Lade Inhalt...

Zwillinge in Dur und Moll

von Brigitte Teufl-Heimhilcher (Autor:in)
406 Seiten

Zusammenfassung

Veränderung ist am Anfang schwer, chaotisch in der Mitte, aber am Ende einfach großartig!(unbekannter Verfasser) Roswitha und Vicky sind Zwillingsschwestern, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Vicky, lebensfroh und tatkräftig, ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau, und obwohl sie erst vor Kurzem ihren Mann verloren hat, sieht sie vertrauensvoll in die Zukunft. Roswitha hat scheinbar alles, um glücklich zu sein – ein großes Haus, Familie und einen Job in der Firma ihres Mannes. Ein Schicksalsschlag führt die beiden nach langer Zeit wieder zusammen. Vicky stellt bald fest, dass ihre Schwester mit ihrem Leben unzufrieden ist. Sie versucht herauszufinden, woran das liegen könnte und macht dabei ganz erstaunliche Entdeckungen, die das Leben aller Beteiligten drastisch verändern – auch das ihre.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Brigitte Teufl-Heimhilcher

 

 

 

 

Zwillinge in Dur und Moll

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Die Autorin

Immer bleibt alles an mir hängen!

Die Trauerfeier

Mutter war eben so

Ein Schlosshotel am Wörthersee

Vicky und die Männer

Ein angenehmer Hausgast

Ein eigenes Haus

Wien bleibt Wien

Zwischen Erschöpfung und Euphorie

Familie Leitner

Nett sein ist nicht immer einfach

Das Fest

Erinnerungen

Unterschiede

Getrennte Wege gehen

Gedanken

Liebe auf den ersten Blick

Das Geständnis

Oh du fröhliche Vorweihnachtszeit

I am dreaming …

Besuch in Grunewald

Prosit Neujahr

Geheimnisse

Trostlos

Erwartungen

Alles Walzer

Nachtgedanken

Ausgebrannt

Kurgespräche

Fragen über Fragen

Einsichten

Osterglocken

Neustart mit Hindernissen

Absichten

Beziehungspause

Umzüge

Ein neues Leben beginnt

Ungebetene Gefühle

Spekulationen

Berlin ist eine Reise wert

Erstaunliche Reaktionen

Überraschungen

Hundstage

Familienrat

Festspielzeit

Unliebsame Erinnerungen

Eine schwere Entscheidung

Auf zu neuen Ufern

Epilog

Glossar

Von der Autorin bisher als E-Book und Taschenbuch erschienen:

Ein herzliches Danke-schön...

 

Das Buch

Veränderung ist am Anfang schwer, chaotisch in der Mitte, aber am Ende einfach großartig!(unbekannter Verfasser)

 

Roswitha und Vicky sind Zwillingsschwestern, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Vicky, lebensfroh und tatkräftig, ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau, und obwohl sie erst vor Kurzem ihren Mann verloren hat, sieht sie vertrauensvoll in die Zukunft.

Roswitha hat scheinbar alles, um glücklich zu sein – ein großes Haus, Familie und einen Job in der Firma ihres Mannes.

Ein Schicksalsschlag führt die beiden nach langer Zeit wieder zusammen. Vicky stellt bald fest, dass ihre Schwester mit ihrem Leben unzufrieden ist. Sie versucht herauszufinden, woran das liegen könnte und macht dabei ganz erstaunliche Entdeckungen, die das Leben aller Beteiligten drastisch verändern – auch das ihre.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Autorin

Brigitte Teufl-Heimhilcher lebt in Wien, ist verheiratet und bezeichnet sich selbst als realistische Frohnatur.

In ihren heiteren Gesellschaftsromanen setzt sie sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Fragen auseinander. Sie verwebt dabei Fiktion und Wirklichkeit zu amüsanten Geschichten über das Leben - wie es ist, und wie es sein könnte.

 

Veränderung ist am Anfang schwer, chaotisch in der Mitte, aber am Ende einfach großartig! (unbekannter Verfasser)

 

 

Immer bleibt alles an mir hängen!

 

„Die Vorhänge müssten auch wieder einmal gewaschen werden“, dachte Roswitha, während sie dem Redefluss ihrer Zwillingsschwester am Telefon lauschte. Als Vicky endlich eine Pause einlegte, antwortete sie rasch: „Natürlich freue ich mich dich zu sehen, wenn auch aus einem traurigen Anlass. Noch mehr hätte ich mich gefreut, wenn du nicht im letzten Moment und – vor allem – nicht mit Vater und dieser Silke gekommen wärst.“

Dazu hatte Vicky einiges zu sagen. Während Roswitha zunehmend ungeduldig zuhörte, betrat ihr Mann Ewald das gemeinsame Büro. Sie sah mit hochgezogenen Augenbrauen auf die Uhr und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann trommelte sie mit den Fingern auf das vor ihr liegende Notizbuch. Eine Maniküre wäre auch wieder fällig. Ob ihre Friseurin das morgen noch einrichten konnte? Endlich schien Vicky Luft zu holen und Roswitha fuhr schnell dazwischen: „Also gut, ich kann es ohnehin nicht mehr ändern. Selbstverständlich hole ich euch ab. Wenn euer Flieger pünktlich ist, bringe ich euch noch ins Hotel, andernfalls müssen wir direkt vom Flughafen zur Trauerfeier fahren. Aber diese Silke kommt mir nicht mit in die Feuerhalle, nur dass das klar ist.“

„War das deine Lieblingsschwester?“, fragte Ewald, nachdem sie das Gespräch beendet hatte.

Sie nickte.

„Und warum bist du dann so geladen?“

„Weil wieder einmal alles an mir hängen bleibt. Vicky kommt jetzt doch erst am Freitag, und dann bringt sie auch noch Vater mit, samt dieser Silke. Ich finde das unmöglich.“

„Wäre er nicht zur Beerdigung deiner Mutter gekommen, hättest du es auch unmöglich gefunden, und diese Silke ist nun einmal seit etlichen Jahren seine Frau,“, meinte Ewald lapidar, während er seinen Computer hochfuhr.

„Unsere Eltern waren bekanntlich geschieden, seit über dreißig Jahren.“

„Davor waren sie zwanzig Jahre verheiratet und hatten zwei reizende Töchter“, erwiderte Ewald mit einem süffisanten Lächeln. „Wenn das kein guter Grund ist, zur Beerdigung zu kommen, dann weiß ich’s auch nicht.“

Roswitha überhörte die „reizenden Töchter“ und seufzte. „Wäre ja auch ein Wunder, wenn du einmal meiner Meinung wärst. Jedenfalls habe ich alle Hände voll zu tun. Schließlich kommen nach der Trauerfeier mindestens zwanzig Gäste.“

„Auf deinen Wunsch hin. Wir hätten schließlich auch in ein Gasthaus gehen können.“

Sie warf ihm einen zornigen Blick zu und sagte scharf: „So weit kommt‘s noch. Es handelt sich immerhin um die Trauerfeier meiner Mutter.“

Er hob abwehrend beide Hände. „Schon gut, schon gut. Ich habe ja nichts dagegen. Tini kann dir am Freitagvormittag doch zur Hand gehen. Und wenn du willst, kann ich Vicky vom Flughafen abholen.“

„Tini muss am Vormittag noch zur Schule. Sie hat in der zweiten Stunde eine Entscheidungsprüfung.“

„Ich dachte, es steht schon fest, dass sie das Schuljahr positiv abschließen wird.“

Roswitha verdrehte neuerlich die Augen. „Sie steht in Bio zwischen drei und vier.“

Ewald zuckte die Schultern. „Ist doch egal.“

War ja klar, dass er das so sah. Aber Roswitha hatte nicht vor, diese Frage im Moment zu diskutieren. Er würde sich sowieso auf Tinis Seite stellen. Stattdessen fragte sie: „Wo warst du solange?“

„Ich habe nach der Verhandlung mit Hartmuth noch einen Kaffee getrunken. Stell dir vor, er hat mir erzählt, dass Michael Hausner ebenfalls nach einem strategischen Partner sucht.“

„Strategische Partner“ waren neuerdings ein Reizthema, darauf ging sie besser nicht ein. Nicht jetzt, nicht heute. „Und warum stinkst du dann nach Beisel?“

„Wir haben uns erlaubt, vor dem Kaffee noch ein Paar Würstel zu essen und ein kleines Bier zu trinken. Er lässt dich übrigens grüßen.“

Sie nickte wortlos. Hartmuth war Ewalds Anwalt und ein Freund der Familie – seit nahezu dreißig Jahren. Er genoss in der Immobilienbranche hohes Ansehen und galt als ausgemachter Kenner des Wohnrechts. Roswitha war derzeit allerdings nicht besonders gut auf ihn zu sprechen, weil er seit seiner Scheidung offenbar zu viel Zeit hatte und keine Gelegenheit ausließ, um andere Leute davon abzuhalten, am Abend nach Hause zu gehen – ganz besonders Ewald, mit dem er seither mehr als einen Abend verbracht hatte.

Während sie ihr Notizbuch in die Tasche steckte sagte sie: „Ich räume hier das Feld, hole Tini noch rasch von der Schule ab und begebe mich dann an meinen Zweitarbeitsplatz. Deine Sprechstunde beginnt übrigens in wenigen Minuten.“

Er nickte und fragte spöttisch: „Bist du sicher, dass Tini das zu schätzen weiß?“

Sie warf ihm einen genervten Blick zu. „Wir wissen beide, wie sie darüber denkt. Aber es geht einfach nicht an, dass sie täglich mit ihren Freundinnen im Donauzentrum herumhängt, fette Pommes und süßes Cola in sich hineinstopft und Lippenstift scheinbar en gros kauft. Kannst du mir übrigens erklären, woher sie das Geld für diesen Plunder hat? Von mir hat sie diesen Monat nämlich nur das halbe Taschengeld bekommen.“

Ewald gab keine Antwort und tat, als wäre er bereits in seine Akten vertieft. Dann war ja alles klar. Sie spürte Wut in sich hochsteigen und atmete tief durch. Warum mischte er sich ständig in ihre Erziehung ein? Aber das würde sie ein anderes Mal klären. Jetzt fragte sie kurz angebunden: „Wann ist heute Abend mit dir zu rechnen?“

„Ich fürchte, nicht vor acht. Ich habe um sechs noch eine Besprechung.“

„Wie immer“, dachte Roswitha, nickte ihm zu und verließ das Büro. Die innere Unruhe, die sie seit dem Tod ihrer Mutter verspürte, war heute noch stärker. Sie würde sich zu Hause einen beruhigenden Tee machen, zum Hinlegen blieb leider keine Zeit.

Als sie aus dem Haus trat, schlug ihr schwülwarme Luft entgegen. Hatte sie deswegen schon den ganzen Vormittag Kopfschmerzen? War es der Gedanke an die vor ihnen liegende Trauerfeier oder lag es gar daran, dass nun auch noch ihr Vater dazu anreisen würde? Sie fächelte sich Luft zu und erwiderte nur knapp den Gruß von Ewalds Sekretärin, die eben an ihr vorbeistöckelte. Roswitha warf gewohnheitsmäßig einen Blick auf ihre teure Armbanduhr. 10 Minuten nach 13 Uhr. Die Gute hatte schon wieder die Mittagspause überzogen. Und was würde Ewald dazu sagen? Nichts würde er dazu sagen. Wie immer. Diese Tussi konnte sich wirklich alles erlauben. Alle konnten sich alles erlauben, nur wenn sie einmal einen Fehler machte, dann war Feuer auf dem Dach. Sie hatte dieser dummen Kuh schließlich nicht absichtlich zu wenig Urlaubsgeld ausbezahlt, warum musste sie so einen Aufstand deswegen machen.

Für Anfang Juni war es extrem heiß. Hoffentlich würde es am Freitag etwas erträglicher sein. Zur Trauerfeier musste sie doch ihr schwarzes Kostüm anziehen. Als Tochter der Verstorbenen konnte sie schließlich nicht im T-Shirt erscheinen. Was würden denn die Leute denken?

Wenigstens stand ihr Polo im Schatten des großen Kastanienbaumes, der den gesamten Innenhof dominierte. Als Bernhard und Felix noch klein gewesen waren, hatten sie voller Eifer Kastanien gesammelt. Anschließend war sie mit ihnen quer durch die Stadt gefahren. Im Lainzer Tiergarten hatten sie dann ein paar Groschen pro Kilo bekommen. Was hatten Ewald und sie abends darüber gelacht. Aber das war lange her. Heute waren die Buben erwachsen und Ewald und sie lachten nur noch selten – zumindest nicht gemeinsam. Selbst Tini war längst in der Pubertät. Als Mutter hatte man da ziemlich schlechte Karten und stand ganz hinten in der Prioritätenliste – noch nach den Schularbeiten.

