Ich habe in meinem Leben nie große Pläne gehabt. Ich bin das Blatt im Wind gewesen, das sich bei unruhigen Gezeiten in die Lüfte erhoben hat und irgendwohin geflogen ist. Sich hat treiben lassen. Dass es mich in die Nähe von Neapel verschlugen hat, ist mehr ein Unglückshauch als eine glückliche Fügung gewesen.
»Mistkarre!«, fluche ich und stoße mit der Hand gegen das Lenkrad.
Direkt neben einer rauen Küste und einem wunderschönen Sonnenaufgang hat der alte Fiat meiner Freundin Julia seinen Geist aufgegeben. Die Felsenküste liegt wie ein schroffer Teil eines Gebirges vor mir, hinter dem sich das glitzernde Blau einer Unendlichkeit wie ein Nebel aus Träumen erhebt. Die flirrende Luft ist heiß, der Duft von Zypressen hängt wie ein Parfum unter den Wolken und umspielt meine Sinne, die sich nach dem Sommer ausstrecken. In meinem luftigen, honiggelben Chiffonkleid steige ich aus dem Wagen und öffne die Motorhaube. Ich finde den Motor – keine Selbstverständlichkeit, da die Motorik eines Autos nicht zu meinen Fachgebieten zählt. Ich bin Journalistin und keine Mechanikerin. Somit kann ich problemlos seitenlange Geschichten über Autoproblematiken schreiben, ein Essay darüber verfassen, wie desaströs eine Autofahrt an Neapels Küste enden kann, doch bin – wenn es darauf ankommt – hilflos einer Autopanne ausgeliefert. Ich könnte googeln: Rauchentwicklung, Fahrzeug springt nicht an. Help! Was tun? Ja, was denn? Selbst mit genauen Anweisungen wäre ich aufgeschmissen. Ich hätte kein Werkzeug dabei, um einen Versuch zu starten, die Karre zu reparieren. Für einen ordentlichen Ausweg aus dieser verzwickten Situation helfen mir ein Laptop und meine kreativen Gedanken wenig.
Ich stoße mich vom heißen Blech des Wagens ab und gehe an die Klippe nach vorne, von der es kein fahrbares Entkommen gibt. Immerhin, ich hätte es schlimmer treffen können. Ich hätte bei irgendeiner öden Biegung liegen bleiben können. Aber das hier, das, was ich gerade sehe, ist atemberaubend, wild … und wunderschön. Sagenhaft. Wenn schon keine Weiterfahrt möglich ist, dann zumindest ein Festsitzen an einer der bezauberndsten Küsten der Welt.
Ich starre auf das glitzernde Blau des Meeres, das wie ein Seidentuch ausgebreitet vor mir liegt, und seufze. Zu meinem Termin komme ich zu spät. Viel zu spät. Und ich habe keine Telefonnummer von meinem ominösen Terminpartner. Wer hat schon die Handynummer oder E-Mail-Adresse der Mafia? Ich ziehe eine Wasserflasche aus der Ledertasche, öffne sie und lösche meinen Durst, um wieder klar denken zu können. Die Flasche verschwindet leer getrunken in der Handtasche, genauso wie die Hoffnung auf die Story des Jahres. Bye, bye, Pulitzerpreis! Bye, bye, Prämie, mit der ich mir eine nagelneue Vespa in Knallrot kaufen wollte. Enttäuscht stütze ich den Kopf in die Hände und entscheide, nach ein paar Minuten des Selbstmitleids, zu Fuß weiterzugehen. Theoretisch sind es nur zwanzig Kilometer bis zu meinem Endziel. Kann man zwölf Meilen in Flip-Flops und einer brütenden Hitze überleben?
Zumindest kann man es dreißig Minuten lang. Ich bin eine gefühlte Ewigkeit auf dünnen Sohlen unterwegs, was den letzten Funken Ausdauer nach jedem Schritt aufs Neue prüft. Der Schweiß rinnt nass über meine Stirn, die Sonne flackert am Horizont und scheint nur eine Aufgabe erfüllen zu wollen: mich zu verbrennen. Ich fächere mir Luft zu und laufe tapfer weiter. Dabei denke ich an all die Extremsportler – kurz genannt … irren Menschen –, die meilenlang durch die Wüste rennen, auf der Suche nach … Ja, was denn eigentlich? Hitzebedingt würde ich sagen, sie fordern eine Konfrontation mit dem Tod, vielleicht eine Nahtoderfahrung? Auch wenn man das einfacher erleben könnte als mit einem Hürdenlauf durch eine Sandwüste.
Motorengeräusche reißen mich plötzlich aus meinen Gedanken. Ein Auto! Na endlich! Rettung! Ich drehe mich um. Winke. Hüpfe. Hastig rudere ich mit den Armen in der Luft. Eine schwarze Limousine mit verdunkelten Scheiben rast in schneller Geschwindigkeit an mir vorbei.
»Vollidiot!«, brülle ich und zeige ihm den Stinkefinger. »Ich werde hier sterben! Welches Arschloch ignoriert eine Frau, die kurz vor dem Verdursten steht?!«
Plötzlich legt der Wagen eine Vollbremsung hin. Die Reifen quietschen. Eine heftige Staubwolke wirbelt über den grau flirrenden Beton. Das Auto fährt rückwärts. Am Rande einer Kurve hält es an. Der Staubnebel lichtet sich und die Sonne bringt die schwarze Karosserie zum Glänzen. Einige Meter vor mir stehen die vier Räder still. Niemand steigt aus. Seltsam. Ich beobachte die exklusive Karre aus sicherer Entfernung. Vielleicht hätte er doch weiterfahren sollen. Oder ist es eine sie?
