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Was wäre wenn …?

Anthologie

von Nele Betra (Autor:in)
148 Seiten

Zusammenfassung

Was wäre wenn ...? Eine Anthologie mit vier Geschichten über die Liebe, so unterschiedlich und unberechenbar wie das Leben. *** "Wenn die Angst schweigt" (Teil 1) Eine Firmenfeier. Nur ein Vorwand, um eine weitere Nacht im Delirium, ohne die verhassten Gefühle, hinter sich zu bringen. Den Morgen danach nimmt er, wie viele in den letzten einsamen Monaten, nur verschwommen wahr. Wird es ewig so weitergehen? *** "Wenn dein Herz schreit" (Teil 2) Wenn dein Herz schreit, deine Zukunft dich bedrängt und du vor Angst keinen Finger mehr rühren kannst, dann wird es Zeit... Entscheide dich! Entweder du nimmst deine Füße in die Hand und läufst wie ein Feigling um dein Leben, oder du raffst all deinen Mut zusammen und greifst nach den Sternen. Markus befindet sich genau an diesem Punkt in seinem Leben und bekommt unverhofft Schützenhilfe, aus einer Richtung, die er nie für möglich gehalten hätte. *** "Wenn Hass blind macht" (Teil 3) Endlich ist er da, der Moment, auf den Tobias seit drei Jahren verbissen und rücksichtslos hinarbeitet. Nach einem demütigenden und enttäuschenden Erlebnis hat er nur noch ein Ziel: Vergeltung! Wird er bekommen, was er sich wünscht? *** "Wenn es so sein soll" (Teil 4) Riley Scott ist Mitte dreißig und ein hoffnungsloser Romantiker. Er wünscht sich seit Jahren DEN Partner fürs Leben. Jedoch waren seine bisherigen Beziehungen eher oberflächlich und hielten nie länger als ein paar Monate. Der Wunsch, endlich die große Liebe zu finden, bleibt unerfüllt. So entscheidet er sich seine kostbare Lebenszeit nicht mehr mit einer sinnlosen Suche und immer wieder enttäuschten Erwartungen zu vergeuden. Er akzeptiert, dass es Dinge gibt, die nicht erzwungen werden können, und steckt all seine Kraft in die Verwirklichung seines Traumes: Eine eigene Cateringfirma. Das Leben hat immer einen Plan. Aber kann er wirklich allen Versuchungen des Lebens widerstehen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wenn die Angst schweigt

„In einem wirklichen magischen Moment schweigt die Angst von allein.“

(c) Kerry Greine

Magische Momente? Dass ich nicht lache. Wer behauptet, dass es die gibt, ist ein wahrhafter Träumer? Ich habe bisher noch keine erlebt. Denke ich.

Wie komme ich überhaupt auf diese wirren Überlegungen? Die Erklärung ist einfach. Ein Satz, von einem meiner Onlinefreunde geschrieben als Kommentar in einem Socialnet, lässt meine Gedanken fliegen und mich Fragen stellen, die ich immer wieder gerne verdränge.

Wollt ihr wissen, um welchen Satz es dabei geht? Also gut, hier ist er:


„In einem wirklichen magischen Moment schweigt die Angst von allein.“


Was für ein Schwachsinn!


Es ist 5 Uhr früh, schweinekalt und finster wie in einer Gruft. Die dunkelste Stunde ist immer die vor Sonnenaufgang. Hab ich mir mal sagen lassen. Angeblich soll es ein chinesisches Sprichwort sein. Keine Ahnung, ob es wahr ist. Vom Gefühl her würde ich dem aus tiefster Seele zustimmen.

