah Jiras dem Hünen an, dass er zum Soldaten geboren war. Stumpfe Waffe, und wenn er das dreimal übel nehmen wollte.

»Für Kevena!« Und damit flog der schwere Junge vorwärts. Wie wundervoll pathetisch, die Göttin des Krieges anzurufen. Wenn er sich das zur Angewohnheit gemacht hatte, konnte er niemals dumm mit dem Namen seines Fürsten herausplatzen. Gar nicht schlecht.

Jiras folgte leichtfüßig, blieb so lange wie möglich in Deckung und damit relativ unsichtbar, tauchte dann seitlich an Belac vorbei und versenkte das eigene Schwert in einem Brustkorb, bevor der Soldat noch begriff, dass der Kleine, der sich so schüchtern versteckte, tatsächlich in den Kampf eingriff.

Jiras lachte, wirbelte auf einem Fußballen herum und stieß eine Stiefelspitze in empfindliche Regionen eines weiteren Gegners. Das keuchende Ausatmen, die Tränen in den Augen des Mannes, und schon flog die Dolchklinge vor. Hinter sich vernahm Jiras noch das scheppernde Aufschlagen eines Körpers auf dem Waldboden. Belac trug nur Leder, der schepperte nicht.

Trotzdem warf er noch einen Blick über die Schulter, bevor er mit einer spöttischen Verneigung seinen Abschied nahm, sich herumwarf und Fersengeld gab.

»Verdammt!«, brüllte Belac noch hinter ihm, stach jetzt wohl gerade seinen zweiten Gegner ab – mühelos, wollte Jiras wetten, während er immer noch lachend durch den Wald hetzte. Belac hatte sich ebenso wenig wie er selbst auch nur einen Herzschlag lang in Bedrängnis befunden.

Jetzt würde sich zeigen, ob eine kleinere, schmalere Statur gegenüber der wuchtigen Naturgewalt hinter Jiras wirklich so viel Vorteile besaß, wie er hoffte. Belac war schnell, aber war er so flink wie sein entfliehender Gefangener?

Mit einer Hand schob er den Dolch ins Gehenk, tastete dann nach der Geldbörse, die er Belac so mühelos wieder abgejagt hatte. Oh, der Große würde toben, wenn er das bemerkte. Aber immerhin besaß er den Rest von Jiras’ Gepäck – auch wenn er in keines der Leinenhemden passte.

Das Lachen schüttelte Jiras bei der Vorstellung noch einmal, wie der Hüne seinen formidablen Brustkasten in eines der Hemden zwängen wollte. Reizvolle Vorstellung.

Er sprang über einen schmalen Bachlauf. Wasser spritzte auf, da er das andere Ufer nicht ganz erreichte. Aber nass war Jiras ohnehin schon. Das Tauchbad, das schwor er sich, würde er Belac heimzahlen.

3.

Ganz zauberhaft

Der verdammte Bengel hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Flink wie ein junges Reh, hakenschlagend wie ein Hase auf der Flucht. Für allzu kurze Zeit hatte Belac noch freien Blick auf lange Beine, schmale Hüften und den muskulösen Rücken unter dem nassen Hemd gehabt, noch den Schimmer des Goldhaars wahrgenommen, bevor der Wald den Jungen verschluckte. Hämisch grinsende Bäume, die voller Unschuld auf Belac niederblickten und so taten, als hätten sie niemals einen flüchtenden Feind gesehen.

Belac fluchte lange und ausgiebig, als er nach einer halben Stunde sicher war, auch die Fährte verloren zu haben. Dabei war er so sicher gewesen, dass Jiras sich in jeder Stadt wie zuhause fühlen musste und im Wald eher ungeschickt agierte. Den nächsten Tiefschlag musste Belac hinnehmen, als er nach der Börse am Gürtel tastete. Die vielleicht mehr als Münzen enthalten hatte, möglicherweise Anweisungen oder Hinweise. Fort. Zähneknirschend gestand Belac sich ein, dass er vermutlich angesichts weit aufgerissener grüner Augen in einem schmalen, verblüffend unschuldigen Gesicht nicht achtsam genug gewesen war, seinen Gegner nicht für voll genug genommen hatte.