Schwungvoll geht die Beifahrertür auf. Polierte Männerschuhe berühren den staubigen Boden. Bewegung kommt ins Spiel. Eine schwarze Stoffhose, dann ein muskulös gebauter Oberkörper und schlussendlich das kantige und harte Gesicht eines Mannes Mitte vierzig, dessen Haar grau meliert ist, erscheinen. George Clooney Style. Auf der Nase sitzt eine dunkle Sonnenbrille, die er sich zurechtrückt. Er streicht sich sein schwarzes Sakko glatt und sieht zu mir. Als er zwei Schritte hinter den Wagen macht, wirbelt er den Staub der trockenen Straße auf, der sich träge über das glänzende Leder seiner Schuhe legt. Ein Kopfnicken in meine Richtung, dann Worte, die auf mich zielen: »Signora Branson?«
Ungläubig starre ich den Mann an.
»Signora Branson?«, fragt er abermals, als ich nicht antworte, und kommt näher.
Stumm nicke ich. Trage ich ein Schild oder eine Tätowierung mit meinem Namen?
»Wir wurden von Emanuele De Luca geschickt, um Sie abzuholen. Sie hatten sichtlich ein Problem mit Ihrem Wagen.«
Problem? Die Karre hatte einen Hitzekollaps. Man wird sie aus ihrem Dornröschenschlaf nicht mehr erwecken können. »Woher wussten Sie von meiner Panne?« Nervös mache ich ein paar vorsichtige Schritte auf den Unbekannten zu, auch wenn Zurücklaufen die weitaus sicherere Alternative wäre, doch ich werde von Gefahr ebenso angezogen wie von Stracciatella Eis mit Sahne.
Er öffnet die Hintertür der Limousine.
»Wir wissen so einiges, Signora. Darf ich bitten?«
Steig nicht in das Auto eines Fremden! Alle Warnungen aus der Kindheit echoen in meinem Kopf.
»Wir bringen Sie zu Signore De Luca. Er hasst es, zu warten. Veni! Um Ihren Wagen kümmern wir uns später.« Er wirkt ungeduldig wie jemand, der keine Zeit darauf verschwenden will, länger hier stehen zu bleiben.
Mein Herz pocht aufgeregt vor sich hin, was nicht an der Hitze liegt. Mit jedem naiven Schritt, den ich auf das Auto zumache, verstärkt es seine Schläge wie eine Armee an warnenden Soldaten. Mein Verstand fordert mich auf, umzudrehen, zum Fiat zurückzukehren, davonzulaufen. Doch das erfolgshungrige Ego, das einen narzisstischen, unkontrollierbaren Part in mir eingenommen hat, möchte zum Anwesen der Familie De Luca fahren. Eine andere Variante stand nie zur Debatte. Entweder wäre ich verschwitzt mit dem Fiat auf das Grundstück angerollt, oder eben in dieser mit Klimaanlage ausgestatteten Luxuskarre. Ich hätte es schlimmer treffen können. Wovor habe ich plötzlich Angst? Wenn ich jetzt den Rückwärtsgang einlege und zurück nach Rom düse – oder retour laufe – würde mir alles entgehen. Eine komplett fremde Welt. Eine wahnsinnig spannende Geschichte – vielleicht die Story meines Lebens, die mich berühmt machen würde, und das Abenteuer, das mich aus meiner Alltagslethargie reißen wird. Ich muss De Luca treffen, auch wenn mir dieser Abholservice mehr als suspekt ist. Ungeduldig trommelt der Beifahrer auf das Autoblech und mustert mich wie eine unliebsame Fracht, die er abzuliefern hat, ehe er zu seinem Mittagessen kommt.
»Okay, okay, ich komme ja schon«, murmele ich, doch ehe ich einsteigen kann, werde ich auf Waffen untersucht.
Mit einem tiefen Atemzug rutsche ich auf die Rückbank.
Das mulmige Gefühl klammert sich an mich, dieses Mal verstärkt, als wäre es sauer, dass ich die warnenden Herzschläge und das Zittern in den Händen ignoriert habe. Ich streiche mit den Fingern über das kühle, glatte Leder der Sitzbank, das meine Oberschenkel in den nächsten Minuten wieder auf Normaltemperatur bringen wird, und sauge die klimatisierte Luft in die Lungen wie ein Taucher, der in eine andersartige Welt abdriften will. Alles wird gut werden.
Der Fahrer blickt über den Rückspiegel zu mir. Mit einem tiefen »Buongiorno« begrüßt er mich, dann startet er den Motor. Er trägt ebenso einen dunklen Anzug, schwarze Sonnenbrille und glatt frisiertes Haar. Sein Gesicht ziert ein aufgesetztes Lächeln, das seine kantigen Züge versucht, zu entschärfen, doch gelingt es nicht. Der Beigeschmack von Kompromisslosigkeit gegen Leute, die ihm zuwider sind, bleibt. Der Beifahrer, der mir eben noch die Tür aufgehalten hat, rutscht zu mir auf die Rückbank.
»Signora, bitte setzen Sie diese hier auf!« Er zeigt mir eine schwarze, seidene Augenbinde, die man aus Filmen im Spätabendprogramm kennt.
Doch anstatt der Bitte nachzukommen, ziehe ich nur eine Augenbraue hoch.
»Kein höfliches Anliegen«, knurrt er. »Eine Aufforderung, Vorsichtsmaßnahme. Niemand darf wissen, wo das Gelände der De Luca Familie liegt.«
»Aber ich habe sogar die Adresse«, spotte ich und entsende ein überhebliches Grinsen in seine Richtung.