In der Zwischenzeit war Roswitha vor dem Schulgebäude angekommen. Wie zur Bestätigung kam Tini lässig auf sie zugeschlendert. „Was machst du denn hier?“

„Ich hole dich ab. Ist doch nett von mir. Schließlich hast du heute noch eine Menge zu lernen.“

Tini warf ihr einen verständnislosen Blick zu.

„Ich sage nur Bio.“

„Ach das“, sagte Tini wegwerfend und ließ sich seufzend auf den Beifahrersitz fallen. „Wär‘ echt nicht notwendig gewesen.“

Roswitha ersparte sich die Antwort und fädelte sich in den Verkehr ein.

 

***

 

Wie üblich kam Sohn Felix zu spät. Alles andere hätte Ewald gewundert. Dennoch warf er einen betonten Blick auf die Uhr.

„Ich weiß, ich weiß, ich bin zu spät.“

Ewald nickte. „Wo brennt‘s?“

„Wieso?“

„Wenn du mich allein und noch dazu im Büro sprechen willst, dann brennt’s irgendwo. Wenigstens kannst du diesmal nicht der Schule verwiesen worden sein.“

Felix verzog das Gesicht. „Das hältst du mir immer noch vor.“

„Nicht direkt, ist ja auch schon eine Weile her, aber dein Gesichtsausdruck hat mich irgendwie an damals erinnert. Ich höre.“

„Na ja, irgendwie hat es schon mit Ausbildung zu tun. Um es kurz zu machen, ich werde das Studium an der Fachhochschule nicht weiter fortsetzen, ich mache keinen Master.“

Ewald spielte mit dem Brieföffner, dann legte er ihn zur Seite und sagte: „Meinst du ernsthaft, der Bachelor ist ausreichend? Das ist doch eine halbe Sache.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Deine Mutter wird vermutlich ausrasten.“

„Ja, wird sie, und ja, wenn ich wirklich in der Immobilienbranche arbeiten wollte, dann wäre das Masterstudium natürlich von Vorteil. Der Punkt ist: Ich will gar nicht in der Immobilienbranche arbeiten – und diesen Sommer schon gar nicht.“

Ewald seufzte. Ganz unvorbereitet traf es ihn nicht. Er hatte nie gefunden, dass ausgerechnet Felix das Zeug zum Hausverwalter hatte.

„Und was willst du jetzt machen?“

„Zunächst fahre ich mit der Band an den Wörthersee. Stell dir vor, wir haben ein Engagement im Schloss-Hotel. Bis Ende August. Na, was sagst du?“

„Schön und gut, aber was kommt danach?“

„Mal sehen. Vielleicht gehe ich doch ans Konservatorium, vielleicht aber auch nicht. Abwarten, was sich noch so ergibt.“

Ewald war aufgestanden und ans Fenster getreten. Blicklos sah er in den Innenhof. Natürlich war es kein Beinbruch, wenn Felix sich zwei Monate als Musiker verdingte. Vermutlich war es sogar besser, als hier in der Kanzlei alles durcheinander zu bringen. Felix würde kein vernünftiger Verwalter werden, nie und nimmer. Deswegen dachte Ewald ja immer öfter daran, sich mit einem Partner zusammenzuschließen, auch wenn er Roswitha bisher noch nicht von dieser Idee hatte überzeugen können.

Das Problem war eher, dass Felix keinen Plan zu haben schien. Wo hatte der Bub das bloß her? Von ihm sicher nicht und von Roswitha erst recht nicht. Sie hatten sich stets bemüht, gerade Felix zu mehr Ernsthaftigkeit anzuhalten. Aber vielleicht war ja das der Grund. Ewald hatte sich diesbezüglich ohnehin nie besonderen Illusionen hingegeben. Er selbst war doch das beste Beispiel dafür, dass die Erwartungen der Familie und die eigenen Interessen nicht übereinstimmen mussten.

Er stammte aus einer höchst musikalischen Familie. Was hatten seine Eltern nicht alles versucht, ihm ihre heißgeliebte Stubenmusi näher zu bringen oder wenigstens einen passablen Instrumentenbauer aus ihm zu machen, wie sein Vater einer war. Was war er geworden? Hausverwalter, noch dazu in Wien. Seine Eltern hatten ihn ziehen lassen, verstanden hatten sie es nicht. Vielleicht wurde ja aus Felix jetzt der Musiker, den sie sich immer gewünscht hatten. Schade, dass sie es nicht mehr erleben konnten. An diesem Punkt seiner Überlegungen wandte er sich wieder Felix zu. „Tja, dann würde ich dir raten, die Trauerfeier abzuwarten und danach mit deiner Mutter zu reden.“

„Das würde ich, aber wir müssen am Samstag bereits anfangen.“

Daher die Eile. „Schlechtes Timing. Was erwartest du jetzt von mir?“

„Also, ich dachte mir, ich komme am Freitag noch zur Trauerfeier, danach düsen wir nach Kärnten. Am Samstagvormittag müssen wir alles aufbauen, dann gibt es noch einen Soundcheck und am Nachmittag geht’s los mit dem ersten ‚Five o’clock tea‘.“

„Und du meinst, während du am Wörthersee deinem Hobby nachgehst, streite ich mit deiner Mutter.“

Felix grinste: „Erstens ist es diesmal nicht nur Hobby, wir bekommen richtig Kohle. Zweitens streitet ihr doch sonst auch. Wo ist also der Unterschied?“

„Vorsicht, Kollege“, knurrte Ewald, doch ganz unrecht hatte der Bub leider nicht. Das Zusammenleben mit Roswitha war in den letzten Jahren zunehmend schwieriger geworden, und seit dem Tod ihrer Mutter war es noch komplizierter. „Wie stellst du dir das vor?“

„Du machst das schon, danke Papa! Ich muss jetzt leider los. Bis Freitag!“

Schon war Felix aus der Tür. Ewald, der immer noch am Fenster stand, beobachtete, wie er die letzten Stufen in den Hof sprang und ihm noch einmal zuwinkte. Dann schwang er sich auf sein Rad und fuhr davon.

„So nicht, mein Freund“, murmelte Ewald, während er sich wieder an seinen Schreibtisch setzt. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und dachte nach. Dann grinste er. Er hatte da so eine Idee. Jedenfalls würde er sich nicht auch noch wegen Felix mit Roswitha streiten. Es gab auch sonst reichlich Konfliktpotenzial. Dass er Tinis Taschengeld heimlich aufgestockt hatte, würde sie ihnen sicher nicht durchgehen lassen.

Die Trauerfeier

 

Die Lippen tapfer zusammengepresst saß Roswitha mit geradem Rücken neben Ewald. Er wusste, wie sehr sie unter dem Tod ihrer Mutter litt und hätte sie gerne in den Arm genommen, aber das ließ sie nicht zu. Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit waren ihr unangenehm. Zum Glück war es in der Feuerhalle nicht allzu heiß, denn sie hatte trotz der hochsommerlichen Temperaturen darauf bestanden, ihr schwarzes Kostüm zu tragen, weil sie der Meinung war, das sei das Einzige, das dem Anlass gerecht wurde.

Seine Schwägerin Vicky hingegen trug ein schwarzes Seidenkleid mit einem weit schwingenden Rock, das nicht nur sichtbar luftiger war, sondern sie auch noch hervorragend kleidete. Unvorstellbar, dass die beiden Zwillinge waren. Obwohl Größe, Figur und auch das blonde Haar annähernd gleich waren, sahen sie einander nicht mehr allzu ähnlich. Das Leben hatte seine Spuren hinterlassen, die unterschiedlichen Arten sich zu kleiden taten ein Übriges. Während Roswitha ihr Haar streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem Knoten geschlungen hatte, trug Vicky es offen und lockig. Außerdem schien sie einen halben Kopf größer zu sein, aber das lag nur an den Schuhen. Roswitha trug gerne Ballerinas oder Schuhe mit niedrigen Absätzen, Vicky war auch heute auf High Heels unterwegs. Toll sah sie aus.

Neben Vicky saß ihr Vater, der weltberühmte Dirigent Hermann Zeller. Auch jetzt wirkte er distinguiert und ein klein wenig erhaben. Seine weiße, wallende Mähne war nicht nur unter Musikfreunden wohl bekannt. Ewald kannte ihn kaum, weil Roswitha jeglichen Kontakt mit ihm abgelehnt hatte – ihrer Mutter zuliebe, wie sie sagte. In den mehr als dreißig Jahren, die er nun mit Roswitha verheiratet war, hatte er ihn nur wenige Male getroffen. Nicht einmal zu ihrer eigenen Hochzeit hatten sie ihn eingeladen. Roswitha meinte, das sei ihrer Mutter nicht zuzumuten. Ewald hatte das nie ganz verstanden und fand es schade, dass die Scheidung seiner Schwiegereltern einen so tiefen Riss in der Familie hinterlassen hatte.

Er ließ seinen Blick weiter über die Trauergemeinde schweifen. Sie war nicht allzu groß, seine Schwiegermutter hatte ziemlich zurückgezogen gelebt und nur wenige Freunde gehabt. Ihr Lieblingsenkel Felix war in schwarzen Jeans und einem grauen Hemd erschienen. Seine Oma hätte es ihm verziehen, obwohl sie in Sachen Etikette sonst ziemlich unbeugsam war. Ewald fand, dass Felix für seine Begriffe ausgesprochen zivilisiert aussah, dennoch hatte Roswitha ihm einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen. Gesagt hat sie allerdings nichts. Wenn sie wüsste, was Felix vorhatte, wäre sein Look vermutlich noch das kleinste Problem.

Sohn Bernhard hingegen war, ganz der Anwalt, vorschriftsmäßig im schwarzen Anzug erschienen. Seine Freundin Lena hatte es offenbar vorgezogen, der Trauerfeier fern zu bleiben. Keine gute Idee. Das würde ihr bei Roswitha einen weiteren Minuspunkt einbringen.

Das erste Musikstück erklang, die Trauerfeier begann. Roswitha hatte ein ziemlich anspruchsvolles Musikprogramm zusammengestellt. Nach dem ersten Teil sprach ein Priester. Offenbar war er von Roswitha instruiert worden, denn er zeichnete das Bild einer aufopferungsvollen Ehefrau und Mutter, die immer nur das Wohl ihrer Familie im Auge gehabt hatte. Ewald hatte da seine Zweifel. Möglich, dass sie früher eine liebevolle Mutter gewesen war. Sie war ja auf den ersten Blick eine sanfte Person, nie hatte er in all den Jahren ein lautes Wort von ihr gehört. Das hatte sie auch gar nicht nötig gehabt. Lieselotte Zeller hatte mit Seufzern regiert. Damit hatte sie den verbliebenen Rest ihrer Familie allerdings gut im Griff gehabt, vor allem Roswitha. Sein Schwiegervater und Vicky hatten sich irgendwann aus dem Staub gemacht. Ewald konnte es ihnen nicht verdenken.

Als das Ave-Maria ertönte hörte er Tini, die rechts neben ihm saß, schluchzen. Er legte seinen Arm um sie und zog sie sanft an sich. Wenigstens sie durfte er ein wenig trösten.

 

***

 

Als sie die Feuerhalle verließen traf die Hitze Roswitha wie ein Schlag. Zumindest konnte sie jetzt ihre Kostümjacke ausziehen. Einige der Gäste verabschiedeten sich, andere folgten ihrer Einladung zu einem kleinen Imbiss in ihr Haus nahe der Alten Donau. Roswitha hatte schon gestern Schinkenkipferl, Käsestangerl und zwei Kuchen gebacken, heute Morgen hatte sie noch zwei Kraut- und zwei Fleischstrudel zubereitet, ehe sie zum Flughafen gefahren waren. Den Getränkeservice würde nun ihre Haushaltshilfe übernehmen, die die Trauergäste bereits erwartete. Sobald sie zum Auto gingen, würde Roswitha sie anrufen, damit alles rechtzeitig auf dem Buffett angerichtet werden konnte. Sie überließ nur ungern etwas dem Zufall.

Als Felix nun auf sie zukam rang sie sich ein Lächeln ab: „Willst du mit uns fahren?“ Üblicherweise fuhr er mit dem Rad, nur in Ausnahmefällen bediente er sich des Carsharings.

„Geht leider nicht, ich muss heute noch nach Kärnten. Unsere Band hat dort einige Auftritte. Meine Kollegen warten schon.“

„Heute noch? Das glaube ich jetzt nicht! Ich meine, so wichtig kann das ja wohl nicht sein.“

„Doch, leider.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und wollte sich davonmachen. Roswitha hielt ihn zurück. „Wann kommst du wieder?“

„Weiß ich noch nicht genau. Frag Papa, der weiß mehr.“

„Wieso weiß Papa mehr?“

Felix zuckte nur lächelnd die Schultern, machte sich von ihr los und strebte dem Parkplatz zu.

Papa weiß mehr? Was waren denn das für neue Sitten. Sie war doch die Familienmanagerin, die für alle ein offenes Ohr hatte, die immer wusste, wer, wann und wo war. Geriet denn ihre ganze Welt aus den Fugen?