Nun, immerhin befand er sich noch im Besitz der Gepäckrolle. Und auf der Lichtung lagen sechs Erschlagene aus dem Hause Torego, die bestimmt auch noch die eine oder andere Nützlichkeit bei sich trugen. Auch wenn deren Rüstungen, Waffen und Habseligkeiten Belac nicht dabei helfen würden, Jiras erneut in seine Gewalt zu bringen.

Er knirschte mit den Zähnen. Einen Gegner zu unterschätzen, gehörte üblicherweise nicht zu Belacs herausragenden Eigenschaften. Nun, solange von Miskel kein offizieller Auftrag kam, den blonden Bengel umzulegen, würde Belac einfach so tun, als würde es Jiras gar nicht geben. Es sei denn, sie trafen erneut aufeinander. Dann musste er vorbereitet sein.

Durch diese Gedankengänge ein wenig versöhnt machte er sich daran, die Erschlagenen zu durchsuchen, Jiras’ Gepäckrolle mit den Fundstücken zu füllen und den Status seiner eigenen Börse aufzubessern. Er tröstete sich während dieser Arbeit damit, dass jedes Schriftstück, das Jiras am Leib getragen hatte, das Tauchbad ohnehin nicht überstanden haben würde.

Schließlich bemächtigte Belac sich noch des nassen Mantels, der fast eine Meile entfernt tropfend auf dem Gebüsch ausgeharrt hatte, und fand sich nun hinreichend gut getarnt, dass er sich ins nächste Dorf aufmachen konnte. Von dort aus nach Venerris Hald, wo der nächste Auftrag auf ihn wartete. Unterwegs konnte er bestimmt Jiras’ Hemden verkaufen und seine Barschaft noch ein wenig aufbessern.

Und da nun Soldatenwäsche bei der des kleinen Schönlings in der Rolle steckte, würde der sanfte Duft, der Belac beim ersten Durchstöbern des Gepäcks entgegengeschwebt war, auch bald eine Sache der Vergangenheit sein. Gut so. Töricht, sich von einem gut gebauten Körper und großen Augen von den eigentlichen Aufgaben ablenken zu lassen.

Obwohl es schon sehr reizvoll ausgesehen hatte, wie die Wassertropfen an Jiras’ Kehle hinabgerollt waren. Eine Kehle, die notfalls ohne Bedauern durchschnitten werden musste. Besser, Jiras kreuzte nicht wieder seinen Weg. Gesünder auch für die Ordnung in Belacs eigenem Kopf.

 

Kein halbwegs klar denkender Mensch, dachte Jiras bitter, würde ihn in seinem derzeitigen Zustand auch nur in das gleiche Gebäude wie eine Büchersammlung einlassen. Er sah schäbig aus, und vor allem fand er, dass er auch so roch. Die Münzen in der zurückeroberten Börse hatten ausgereicht, ihn mit Lebensmitteln und einem neuen Mantel aus grober Wolle zu versehen. So war er bis nach Atames Hald gekommen, der Stadt des Fürstensitzes. Zu Fuß, abgesehen von einigen kurzen Strecken, da er auf Bauernkarren hatte mitfahren dürfen. Gegen Arbeitsleistung selbstverständlich. So hatte er auch seine Übernachtungen bis hierhin erhalten. Und so stank er obendrein auch. Die langen Stiefel schrien nach jemandem, der sich mit Bürste, Lederseife und gutem Fett auskannte und sich barmherzig ihrer annehmen würde. Schweineschmalz hatte sie zwar wasserfest gemacht, aber … Jiras schauderte bei dem bloßen Gedanken daran.

Glücklicherweise hatte er den Brief mit den Namen der Kontaktpersonen gelesen, auswendig gelernt und dann zum Feuermachen verwandt, bevor er seine jämmerliche Attacke auf Miskels Mann ausgeführt hatte. Nicht auszudenken, was Belac mit diesem Dokument alles hätte anstellen können.

Zwei Mönche – unverkennbar in den dunkelgrünen Kapuzenroben mit den aufwendig bestickten Borten – schlurften an Jiras vorbei, und sofort änderte er seinen bisherigen Plan, zuerst müde und hungrig die erste Kontaktperson aufzusuchen. In seinem derzeitigen Zustand würde er sich nicht gerne präsentieren. Stattdessen folgte er höchst zufrieden mit sich und den Geschicken, die Alakanta, Göttin des Schicksals, liebevoll für ihn vorbereitet hatte, den beiden Mönchen. Mit einem höflichen Abstand und einem langsam aus Bruchstücken zusammenkommenden Plan im Kopf.