»Sie haben nicht die Anschrift des Anwesens. Lediglich eine Adresse. Weit entfernt von der Casa! Der Wohnsitz der Familie De Luca ist ein gut gehütetes Geheimnis, beinahe so mysteriös wie Atlantis«, sagt er und seine Überlegenheit wirkt anmaßend.
Missmutig neige ich den Kopf, damit er mir die Augenbinde anlegen kann. Als er das tut, verdunkelt sich die Welt um mich herum. Die lauten Herzschläge in meinem Inneren füllen die Ungewissheit und Dunkelheit aus. Es war ein Fehler, in den Wagen zu steigen. Eine ganz große Dummheit, hierherzukommen! Das alles hier wird böse enden.
Bitterböse.
»Andiamo!«, ruft der Typ neben mir und klopft auf etwas, das wie hartes Leder klingt.
In Gedanken erinnere ich mich an die wesentlichen Merkmale der zwei Männer, sollte ich entführt werden und sie später – im Falle einer unwahrscheinlichen Rettung – identifizieren müssen: Beide tragen dunkle Anzüge, schwarze Sonnenbrillen und braunes Haar. Sie sind über vierzig, aber unter fünfzig. Italiener, wie man unschwer an der perfekten Aussprache und ihrem Auftreten erkennen kann. Groß gewachsen. Ihr Erscheinen signalisiert elegante Männlichkeit gepaart mit gefährlicher Dominanz. Einladend gefährlich. Das Auto, in dem ich sitze, ist kostspielig, eindeutig eine Spezialanfertigung, das erkennt man an der teuren Sonderausstattung. Vermutlich kugelsicher. Ich gehe das Kennzeichen in meinem Kopf durch. Nur für den Fall, dass … Doch plötzlich versagt das selbst auferlegte Beruhigungsritual, denn eine einzige Frage ist alles, was mich noch beschäftigt: Komme ich lebend aus der Sache raus?
»Woher wussten Sie, dass ich ein Problem mit dem Wagen habe?«, will ich wissen und lasse einen hörbaren Zynismus mitschwingen.
Der Beifahrer stöhnt. »Signorina, Sie haben ein Treffen mit Emanuele De Luca. Er überlässt nichts dem Zufall und schon gar nichts dem Schicksal. Er weiß alles. Immer.«
Ich nicke knapp und halte mich am kalten Türgriff fest. Keine Ahnung, warum ich mir das antue, weshalb ich unbedingt eine Geschichte über diesen mächtigen Clan schreiben will. In der Redaktion haben mich alle davor gewarnt und haben es als absurd abgestempelt. Die naive Amerikanerin möchte die geheimen Machenschaften der De Lucas aufdecken, haben sie im Büro gewitzelt, doch darin versteckt war kein Witz, sondern Argwohn, Absurdität, eine gewisse Unverständlichkeit mir gegenüber. Dabei will ich die Mafia nicht herausfordern, nur verstehen, wie das System »Untergrundorganisation« funktioniert.
Und die De Luca Familie ist nun mal der Bugatti unter ihnen. Sie sind eine, wenn nicht die einflussreichste Mafiafamilie Italiens.
Als meine Kollegen erfahren haben, dass ich eine Einladung für ein Interview mit dem großen Emanuele ergattert habe, ist allen die Spucke weggeblieben. Immerhin bin ich aus den Staaten.
»Wieso eine Amerikanerin?«, hat Fabrizio heute Morgen gegrübelt, als ich mich mit einem Kuss von ihm verabschiedet habe.
Mit Fabrizio habe ich mehr Glück als Verstand gehabt, denn uns verbindet eine lockere Bettgeschichte. Wir haben uns bei der Zeitung, bei der ich arbeite, kennengelernt. Ein verheißungsvolles Treffen vor der Mikrowelle, verbunden mit dem kläglichen Scheitern, Makkaroni mit Käse darin aufzuwärmen, hat uns zusammengebracht. Eine glückliche Fügung mit einer aussichtslosen Zukunft. Er hat die Makkaronibox gesehen, und sie mit einem Kopfschütteln und einem angeekelten Ausdruck in den Augen aus meinen Händen entrissen und in den Müll geworfen, weil niemand Nudeln mit Käse aus einem Pappbecher verzehren sollte. Nicht in Italien!
Was soll ich sagen, damit hat er mein hungriges Herz gewonnen. Ich stehe nun mal auf den männlichen Beschützertyp. Er ist mit mir Pasta essen gegangen und damit ist unser Liebesschicksal besiegelt gewesen. Letztendlich konnte mich nur sein Body überzeugen, nicht sein Charakter, denn mehr als Anziehung und guter Sex ist da nicht zwischen uns. Er ist chaotisch, selbstüberzeugt, will sich nicht binden und findet jede Frau schön, die ihm in High Heels und einem kurzen Röckchen über den Weg läuft. Ein italienisches Laster und Desaster. Das Che-Bella-Syndrom, als das ich es bezeichnen würde.
»Du solltest absagen, lass es bleiben«, hat er gesagt, als wir heute bei einem zeitlichen Frühstück gesessen haben. »Wer weiß, was die mit dir vorhaben. Vielleicht ist die Geschichte nur ein Vorwand und du landest in einem Bordell. Hübsch genug wärst du ja. Oder sie schlachten dich aus. Organhandel und so, du weißt schon.« Dabei hat er die Frühstücksflocken mit seinem Kiefer zu Brei gemalmt und sie mit einem Schluck Kaffee nachgespült.