Ich liege im Bett. Allein, wie ich hoffe, denn ich habe noch nicht nachgesehen. Mein erster Blick aus verquollen Augen - wenn man die überhaupt so nennen kann - fällt auf mein Handy, welches wie Weihnachtsbeleuchtung in regelmäßigen Abständen sämtliche LED’s blinken lässt. Blau für Facebook. Grün für private Nachrichten. Weiß für WhatsApp. Gelb für meine drei E-Mail-Accounts. Die Mitteilungen und meine elektronische Post müssen jetzt warten, ich bin absolut nicht fähig klar zu denken, oder irgendwem ein Lebenszeichen von mir zukommen zu lassen. Warum ich diese nervige Erfindung an meinem Bett liegen habe? Ist es eine Erklärung, wenn ich sage aus Dummheit? Es wird echt Zeit für Urlaub. Wann war mein Letzter? Erstaunlich... es ist schon so lange her, dass ich in meinen Terminplaner schauen müsste, um mich daran erinnern zu können. Wie konnte das nur passieren?

Mein Kopf dröhnt. Ich streiche durch mein störrisches Haar und stöhne auf. Selbst die Haarwurzeln sträuben sich und schmerzen. In meinem Mund scheint etwas Pelziges verendet zu sein. Ich hauche in meine Hand und sehe es regelrecht vor mir, wie ich vom Geruch grün anlaufe. Mein Magen findet es ebenfalls nicht lustig und rebelliert munter drauf los. Nach der Nachttischlampe suchend taste ich auf dem neben mir stehenden Schränkchen herum, bis ich den Schalter finde und ihn betätige. Meine Augen kneife ich reflexartig zu und lasse mich mit einem schmerzerfüllten Stöhnen ins Kissen zurücksinken.

Zweiter Versuch. Das Licht beißt mir in die Augäpfel und verstärkt das Dröhnen in meinem Schädel. Langsam drehe ich mich zur Seite und lasse meinen Blick über die linke Betthälfte wandern. Die Bettlaken sind zerwühlt, da ich im Schlaf dazu neige zu randalieren, also nichts Bedenkliches. Sehr gut, ich bin tatsächlich allein nach Hause gekommen und muss mich somit nicht für meinen Zustand schämen.

Hätte ich doch nur gestern Abend meine Kollegen ignoriert und dieses Gesöff nicht angerührt. Es roch merkwürdig, sah eklig aus und schmeckte dementsprechend mies. Aber hey, in meiner Situation wäre wohl jedem mit solch einem Alk-Cocktail geholfen. Hauptsache die immerwährenden Achterbahnfahrten meiner Gedanken kommen zum Stillstand.

Sechs Monate! Sollte es nicht langsam besser werden?

Dieses halbe Jahr liegt wie im Nebel. Blackouts wie der heute Nacht sind keine Seltenheit. Meine tägliche Arbeit verrichte ich routiniert, eher wie eine Maschine, die einem Programm folgt. Acht Stunden am Tag Tunnelblick. Die Frage ist nur, was sehe ich am Ende des Tunnels? Dunkelheit. Nur abgrundtiefe Stille und verzehrenden Schmerz.

Verdammt! Welcher Idiot hat eigentlich je gesagt, dass die Zeit alle Wunden heilt? Den würde ich gern persönlich kennenlernen. Vielleicht auch in der Dunkelheit? In einer Gasse, ganz allein würde ich mit ihm sehr gern näher auf dieses Thema eingehen.


Ein Scheppern gefolgt von unverständlichen Worten dringt ins Schlafzimmer. Ich fahre aus meinen Gedanken hoch und greife mir im selben Augenblick an meine stechende Schläfe, als die Tür zum Bad geöffnet wird und sich ein Mann auf leisen Sohlen versucht ins Zimmer zu schleichen.

Mist! Ich bin doch nicht allein. Weiterhin meine Hand gegen die Stirn gepresst traue ich meinen Augen nicht. Das kann nicht sein!

Völlig in sein Bemühen vertieft, sich so leise wie möglich zu bewegen, bemerkt er nicht, dass bereits ein diffuses Licht das Zimmer erhellt und ich hellwach - zumindest so hellwach ich in meinem Zustand sein kann - im Bett sitze und ihn anstarre.

Ich würde mich gern bemerkbar machen, aber meine Synapsen spielen noch Fangen mit sich selbst und geben mir keine Möglichkeit auf angemessene Weise zu reagieren. Was mir selbst im katerlosen Zustand schwergefallen wäre, da dieser Mann kein geringerer ist, als jener, der mich vor einem halben Jahr in die emotionale Hölle geschickt hat.