Speisung der Armen, Schlafplatz für Obdachlose – alles Dinge, die die Mönchsorden leisteten. Manch junger, kräftiger Mann kam vielleicht vor lauter Fürsorge nie wieder aus dem Kloster, da er zur Arbeit eingespannt wurde und dafür auf Lebzeit ausgesorgt hatte. Wer konnte einem Gott oder einer Göttin schon etwas ausschlagen? Doch das Bedeutsame an diesem mildtätigen Arrangement war der Zugang zum Kloster, fand Jiras – und möglicherweise Zutritt zur Wäscherei?

Er lächelte zufrieden, zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, verschaffte sich in diesem Schutz einen Überblick über die Stadt im Schatten der Fürstenfestung und nahm auch diese so genau in Augenschein, wie es aus der Entfernung möglich war.

Wozu sich als Einbrecher betätigen oder gar als Schreiber verdingen, wenn es leichtere Wege gab, in diese dämliche Bibliothek zu gelangen? Hoffentlich konnte eine der Kontaktpersonen wirklich genauer beschreiben, wonach Jiras zu suchen hatte. Natürlich war nicht jeder Überbringer von Aufträgen in alle Einzelheiten eingeweiht, aber Jiras mochte es lieber, von Anfang an genau zu wissen, worauf er sich einließ. Mit welchem Widerstand er zu rechnen hatte, mit wie vielen Wachen. Außerdem wäre es hilfreich, Umfang und Gewicht von Manuskripten im Voraus zu kennen. Was, wenn es eine halbe Regalfüllung war, die er davonschleppen sollte? Hinzu kam, dass er wohl nicht viel Zeit haben würde, alles ordentlich abzusuchen. Und auch keine Lust darauf hatte, womöglich Tage in einer muffigen Büchersammlung zu verbringen. Vom Risiko der Entdeckung ganz abgesehen, wenn er sich zu lange an verbotenen Orten aufhielt.

Obendrein war er für Schnelligkeit und sorgfältig ausgeführte Aufträge bekannt. Daran wollte er so schnell nichts ändern. Nun … bis auf Belac, verdammt. Aber Toregos Männer waren tot. Es gab keine Möglichkeit, wie Jiras’ eigener Fürst von dieser plötzlichen gemeinsamen Aufstellung gegen einen Gegner erfahren konnte. Und seit Jiras sich so geschickt seines großen Begleiters entledigt hatte, konnte Belac schon lange in eine feindliche Übermacht gestolpert und dieser erlegen sein. Genau.

Der Klosterbau kam in Sicht. Im Schatten einer Mauer verwandelte Jiras sich von einem jungen gesunden Mann in einen halb verhungerten Taumelnden, der sich mühsam an jeden verfügbaren Halt klammern musste, erbärmlich zitterte und für jedes sehende Auge deutlich an Entkräftung und Unterkühlung litt.

Er humpelte bis zum Torhaus und wurde für seine schmerzbebenden Mühen belohnt, als der Mönch an der Pforte mit einem leisen Ausruf sofort zu ihm kam, um ihm einen stützenden Arm zu reichen. Jetzt zahlte sich aus, dass der verdammte Belac mit der gesamten Wechselwäsche durchgebrannt war, denn Schmutz und die Gerüche diverser Kuhställe halfen, die Verkleidung zu vervollkommnen.

Jiras ließ sich dankbar führen, sah sich im Schutze der Kapuze gründlich um und schnupperte lautlos, ob er die charakteristischen Gerüche einer Wäscherei schon wittern konnte. Alles andere war nebensächlich, denn er benötigte so eine schöne Kutte! Und wenn er sie von einer Wäscheleine stahl.

Doch zuerst führte sein Weg unweigerlich in einen Armensaal, in dem es von zerlumpten Gestalten und ihrem Ungeziefer nur so wimmelte. Der Gestank war abstoßend, aber Jiras vollbrachte einen dankbaren Seufzer, als der Pfortenwächter ihn behutsam auf einer Steinbank absetzte und dann einen anderen Mönch auf den Neuzugang aufmerksam machte.