Stirnrunzelnd hat er auf eine Antwort à la: »Du hast recht Darling, ich mache es nicht und bleibe bei dir im warmen Bett, um weiter über Trends in der Toilettenkosmetik zu schreiben!« gewartet. Ich habe überzeugt den Kopf geschüttelt, den Rest des Kaffees in meinen Rachen gekippt, und mich nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen, nach Süditalien zu reisen.
Natürlich kenne ich die ganzen Schauerstorys über die Mafia. Aus Filmen und Büchern, aus unzähligen Recherchen – doch was davon stimmt? Was ist wirklich wahr? Ab heute habe ich die Gelegenheit, im selben Haus mit ihnen zu wohnen, dieselbe Luft zu atmen. Es wird das Abenteuer meines Lebens werden! Ich wollte Achterbahn fahren, um der Langeweile des Alltags den Stinkefinger zu zeigen. Vorhin bin ich offiziell in das Wagnis eingestiegen, ohne den Sicherheitsgurt anzulegen, nun gibt es kein Zurück mehr.
Vor Wochen hat die Redaktion eine Ausschreibung für Autoren, die Story von Emanuele De Luca zu verfassen, erreicht. Ich habe mich beworben und mir dabei null Chancen ausgerechnet. Warum die Wahl ausgerechnet auf mich gefallen ist, ist vielen ein Rätsel. Laut des Schreibens der Familie darf ich nur das zu Papier bringen, was der Big Boss will. So der Deal. Dass ich vorhabe, eine ganz andere Story zu veröffentlichen, wissen sie nicht. Natürlich nicht. Und dass es absolut naiv von mir ist, zu glauben, damit davonkommen zu können, wahrscheinlich auch. Doch die besten Journalisten sind die, die sich zu weit aus dem Fenster lehnen und mit ihrer Unvernunft spielen. Immerhin bin ich auf der Suche nach Abgründen, nach der Geschichte, die niemand erzählt, die verborgen im Halbdunkel liegt. Es wird die Enthüllungsstory des Jahres – nein, des Jahrzehnts! Ich sehe die Headline schon vor mir: Die dunklen, geheimen Machenschaften der De Luca Familie. Mit diesem Artikel werde ich zur Elite der Journalisten weltweit aufsteigen. Und danach um Asyl in Grönland ansuchen müssen. So viel ist sicher.
Etliche Minuten fahren wir auf ebenem Untergrund dahin. Der Innenraum ist erfüllt mit dem Aftershave der beiden Männer. Holz trifft auf Erde. Amber auf Orange. Niemand sagt etwas. Puccini dringt aus den Boxen an mein Ohr. Eine Melodie, die ich erst kürzlich in einer Wellnessoase gehört habe, doch mit Entspannung hat das hier nichts zu tun.
Wir sind eine ganze Weile unterwegs. Zwanzig Kilometer, dreißig Kilometer? Wie lange schon? Wir müssten längst da sein. Wohin bringen sie mich?
»Sind Sie sicher, dass Sie den Weg kennen? Sollten wir nicht bereits an unserem Ziel angekommen sein?«
»Keine Sorge. Wir sind gleich da. Sie wissen die Endadresse nicht. Oder glauben Sie noch immer, Emanuele De Luca würde Ihnen seine Wohnadresse geben? Dann hätten sie ebenso gut im Telefonbuch nachsehen können.« Beide lachen aus ganzer Kehle, als hätte ich ihnen gesagt, dass die Queen meine Großmutter sei. Wenn Absurdität ein Lachen besitzt, dann dieses.
»Der Wohnsitz der Familie De Luca ist ein Geheimnis. Ein Mysterium. Einige glauben sogar, sie würden nicht in Italien leben. So gut versteckt sind sie. Aber das sind Gerüchte, denn eines können wir Ihnen versprechen: Wir bleiben auf italienischem Terrain«, erklärt der Fahrer.
»Dann bin ich aber froh, dass wir nicht Richtung Afrika driften, denn ich habe keinen Reisepass dabei und die Höhe des Lichtschutzfaktors wäre für afrikanische Gefilde zu niedrig«, grummele ich und halte mich am kalten Türgriff fest. Ob ich ihn öffnen und hinausrollen soll? Wie schnell fahren wir? Und wo, verdammt noch mal, sind wir?
»Keine Sorge«, ergänzt der Mann neben mir. Pah! Der Satz mit den versucht beruhigenden Worten »Keine Sorge« verursacht ein kleines hyperventilierendes Problem in meinem Kopf, denn Aussagen, die diese Wörter beinhalten, enden ausnahmslos immer in Katastrophen. Das hat mich die Erfahrung gelehrt.
Wir stoppen. Wo halten wir? Die Fensterscheibe wird hinuntergelassen. Ein summendes Geräusch erklingt. Dann dieselbe Tonfolge erneut. Die Glasscheibe wird wieder hochgefahren. Aufbruchstimmung macht sich im Innenraum breit. Sie vertreibt das Schweigen, das die ganze Zeit im Wagen gehangen hat. Ist es zu spät für eine Stuntrolle in die Freiheit? Nein, aber dazu hätte ich kein Talent, selbst dann nicht, wenn das Auto steht. Und wer springt schon gerne ins Schwarze?