 

*

 

Als gegen 18 Uhr die ersten Gäste aufbrachen, kam auch ihr Vater auf Roswitha zu.

„Ich muss mich leider verabschieden, ich möchte Silke nicht so lange allein im Hotel lassen. Wann findet denn die Urnenbeisetzung statt?“

„Nächsten Mittwoch, allerdings nur im engsten Familienkreis.“

Ihr Vater sah sie nur an. Sie kannte diesen Blick, er hatte sie schon als Kind verunsichert. Dann sagte er: „Ach, Rosi“, drehte sich um und ging.

„Warum bist du denn so …“, Vicky suchte kurz nach dem richtigen Wort, „horribly zu Daddy?“

Roswitha drehte sich zu Vicky um, die mit einem Sektglas in der Hand hinter ihr stand. Zum Glück wurde sie einer Antwort enthoben, denn Tini rief: „Also ich finde ihn total keksi. Außerdem hat er mich in den Ferien nach Berlin eingeladen. Wie findest du das?“

„Anmaßend“, antwortete Roswitha und machte sich auf den Weg in die Küche, obwohl sie nicht genau wusste, was sie dort wollte. Vicky und Tini folgten ihr.

„Warum ist es anmaßend, wenn Opa mich nach Berlin einlädt?“

„Er hätte erst mit mir reden müssen. Nur damit du dir keine falschen Hoffnungen machst, Mäuschen: Das kommt überhaupt nicht in Frage.“ Roswitha verwendete nur in Ausnahefällen Kosenamen. Doch die Botschaft schien nicht anzukommen.

Tini starrte sie an: „Das ist jetzt aber nicht dein Ernst! Warum denn nicht?“

Roswitha versuchte es verständnisvoll. Schließlich konnte die Kleine ja nichts dafür. „Tini, wie stellst du dir das vor? Du kannst doch nicht alleine nach Berlin reisen.“

„Wieso? Ich bin doch kein Baby mehr!“

„Darüber reden wir später“, versuchte Roswitha Tini und das Thema loszuwerden, schließlich waren noch Gäste im Haus.

„Darauf kannst du Gift nehmen!“, schäumte Tini und stürmte hinaus.

„Typisch Vater“, murmelte Roswitha. „Kommt, stiftet Unruhe und geht wieder ab. So hat er es immer gemacht.“

„Du hast wirkliche seltsame Erinnerungen an Daddy“, sagte Vicky, schüttelte den Kopf und ging davon.

Roswitha sah ihr verblüfft nach. Sie war über Vickys englischen Akzent immer wieder erstaunt. Aber gut, das war nicht das Problem. Vicky hatte lange Jahre im Ausland gelebt. Erst mit Vater in New York, später mit ihrem Ehemann in London. Das Problem war, dass sie – wie sich immer wieder zeigte – ziemlich unterschiedliche Erinnerungen an ihre Kindheit hatten. In Vickys Erinnerung kam Vater viel besser weg. Das führte mitunter zu Differenzen zwischen Vicky und ihr. Differenzen, die Roswitha belasteten. Sie seufzte, dann sah sie sich in der Küche um, fand nichts zu tun und ging langsam zurück in den Wohnraum. Vicky stand am Buffett und bediente sich gerade mit einem Stück Fleischstrudel. Roswitha trat zu ihr und bemühte sich um einen versöhnlichen Ton. „Wie lange kannst du bleiben?“

„Solange du willst. Ich bin diesmal nicht so sehr in … a hurry. Du verstehst?“

„Schon, du hast diesmal etwas mehr Zeit. Das freut mich. Endlich mal eine positive Nachricht.“

„Die Konzertagentur läuft auch ohne mich. Mary, Johns Tochter, ist wirklich tüchtig, und seit mein John nicht mehr lebt, ist das Leben in London ohnehin nicht mehr dasselbe.“

„Ich dachte, London sei die tollste Stadt der Welt.“

„Mit John war sie’s. Es ist wirklich seltsam. Seit John tot ist, fallen mir so viele Dinge auf, die mir an der Stadt weniger gefallen. Die Sache mit dem Brexit macht mir die Engländer auch nicht sympathischer. Wären da nicht unsere Freunde und meine Familie …“

„Familie?“

„Meine Stieftochter Mary, ihr Mann, deren Kinder. Die vier waren mir im letzten Jahr eine große Stütze. Du und Mutter wolltet mich ja nicht einmal besuchen kommen.“

„Mutter hatte Flugangst, das weißt du, Ewald und ich waren doch zu Johns Beerdigung in London – und bei eurer Hochzeit.“

„Na wunderbar. Immerhin waren wir zwanzig Jahre verheiratet. Wären John und ich nicht immer wieder nach Wien gekommen, hätten wir uns gänzlich aus den Augen verloren.“

„Das hätten wir nicht!“, entgegnete Roswitha wider besseren Wissens. „Wir haben doch telefoniert, anfangs Briefe geschrieben, später gemailt.“

„Ganz großartig“, antwortete Vicky mit Grabesstimme und nahm sich noch ein gefülltes Ei. „Dazwischen war Funkstille, das hast du vergessen.“

Ein Thema, das Roswitha lieber nicht vertiefen wollte. Sie wusste ja selbst nicht mehr, warum sie Vicky eine Zeitlang aus ihrem Leben ausgeschlossen hatte. Sie hakte sich bei Vicky ein und sagt mit betonter Fröhlichkeit: „Jedenfalls freue ich mich, dass du diesmal länger bleibst. Du kannst natürlich bei uns wohnen. Wann wird Vater abreisen?“

„Nachdem du ihn hast wissen lassen, dass seine Anwesenheit bei der Urnenbeisetzung nicht erwünscht ist, nehme ich an, dass sie morgen nach Berlin weiterreisen werden. Daddy verträgt die Hitze nicht mehr so gut. In seiner Villa in Grunewald hat er es deutlich angenehmer.“

„Dann ist doch alles gut. Sobald Vater abgereist ist, ziehst du zu uns. Ich habe das Gästezimmer ohnehin schon für dich vorbereitet.“

„Mach dir doch keine Umstände. Ich kann auch im Hotel wohnen.“

„Kannst du, sollst du aber nicht. Ach Vicky, ich bin doch so unendlich froh, dich endlich einmal für mich zu haben!“

 

 

Zwischen Erschöpfung und Euphorie

Roswitha verstand sich selbst nicht mehr. Natürlich freute sie sich, dass Vicky jetzt in der Nähe wohnte, sie einander öfter sehen konnte, und ja, sie freute sich auch auf den Urlaub, irgendwie, bedeutete er doch zwei Wochen Nichtstun. Trotzdem fühlte sie sich übellaunig und genervt. Das musste sich ändern. Sie würde im Urlaub viel schlafen und durfte nicht vergessen, Lesestoff zu besorgen. Keine problembeladene Literatur, einfach ein paar herzerfrischende Romane, spannende Krimis und für Ewald ein paar nervenzerfetzende Thriller.

Bis dahin war allerdings noch eine Menge zu tun. Wie zum Beweis fragte Ewald: „Hast du die Gehaltsüberweisungen schon vorbereitet? Nicht dass sich wieder jemand aufregt, weil die Gehälter zwei Tage später bekommen.“

„Natürlich!“

„Im Vorjahr hast du es vergessen“, setzte Ewald unnötigerweise hinzu. War ja klar, das musste ja kommen. Sie hatte den Wirbel noch allzu gut in Erinnerung. Warum musste er heuer noch darauf herumreiten? Und der Mann nannte sie nachtragend.

„Sonst noch was?“, fragte sie. Es hatte auch in ihren Ohren ziemlich spitz geklungen.

„Nein, warum?“

„Nur so. Dann fahre ich jetzt heim, schließlich habe ich noch eine Menge Bügelwäsche.“

„Warum macht das nicht Frau Yilmaz?“

„Weil sie auf Urlaub ist. Also, wer wird es machen? Ich natürlich.“

„Kannst ja Tini anlernen.“

„Und du ziehst die Hemden dann an? Ausgerechnet du, ha, ha.“

Ewalds Telefon läutete. Es war ohnehin alles gesagt.

 

*

 

Kaum saß Roswitha im Auto beschloss sie, noch bei ihrem Haus vorbeizufahren. Das war zwar ein ordentlicher Umweg, aber vielleicht gab es schon ausreichend reife Marillen, die sie vor ihrer Abreise zu Marmelade verarbeiten konnte. Sie hatte da zwei neue Rezepte gelesen. Eines mit Chili, das andere mit Ingwer und Zimt, die wollte sie unbedingt ausprobieren.

Zu ihrem Erstaunen parkte Vickys Auto vor dem Haus. Die Haustür stand offen, Vicky stand in der Küche und inspizierte offenbar die Küchenschränke.

„Suchst du nach Erinnerungsstücken?“, fragte Roswitha. Sie hatte ihr mehrfach angeboten sich welche zu holen, aber bisher hatte Vicky das stets abgelehnt.

Vicky fuhr herum. „Hast du mich erschreckt! Was machst du denn hier?“

„Ich sehe nach den Marillen – und du?“

„Ich hatte heute Vormittag eine Super-Idee! Was hältst du davon, wenn wir unser Geburtstagsfest hier in unserem Elternhaus machen? Ich habe mir eben die Räume noch einmal angesehen.“

„Ich dachte, du findest das Haus schrecklich.“

„Schon, aber schau, wenn wir schon nach 37 Jahren wieder einmal gemeinsam Geburtstag feiern, dann sollte die Location schon etwas mit uns zu tun haben. Was hätte mehr mit uns zu tun, als unser Elternhaus? Und nachdem Ewald es ohnehin sanieren lässt, könnten wir uns mit der Deko ja austoben, ohne auf etwas Rücksicht zu nehmen.“

Offenbar plante ihre Schwester ein Riesenevent. Roswitha spürte Wut in sich hochsteigen. „Habe ich nicht gesagt, ich will keine Geburtstagsfeier?“

„Ach, Schwesterherz! Ja, das hast du gesagt, aber ich dachte mir, mein Konzept wird dich einfach überzeugen.“

„Und wenn nicht?“

„Dann feiere ich meinen Geburtstag eben alleine.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie lachend hinzu: „Und du bist mein Ehrengast!“

„Blödsinn“, maulte Roswitha.

„Ich wusste, ich kann dich überzeugen, mit mir gemeinsam zu feiern!“, lachte Vicky. „Und weißt du, was wir jetzt machen? Jetzt fahren wir zu diesem Griechen an den Donau-Oder-Kanal, trinken einen kühlen Campari und essen …“

„Das machen wir sicher nicht“, unterbrach Roswitha, „weil ich jetzt Marillen pflücke und anschließend nach Hause fahre. Unterwegs überlege ich mir, ob ich erst bügle oder vorher noch die Marillen einkoche, nebenher mache ich Nachtmahl. Ewald kommt – angeblich – gegen sieben.“

Vicky hob abwehrend die Hände. „Okay, okay. Dann fahre ich jetzt einkaufen und anschließend mache ich das Abendessen. Ich habe heute einfach Lust auf etwas Griechisches. Magst du lieber Lamm oder Fisch?“

„Fisch, aber …“

Weiter kam Roswitha nicht. Vicky hatte bereits ihre Tasche geschnappt, winkte ihr zu und weg war sie.

Roswitha blieb kopfschüttelnd zurück. Sie liebte ihre Zwillingsschwester, auch wenn es vielleicht nicht immer danach aussah, aber diese ständige gute Laune fand sie auf Dauer anstrengend – außerdem war sie ihr suspekt. Kein Mensch ist ständig guter Laune.

Und dann noch diese dämliche Geburtstagsfeier.

 

***

 

Vicky hatte sich erst noch einen Kaffee gegönnt, dann bummelte sie über den Bauernmarkt, erstand eine große, glänzende Melanzani für einen Aufstrich, den sie als Vorspeise reichen würde, duftendes Fladenbrot, frischen Fisch und Salat. Ob Roswitha sich zum Abschluss über Obstsalat freuen würde? Oder sollte sie lieber griechischen Joghurt mit Nüssen und Honig reichen? Am besten sie machte Joghurt mit Honig und Nüssen und servierte ein paar Früchte dazu. Freute Roswitha sich überhaupt noch über irgendetwas? Sie schien ständig genervt zu sein. Na ja, vielleicht war sie einfach müde. Mutters Tod schien ihr ziemlich zugesetzt zu haben. Allerdings hatte Tini erzählt, Mama sei schon länger „echt hardcore“. Auf Vickys Nachfrage, was darunter zu verstehen sei, meinte sie, Roswitha sei einfach unentspannt, sollte besser mal chillen. Da war was dran.

Als Vicky kam, war Roswitha schon mit dem Einkochen der Marillen beschäftigt.

„Kann ich dir helfen?“

„Danke, ich bin gleich fertig und mache dir die Küche sauber, damit …“

„Damit ich sie wieder dirty machen kann?“

„Schmutzig“, verbesserte Roswitha.