Jiras bekam frische, heiße Suppe, die nach Rüben schmeckte und unendlich gut tat. Außerdem wurde ihm ein Strohsack zugewiesen, in dem bestimmt mehr Leben steckte, als gut für ihn war. Jiras hörte die Wanzen regelrecht erwartungsvoll nach Luft schnappen. Auf gar keinen Fall würde er auf dem Sack auch nur einen Herzschlag lang liegen. Lieber blieb er auf der Steinbank und wartete geduldig auf den Einbruch der Nacht. In der Hoffnung, dass die Mönche die Almosenempfänger nicht in diesem stinkenden Saal einschlossen.

 

Venerris Hald ragte trutzig aus der Ebene auf und wirkte aus der Ferne, als hätte jemand einen Felsen in handliche Stücke geschlagen und den Schutt mitten auf die Wiese gekippt.

Belac passierte das Stadttor und sah sich aufmerksam um. Sein erster Besuch in der Hauptstadt des Fürsten Venerri. Kleinere Einsätze hatten ihn bereits in Garnisonen und andere Städte des Machtbereichs dieses Mannes geführt. Und stets hatte er dabei das sehr dumme Gefühl gehabt, dass jemand ihn ausmachen würde. Zu viele wachsame Soldaten – und Venerri wäre in der derzeitigen Lage dumm, wenn er keine Horde von Handlangern besäße. Menschen wie Belac. Und wie Jiras.

Leise knirschte Belac mit den Zähnen. Je schneller er jede Erinnerung an diesen kleinen Schuft verdrängte, desto besser. Falls sie sich irgendwann erneut begegneten, musste Jiras sterben. Punkt. Bis dahin gab es erheblich wichtigere Dinge als lange Beine und ein schönes Gesicht. Sich in dieser Stadt zurecht zu finden, zum Beispiel. Aus der Erinnerung von oft und lange studierten Karten zu dem Teil der Festung inmitten dieser Stadt zu gelangen, in denen die nächste Zielperson auf Belacs Klinge wartete. All das bevorzugt vor Einbruch der Nacht, damit die Tat ungesehen im Dunklen geschehen konnte und Fürst Venerri sich am nächsten Morgen verblüfft eines seiner wichtigsten Männer beraubt sah.

Venerri oder Atame, einer von diesen beiden war Jiras’ Herr. Belac hatte vor, das herauszufinden. Konnte nie schaden. Sein eigener Fürst Miskel freute sich über jede Nachricht, wen seine Gegner bezahlten.

Verärgert bemerkte Belac, dass er schon wieder an Jiras gedacht hatte. Er setzte sich forsch in Bewegung. Er hatte einen Auftrag, eine Zielperson und brauchte einen klaren Kopf, verdammt!

Die Festung machte er leicht aus, und auch jenen Turm, der auf einem gewaltigen Felsklotz erbaut worden war und nur durch eine schmale, überdachte Brücke in der Höhe des vierten Stockwerks mit dem eigentlichen Festungsbau verbunden war, entdeckte Belac. An das Naturgestein schmiegten sich Häuser, denn Venerris Hald war mehr als nur dicht bebaut. Kleine Grundstücke reihten sich eng an eng, und die Häuser wuchsen oberhalb des Erdgeschosses vorwärts und in die Breite, um so viel Fläche wie möglich bieten zu können. Das Resultat war, dass jede Straße in Dunkelheit lag, da die Giebel der Häuser sich über die Gassen hinweg beinahe berührten und nur einen schmalen Spalt Himmel übrig ließen. Beinahe wirkte es auf Belac so, als würde er sich in unterirdischen Tunneln bewegen.

Er hielt sich in den Schatten, suchte sich einen guten Aussichtsplatz und betrachtete den Turm, die Brücke und vor allem die Häuser am Fuße des schlanken Bauwerks. Dabei kaute Belac langsam die restlichen getrockneten Apfelringe und überlegte.

Er brauchte ein robustes Seil. Sollte hier irgendwo zu kaufen sein. Einen Bogen hatte er einem der Männer Toregos abgenommen. Ja, das konnte klappen. Wenn er auf eines der Dächer gelangte, befand er sich nach Einbruch der Dämmerung im Schatten des Turms selbst. Er trug keine schimmernde, auffällige Panzerung, nur die mittlerweile ziemlich mitgenommene Lederrüstung.