Das Fahrzeug kommt wieder ins Rollen, dieses Mal gemächlich, langsam, als würde ich eine Beute sein, die man im Schneckentempo einer Schlange entgegenführt. Erneutes Schweigen hängt rätselhaft im Wagen wie der Nebel nach einem Gewitterregen auf Asphalt. Plötzlich ist eine Hand an meinem Gesicht. Ich erschrecke. Doch es folgt Helligkeit. Die Augenbinde ist entfernt. Das Aftershave nach Amber und Orange kitzelt mich in der Nase. Ich sehe in braune Augen, die dieses Mal nicht von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt werden.
»Benvenuto, Signora Branson, a la casa De Luca!«, flötet der Beifahrer kehlig und deutet präsentierend aus dem Auto, als würde er mich in eine besondere Welt einführen wollen.
Zaghaft sehe ich durch die verdunkelten Fensterscheiben. Erst zur Seite, dann zurück. Hinter uns liegt ein großes, schwarzes Tor, welches aufgrund seiner Wuchtigkeit einschüchternd wirkt. Gerade ist es dabei, sich automatisch zu schließen. Zwei bewaffnete Männer spazieren vor dem Eingang auf und ab, sie wirken wie Elitesoldaten, die die Zufahrt bewachen. Dunkelgraue Kappen schützen ihre Köpfe und Schusswesten bedecken ihre Oberkörper, die bei den heißen Temperaturen einiges an Disziplin bei ihren Trägern abverlangen. Wir rollen eine gepflasterte Straße entlang, die sich durch einen Olivenhain schlängelt. Das gesamte Gelände ist von hohen, schlanken Bäumen umgeben, die sich wie Zinnsoldaten aneinanderreihen. Oleandersträuche mit pinken Blüten verleihen dem Ort eine lebendige Schönheit, die durch den blauen Himmel, der sich über das Anwesen spannt, akzentuiert wird.
Auf einem großen Parkplatz mit Springbrunnen, vor einer gigantischen terrakottafarbenen Villa, halten wir. Das Gebäude ist kolossal, schön, doch wie eine Festung, die niemanden freiwillig hinein- oder hinauslässt. Das Wasser im Brunnen plätschert besonnen vor sich hin und erweckt einen falschen Eindruck von Ruhe und Gelassenheit. Ich beobachte die Figuren darauf, die leidend zueinander blicken. Die Darstellung wirkt wie ein dramatischer Auftritt in einem Theaterstück. Zwei Personen greifen nach den Händen des jeweils anderen, doch kriegen sich nicht zu fassen. Wehmut liegt in ihren aus Stein gemeißelten Gesichtern. Unschwer zu erkennen, ein Mann und eine Frau. Ein starker Mann, der seine Geliebte zu sich ziehen will, doch irgendetwas hält sie zurück.
Fehlende Liebe? Eine fremde Macht? Ablehnung ihrerseits? Nein, ihre Mimik wirkt nicht so, als würde sie davonlaufen wollen, vielmehr möchte sie zu ihm, doch kann es nicht, als würden unsichtbare Hände sie an der Taille zurückhalten. Was sollen die Figuren auf diesem Brunnen aussagen? Die gesetzte Dramaturgie beschäftigt mich und wirft Fragen auf.
Erst als der Beifahrer aus dem Auto steigt, komme ich wieder im Jetzt an. Er öffnet mir die Tür, doch ich zögere, denn ich erblicke eine kleine Truppe an Männern, die neben dem parkenden Fahrzeug vorbeimarschiert. Alle tragen dieselbe Uniform: Kappen und schwarze, feste Schuhe, ähnlich wie die Typen, die am Eingang das Tor bewachen, nur mit dem Unterschied, dass sie keine Schusswesten anhaben und man ihre trainierten Oberkörper in den weiß anliegenden T-Shirts erkennen kann. Um ihre Hüften geschnallt: Pistolen. In Rom sind mir vergleichbare Gestalten untergekommen, die die Sehenswürdigkeiten vor Terroranschlägen sichern. Doch das ist keine Touristenattraktion, sondern eine Festung, als drohe hier weit Schlimmeres als ein Anschlag. Insofern es dafür noch eine Steigerung gibt.
Der Fahrer, der mich durch den Rückspiegel beobachtet, klärt mich auf: »Das sind De Lucas Männer. Sie beschützen das Grundstück und alles, was Emanuele wichtig ist. Auch seine Gäste. Gewöhnen Sie sich an den Anblick, denn sie werden Ihr Schatten sein.«
Sie werden jeden meiner Schritte beobachten – das ist es, was er sagen will. Ich nicke knapp, denn mir ist alles, was mit Gewehren, Pistolen oder Messern zu tun hat, suspekt. Wenn es nach mir ginge, würden wir in einer Welt leben, in der Gewalt keinerlei Existenzberechtigung hat. Es wäre eine glückliche Welt. Doch es ist ein naiver Traum von mir, das weiß ich.
»Wie heißen Sie zwei Men in Black eigentlich?«, frage ich.
Beide sehen mich ernst an, dann entrutscht einem ein Lachen. »Man in Black Nummer eins ist Fernando, ich bin Giuseppe.«
»Ella«, erwidere ich. »Ist mir lieber als Signora Branson.« Dann steige ich aus.
Erstmalig berühre ich De-Luca-Terrain. Sofort umgarnt mich heiße Luft, kein Wunder, steht die Sonne im Zenit. Sie glüht unbarmherzig auf den Kies und die terrakottafarbene Villa nieder. Mit jedem Schritt, den ich mache, fürchte ich, dass die Entscheidung, hierherzukommen, ein gewaltiger Fehler war. Und dennoch hat dieser Ort etwas an sich, das mir vertraut vorkommt, regelrecht einladend wirkt. Ein ambivalentes Gefühl: hin- und hergerissen zwischen Vorwärtslauf und Rückwärtsgang.