„Schmutzig“, wiederholte Vicky lachend. „Mach einfach deine Marmelade fertig und dann geh zu deinem Iron … äh … Bügeleisen. Weißt du, ich koche ganz gern mal, bin aber keine besonders begabte Hausfrau, die Küche wird nachher ein Schlachtfeld sein. Aber ich verspreche dir, ich räume auch wieder auf. Apropos, ich habe mir heute eine Wohnung angesehen. In der Nähe der Veterinär-Medizinischen Universität, also gar nicht weit weg von euch. Nicht gerade mein Traum, aber für ein Jahr wird es schon gehen.“

„Das hat doch keine Eile. Ich bin ganz froh, wenn das Haus während unseres Urlaubs nicht leer steht. Früher hat Mutter immer nach dem Rechten gesehen und sich um meine Blumen gekümmert, wenn wir nicht da waren. Sie ist die Strecke auch im Vorjahr noch mit dem Rad gefahren.“

„Du leidest immer noch unter ihrem Tod, stimmt’s?“

„Natürlich. Du denn nicht?“

„Versteh mich bitte nicht falsch, natürlich ist es traurig, wenn jemand stirbt, aber für mich hat sich wenig verändert. Ich habe Mutter in den vergangenen 37 Jahren nur sehr selten gesehen. Sie hat mir ständig das Gefühl gegeben, dass ich nicht willkommen sei, hat meinen John abgelehnt, ohne ihn richtig zu kennen, mich nie besucht, obwohl wir sie mehr als einmal eingeladen haben. Selbst wenn wir nach Wien gekommen sind, war unser Kontakt eher cool … also kühl.“

„Sie hat sich immer gefreut, dich zu sehen, das weiß ich.“

„Ach, papperlapapp. Sie hat mir nie verziehen, dass ich mit Daddy nach New York gegangen bin.“

„Sie hatte damals schreckliche Angst um dich“, entgegnete Roswitha heftig, „obwohl du jahrelang alles getan hast, um sie auf die Palme zu bringen.“

Vicky sah sie überrascht an. „Hab‘ ich das? Na ja, im Gegensatz zu dir war ich halt jung. Ganz so groß, dürfte ihre Angst allerdings nicht gewesen sein, sonst hättet ihr uns nicht allein gehen lassen. Ihr hättet ja jederzeit nachkommen können. Unser New-Yorker Appartement war groß genug, wir hätten ganz easy alle vier darin Platz gehabt. Aber klar, wer will schon nach New York, wenn er in Essling bleiben kann.“

„Genau“, antwortete Roswitha knapp, doch dann setzte sie mit einem Lächeln hinzu: „Umso mehr freue ich mich, dass du jetzt hier bist!“

„Darauf trinken wir jetzt einen Prosecco!“ Vicky öffnete bereits den Kühlschrank.

„Wollen wir damit nicht bis zum Abendessen warten? Ich muss erst noch bügeln und dann …“

„Du bist immer so vernünftig“, maulte Vicky. „Also gut, dann warte ich halt bis zum Abendessen. Und jetzt raus aus meiner Küche!“

 

Mutter war eben so

Das Leben im Haus ihrer Schwester war für Vicky eine ziemliche Herausforderung. Üblicherweise arbeitete sie oft bis spät in der Nacht, dafür schlief sie am Morgen gerne etwas länger. Doch im Hause Leitner war um sechs Uhr Tagwache. Theoretisch hätte Vicky das egal sein können. Theoretisch. Aber wenn die drei Leitners einmal durchs Haus geisterten, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Außerdem ging Roswitha ganz automatisch davon aus, dass Vicky mit ihnen frühstückte. Roswitha meinte, sie könnte sich ja später noch einmal hinlegen, aber das kam für Vicky nicht in Frage, schließlich hatte sie allerhand zu tun. Zu allererst besorgte sie sich einen Mietwagen, dann rief sie ihre ehemaligen Freundinnen und einige Geschäftspartner an und vereinbarte Termine. Als Roswitha am Abend ihren Terminkalender sah, rief sie: „Aber da bleibt ja gar keine Zeit mehr für mich!“

„Du kannst gerne mitkommen“, meinte Vicky lachend. „Zumindest bei den Meetings mit unseren ehemaligen Freundinnen solltest du das auch. Genaugenommen habe ich gesagt, wir kommen gemeinsam.“

„Mal sehen“, antwortete Roswitha. Sehr begeistert schien sie nicht. „Jedenfalls müssen wir übermorgen zum Notar und anschließend sollten wir uns um Mutters Haus kümmern.“

„In what way?“

„Inwiefern“, verbesserte Roswitha und sah sie erstaunt an. „Na, wir müssen es räumen.“

„Aber gibt es denn hier keine Firmen für … estates …wie sagt man?

„Du meinst Verlassenschaften? Natürlich gibt es Firmen, die die Räumung übernehmen. Aber vorher müssen wir doch alles durchsehen. Das kann Tage dauern, wenn nicht Wochen.“

Vicky sah sie erstaunt an. „Wochen? Aber Roswitha, was willst du mit dem alten junk?“

„Das ist doch nicht alles Trödel!“

„Okay, wir nehmen uns jede ein Stück zur Erinnerung und alles ist gut.“

Roswitha schien nicht ihrer Meinung zu sein, denn sie wandte sich wortlos ihren Töpfen zu. Es roch verführerisch nach Gulasch.

Beim Abendessen sagte Roswitha: „Lass uns morgen schon einmal in Mutters Haus fahren, damit wir uns einen Überblick verschaffen. Danach sehen wir weiter.“

 

***

 

„Ich kann immer noch nicht begreifen, dass Mutter tot ist“, seufzte Roswitha, während sie zusah, wie Vicky sich mühte, die Haustüre aufzuschließen. Roswitha schob sie ungeduldig zur Seite. „Lass mich mal.“ Sie hob die Tür kurz an, der Schlüssel drehte sich im Schloss und schon war die Tür offen.

Im Haus war es stickig und heiß. Der Flügel im Wohnzimmer war mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, sonst sah es aus, als wäre ihre Mutter nur einen Sprung weggegangen. Obwohl Roswitha seit deren Tod schon mehrfach hier war, hatte sie es nicht über sich gebracht mehr zu tun, als den Kühlschrank auszuräumen und das Geschirr abzuwaschen.

Vicky trat an den Flügel, öffnete ihn und schlug ein paar Tasten an. „Good gracious, ist der verstimmt. Das höre sogar ich. Hat wohl lange niemand darauf gespielt.“

Roswitha zog es vor, diese Frage zu überhören, wie sie es vorzog, den Flügel zu übersehen.

Vicky klimperte noch ein wenig herum, dann fragte sie: „Woran ist Mutter denn nun wirklich gestorben? Du warst am Telefon etwas kryptisch. Die Folgen ihres Fahrradunfalles waren im Grund doch minimal. Gehirnerschütterung, ein paar Schürfwunden und das gebrochene Bein. Daran stirbt man doch nicht.“

Roswitha seufzte und antwortete mit belegter Stimme: „Ihr Arzt meinte, sie wollte einfach nicht mehr weiterleben. Weißt du, das ist für mich das Allerschlimmste.“

Vicky legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Roswitha griff danach, drückte sie kurz, dann schüttelte sie sie ab und ging ins Esszimmer, um die Fenster zu öffnen. Vicky folgte ihr. „Well, womit wollen wir beginnen?“

„Gute Frage“, murmelte Roswitha und sah sich um. Das leere Haus machte sie melancholisch, gleichzeitig war sie gerne hier. Warum gingen eigentlich alle davon aus, dass sie es verkaufen würden? Es war doch ihr Elternhaus. Sie hatte bis zu ihrer Hochzeit hier gelebt und in den ersten Jahren ihrer Ehe, als Ewald und sie noch in der Wohnung gleich neben der Kanzlei gewohnt hatten, war sie oft mit den Kindern hierhergekommen. Erst hatten die Kinder im Garten gespielt, später hatten sie Fahrräder gekauft und waren an den Wochenenden mit den Kindern in die nahe Lobau gefahren. Danach hatte es bei ihrer Mutter immer ein spätes Mittagessen gegeben. Roswitha erinnerte sich gerne daran. Alles war so friedlich gewesen. Sie hätte das Haus gerne für ihre Kinder bewahrt. Dumm nur, dass keiner hier wohnen wollte. Bernhard hatte bereits kundgetan, dass er nicht daran denke, hier heraus zu ziehen. Lena sei ein Stadtmensch und für ihn sei es in der Stadt auch bequemer. Felix zeigte ebenfalls keine besondere Neigung hier zu wohnen und Tini war noch so jung.

Vicky hatte sich in der Zwischenzeit Mutters Handarbeitskorb vorgenommen. „Warum stickte sie denn immer noch diese hässlichen Bilder. Niemand will sie mehr haben“, lachte sie.

Roswitha warf ihr einen empörten Blick zu, musste aber zugeben, dass Vicky nicht ganz unrecht hatte. Zwar waren manche Bilder farblich recht hübsch, aber sie waren eindeutig aus der Mode gekommen. Sie erinnerte sich noch gut, wie die Sache mit der Stickerei begonnen hatte. Kurz nachdem Vater und Vicky in die Staaten gegangen waren, hatte Mutter alle Bilder, die an die gemeinsame Zeit erinnerten, nach und nach durch gestickte Bilder ersetzt. Längst war kein Bild mehr zu sehen, das Vater oder Vicky gezeigt hätte. Vicky hatte zum Glück nie danach gefragt und Vater hatte das Haus nie wieder betreten. Später hatte ihre Mutter begonnen, gestickte Bilder zu verschenken. Roswithas Keller war in der Zwischenzeit ebenfalls voll davon, denn Ewald, der ihr sonst im Haus freie Hand ließ, wollte sie im Wohnbereich nicht haben. Die Kinder natürlich auch nicht. Also war Bild nach Bild in den Keller gewandert.

Als könnte Vicky Gedanken lesen fragte sie: „Wann hat Mutter eigentlich begonnen, uns aus ihrem Leben zu canceln? Es gibt nicht ein Stück, das an uns erinnert, kein einziges Bild, auch nicht von mir, nicht einmal als Baby.“

„Ich weiß nicht genau. So nach und nach. Als immer absehbarer wurde, dass ihr nicht mehr zurückkommen werdet. Aber ein Foto von uns beiden gibt es noch. Komm.“

Während Roswitha ins Schlafzimmer vorausging fragte Vicky: „Hätte Mutter denn gewollt, dass wir wiederkommen? Ich erinnere mich noch klar und deutlich an ihre Worte. ‚Wenn ihr jetzt geht, braucht ihr nicht mehr wieder zu kommen. Alle beide.‘“

„Ich erinnere mich, aber das hat sie doch nicht so gemeint. Sie war eben enttäuscht, aber Vater hat wieder einmal vollkommen unangemessen reagiert und gebrüllt: ‚Es ist immer noch mein Haus.‘“

Vicky war stehen geblieben. „Du hast wirklich eigenartige Erinnerungen. Daddy hat nie gebrüllt, bestenfalls etwas lauter gesprochen. Und was heißt, Mutter war enttäuscht? Davon, dass Daddy vor dem größten Triumph seiner Karriere stand? Einem Engagement an der Met in New York! Daddy hat doch nicht gewollt, dass unsere Familie zerbricht, er wollte, dass wir alle nach New York gehen.“

„Er wollte einmal mehr über unser aller Leben bestimmen, wie er es immer gemacht hat.“

„Nonsense. Er war und ist Dirigent. Da kann man nicht sein Leben lang in der gleichen Stadt bleiben und jeden Abend daheim herumsitzen. Wenn man Erfolg haben will, muss man hinaus in die Welt.“

„Mutter wäre mit einem etwas bescheideneren Leben zufrieden gewesen.“

„Dann hätte sie besser einen Beamten geheiratet“, versetzte Vicky.

Es klang verächtlich. Das ärgerte Roswitha. Aufgebracht entgegnete sie: „Ja und? Was wäre so schlecht daran gewesen?“

Vicky sah sie überrascht an, dann lachte sie. „Ach, Rosi, was führen wir hier für ein dämliches Gespräch?“

„Du hast recht, ich wollte dir ja das Bild im Schlafzimmer zeigen.“ Sie öffnete die Tür. Über dem Bett ihrer Mutter hing ein gerahmtes Foto, das sie beide bei ihrem Abschlussball zeigte. Jede trug ein hellblaues Kleid und hatte die Haare hochgesteckt, doch seitlich lösten sich kunstvoll ein paar Strähnen. „Erinnerst du dich? Wir waren beim teuersten Friseur der Stadt. Mutti hat uns eine ordentliche Standpauke gehalten, als sie die Rechnung gesehen hat.“

„Daddy hat nur gelacht und gesagt, dafür sind wir mit Abstand die schönsten Zwillinge auf dem Ball.“

„Wir waren die einzigen.“

„Ich weiß. Die Kleider waren ein Traum. Ich habe meines auch in New York noch oft getragen – und dabei an meine Schwester Rosi gedacht.“

Roswitha spürte Tränen in den Augen und wandte sich ab. Was für ein seltsames Gefühl. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage nannte sie jemand Rosi. Rosi, das stand für Geborgenheit, Kindheit. Später hatte sie nie wieder jemand Rosi genannt, sie hatte es nicht gewollt.