Ein Stechen in der Brust. Ein Ziehen in der Magengegend. Es hilft alles nichts, ich muss aufstehen, sonst gibt es hier im Bett ein Unglück. Ich quäle meine Beine über die Bettkante. Was mein Gegenüber nun doch aus seiner Trance herausholt und mitten in seiner Bewegung erstarren lässt. Ein Fuß in der Luft, leicht nach vorn gebeugt, um sich vor was auch immer zu ducken, steht er mitten im Zimmer und starrt mich mit offenem Mund an. Witziger Anblick. Bei jeder anderen Person wäre ich sicher in Gelächter ausgebrochen. Bei ihm fällt es mir schwer meinen Mageninhalt bei mir zu behalten. Mit einer Hand vor meinem Mund sprinte ich ins Bad und lasse ihn ohne Kommentar stehen.

Im Bad angekommen werden die Kopfschmerzen nur noch unerträglicher. Das Licht überm Spiegelschrank ist grell. Wunderbar, wenn ich mich rasieren muss, da jede Pore und Falte zu sehen ist. Jetzt ist es einfach nur ätzend. Am Boden liegt ein Becher. Der war es wohl auch, der das scheppernde Geräusch verursacht haben muss. Hat er sich den Mund gespült? Nein, auf dem Waschtisch liegt eine neue Zahnbürste, die aufgebrochene Verpackung daneben. Wirklich? Er schleppt mich im Delirium zu mir nach Hause, verbringt die Nacht bei mir - wer weiß, vielleicht auch mit mir - und putzt sich nach allem, was er mir angetan hat einfach seine Zähne, um klammheimlich zu verschwinden? Ich bin so ein Idiot!

Meine Übelkeit ist so plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht ist. Wird durch ein Zittern ersetzt, welches mich dazu zwingt meinen Hintern auf dem kalten Toilettendeckel zu parken, was mir wiederum schlagartig ins Bewusstsein ruft, dass ich splitterfasernackt bin.

Kann es eigentlich noch schlimmer kommen?

Ja es kann.

Die Badtür geht abermals auf und er steht im Türrahmen, unschlüssig... tritt von einem Fuß auf den anderen. Kann sich nicht entscheiden, ob er reinkommen soll oder nicht. Ich sehe es ihm an. Weiß was er denkt. Zu lange kenne ich ihn schon. Und doch läuft mir eine Gänsehaut über den Körper, als er mich anspricht. „Alles okay bei dir?“

Vier Worte, die ich liebe und gleichzeitig hasse. Hat er mich das je gefragt? Ich zucke mit den Schultern. „Mir geht’s gut, wenn du den heutigen Morgen meinst. Langsam gewöhne ich mich daran.“ Oh, das war mehr, als ich sagen wollte.

Seine Reaktion auf meine Antwort ist ein tiefes Seufzen und in sich Zusammensinken, bevor er durch seine dunklen Locken streicht und flüstert: „Hab‘ ich wohl nicht anders verdient. Brauchst du etwas? Kann ich dir ein Glas Wasser bringen?“

„Wenn ich mich nicht irre, wolltest du gerade gehen. Also leb wohl!“, meine Wut, seit Monaten angestaut, verschafft sich Platz. Was glaubt er eigentlich, was er hier tut?

Sein Kopf fährt hoch, überrascht durch meine lauten und harschen Worte. „Du verstehst nicht... es sind einfach Dinge passiert... die du... die du sicher nicht verstehen würdest“, versucht er sich im wirren Gestammel zu rechtfertigen.

Ich hebe abwehrend meine Hände. „Hör auf! Ich will es nicht wissen. Spielt keine Rolle mehr. Ich will nur noch, dass du gehst. Also verschwinde endlich!“ Den letzten Satz brülle ich ihm entgegen und sinke sofort wieder in mich zusammen. Scheiß Alk. Das muss ein Ende haben. So geht es nicht mehr weiter. Ich kann nicht einmal meiner Wut ein Ventil bieten, ohne hinterher wie ein Häufchen Elend auf dem Klo zu hocken. Das macht mich rasend und zugleich verzweifelt.