»Bereit, sich auf all das einzulassen?«, fragt mich Fernando und geht zielstrebig auf das Eingangstor zu. Eine schwere Holztür entscheidet über Einlass oder Ausschluss.
»Keine Angst, Signora Br… Ella«, erwidert Giuseppe und dirigiert mich nach vorne zu den Stufen. »Sie sind der Gast von Signore De Luca, und solange Sie sich an seine Spielregeln halten, werden Sie das auch bleiben. Zu geladenen Besuchern ist er äußerst zuvorkommend und zu Damen ohnehin ein wahrer Gentleman.«
Nicht fürchten? Leicht gesagt, vor allem, wenn man so stark ist wie Giuseppe oder Fernando. In ihrer Gegenwart komme ich mir schmächtig vor, und im Gesamten zu unbewaffnet und hilflos für diesen Ort. Die Angst durchflutet mich wie eine Welle den Sandstrand, und wirbelt Unruhe in mir auf. Aufregung gesellt sich hinzu und hinterlässt einen herben Beigeschmack von Ungewissheit.
Dabei sollte ich viel mutiger sein, käme ich nach meinem Vater. Er war Polizist in Rom, stammte aus Kampanien, so wie Emanuele De Luca. Doch ich habe ihn nie kennengelernt, denn er ist vor meiner Geburt gestorben. Daraufhin ist meine Mutter mit mir zurück in ihre Heimat Seattle gegangen, wo ich aufgewachsen bin und später mit dem Journalismusstudium begonnen habe. Sie hat die italienische Kultur nicht verachtet und mir Italienisch beigebracht, denn ich habe mich schon immer zu diesem Land hingezogen gefühlt. Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, mit ihrer Musik, dem italienischem Essen und dem Erlernen ihrer Sprache meinem Vater ein Stück näher zu sein, denn alles, was mir von ihm geblieben ist, sind Fotos und Erzählungen meiner Mutter.
Leider ist ihr Gedächtnis mit der Zeit erloschen, da sie an Alzheimer erkrankt ist. In viel zu jungen Jahren. Es ist erschütternd für ein Kind, wenn die eigene Mutter ihre Tochter nicht wiedererkennt. Aus der liebevollen Mama mit den vielen schönen Erinnerungsstücken ist eine Frau geworden, die ihr altes Leben und mich vergessen hat, als würde sie leugnen wollen, ihr Herz an einen Mann verschenkt zu haben. Als würde sie mich leugnen wollen. Und mit ihr stirbt auch die Erinnerung an meinen Vater, denn ich habe keine einzige von ihm. Nur die vielen Fotos und eine blühende Fantasie. Angeblich hat er lange Zeit in Rom gegen die Mafia gearbeitet, weshalb ich mich dazu entschlossen habe, das Journalismusstudium in der Hauptstadt Italiens fortzuführen. Erst dort habe ich die Neugierde für die dunklen, kriminellen Seiten des Landes entdeckt. Mein Vater ist ein Kämpfer für das Gute gewesen und ich schlage in eine ähnliche Kerbe, denn ich möchte das Böse aufdecken und der Welt davon berichten. Wie eine Motte vom Licht wurde ich angezogen von den dramatischen Geschichten der Syndikate in Italien. Ich habe unzählige Bücher gelesen, Interviews geführt und jedes Detail aufgesaugt, das ich über sie finden konnte. Ich habe mich oft gefragt, wie wahr die Fakten über die Camorra, ’Ndrangheta oder die Cosa Nostra sind, und mir Nächte um die Ohren geschlagen, um zu recherchieren. Und nun bin ich hier und kann alles in Echtzeit in Erfahrung bringen, was ich schon immer über sie wissen wollte.
Glatteis. Das ist es, auf dem ich jetzt stehe.
Giuseppe öffnet die Tür und deutet mir den Vortritt an.
Zaghaft betrete ich das einschüchternde Gebäude, das die Macht und das Geld der De Luca Familie in voller Pracht widerspiegelt. Weißer Marmor zieht sich glänzend durch die prunkvolle Eingangshalle, die mit hohen, cremefarbenen Säulen gestützt ist. Ein breiter Treppenaufgang führt in die obere Etage und schlängelt sich an schwarzen Skulpturen entlang. Zaghafte Bewegungen mache ich auf dem edlen Boden. Die Schritte meiner Begleiter sind hart und hallen auf dem Marmor nach. So laut, als würden sie ankündigen wollen, dass wir angekommen sind. Mit den Augen scanne ich die Eingangshalle ab, betrachte die großen, metallenen Lüster, die von der Decke baumeln, und sehe hoch auf die Galerie, als mich plötzlich ein flammender Blick mitten ins Herz trifft.
Dunkle Augen fixieren mich. Kraft und Dominanz schwappen mir entgegen, sodass ich mich wie ein Eindringling fühle. Ein Mann steht im Schatten des Sonnenlichts, das träge an uns vorbeischleicht. Die Hände des Fremden umklammern das Gelände, die Adern auf den Unterarmen treten vor Kraft hervor. Seine Miene wirkt angespannt. Zorn schwappt meinen Begleitern entgegen. Der Unbekannte trägt eine geheimnisvolle Aura, die mich anzieht. Das cremefarbene Hemd, das er bis zu den Ellbogen hinaufgekrempelt hat, verleiht ihm eine unnahbare Eleganz. Er betrachtet mich wie eine Beute. Sein Blick streift mich. Meinen Körper, genauso wie meine Seele. Der unheilvolle Moment pulsiert durch meine Adern, hämmert wild durch mein Herz, sodass es aussetzt und in seiner minutiösen Routine erschüttert wird. Braune Augen. Gefährliche, tiefbraune Augen inspizieren mich. Sie wirken wie eine optische Täuschung an bernsteinfarbenen Höhlen, in denen Geheimnisse verborgen liegen, die ein Mensch unmöglich entschlüsseln kann. Die Zeit steht still, unsere Blicke verkeilen sich ineinander.