 

*

 

Der Notar räusperte sich. „Sie wissen, dass Ihre Mutter ein Testament hinterlassen hat?“

„Nein“, antwortete Roswitha überrascht.

„Dann darf ich es Ihnen hiermit aushändigen. Wie Sie sehen, hat Ihre Mutter bereits vor einigen Jahren ihren letzten Willen festgelegt. Sie verfügt darin, dass Sie, Frau Leitner, das Haus erben, während Sie, Mrs. Miller, das Wertpapierdepot bekommen sollen, das im Wesentlichen dem Pflichtteil entsprechen dürfte. Der Kontostand zum Todestag lag bei 131.238 Euro.“

Roswitha war blass geworden. „Ich habe weder gewusst, dass Mutter über ein Wertpapierdepot verfügte, noch habe ich gewollt, dass sie mich dermaßen bevorzugt. Das musst du mir glauben.“

Vicky nickte, sagte aber nichts.

„Wenn Sie eine korrekte Abrechnung wünschen, müssten wir das Haus bewerten lassen“, fuhr der Notar weiter fort. „Ich kann selbstverständlich jederzeit ein Sachverständigen-Gutachten über den Verkehrswert veranlassen.“

Vicky räusperte sich. „Danke, das ist nicht nötig.“

Der Notar nickte. „Trotzdem muss ich Sie darüber aufklären, dass Sie das Testament auch anfechten können. Nicht, dass ich glaube …“

„Ich werde nichts davon tun und den letzten Willen meiner Mutter respektieren“, unterbrach ihn Vicky. „Wo darf ich unterschreiben?“

Als sie wenig später die Kanzlei verließen, wusste Roswitha immer noch nicht, wie ihr geschehen war. „Ich wusste das wirklich nicht, das musst du mir glauben. Und, wie gesagt, ich habe es auch nicht gewollt.“

„Ist okay, Rosi. Ich brauche das Geld nicht. Johns Konzert-Agentur hat immer gute Erträge erwirtschaftet und ich verdiene mit meiner Literaturagentur auch etwas.“

„Ja, schon, aber ich dachte, Johns Tochter hat die Agentur geerbt?“

„Stimmt, aber ich die Immobilien. Geld ist wirklich nicht mein Problem, ich musste mich nur erst an den Gedanken gewöhnen. Obwohl, je länger ich darüber nachdenke, umso logischer scheint es mir. Ich habe nur einfach nicht damit gerechnet.“

„Ich auch nicht. Was machen wir jetzt?“

„Ich schlage vor, wir trinken ein Glas Champagner.“

„Um diese Zeit?“, fragte Roswitha und warf einen Blick auf die Uhr. Es war 11 Uhr vormittags.

„Für Champagner ist es nie zu früh. Komm schon, du reiche Erbin. Wir gehen jetzt ins Sacher. Du zahlst.“

 

Ein Schlosshotel am Wörthersee

 

Als sie am Abend nach der Testamentseröffnung im Haus der Leitners bei einem Glas Wein zusammensaßen, hatte Vicky für die Sache mit dem Pflichtteil nur noch ein Achselzucken übrig, während Roswitha offenbar immer noch das schlechte Gewissen plagte.

„Mutter hat nie darüber gesprochen“, wiederholte sie zum wohl x-ten Mal. „Ich fühle mich, als hätte ich dich um dein Erbe betrogen.“

„Jetzt lass es mal gut sein. Ich gebe zu, ich war im ersten Moment erstaunt, aber je länger ich darüber nachdenke, umso gerechter finde ich es. Du hast es schließlich bei Mutter ausgehalten, all die Jahre. Das passt schon. Ich finde nur, sie hätte es mir zu Lebzeiten sagen können.“

„Wir könnten einen Kollegen ersuchen, den Verkehrswert zu ermitteln, damit wir wenigstens wissen, dass der Pflichtteil korrekt ist. Ich werde gleich morgen …“, meldete sich Ewald zu Wort.

„Ewald, no! Ich will das nicht! Ich habe Roswitha schon gesagt, John hat mich zwar traurig, aber wirtschaftlich gut abgesichert zurückgelassen. Und 130.000 Euro sind eine Menge Geld. Ich will nichts mehr davon hören.“

„Tja, dann danke ich dir für deine Großzügigkeit“, sagte Roswitha und erhob ihr Glas. „Und sobald Felix wieder daheim ist, mache ich dir zu Ehren ein ganz großes Familienessen.“

„Das ist ein Wort“, antwortete Vicky lachend. „Apropos Felix. Ich habe nur mitbekommen, dass er gleich nach der Trauerfeier verreist ist. Wann kommt er denn wieder?“

„Das wüsste ich allerdings auch gerne“, meinte Roswitha und sah Ewald fragend an.

„Mich brauchst du nicht so anzusehen. Ich weiß auch nicht mehr als du.“

„Felix hat doch gesagt, Papa weiß mehr.“

„Das war vorigen Freitag. In der Zwischenzeit habe ich dir alles erzählt.“

„Wenn ich ihn am Telefon frage, bekomme ich nichts als ausweichende Antworten“, ärgerte sich Roswitha, doch Vicky fand, es klang auch ein wenig Besorgnis mit.

Ewald schien das auch so verstanden zu haben. „Er ist ja kein kleines Kind mehr und wird wissen, was er tut.“ Vicky nickte zustimmend.

„Leider habe ich gerade da meine Zweifel. Ich gebe zu, er ist bald 24, aber erwachsen ist er noch lange nicht! Umso mehr möchte ich jetzt wissen, wie er sich das vorstellt. Schließlich fahren wir bald in den Urlaub und Anfang August beginnt sein Praktikum in der Hausverwaltung. Er braucht es für sein Master-Studium“, fügte sie an Vicky gewandt hinzu.

„Dann schlage ich vor, wir gönnen uns ein paar Tage am Wörthersee und fragen ihn“, schlug Ewald vor und zückte seinen Kalender. „Kommendes Wochenende sieht bei mir gut aus.“

„Aber ohne mich“, rief Tini von der Fernsehecke herüber. „Da hat doch Kitty ihre Geburtstagsparty.“

„Du bleibst auf keinen Fall alleine daheim!“, entgegnete Roswitha.

„Ich könnte ja ein Auge auf sie haben“, lenkte Vicky ein, denn sie fand, eine kleine Auszeit würde Rosi und Ewald sicher guttun.

„Kommst du denn nicht mit?“, fragten die beiden im Chor.

Vicky schüttelte bedauernd den Kopf. „So sorry, aber am Freitag treffe ich eine Autorin, die mir ein vielversprechendes Manuskript angeboten hat und am Sonntag habe ich ein Date.“

„Dann ist ja alles bestens. Vicky hat ein Auge auf Tini und wir beide fahren an den schönen Wörthersee“, meinte Ewald. Achselzuckend gab Roswitha nach.

 

***

 

In seltener Eintracht machten sich Roswitha und Ewald Freitagmorgen auf den Weg. Niemand war überraschter darüber als Ewald. Es war zwar sein Plan gewesen, mit Roswitha an den Wörthersee zu fahren, damit Felix ihr selbst von seinen Plänen erzählen konnte, aber er hätte nicht gedacht, dass sie so schnell zustimmen würde.

Felix erwartete sie vor dem Hotel. Gut sah er aus. Fröhlich und braun gebrannt.

„Du scheinst ja ziemlich viel Freizeit zu haben“, neckte Roswitha.

„Das täuscht. Wie du weißt, bräunt meine Haut recht schnell“, gab Felix lachend zurück. „Ist das euer ganzes Gepäck?“

„Für zwei Tage sollte es wohl reichen. Oder erwartet man hier große Abendgarderobe?“, fragte Roswitha.

„Gar nicht, die sind schon im 21. Jahrhundert angekommen.“

„Zerrissene Jeans haben wir allerdings auch nicht mit“, entgegnete Roswitha und hängte sich gut gelaunt bei Felix ein. „Jetzt erzähl. Wie ist es hier? Wie lange hast du für uns Zeit?“

Ewald beobachtete die Szene amüsiert. War es nun die Aussicht auf ein freies Wochenende oder der Besuch bei Felix, der Roswitha so fröhlich stimmte? Jedenfalls war es eine willkommene Abwechslung. In letzter Zeit war sie nur selten gut aufgelegt gewesen. Er schnappte sich den Trolley und folgte den beiden zur Rezeption. Aber wie würde Roswitha reagieren, wenn sie von Felix‘ Plänen erfuhr?

Noch war es nicht so weit. Sie bezogen ihr Zimmer, mit herrlichem Blick auf den See, nahmen gemeinsam mit Felix ein spätes Frühstück ein, schlenderten die Seepromenade entlang, genehmigten sich einen Campari und beobachteten das Wasserballett. Alle schienen froh und entspannt, bis Roswitha fragte: „Wie lange bleibst du denn noch?“

„Bis Mitte September.“

Roswitha warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Ja, kommst du denn nicht mit uns nach Kroatien?“

Felix schüttelte wortlos den Kopf und starrte weiter auf den See.

„Schön, dass ich das auch erfahre, aber was ist mit dem Praktikum? Das brauchst du doch, für dein Studium.“

„Es wird kein weiteres Studium geben – nicht für mich.“

Roswitha sah Felix an, als sei er nicht ganz bei Trost. „Das musst du mir schon genauer erklären.“

„Ist doch ganz easy. Ich habe einfach nicht vor, mich in die Reihe der extrem tüchtigen und wohl verdienenden Mitglieder unserer Gesellschaft einzuordnen.“ Dabei betonte er die Worte „extrem tüchtig“, als handle es sich dabei um etwas Ekelerregendes.

„Wir wären ohnehin schon zufrieden, wenn du dich in die Reihe der nützlichen Mitglieder der Gesellschaft einreihen würdest“, antwortete Roswitha prompt. Dann warf sie Ewald einen auffordernden Blick zu. „So sag doch auch einmal was!“

Als Ewald nicht gleich antwortete, sprang sie auf und zischte: „Ach so, jetzt verstehe ich! Du bist längst eingeweiht und hast es bis heute nicht der Mühe wert gefunden, mir auch nur ein Wort zu sagen!“

„Nein, so war das nicht, aber …Roswitha! So bleib doch da!“

Weg war sie. „Das haben wir ja hervorragend hinbekommen“, knurrte Ewald.

„Sorry, Papa, tut mir echt leid. Aber ich muss dann auch wieder. Wir müssen noch ein paar neue Nummern einstudieren, das Publikum ist hier doch ziemlich retro“, sagte Felix, klopfte Ewald aufmunternd auf die Schulter und machte sich auf den Weg.

Ewald bestellte noch einen Campari und ließ seinen Blick über den See schweifen. Was war nur mit Roswitha los? Warum war es neuerdings so schwierig, sich vernünftig mit ihr zu unterhalten? So war sie doch früher nicht gewesen. Vielleicht spielten ihr ja die Hormone einen Streich. Las man ja immer wieder, dass Frauen ihres Alters oft schwierige Zeiten durchlebten. Das musste es sein.

 

*

 

Am nächsten Morgen war Ewald früh wach. Leise holte er seinen Jogginganzug aus dem Koffer und machte sich auf den Weg. So früh am Morgen war der sonst so turbulente Ort noch menschenleer, die Luft angenehm frisch, und die umliegenden Berge spiegelten sich im glatten See. Ewald joggte durch den Schlosspark, dann entlang der Uferpromenade. Zum Glück war die nicht allzu lang. Er war keiner der ganz Sportlichen, aber ab und zu ein wenig Bewegung tat doch ganz gut.

Zurück im Hotel, sehnte er sich nach einem starken Kaffee. Doch da Roswitha noch schlief, beschied er sich vorerst mit einem Glas Wasser, nahm sich die Zeitung und setzte sich auf die Terrasse. Der gestrige Tag war ein ziemliches Desaster gewesen, da wollte er sie nicht gleich wieder dadurch vergrämen, dass er alleine frühstücken ging, das mochte sie ganz und gar nicht. Erst versuchte er sich auf die Neuigkeiten des Tages zu konzentrieren, doch bald ließ er die Zeitung sinken und den gestrigen Tag Revue passieren.

Natürlich war es bedauerlich, dass Felix sein Studium nicht weiterführen wollte, aber es hatte einfach keinen Sinn, Menschen ändern zu wollen. Aus Felix würde nie ein ordentlicher Verwalter werden, das musste Roswitha doch einsehen. Das Geschäft war schwierig genug, wenn man es nicht gern machte, hatte man keine Chance.