Belac stieß sich von der Mauer ab, gegen die er gelehnt hatte. Ein Gasthaus, eine Seilerei. Dann konnte er sich in Ruhe vorbereiten.

 

Kaum war es dunkel, fragte Jiras einen Mann, der zusammengekrümmt auf einem Strohsack lag, ausreichend laut nach dem Abort. Er bekam eine Wegbeschreibung und huschte aus dem Armenhaus. Draußen schmeckte die Luft viel sauberer, und er atmete befreit tief ein. Jetzt musste er nur noch die Wäscherei finden.

Er lief leise los, hielt sich in den dunkleren Schatten nahe den Gebäuden und vertraute ganz auf seine Nase. Den Abort roch er auf etliche Ellen Entfernung und arbeitete sich behutsam von Stallungen und Gesindehäusern auf das Hauptgebäude zu, an das mehrere Höfe grenzten. Werkstätten, vermutete er, die nicht so geruchsintensiv waren. Bald nahm er den Duft von frisch bearbeitetem Holz wahr und schlüpfte durch eine nur angelehnte Pforte in den ersten Hof. Schuppen, halb offene Gebäude. Das Glimmen von Glut zeigte ihm die Esse einer Schmiede. Grundsätzlich sollte er sich im richtigen Bereich des Klosters befinden, das eine Stadt in der Stadt darstellte. Nicht nur die betenden Brüder mit Schlafsälen und Speiseraum, Schreibzimmern und ähnlichem wohnten hier, wie Jiras wusste, sondern vor allem ein Heer von Bediensteten. Stallungen und Gemüsegärten bildeten einen wichtigen Teil, um das Kloster eigenständig bestehen zu lassen. Und deswegen musste hier auch irgendwo die Wäscherei sein. Mönche waren immer sauber. Es musste ein Badehaus geben, und in dessen Nähe, da war er sich sicher, würde sich ein größeres Gebäude befinden, in dem arme Frauen Mönchskutten in großen Zubern schrubbten und selbst nur von so warmer, weicher Kleidung träumten.

Der Duft von Seife traf seine empfindsame Nase, und Jiras lächelte zufrieden, orientierte sich und strebte auf einen großen Bau zu. Tatsächlich fand er rund um das Haus diverse Wäscheleinen, aber leider keine nachts zum Trocknen ausgehängten Mönchskutten. Bedauerlich, doch dann stieg er eben in die Wäscherei ein!

Die erste Pforte fand er verschlossen vor. Während er noch nach einer anderen Tür suchte, entdeckte er ein Fenster, dessen Läden offenstanden. Jiras eilte zu den Schreinerwerkstätten zurück, um eine Leiter zu suchen. Er fand Fässer und schleppte eines zurück über den dunklen Hof, stellte es unter dem Fenster auf und kletterte hinauf.

Knapp bekam er das Fensterbrett zu packen, atmete tief durch und sprang dann. Er konnte einen Ellenbogen über das Brett schieben und sich dann hinaufziehen. Endlich kam er in der Hocke in der Öffnung an und verschaffte sich einen Überblick. Viel sah er nicht. Die großen, kastenförmigen Schatten mochten Waschzuber sein. Der Duft nach heißem Seifenwasser bestätigte das.

Jiras drehte sich herum und ließ sich behutsam an der Innenseite der Hauswand hinab. Einen Augenblick baumelte er zwischen Fenster und Boden, spähte nach unten, ob er irgendein Hindernis erkennen konnte, und ließ sich fallen. Er landete weich, umgeben von dicker Wolle und dem Geruch nach Männerschweiß. Hastig tastete er um sich, fühlte teuren, gewebten Stoff, dann eine Bordüre. Gut, keine frisch gewaschenen Kutten, aber er war ja nicht wählerisch.