Eine Sekunde.
Zwei Sekunden.
Eine gefühlte Ewigkeit lang existiert nur die Nichtigkeit eines Augenblickes, die sich in ihrer vollen Lebendigkeit in mein Herz gebrannt hat. Mit den Händen stößt er sich vom Geländer ab und marschiert harten Schrittes die Treppe hinunter.
Während er auf uns zugeht, behält er mich weiterhin im Blick. Die Muskeln, sichtbar unter dem anliegenden Hemd, sind ein perfektes Zusammenspiel an Erotik, Kraft und Dominanz. Würde er mir in einer Bar begegnen, ich würde alles dafür tun, seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Doch die Beachtung, die er mir seit meiner Ankunft zuteilwerden lässt, ist gerade zu viel für mich.
Giuseppe und Fernando sehen ehrfürchtig zu ihm und deuten ein Nicken an, was vielmehr einer Verbeugung ähnelt. Alles ergibt sich. Ihm, einem Mann, der diese magische, unvergleichliche Aura ausstrahlt, die mich anzieht und zugleich wegstößt. Davonlaufen.
Flieh, solange du noch kannst, flüstert mir der Wind zu, der durch ein offenes Fenster dringt und versucht, mich mit sich zu ziehen. Lauf! Lauf an einen sichereren Ort als diesen! Wir dürfen uns nicht begegnen – steht dem Unbekannten ins Gesicht geschrieben. Eine unmögliche Vorstellung, die mich noch näher an ihn binden wird.
Die Luft flirrt, sie ist voller Spannung.
Er kommt näher.
Mein Herz schlägt in schnellem Takt. Bumm. Bumm. Bumm. Bumm.
Knapp vor mir bleibt er stehen.
»Wieso ist sie hier?«, knurrt er.
Unter seinem linken Auge thront eine Narbe, die eine Geschichte erzählen mag, die er nicht preisgeben will.
Drohend hebt er eine Hand und schießt mit dem Blick auf die beiden Männer.
»Ihr solltet es verhindern! Sie darf nicht hier sein! Sie hätte nicht herkommen dürfen!«, zischt er, packt meinen Arm und schüttelt mich, so heftig, dass ich erschrecke.
»Au!«, rufe ich. »Sie tun mir weh!«
Doch das scheint ihm egal zu sein, er registriert nicht, dass sein fester Griff zu stark für meinen schmächtigen Unterarm ist. Die beiden nicken reuevoll, dann senken sie ihren Blick.
»Es war unser Auftrag«, sagt Giuseppe leise und die beiden kommen mir wie mickrige Gestalten vor, wo sie im Vorfeld kräftige Bodyguards verkörpert haben. Wer ist er? Wer ist dieser Mann, der es vermag, solch robuste Mannsbilder einzuschüchtern?
Der Unbekannte lockert den Griff und lässt mich los. Ich taumele nach hinten. Sein Zeigefinger schnellt in meine Richtung, als stünde ich am Pranger.
»Dein Untergang, Fiorella und meine Bürde! Du hättest nicht herkommen dürfen. Niemals! Und eure Schuld!«, knurrt er zu meinen Begleitern. »Ihr tragt die Verantwortung!«
Mit diesen Worten dreht er sich um und geht. Sein Schrittklang ist mehr eine Kampfansage als ein Abgang. Hinter ihm fällt die Eingangstür schwer ins Schloss, als würde er damit ein Gefängnis schließen. Er hinterlässt nichts als eine fragende Atmosphäre, die den Raum kalt ausfüllt.
Woher kennt dieser Mann den Namen, den nur meine Mutter immer zu mir gesagt hat?
»Wer war das?«, will ich wissen und sehe Giuseppe und Fernando an.
»Signore De Luca.«
»Das war Signore De Luca?« Ich dachte, er wäre älter und nicht so gut aussehend, und nicht … und überhaupt … Himmel!
»Es ist sein Sohn. Der älteste Sohn von Emanuele und rechtmäßiger Nachfolger des De Luca Clans. Einer der mächtigsten Männer Italiens. Besser, Sie gehen ihm aus dem Weg. Er will Sie hier nicht haben.«
Irritiert sehe ich Giuseppe an.
»Keine Sorge, Sie wurden eingeladen, um die Geschichte von Emanuele De Luca aufzuschreiben. Weiteres muss Sie nicht interessieren. Halten Sie sich von Angelo fern. Solange Sie das tun, was man von Ihnen verlangt, wird Ihnen nichts geschehen, und Sie bleiben Gast in diesem Haus.«
Ein weiterer Satz mit keine Sorge. Das wird in einer Katastrophe enden.
Fernando zeigt mir das Zimmer, welches für die kommende Zeit mein neues Zuhause sein wird. Es liegt im ersten Stock der Villa und wirkt, konträr zur einschüchternden Eingangshalle, freundlich und charmant. Es ist ganz nach meinem Geschmack eingerichtet. Ein großes Himmelbett mit verschwenderisch vielen Kopfkissen nimmt den Großteil des Raumes ein. Der cremefarbene Steinboden, der den Füßen im Hochsommer als wahre Abkühlung dient, harmoniert mit den hellen Wänden, die mich umgeben. Ein kleiner Balkon gibt eine atemberaubende Sicht auf die Olivenhaine und das offene Meer frei. Lange seidene, weiße Vorhänge flattern im Wind und lassen die Sonnenstrahlen ungehindert durch das geöffnete Fenster tanzen.