Er hatte die Kanzlei vor mehr als 30 Jahren von seiner Tante übernommen, und er hatte es mit Begeisterung getan. Seine Mutter hatte nur den Kopf darüber geschüttelt. Kein Wunder sie hatte vom Unternehmen ihrer Eltern nie etwas wissen wollen und alles ihrer Schwester überlassen. Bei einem Wanderurlaub hatte sie sich in einen singenden Tiroler verliebt, geheiratet, einen Sohn geboren und war mit ihrer Familie glücklich geworden. Dass Ewald später nach Wien wollte, konnte sie noch verstehen, dass er jedoch lieber die Hausverwaltung seines Großvaters übernahm, als Instrumentenbauer zu werden und den Betrieb seines Vaters weiterzuführen, hingegen nicht. Sein Vater hatte das auch nie verwunden.

Ewald hatte daraus gelernt. Wenn keines der Kinder seine Kanzlei haben wollte, dann war das eben so. Bernhard hatte zwar Jus studiert, aber er träumte von einer internationalen Karriere als Wirtschaftsanwalt und zeigte keinerlei Neigung in die eher mittelständische Immobilienbranche zu wechseln. Felix träumte davon Musiker zu werden und Tini sprach neuerdings davon, Publizistik zu studieren. Das konnte sich freilich noch ändern. Vor kurzem wollte sie Tierärztin werden.

„Na, senile Bettflucht?“, hörte er Roswitha spötteln. Er drehte sich lächelnd um. „Na endlich. Ich war schon laufen und habe mächtig Hunger.“

„Ich beeile mich ja schon“, antwortete sie und verschwand im Bad. Fröhlich hatte das nicht geklungen.

 

***

 

Auch wenn Roswitha immer noch sauer auf Ewald war, wollte sie ihn nicht warten lassen. Sie duschte rasch, verzichtete vorerst aufs Eincremen, nach dem Frühstück würde sie ohnehin Sonnencreme auftragen und sich in die Sonne legen. Nichts denken, nichts fühlen als Sonne auf ihrer Haut. So wenig sie den Sommer in der Stadt schätzte, so gerne lag sie am Wasser in der Sonne. See oder Meer war ihr dabei egal. Hauptsache, sie konnte sich zwischendurch einmal abkühlen. Schade, dass Ewald so gar kein Sonnenanbeter war. Wäre ja auch zu schön, wenn sie wenigstens ab und zu eine Lieblingsbeschäftigung teilten. Egal, er konnte sich ja einen Sonnenschirm nehmen, oder sonst etwas tun. Sie würde sich ihren freien Tag jedenfalls nicht nehmen lassen, sie war ohnehin noch wütend. Wie konnte er sie nur so hintergehen?

Roswitha schlüpfte in eine leichte Sommerhose, wählte eine ihrer geliebten Hemdblusen, diesmal weiß und kurzärmelig und sagte kurz angebunden: „Wir können.“

Sie bekamen einen Tisch auf der Terrasse, der Blick war zugegebenermaßen ganz nett. Vicky würde ihn prachtvoll nennen. Ein leichtes Lächeln umspielte Roswithas Mund, wenn sie daran dachte. Sie hasste Übertreibungen. Bei näherer Betrachtung war der Anblick des ruhig daliegenden Sees und der sich dahinter erhebenden Berge allerdings wirklich prachtvoll – auch ohne Übertreibung.

„Wollen wir nach dem Frühstück ein wenig in der Gegend herumfahren?“, hörte sie Ewald fragen.

War ja klar, dass er gar nicht auf die Idee kam, den Tag einfach nur zu genießen. Er musste immer etwas tun. „Kannst du machen, ich lege mich in die Sonne. Vielleicht fährt ja Felix mit dir, dann könnt ihr darüber nachdenken, wie es mit ihm weitergehen soll.“

Er sah sie erstaunt an. „Bist du immer noch beleidigt? Roswitha, wie oft soll ich es dir noch sagen? Das war doch keine böse Absicht, ganz im Gegenteil, wir wollten dich lediglich vor der Trauerfeier nicht damit belasten.“ Er machte eine Pause und setzte dann hinzu: „Und ich wollte, dass Felix es dir selbst erzählt.“

Roswitha machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es ist doch immer das Gleiche, ob es nun um Tinis Taschengeld geht oder um Felix‘ Zukunftspläne. Du verbündest dich hinter meinem Rücken mit den Kindern. Wie soll ich das nennen? Ich nenne es hintergehen. So fühle ich mich auch, hintergangen.“

„Blödsinn!“, war alles was er darauf sagte.

Roswitha spürte, wie die Wut in ihr hochkroch. „Dabei ist dein Entgegenkommen nicht unbedingt zu deren Besten“, zischte sie ihn an, „eher im Gegenteil, aber das scheint dir ja egal zu sein. Hauptsache, du hast es schön bequem.“ Auch wenn sie wusste, dass das nicht stimmte, fühlte sie sich jetzt etwas besser.

„Du redest so einen Stuss“, antwortete Ewald ärgerlich. „Ich habe Felix ja nicht davon abgeraten, sein Master-Studium zu beenden. Aber ich habe im Gegensatz zu dir verstanden, dass das nicht sein Weg ist. Die Arbeit in der Kanzlei würde ihn nicht glücklich machen.“

„Meinst du etwa, mich macht sie glücklich?“

Er sah sie erstaunt an. „Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Es ist schließlich unser Betrieb.“

Unser Betrieb? Es ist dein Betrieb. Du hast ihn von deiner Tante übernommen. Ich mache diese blöde Buchhaltung in deiner Kanzlei doch nur, weil du dich nicht darum scherst.“

„Unsere Kanzlei, meine Kanzlei? Was macht denn das für einen Unterschied? Solltest du es vergessen haben: Das Geschäft ist die Lebengrundlage unserer Familie.“

„Genau deswegen spiele ich dort die Buchhalterin, die Lohnverrechnerin und das Mädchen für alles, und lass mich dafür auch noch blöd anreden.“ Sie stand auf, warf die Serviette auf den Tisch und ging. Sie hatte ohnehin keinen Appetit.

 

***

 

Ewald sah ihr verdutzt nach, dann wandte er sich seufzend seinem Frühstück zu. Wie sagte einst Danny Kaye: Jede Frau kann aus einem Nichts einen Salat, einen Hut oder eine Szene machen? Der Mann schien Roswitha gekannt zu haben, sie konnte das auf jeden Fall. Ob Vicky auch so war? Kaum vorstellbar.

Nach über 30 Ehejahren wusste er, dass es im Moment keinen Sinn hatte, mit Roswitha zu reden. Solche Stürme musste man abwarten und vorüberziehen lassen. Das konnte freilich dauern. Zum Glück war er anders gestrickt, sonst hätte die Sache mit ihnen nie gut gehen können. Er diskutierte die Dinge gerne an Ort und Stelle aus, dabei durfte es schon mal laut werden, aber danach konnte es auch wieder gut sein. Leider hatte Roswitha diesbezüglich die Gene ihrer Mutter geerbt. Verzeihen kam in ihrem Vokabular nicht vor. Bestenfalls wurde ein Thema zur Seite geschoben, um es bei nächstbester Gelegenheit wieder aufs Tapet zu bringen.

Nach dem Frühstück rief er erst Felix an, da der sich nicht meldete, versuchte er es zu Hause. Keine gute Idee, denn Roswitha hatte offenbar die gleiche gehabt und nun fragte Tini besorgt: „Alles in Ordnung bei euch?“

„Ja, ja, alles gut. Ich habe nur nicht mitbekommen, dass Mama schon angerufen hat. Also dann, ärgere Tante Vicky nicht und sei bitte heute Abend rechtzeitig zu Hause. Wir sehen uns dann morgen.“

„Bis dahin ruft ihr doch eh noch zehnmal an“, gab Tini zurück. Das konnte stimmen.

Was nun? Zum Glück hatte er sein Golfzeug eingepackt. Leider spielte Roswitha schon lange nicht mehr, obwohl sie seinerzeit gemeinsam damit begonnen hatten. Alleine zu spielen machte keinen Spaß, außerdem war es ihm zu heiß, aber er könnte der Driving-Range einen Besuch abstatten. Ein wenig Übung konnte schließlich nicht schaden und soweit er sich erinnern konnte, lag die im Schatten.

Der Golfplatz war einige Kilometer entfernt. Da er allein fuhr, konnte er alle Fenster öffnen und sich den Fahrtwind um die Nase wehen lassen, ganz so, wie sie es früher gerne gemacht hatten, bei ihrem ersten gemeinsamen Italienurlaub. Daran erinnerte er sich immer noch gerne. Es war eine unbeschwerte Zeit gewesen. Ob Roswitha auch noch manchmal daran dachte? Vielleicht sollte er sie einmal danach fragen.

Während er die Landschaft langsam an sich vorbeiziehen ließ überlegte er, warum Roswitha sich so gegen eine strategische Partnerschaft mit einer anderen Kanzlei stemmte, wenn ihr die Arbeit ohnehin so wenig Spaß machte. Sobald ihre Laune wieder besser war, würde er auch das hinterfragen.

 

Vicky und die Männer

Als Vicky am Sonntagabend von ihrem Date zurückkam, waren Roswitha und Ewald bereits zu Hause. Ihr Wochenende dürfte allerdings nicht besonders erfreulich verlaufen sein, mutmaßte sie, denn die Stimmung zwischen den beiden konnte man nur als gereizt bezeichnen.

„Sie haben schon wieder gestritten, genau wie ich es vermutet habe“, raunte Tini ihr zu. Das hatte Tini tatsächlich, und sie hatte ihr auch erzählt, was Vicky ohnehin bereits wusste, dass es zwischen den Eheleuten öfters krachte. Tini hatte auch gleich eine Schuldige ausgemacht: „Mama ist aber auch wirklich nervig – und so unfair!“

Vicky wollte sich weder ihre gute Stimmung verderben lassen, noch hatte sie vor, sich in das Eheleben ihrer Schwester einzumischen. Roswitha und Ewald waren seit mehr als dreißig Jahren verheiratet, sie würden wohl auch diesen Sturm überstehen und wissen, wie sie miteinander umzugehen hatten. Sicher war es das Klügste, sich eilends in ihr Zimmer zurückziehen. Als sie die Treppe zum Gästezimmer hochstieg, hörte sie Ewald sagen:

„Ich fahr noch ins Büro, hab viel zu tun, vielleicht übernachte ich auch dort.“ Kurz darauf fiel die Tür ins Schloss.

Nach einer ausgiebigen Dusche beschloss Vicky, doch wieder hinunterzugehen. Auf den ersten Blick schien es ihr, als ob Tini recht hätte, aber in Beziehungssachen sollte man nicht vorschnell urteilen und vielleicht wollte Roswitha ja darüber reden.

Sie fand sie in der Bibliothek. Roswitha saß im Schaukelstuhl und hatte ein Buch auf den Knien. Lesen konnte sie allerdings nicht, denn die Fensterläden waren geschlossen und im Zimmer herrschte Halbdunkel.

„Darf ich dich stören?“

Roswitha sah erstaunt auf. „Ja, klar. Hast du Hunger? Entschuldige, ich habe gar nicht daran gedacht. Ich weiß auch nicht genau, was wir noch im Kühlschrank haben, aber Spaghetti könnte ich dir auf jeden Fall machen. Genau, das mache ich jetzt!“ Roswitha und war schon auf dem Sprung, doch Vicky drückte sie zurück in den Sessel.

„Nicht für mich! Ich habe heute wirklich schon reichlich gefuttert, aber wenn du Lust hast, könnten wir ein Glas Wein trinken.“

„Möchtest du Rot- oder Weißwein?“

„Was trinkst du?“

„Ich trinke vielleicht einen Campari-Soda, aber du kannst gerne …“

„Gute Idee, den nehme ich auch“, antwortete Vicky rasch und öffnete die Terrassentür. Ein warmer Abendwind wehte herein.

„Und du bist sicher, dass du nichts mehr essen möchtest?“, erkundigte sich Roswitha noch einmal, als sie mit den Campari-Gläsern auf die Terrasse kam.