Was mir bei aller Peinlichkeit entgangen ist, kämpft sich mit voller Wucht an die Oberfläche. „Bevor du verschwindest, wäre es sehr nett von dir, mir zu sagen, was du überhaupt in meiner Wohnung suchst.“ Meine Worte triefen vor Sarkasmus.

Er steht immer noch in der Tür. Traut sich keinen Schritt weiter an mich heran und schaut betreten auf den Fliesenboden. „Du kannst dich nicht mehr erinnern?“

„Würde ich fragen, wenn ich es täte?“, raunze ich ihn an.

„Hm... stimmt.“

„Also?“

„Ich habe dich sternhagelvoll im Ruben’s aufgesammelt.“

„Was? Wieso im Ruben’s? So ein Quatsch. Ich war auf einem Firmenausflug... zumindest erinnere ich mich noch daran, von meinen Kollegen dieses Zeug vorgesetzt bekommen zu haben“, nuschle ich irritiert vor mich hin.

„Ich kann dir nicht sagen, wie du dort hingekommen bist. Ich weiß nur, dass ich dich dort hab pöbeln hören, als ich rein kam. Und die Barbesitzer sind nicht erfreut über solche Art von Gästen. Also habe ich ihnen gesagt, du gehörst zu mir und brachte deinen Hintern nach Hause. Ich wollte längst weg sein, wenn du wach wirst. Du hättest nie erfahren, was passiert ist.“

„Das ist typisch für dich. Einfach abhauen, scheint deine bevorzugte Art des Verschwindens zu sein.“ Ich werde theatralisch. Nur kann ich meine Gefühle schlecht verbergen.

Mir macht nicht zu schaffen, dass ich mich im Ruben’s daneben benommen habe. Ich kenne die Jungs da und werde es beim nächsten Besuch wieder geradebiegen. Mir macht zu schaffen, dass ich von ihm aufgelesen wurde. Sozusagen gerettet und nach Hause gebracht, um von ihm abermals stillschweigend verlassen zu werden. Auch wenn sein Plan funktioniert hätte und ich nun nicht wüsste, was gestern geschehen ist. Es hat mich damals zu tiefst verletzt und tut es immer noch.

„Ja, mag sein. Aber wie gesagt, gibt es für alles einen Grund. Auch dass ich dich gestern im Ruben’s getroffen habe, war kein Zufall.“

„Was soll das bitte heißen? Spionierst du mir nach?“

„Das würde ich jetzt nicht so krass ausdrücken, aber... ach was soll’s. Ja, ich spioniere dir nach.“ Er kommt auf mich zu, greift meinen Morgenmantel, der hinter der Tür hängt, und legt ihn mir sanft über die Schultern. Diese Geste ist neu. So kenne ich ihn nicht. Bei uns war immer ich derjenige, der sich um ihn gekümmert hat. Nicht dass mich das gestört hätte, aber ich muss zugeben, es fühlt sich gut an und ich sehe diese Seite das erste Mal an ihm.

Zurück zu dem, was er mir gerade offenbart hat. Er gibt es auch noch unumwunden zu, mich zu stalken? Ich glaube, ich höre nicht richtig. Was noch schlimmer ist, ich hab es nicht einmal bemerkt.

Meine Gedanken muss ich laut geäußert haben, denn von ihm kommt prompt eine Antwort. „Das konntest du auch nicht. So oft wie du im Alkoholrausch durch Leben gehst, wundert mich, dass du überhaupt noch an einem Stück bist“, weist er mich zurecht. „Aber lass uns doch erst einmal deinen heutigen Kater in einen Zwinger stecken.“

„Tja, mit heimlich abhauen ist es wohl nicht mehr getan?“, maule ich und versuche mich vom Klo zu erheben. Meine gottverdammten Beine machen mir einen Strich durch die Rechnung. Es muss doch ziemlich heftiges Zeug gewesen sein, was sie mir da gegeben haben.

„Du sagst es. Ich kann mich nicht von dir fernhalten. Also lass uns das Beste draus machen.“ Der Stimmungswechsel lässt mich aufhorchen.