Ich fühle mich wohl, obwohl ich nicht die Absicht habe, mich hier zu Hause zu fühlen. Doch der Raum versucht, mich mit seiner Atmosphäre umzustimmen. Neben dem Balkon befindet sich ein kleiner, weißer Sekretär, eine alte Rarität, die ich bezaubernd finde. Ein Brief liegt auf der Holzfläche, auf dessen Umschlag mein Name steht. Ich greife danach, doch dann klopft es an der Tür.
»Sì«, antworte ich und drehe mich um. Giuseppe betritt mit meinen beiden Gepäckstücken das Zimmer.
»Woher haben Sie … Sie hatten keine Schlüssel! Sind Sie in mein Auto eingebrochen?« Ich stemme die Arme in die Flanken.
Er zuckt mit den Schultern. »Der Wagen ist ohnehin Schrott. Eigentlich war er das schon vor dem hitzebedingten Kollateralschaden. Und Frauen können nie lange ohne ihr Gepäck auskommen. Es bestand also dringender Handlungsbedarf«, kontert er und lacht verhalten.
Erbost greife ich nach dem Koffer und der Umhängetasche.
»Das Auto, in das Sie eingebrochen sind, gehört mir noch nicht einmal!«, wüte ich und stelle die Gepäckstücke in die Ecke.
Er ignoriert meine Anmerkung. »Lassen Sie uns wissen, wenn Sie noch etwas brauchen.« Dann dreht er sich um und geht.
»Einen neuen Wagen für meine Freundin und … tja, das Bild der Mona Lisa, das würde gut an die Wand passen. Finden Sie nicht?«, rufe ich. Er zögert, dreht sich um und hebt eine Augenbraue. »Können Sie für mich in den Louvre einbrechen? So ganz spontan mal, nebenbei?! Sichtlich haben Sie ein Händchen für Besitzentwendungen!«
»Das ist in Frankreich!«, empört er sich. »No, grazie, diesen Auftrag lehne ich ab. Ich hasse Paris und Franzosen. Keinen Fuß setze ich in das verrückte Land!«
Kopfschüttelnd verlässt er das Zimmer, als hätte ich ihm eine Reise zum Mond vorgeschlagen. … Oder als würde ich ernsthaft in Erwägung ziehen, in einer Nacht- und Nebelaktion in den Louvre einzufallen.
Ich gehe nach draußen auf den Balkon, um das Gelände zu inspizieren, und sauge die warme Luft in die Lungen. Obwohl die Veranda Freiheit bedeutet, fühlt es sich nicht so an, denn ich weiß, dass ein Kommen und Gehen in diesem Haus nach meiner Vorstellung unmöglich sein wird. Was bleibt, ist die Aussicht, die ein Stück von der Welt preisgibt, die meine ist.
Zurück im Zimmer setze ich mich an den Sekretär und nehme den Brief vom Tisch. Vorsichtig öffne ich das Kuvert, welches mit dem Familiensiegel der De Lucas verschlossen ist. Eine handgeschriebene Nachricht, mit einem eleganten Schriftzug, unterzeichnet von Emanuele persönlich, liegt in meinen Händen.
Benvenuto in der Casa De Luca, Signora Branson.
Ich hoffe, Sie sind gut angekommen und fühlen sich in unserem Hause wohl. Wir speisen heute um 20:30 Uhr auf der Westterrasse zu Abend. Bitte ziehen Sie sich ein schickes Kleid an. Ich habe mir erlaubt, eine kleine Auswahl aus der aktuellen Luca d’Oro Kollektion zu treffen. In Ihrem Kleiderschrank finden Sie passende Roben, die Ihnen schmeicheln werden. Ich freue mich auf unser Kennenlernen und Ihre Gesellschaft. Wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es das Personal wissen! Fühlen Sie sich bei uns wie zu Hause.
Es grüßt Sie in freudiger Erwartung,
Emanuele De Luca
Eine neue Garderobe? Ich lege den Brief beiseite, springe auf und gehe an den Kleiderschrank. Meine Augen bekommen die Größe von Untertellern, als ich die Schiebetür zur Seite manövriere. Drei wunderschöne Roben kommen zum Vorschein, die sich im Stil und in ihrer Aufmachung übertreffen.
Das erste Kleid ist smaragdgrün, hat einen V-Ausschnitt und ist aus einer edlen Stoffqualität gefertigt. Auf dem Etikett lese ich den Namen der exklusiven italienischen Designermarke Luca d’Oro – das bekannte Textilunternehmen der Familie. Nach einer kurzen Inspektion hänge ich die Robe zurück, denn es gewährt Einblicke in das Dekolleté, die ich nicht geben will. Nicht heute. Und nicht hier.
Das zweite Kleid in der Farbe Rot ist bodenlang und hochgeschlossen. Wunderschön, doch zu auffällig und zu mutig für mich. Es würde eine falsche Botschaft aussenden.
Meine Finger greifen nach dem letzten Stück. Ein dunkelblaues, langes Seidenkleid, zurückhaltend, welches die notwendige Kühle und Distanziertheit signalisiert. Es ist die perfekte Wahl für heute Abend. Das ideale Kleid für ein erstes Aufeinandertreffen mit meinem Gastgeber.