„Ganz sicher. Aber jetzt erzähl, was war denn los? Wann kommt Felix zurück?“

„Felix kommt erst im September wieder. Er hat beschlossen, sein Studium abzubrechen, will weder mit uns in den Urlaub fahren, noch macht er sein Praktikum in der Kanzlei.“

„Ach, das hat dir die Laune verdorben. Na ja, kann ich verstehen, andererseits …“

„Das auch“, unterbrach Roswitha, „aber wirklich wütend gemacht hat mich, dass Ewald es bereits wusste und mir kein Wort gesagt hat.“

„Wollte er deswegen mit dir nach Kärnten, damit Felix er dir selbst sagt?“

Roswitha zuckte die Schultern, dann ging sie in die Küche, um etwas Essbares zu holen. Vicky holte in der Zwischenzeit die Sesselauflagen aus dem Geräteschuppen. Den Sonnenschirm würden sie nicht mehr brauchen, die Sonne würde ohnehin in wenigen Minuten hinter dem Haus verschwinden. Als Roswitha mit einer Schale Nüsse und einem Teller mit Käsewürfeln und Oliven wiederkam fragte Vicky: „Habt ihr deswegen gestritten?“

„Auch.“

„Warum sonst noch?“

„Was weiß ich. Eins kam zum anderen und letztendlich läuft es doch immer darauf hinaus, dass alles an mir hängen bleibt. Denkst du etwa, Ewald kümmert es, dass Felix sein Studium nicht fertigmacht? Der mimt den Verständnisvollen und glaubt, damit ist alles gut.“

„Nun ja, Felix ist erwachsen und muss selbst entscheiden, was das Richtige für ihn ist. War es eigentlich seine Idee, die Fachhochschule zu besuchen?“

„Mehr oder weniger.“

„Was jetzt?“, fragte Vicky mit einem Lachen. „Eher mehr oder eher weniger?“

„Ein wenig Druck mussten wir schon machen. Wenn es nach Felix gegangen wäre, würde er immer noch durch die Weltgeschichte tingeln. Es war ja schon ein Krampf, ihn durch die Matura zu bringen. Nicht etwa, weil er dazu nicht in der Lage gewesen wäre. Jedenfalls hat er dann seine Wehrpflicht als Sanitäter abgeleistet. Daraufhin wollte er unbedingt Medizin studieren. Wir hatten nichts dagegen, er hat sogar die Aufnahmsprüfung bestanden. Leider war nach zwei Semestern Schluss damit, da wollte er wieder verreisen, die Welt kennen lernen. Wir haben dann einen Kompromiss geschlossen. Drei Monate Ferien mit Interrail, danach die Fachhochschule. Bis zum Bachelor hat er es immerhin geschafft – und ganz habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben.“

„Hattest du denn den Eindruck, dass es ihm Spaß gemacht hat?“

„Ach, ihr immer mit eurem Spaß. Nicht alles im Leben kann Spaß machen.“

„Stimmt, aber der Beruf sollte es schon. Andernfalls wird man entweder nie wirklich Erfolg haben oder ständig frustriert sein.“ Noch während sie den Satz aussprach dachte sie, dass sie möglicherweise auch an Roswithas Problem gerührt hatte. Vielleicht war es das, was sie so offenkundig unzufrieden machte. Dass Ewald ganz und gar in seiner Hausverwaltung aufging, war unschwer zu erkennen. Roswitha hatte sich immer auf die Familie konzentriert, arbeitete aber mit der Zeit mehr und mehr im Betrieb mit. Was genau sie dort machte, hatte Vicky nie hinterfragt, aber was immer es war, war es das, was Rosi wirklich machen wollte? Ursprünglich wollte sie Musik studieren, hatte aber die Aufnahmsprüfung am Konservatorium nicht bestanden. Daraufhin hatte sie wohl die Lust verloren und einen Abiturienten-Lehrgang an der Handelsakademie besucht. Dort lernte sie dann Ewald kennen.

Eine Weile sahen beide schweigend zu, wie die Sonne unterging. Aus Tinis Zimmer drang laute Musik. Dann fragte Vicky: „Wenn du heute noch einmal die Möglichkeit hättest, dir einen Beruf zu wählen, was würdest du tun?“

„Was für eine törichte Frage – in unserem Alter“, spottete Roswitha.

Vicky ging auf den Spott nicht ein und nach einiger Zeit sagte Roswitha: „Ich weiß nicht, vielleicht würde ich doch Musik studieren – oder Psychologie.“

„Um Ewald und die Kinder besser zu verstehen?“

„Um mich selbst besser zu verstehen.“

 

*

 

„Kommst du mit mir in die Stadt?“, fragte Vicky am nächsten Morgen.

„Wie stellst du dir das vor, heute ist Montag“, antwortete Roswitha, während sie mit routinierten Handgriffen das Frühstücksgeschirr in den Geschirrspüler räumte.

„Du bist die Chefin. Gib dir halt ein paar Stunden frei.“

„Um was zu tun?“

„Um ein wenig zu shoppen?“

„Keine Chance. Ich muss heute ins Büro.“

„Um mit Ewald zu streiten?“ Es war Vicky nicht entgangen, dass er wie angekündigt im Büro genächtigt hatte.

„Um die Unterlagen für den Steuerprüfer fertig zu machen.“

„Schade“, murmelte Vicky und wandte sich ihrem Tablet zu. Würde sie eben alleine einkaufen gehen. Wenn sie noch einige Tage in Wien bleiben wollte, brauchte sie ein paar Sommersachen. Außerdem liebte sie die Innenstadt, bummelte gerne durch die Gassen. Sie sollte sich besser gleich auf den Weg machen, es könnte heute noch heiß werden.

Als sie gegen Mittag, beladen mit einigen Einkaufstaschen, in der Annagasse nach einem schattigen Platz in einem der Schanigärten Ausschau hielt, hörte sie eine tiefe, männliche Stimme rufen: „Vicky? Vicky Zeller? Bist du’s wirklich?“

Sie drehte sich um. Hinter ihr stand ein sehr attraktiver Mann, groß, schlank, graumeliertes Haar. Als er die Sonnenbrille abnahm dämmerte ihr, wer da vor ihr stand. „Philipp?“

„Derselbige“, lachte er mit einer kleinen Verbeugung und drückte ihr die Hand, ehe er sie links und rechts auf die Wange küsste. Sein Händedruck war erfreulich fest. Vicky mochte das.

„Du hast dich ja kaum verändert!“, meinte er mit einem charmanten Lächeln.

„In 37 Jahren? Das glaub ich aufs Wort.“

„Es muss so sein, sonst hätte ich dich ja nicht gleich erkannt.“

Das ließ Vicky gelten und antwortete schmunzelnd: „Du wusstest immer schon, wie man Komplimente macht.“

„Trotzdem bin ich bei den schönen Zeller-Zwillingen leider abgeblitzt.“

„Vielleicht, weil du dich nie so richtig für eine von uns entscheiden konntest“, neckte Vicky, die sich dunkel daran erinnerte, dass er erst ihr, später aber auch Roswitha den Hof gemacht hatte. Er war damals schon ein ziemlicher Feschak gewesen, wenn auch noch grün hinter den Ohren, wie alle Jungs ihrer Klasse.

„Darf ich dich wenigstens heute auf ein Glas Prosecco einladen?“

„Always“, zwinkerte Vicky.

„Dann komm, ich bin gerade auf dem Weg zu meinem Lieblingsitaliener.“

 

*

 

Als Vicky Stunden später das Haus der Leitners betrat, fühlte sie sich beschwingt und ein klein wenig beschwipst.

Roswitha kam aus der Küche und empfing sie mit den Worten: „Da bist du ja endlich! Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“

Das war jetzt nicht ganz das, was Vicky hatte hören wollen, dennoch zwang sie sich zu einem Lächeln und antwortete fröhlich: „Du glaubst nicht, wen ich heute Mittag in der Annagasse getroffen habe.“

„In der Annagasse? Philipp Schmand vielleicht? Der hat dort seine Praxis, besser gesagt sein Institut.“

„Stimmt! Woher weißt du das?“

Roswitha machte kehrt und ging in die Küche zurück. Vicky folgte ihr. „Das hast du mir gar nicht erzählt, als wir uns letztens über unsere alte Clique unterhalten haben.“

„Dann hab ich’s wohl vergessen“, entgegnete Roswitha und wandte sich wieder ihrem Salat zu.

„Er ist ein gutaussehender Mann geworden, findest du nicht?“

„Na ja, hässlich war er nie.“

„Stimmt. Dann weißt du vielleicht auch, dass er geschieden ist.“

Um ein Haar hätte sich Roswitha in den Finger geschnitten, ehe sie sagte: „Wir können gleich essen. Es gibt griechischen Salat. Magst du ein Glas Retsina dazu?“

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich vorerst ans Wasser halte. Aber jetzt sag schon, wann und wo hast du Philipp denn getroffen?“

„Ach, das ist auch schon wieder eine Ewigkeit her. Jedenfalls war er noch verheiratet. Magst du Knoblauchbrot zum Salat?“

„Gerne, ich hab‘ ja heute nichts mehr vor. Aber für nächste Woche habe ich mich mit Philipp zum Abendessen verabredet. Komm doch mit, er freut sich bestimmt, uns beide zu sehen.“

„Bist du sicher?“

„Ja klar, darüber reden wir noch“, meinte Vicky, pickte eine Olive aus dem Glas und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Sie war vielleicht ein klein wenig beschwipst, aber nicht so sehr, dass ihr nicht aufgefallen wäre, dass Roswitha nicht über Philipp Schmand reden wollte. Vielleicht war sie als Patientin bei ihm gewesen. Möglich wär’s. Philipp war Psychologe und Psychotherapeut. Es erklärte auch, warum er ebenfalls so getan hatte, als hätte er Roswitha seit dem Maturaball nicht mehr gesehen.

 

Ein angenehmer Hausgast

„Hat deine Schwester eigentlich schon gesagt, wann sie wieder nach Hause fliegt“, fragte Ewald von einem Schreibtisch zum anderen, während er die Unterlagen für die Hausversammlung zusammensuchte. Hausversammlung, mitten im Sommer, so ein Holler. Wo war denn nur diese Anwesenheitsliste, die seine Sekretärin ihm vorbereitet hatte?

„Stört sie dich?“, kam es spitz von Roswitha.

„Ganz im Gegenteil, ich finde, sie ist eine interessante Frau und eine amüsante Gesprächspartnerin, aber nach drei Wochen wird man doch einmal fragen dürfen.“

„Dann frag sie halt, deine amüsante Gesprächspartnerin.“

War er jetzt vielleicht wieder zu nett gewesen? Der Grat schien schmal zu sein – oder war Roswitha etwa auf ihre eigene Schwester eifersüchtig? Klang fast so, aber er musste sich irren. Ah, da war ja die Liste. Ewald steckte sie mit den übrigen Unterlagen in seine Aktentasche und sagte beiläufig: „Mach ich.“ Dann drückte er Roswitha im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange und verließ das Büro.

Draußen schlug ihm unangenehme Schwüle entgegen. Während er die Straße überquerte, überlegte er, ob Vickys Anwesenheit ihn tatsächlich störte, oder ihm vielmehr vor Augen führte, dass es auch Frauen gab, die nicht ständig übellaunig waren und auf jedes unbedachte Wort beleidigt reagierten. Anders als Roswitha schien Vicky stets ausgeglichen und guter Dinge zu sein. Im Grunde war sie ein sehr angenehmer Hausgast. In den ersten Tagen ihres Besuches war ihm auch Roswitha umgänglicher erschienen. Zumindest war sie sichtlich bemüht gewesen, ein harmonisches Familienleben zu zeichnen. Seit den Tagen am Wörthersee war das allerdings Geschichte. Leider. Sie hatte ihm immer noch nicht verziehen, dass er ihr von Felix‘ Vorhaben nichts gesagt hatte. Dabei hatte er es ihr doch erklärt. Ja, gut, sie war immer die Vertraute der Kinder gewesen, besonders die der Jungs, aber er konnte doch auch nichts dafür, dass Felix sich diesmal zuerst ihm anvertraut hatte.

In der Tiefgarage war es angenehm kühl. Im Sommer war der Garagenplatz wirklich ein Segen. Dennoch seufzte er, während er seinen Wagen auf die Straße lenkte. Roswithas Unversöhnlichkeit konnte Wochen dauern und war nicht neu, dennoch verblüffte sie ihn immer wieder und machte das Zusammenleben zunehmend schwieriger. Wann hatte sie sich eigentlich so verändert? Sie wurde ihrer Mutter immer ähnlicher. Die war genauso gewesen. Auch ihrem Vater gegenüber war Roswitha so unversöhnlich – obwohl Ewald noch immer nicht so recht begriffen hatte warum. Genau genommen hatte es ihn auch bisher nicht sonderlich interessiert, aber seit Vicky im Haus war, kam das Thema öfter mal. Die beiden hatten ziemlich unterschiedliche Erinnerungen an ihre Kindheit.

Bei all dem hatte er immer öfter das Gefühl, dass Roswitha sich selbst im Weg stand und noch mehr unter den Spannungen litt. Neulich hatte sie ihn gefragt, ob er sie noch liebte. Dumme Frage. Natürlich hatte sie ihre Fehler und auch er war vermutlich nicht immer der Ehemann, den sie sich wünschte – aber so war es eben. Man musste doch nicht perfekt sein, um geliebt zu werden.

 

*

 

Als Ewald nach Hause kam, war es schon dämmrig. Er hätte nicht gedacht, dass man sich drei Stunden über ein Garagentor unterhalten konnte. Vermutlich lag es daran, dass wieder einmal jene, die am wenigsten zu sagen hatten, sich am eifrigsten zu Wort gemeldet haben. Auch das war für ihn nichts Neues. Wer 38 Jahre in einer Hausverwaltung arbeitete, den überraschte nur mehr wenig.