Mühsam rappelte er sich aus dem Schmutzwäschehaufen und suchte dann nach dem kleinsten Exemplar einer Mönchskutte, in der er nicht vollends versinken würde. Falls es gar nicht anders ging, musste er den Saum mit dem Dolch einkürzen, obwohl es ihm nahezu ein Verbrechen erschien, diese teuren Roben zu verunstalten. Aber er fand eine Kutte, die ihm leidlich passen würde, legte sie beiseite und griff dann aufs Geratewohl drei weitere aus dem Haufen. Feiner Wollstoff. Perfekte Bettdecken, fand er. Stoff konnte er außerdem immer gebrauchen. Notfalls ließ sich ein Seil aus zerschnittenen Kutten zusammenknoten.

Bedauerlich, dass Belac sich im Besitz der Gepäckrolle befand. Jiras improvisierte, rollte seinen eigenen Wollmantel als Schutzhülle um die drei Kutten, zerrte sich die kleinste über den Kopf und schob die Waffen in den Gehenken leicht zur Seite, damit sie unter dem weich fließenden Stoff nicht auffielen. Von einer weiteren Robe trennte er ruchlos die Bordüren ab, um diese als Schnüre um sein Bündel zu knoten und als Trageriemen zu verwenden. Jetzt musste er nur noch einen Ausgang finden und das gastfreundliche und generöse Kloster verlassen. Auf zur Kontaktperson und dann irgendwie in die Bibliothek von Fürst Atame. Machbar.

Jiras lächelte zufrieden mit sich und dem bisherigen Erfolg seiner Mission. Durch einen Torbogen, der lediglich mit einem Vorhang verschlossen war, gelangte er in das Badehaus, und sofort erschienen höchst ungebetene Bilder in seinem Kopf. Von einer ganz anderen Art Badegelegenheit und einem wuchtigen Körper im Mondlicht. Jiras biss sich fest auf die Unterlippe. Ja, er war gescheitert. Nein, er hatte sich nicht von stählernen Muskelsträngen ablenken lassen, die von sternhellen Wassertropfen auf der dunklen Haut zusätzlich betont wurden. Auf gar keinen Fall. Über solcher Ablenkung stand er meilenweit!

Das Badehaus war schuld daran, dass er jetzt wieder an Belac dachte. Und die Tatsache, dass der große Kerl durchaus noch lebendig durch das Königreich streifen konnte. Jiras atmete tief durch, schulterte sein Bündel neu und hoffte einfach, dass es eine andere Klinge als seine eigene sein würde, die diesen dunklen Hünen in den Schoß des Totengottes beförderte. Feinde hatte Belac ganz gewiss genug, um sich ein rasches Ende zu verdienen. Außerdem war er so groß, dass er einfach überall auffiel. Ganz bestimmt war er schon kalt und lag verscharrt in irgendeinem Wäldchen. Dreck in den kurzen, schwarzen Haaren … Und Jiras dachte jetzt nicht an diese ungewöhnliche Augenfarbe wie kalter Stahl. Nein, das tat er nicht. Stattdessen durchquerte er zügig das Badehaus, um den nächsten Ausgang zu finden. Und stellte sich keinesfalls Seifenschaum auf einem muskulösen Oberarm vor. So ein Unsinn!

 

Belac trug die Seilrolle, die fast seine gesamte Barschaft aufgebraucht hatte, quer über der Brust. Vielleicht sollte er versuchen, die feinen Leinenhemden des Blondschopfs zu verkaufen. Wenn sie nur nicht so nach Diebesware aussehen würden, weil sie Belac natürlich viel zu klein waren. Kein Wunder, dass das Hemd so vorteilhaft an Jiras’ Oberkörper geklebt hatte, als es nass gewesen war. Der Stoff war nahezu zart, kunstvoll aus dünnen Fäden gewebt. Teuer. Ja, er sollte die Hemden verkaufen und konnte nur hoffen, dass er keinen schiefen Seitenblick bekam, den er nicht durch grimmige Miene und seinen allgemeinen Auftritt unterdrücken konnte. Ärger mit irgendwelchen Bütteln konnte Belac sich einfach nicht leisten. Das Gepäck lag nun auf jeden Fall in einem Gasthaus und wartete auf die siegreiche Rückkehr seines Eigentümers. Auch Beinschienen und Armschützer hatte Belac zurückgelassen. Überflüssiges Gewicht und zu auffällig. Die Lederpanzerung reichte. Dazu Bogen, Seil, Dolch und Schwert.