Die Damen saßen auf der Terrasse, auch Tini, was neuerdings selten vorkam. Sah ja alles ganz friedlich aus.

„Hast du Hunger?“, fragte Roswitha anstelle einer Begrüßung.

„Und ob. Was gibt’s denn Gutes?“

„Wir haben nur etwas Prosciutto mit Melone gegessen, aber wenn du willst, kann ich dir auch Spaghetti machen oder eine Portion Gulasch auftauen.“

„Lass nur, Prosciutto mit Melone passt perfekt.“ Er warf einen Blick auf den Krug der mit Wasser, Minze und Zitrone gefüllt war. „Mögt ihr auch ein Glas Rotwein?“ Als sich niemand meldete, setzte er hinzu: „Oder lieber Prosecco?“

„Oh ja, ein Glas Prosecco wär‘ jetzt super“, meinte Vicky und Tini schloss sich mit Piepsstimme an: „Bekomme ich auch einen Schluck? Bitte!“ Dabei setzte sie diesen Blick auf, dem er so schlecht widerstehen konnte. Na ja, ein kleiner Schluck konnte ja nicht schaden. Besser sie kostete daheim, als sie tat es hinter ihren Rücken. Konnte man doch ohnehin nicht verhindern.

„Na gut, ausnahmsweise, dann bring mal die Gläser, ich gehe den Prosecco holen.“

Als er dann den kühlen Prosecco einschenkte, kam Roswitha mit der Schinkenplatte zurück. Sie warf einen fragenden Blick auf die vier Gläser. „Hab‘ ich was versäumt?“

„Wir trinken ein Gläschen auf den anstrengenden Tag“, antwortete Ewald und prostete ihr zu.

„Mag ja sein, dass du einen anstrengenden Tag hattest, Tini eher nicht.“

„Deshalb bekommt sie auch nur ein halbes Glas“, beeilte sich Ewald zu sagen und warf Tini einen beschwörenden Blick zu. Tatsächlich klappte sie den Mund wieder zu.

„Na dann, auf das Leben!“

Als Tini sich später in ihr Zimmer zurückzog, fragte Roswitha: „Seit wann bekommt die Kleine Alkohol?“

Ewald setzte zu einer Erwiderung an, doch Vicky kam ihm zuvor: „Es war doch nur ein Schlückchen. Erinnere dich, Daddy hat uns auch manchmal kosten lassen.“

„Ich erinnere mich vor allem daran, dass Mutter das gar nicht gerne sah.“

Vicky sah versonnen in den abendlichen Himmel, dann sagte sie mit einem Lächeln: „Und ich erinnere mich daran, dass es mir besonders gut geschmeckt hat, wenn sie diesen vorwurfsvollen Blick hatte. Apropos Daddy. Ich fliege in den nächsten Tagen zu ihm nach Berlin und dachte mir, ich könnte Tini mitnehmen, schließlich beginnen übermorgen die Ferien. Was meint ihr?“

Ewald hielt das für eine gute Idee, hielt sich aber bewusst zurück. Ein vorschnelles Ja seinerseits würde der Sache beim derzeitigen Stand der Dinge vermutlich nicht dienlich sein. Als Roswitha nicht gleich reagierte fragte er: „Was meinst du?“

„Ich versteh gar nicht, warum sie überhaupt nach Berlin muss. Sie hatte doch auch bisher keinen Kontakt zu ihrem Großvater.“

„Eben deshalb“, meinte Vicky.

„Außerdem fahren wir in zwei Wochen nach Kroatien“, legte Roswitha nach.

„Perfekt, bis dahin sind wir längst wieder da. Ich buche gleich morgen unsere Flüge.“

„Ich dachte, du triffst dich nächste Woche mit Philipp.“

„Das kann warten. Ich plane einige Änderungen und die möchte ich möglichst bald mit Daddy besprechen.“

„Vielleicht könntest du auch mit uns darüber reden, nur so als Idee“, erwiderte Roswitha. Es klang gereizt. Der Gedanke, dass Vicky ein Gespräch mit ihrem Vater vorzog, verstimmte sie offenbar.

„Das mache ich auch, sobald wir aus Berlin zurück sind“, antwortete Vicky mit einem Zwinkern.

„Außerdem ist Tini noch nie alleine verreist, von Schikursen einmal abgesehen“, startete Roswitha noch einen Versuch.

„Really? Dann wird es ja höchste Zeit!“

Zu Ewalds großem Erstaunen sagte Roswitha nichts mehr.

 

 

Ein eigenes Haus

Am darauffolgenden Montagmorgen brachte Roswitha die beiden zum Flughafen. Als sie sich von ihnen verabschiedete, fragte Vicky schelmisch: „Soll ich Daddy etwas ausrichten?“

„Schöne Grüße“, murmelte Roswitha, dann winkte sie ihnen zu und fuhr davon. Tinis Abschiedsschmerz schien sich in Grenzen zu halten.

Eigentlich sollte Roswitha jetzt ins Büro fahren, stattdessen nahm sie die Abfahrt Stadlau und fuhr zum Haus ihrer Mutter, das nun ihr gehörte.

Erst war es ihr unangenehm gewesen, dass Mutter Vicky auf den Pflichtteil gesetzt hatte. In der Zwischenzeit war sie froh darüber. Es stimmte ja, sie hatte ein viel engeres Verhältnis gehabt, zu dem Haus und zu ihrer Mutter – und das nicht erst, seit Vicky mit Vater in die USA abgehauen war. Vielleicht hatte Mutter auch geahnt, dass Roswitha das Haus behalten würde – besser gesagt: behalten wollte, als etwas, das sie ganz für sich hatte. Etwas, worüber sie ganz allein verfügen konnte. War das egoistisch? Sicher nicht. Wie hatte Philipp damals gesagt? „Du brauchst etwas für dich, weil du immer alles gibst.“

Der Gedanke an Philipp löste durchaus unterschiedliche Gefühle in ihr aus. Warum musste Vicky gerade ihn treffen? Roswitha war so froh gewesen, ihn endlich vergessen zu haben. Genaugenommen hatte sie sich jeglichen Gedanken an ihn verboten, hatte ihn aus ihrem Leben verbannt, so wie Mama ihren Vater aus ihrem Leben gestrichen hatte. Keine Fotos, keine Erinnerungen, nichts. Ob es Mutter auch so schwergefallen war? Sie hatten nie darüber geredet. Jedenfalls hatte es in Roswithas Fall geklappt – bis vor Kurzem.

Nun, es war wie es war und es war nicht zu ändern. Sie würde sich jetzt einmal um das Haus kümmern. Ewald hatte ganz en passant erwähnt, dass er darüber nachdenke, das Haus vor dem Verkauf sanieren zu lassen, um einen anständigen Preis zu erzielen. Auf den Gedanken, sie um ihre Meinung zu fragen, war er gar nicht gekommen.

Sie wollte das Haus ja auch sanieren, aber sie wollte es nicht verkaufen. Dumm nur, dass ihr das notwendige Kleingeld fehlte. Also musste sie wohl oder übel mit Ewald darüber reden.

In der Zwischenzeit war sie vor dem in die Jahre gekommenen Bungalow angekommen. Als sie auf das Haus zuging, dachte sie: „Es hat genau die richtige Größe und einen schönen, großen Garten. Unser Haus ist zu groß, dafür ist unser Garten zu klein.“ Sie hatten es von einem Klienten gekauft. Ewald war Feuer und Flamme gewesen. Die Lage an einem Seitenarm der Alten Donau war zwar nicht schlecht und der Preis war gut gewesen, aber sie hätte lieber selbst ein Haus gebaut. Doch davon hatte Ewald nichts wissen wollen. „Selbst zu bauen ist erstens teurer und zweitens viel zu zeitintensiv. Wer soll sich denn darum kümmern?“, hatte er gefragt. Wer schon? Sie hätte sich gekümmert, aber das hatte er ihr wohl nicht zugetraut.

Sie sah sich erst im Garten um, ging dann ins Haus, öffnete Fenster und Türen und spazierte wieder in den Garten. In wenigen Tagen würden die Marillen reif sein, wenn sie Glück hatte, noch bevor sie in den Urlaub fuhren, dann könnte sie noch ein paar Gläser Marmelade einkochen. Andernfalls würden die Früchte vermutlich verderben. Nicht anzunehmen, dass Vicky Marmelade machen würde. Ob sie das überhaupt konnte? In den fast vier Wochen, die sie nun in Wien war, hatte sie erst einmal gekocht. Irish Stew. Ewald war begeistert gewesen, Roswitha etwas weniger und Tini hatte auch erst das Gesicht verzogen. Nun ja, Irish Stew war nicht jedermanns Sache.

 

*

 

„Ich war heute auf einen Sprung in Mutters Haus, um zu lüften“, sagte Roswitha nach dem Abendessen. Sie saßen auf der Terrasse. Ewald warf einen kritischen Blick auf das Wolkenspiel, ehe er gedankenverloren antwortete: „Ich werde doch besser die Poolabdeckung schließen, sieht nach Gewitter aus.“

„Hörst du mir eigentlich zu? Ich wollte mit dir über das Haus reden.“

Ewald deutete zum Himmel. „Ich fürchte, das muss warten.“

Wie um ihm recht zu geben, setzte in dem Moment ein Sturm ein, der Roswitha veranlasste, umgehend den Tisch abzuräumen. Wenige Minuten später peitschte der Sturm Regen und Hagelkörner über die Terrasse.

In den letzten Tagen hatten sie eine Abkühlung herbeigesehnt, aber es musste ja nicht gleich Sturm und Hagel sein. „Weltklasse, morgen sind wir wieder den ganzen Tag mit Sturmschäden beschäftigt“, seufzte Ewald. „Und das jetzt, wo zwei Leute im Urlaub sind.“

Das stimmte natürlich, trotzdem verstimmte es Roswitha, dass er schon wieder an das Büro dachte. Immer kam der Betrieb zuerst – zuallererst. Nun gut, das war nicht zu ändern. Nicht mehr. Sie hätte sich schon viel früher dagegen wehren müssen. Ob das etwas geändert hätte? Gedankenverloren sagte sie: „Hoffentlich hält wenigstens das Dach.“

„Na hör mal, unser Haus ist fünfzehn Jahre alt und das Dach hat ein Vermögen gekostet.“

„Ich meinte das Dach meines Hauses.“

Ewald sah aus dem Fenster. „Ach so. Ich glaube schon, der bauliche Zustand ist ja nicht schlecht, es ist nur ziemlich abgewohnt.“

„Mutter hatte eben kein Geld für Erneuerungen.“

Ewald nickte. „Verstehe, deshalb erbt deine Schwester jetzt ein Wertpapierdepot im Wert von 130.000 Euro.“

„Das hat mich auch erst überrascht, aber in der Zwischenzeit denke ich, Mutter hat das genau geplant. Vermutlich hat sie geahnt, dass Vicky das Haus würde verkaufen wollen.“

Ewald warf ihr einen überraschten Blick zu. „Du etwa nicht?“

„Nein“, erwiderte Roswitha mit fester Stimme.

Er schien darüber nachzudenken. „Wir könnten es natürlich auch vermieten, wenn dir das lieber ist. Dann müssten wir es allerdings vorher sanieren.“

Roswitha ärgerte sich zwar, dass er so tat, als wäre es auch sein Haus, dennoch nickte sie zustimmend. Sie wollte das Haus zwar auch nicht vermieten, aber solang Ewald mit der Sanierung beschäftigt war, wurde es jedenfalls nicht verkauft, das verschaffte ihr zumindest einen Aufschub von ein paar Monaten. Dummerweise hatte sie kein eigenes Geld. Warum eigentlich? Weil sie dumm genug gewesen war, jeden Cent, den Ewald ihr aus steuerlichen Gründen ausbezahlt hatte, für die Familie auszugeben. Jetzt saß sie da und war auf Ewalds Großzügigkeit angewiesen. Da war Diplomatie gefragt. „Was könnte so eine Sanierung denn kosten?“

„Ich fürchte, unter 100.000 wird sich da nicht viel machen lassen, aber ich kann ja einmal unseren Baumeister hinausschicken, dann wissen wir mehr.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752100259
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Schwestern Karriere Familienroman Ehe Frauenunterhaltung Unterhaltungsroman Zwillinge Frauen 50+ Familie Gesellschaftsroman

Autor

  • Brigitte Teufl-Heimhilcher (Autor:in)

Brigitte Teufl-Heimhilcher lebt in Wien, ist verheiratete und bezeichnet sich selbst als realistische Frohnatur. In ihren heiteren Gesellschaftsromanen setzt sie sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Fragen auseinander. Sie verwebt dabei Fiktion und Wirklichkeit zu amüsanten Geschichten über das Leben - wie es ist, und wie es sein könnte.
Zurück

Titel: Zwillinge in Dur und Moll