Jetzt musste er nur ungesehen und ungehört auf eines der Hausdächer unterhalb des Turms gelangen. Nun, es gab einfachere Übungen, aber Belac hatte in den Monaten, die er nun für Fürst Miskel Einsätze hinter den Kulissen durchführte, bereits Schwierigeres vollbracht.

Er hielt nach Wachen Ausschau, entdeckte eine Handvoll Soldaten auf der Wehr der Festung und setzte sich deshalb ein Haus auf der entgegengesetzten Seite der Turmrundung zum Ziel. Zweigeschossig, die obere Etage ragte um fast eine Elle weiter in die Straße als die untere. Fachwerk mit lehmbeworfenen Flechtelementen zwischen den Balken. Belac tauchte in den Schatten vor der Haustür, betrachtete die Fassade und machte sich dann an die Arbeit, lautlos an ihr hinaufzuklettern. An schwierigen Stellen kam der Dolch zum Einsatz, den Belac in Spalten schob und verkeilte, um sich dann nach kurzer Zeit auf das Dach ziehen zu können. Die Bewohner mochten an Ratten glauben, die am Gebälk herumturnten – falls denn ein Schläfer erwacht war.

Einen Augenblick lang lag Belac flach auf dem moosbewachsenen Dach, dann kroch er behutsam näher an die gerundete Mauer des Turms. Gewaltige Steinquader, die sich zu einer glatten Wand auftürmten, die die Rückseite eines jedes angeschmiegten Hauses bildete. Geduckt suchte Belac sich seinen Weg um den Turm herum, bis er über sich schwarz gegen den Sternenhimmel die Brücke ausmachen konnte.

In deren Schatten spannte Belac den Bogen, befestigte das dünne Seil am Pfeil und sandte es solcherart nach oben, darauf hoffend, dass es sich um die Brücke wickelte und zu seinem Herrn zurückkehrte. Zwei Versuche benötigte das unwillige Geschoss, bis beim dritten Mal Belacs Plan aufging. Nun konnte er mittels des dünnen Seils sein Kletterseil über die Brücke ziehen und durch eine Schlaufe sichern. Zwar konnte er es nach gelungenem Einsatz nicht mehr entfernen, aber das spielte dann auch keine Rolle mehr.

Er atmete tief durch und hangelte sich im Schatten der Brücke lautlos nach oben. Es war gar nicht so furchtbar weit. Trotzdem fühlte Belac Erleichterung durch seinen Körper schwappen, als er sich endlich auf das Dach der Brücke ziehen konnte. Einen Augenblick lang lag er flach auf den Pfannen und wartete, bis sein Herzschlag sich nach der Anstrengung der vergangenen Augenblicke ein wenig beruhigte. Dabei spähte er um sich, suchte nach weiteren Wachen, die ihn jetzt noch ausmachen konnten. Doch das Dach der Brücke konnte von der Wehr aus nicht eingesehen werden. Nur Soldaten auf dem großen Wohnturm der Festung könnten – wenn sie genau hinsahen – eventuell einen schwärzeren Klecks auf dem dunklen Dach sichten. Doch dank der Entfernung würden sie Belac nicht als Bedrohung ernst nehmen können. Er lächelte zufrieden.

Lautlos begann Belac, die Dachschindeln beiseite zu räumen, bis er sich endlich durch die entstandene Lücke in das Innere der Brücke gleiten lassen konnte, kurz in der Hocke verharrte und sich dann der Tür zuwandte, die den Zutritt in den Turm verwehrte. Belac drückte behutsam die Klinke nieder und fand das Portal zu seiner Überraschung nicht verschlossen. Zügig huschte er durch den schmalen Spalt und drückte die Tür hinter sich wieder zu.

Dann konnte er einen Augenblick lang nur fassungslos starren. Er war sich nicht ganz sicher, was er erwartet hatte. Blubbernde Flüssigkeiten in Glasflaschen über kleinen Flammen vielleicht. Oder von der Decke hängende Totenköpfe. Auf jeden Fall Bücher – und in der Hinsicht wurde er nicht enttäuscht. Regale bedeckten jeden Zoll Wand.

Doch sonst herrschte unerwartetes Chaos in dem kreisrunden, hohen Raum. In der Mitte befand sich aus buntem Staub gefertigt eine Zeichnung, annähernd rund, mit merkwürdigen Unterteilungen und Mustern in allen Farben des Regenbogens. Möbel lagen wie Spielzeuge eines Riesenkinds durch das Zimmer gewürfelt, als wäre von dem Kreidekreis eine gewaltige Druckwelle ausgegangen, die alles, was nicht angenagelt gewesen war, mit Schwung gegen Wände und Bücherregale geworfen hatte. Darunter viele Glasflaschen, die zerbrochen worden waren und schillernden, stinkenden Inhalt auf den Boden ergossen hatten.

Nur von dem Magier, der hier hausen sollte, konnte Belac keine Spur entdecken. Der Magier, den er umbringen sollte.

Vorsichtig trat er vor, hörte unter seinen Stiefelsohlen Glas knirschen und näherte sich dem bunten Kreis, während er sichernd um sich sah, ob es den Zauberer vielleicht auch durch das Zimmer gefegt hätte, sodass er nun eingeklemmt halb unter einer Truhe lag. Doch nichts.

Etwas tropfte vor Belac in die Mitte des Kreidekreises. Noch ein Tropfen. Da standen zwei Stiefel im bunten Staub, und aus ihnen stieg jeweils ein zarter, violetter Rauchfaden auf. Noch ein Tropfen.

Belac legte den Kopf in den Nacken, blickte erst erschüttert, bevor er mit einem Lachen zu kämpfen hatte. Was auch immer hier geschehen war, an der hohen Gewölbedecke klebten die Reste eines sehr platten Magiers.

Ein magisches Experiment, das gründlich in die Hose gegangen war? Ein Dämon, der nicht beschworen werden wollte? Belac sah zu den rauchenden Stiefeln, dann noch einmal nach oben. Ob der Magier gleich nach unten platschte? Sicherheitshalber trat Belac zwei Schritte zurück.

Der Auftrag umfasste nicht nur die Beseitigung des Magiers, sondern auch seiner gesamten Bibliothek – es sei denn, Belac wollte einige Stunden staubiger Suche nach einem bestimmten Buch vergeuden. Was er nicht vorhatte. Es gab einen Kamin, in dem Glut funkelte. Im Saal mit dem tropfenden Magier an der Decke gab es ausreichende Mengen staubtrockenen Pergaments und gut abgelagerten Holzes. Das sollte ausreichen, auch das bestimmte Buch zu Asche zu verbrennen.

Belac eilte zur Feuerstelle, in die halb eine kleine Truhe gerutscht war und an den Kanten schon rauchte. Er fand das Kaminbesteck und schaufelte eifrig Glut in Bücherregale, auf zerborstene Tische und unter die Vorhänge. Er arbeitete schnell und gründlich, bis ihn eine Stichflamme, deren Druckwelle ihn rückwärts in den Kreis schleuderte, belehrte, dass etliche der magischen Tinkturen leicht entflammbar waren.

Binnen eines Wimpernschlags rasten Flammen ringsum, knallten Explosionen und loderte Brand gierig die Bücherregale hinauf.

Neben Belac tropfte Blut in den Kreidekreis, und er sah zu, dass er auf die Beine fand, keuchte in der Gluthitze des brennenden Turmzimmers. Gleich darauf schlug nun tatsächlich mit einem dumpfen Klatschen der Leichnam des Magiers in der Mitte des Kreises auf, und sofort sprangen Funken und Flammen auf die Kutte des Toten.

Belac stolperte einen Schritt zurück, spürte auch hinter sich die Hitze des Brandes eilig näher kommen – und ein ungehöriges Lachen in der Kehle, das ihn den Kopf kosten würde, wenn er nicht endlich zusah, wie er hier wieder hinauskam!

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739374062
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Januar)
Schlagworte
Magie schwul deutsch Gay Romance Fantasy Romance Liebe gay Liebesroman

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Katzen, Hunde und Pferde beeinflussen Leben, Alltag und natürlich das Schreiben. Nach vielen Geschichten, die ich rückblickend als „Versuche, das Schreiben zu lernen“ bezeichne, sind bisher mehrere Kurzromane und Kurzgeschichten von mir erschienen. Mein Roman „Arrion“ erblickte im September 2015 im Verlag Amrûn das Licht der Öffentlichkeit. 2016 folgte „Cajan“.
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Titel: Königsmacher