„Ich glaube, du spinnst! Du verschwindest nach zwei Jahren Beziehung sang- und klanglos aus meinem Leben. Kommst nach 6 Monaten, ohne Lebenszeichen oder irgendeiner Erklärung, mir nichts dir nichts angerauscht und denkst, ich würde das so schlucken und so tun als wäre nichts geschehen? Träum weiter, mein Lieber! Ich weiß ja nicht, was mit dir in der Zwischenzeit geschehen ist, aber naiv warst du noch nie.“

„Es ist, wie schon gesagt, eine ganze Menge passiert, was nicht nur mich betrifft.“

Okay, das hatte so keinen Sinn mit ihm zu reden. Wir drehen uns im Kreis. Ich bin sauer auf ihn, verletzt und zugleich neugierig. „Pass auf, ich mach dir ‘nen Vorschlag...“ Ich wickle mich in den Mantel und stehe vorsichtig auf. So komme ich mir nicht mehr allzu verletzlich vor und kann endlich halbwegs klar denken. „... auch wenn ich weiß, dass ich es sicher bereuen werde“, nuschele ich auf dem Weg zur Dusche. „Lass uns nachher in Ruhe über alles reden. Ich werde mich jetzt unter die Dusche stellen und hoffen, dass sie mir den letzten Rest Dummheit abspült. Wenn du willst, kannst du uns in der Zeit Kaffee aufbrühen. Im Kühlschrank sind noch ein paar Eier und belegte Brote von gestern. Sollte ich aus dem Bad kommen und du bist weg... bitte, dann lass dich aber auch nie wieder bei mir blicken.“ Sein Gesicht hellt sich auf. Voller Hoffnung, was mir mein Herz schwer macht. Er tut gerade so, als hätte ich ihn verlassen.

Ich drehe mich zur Dusche, betätige die Armatur, um das Wasser warmlaufen zu lassen. Mein Mantel rutscht mir vom Körper und ich höre hinter mir, wie er bei meinem Anblick die Luft zwischen seinen Zähnen einzieht und leise murmelt: „Es wird Zeit, dass ich mich um dich kümmere.“

Bei seinen Worten schließe ich die Augen und warte, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Ich atme einmal tief durch. Ist das eben alles ernsthaft geschehen? Oder habe ich einen extrem realistischen Tagtraum? Nein, das kann kein Traum sein. Ich habe ihn gehört, gesehen und... oh ja, seinen Geruch kann ich mir nicht einbilden, obwohl... so ganz richtig war er dann doch wieder nicht. Egal, er ist also tatsächlich hier. Bei mir, in meiner Wohnung. Ich muss zugeben, er sieht gut aus und doch irgendwie anders. Etwas hat sich verändert. Ich kann nur nicht den Finger drauflegen. Seine Haare sind dunkel und lockig wie eh und je, dennoch sehen sie nicht richtig aus. Wenn er jetzt vor mir stehen würde, wäre ich geneigt hindurchzufahren, nur um meine Annahme zu bestätigen. Meine Finger wissen noch ganz genau, wie sie sich anfühlen sollten. Aber was kann eine Veränderung in diesem Ausmaß hervorgerufen?

Endlich ist das Wasser warm und die Duschkabine vom Dampf aufgeheizt. Ein erleichterter Seufzer entkommt mir, als das heiße Nass auf meine empfindliche Haut prasselt. Ich hebe den Kopf und genieße die Wärme, die über mein Gesicht fließt und meinen Körper einhüllt. Meine Gedanken wandern natürlich sofort zurück zu ihm. Ob er noch da ist, wenn ich in die Küche komme? Ich benehme mich kindisch. Das hat er früher immer gehasst. Seiner Meinung nach sollte ich mich wie ein richtiger Mann benehmen.

Er hat recht. Was bringt es einem, Träume zu haben? Ich höre ihn noch, wie er gebetsmühlenartig runterbetete: „Das reale Leben spielt sich nicht in deiner Fantasie ab. Werd’ erwachsen!“ Warum erinnere ich mich jetzt an diese Dinge? Bisher sind mir nur die positiven Erinnerungen im Kopf umhergewirbelt. Aber jetzt...

Es sind die Kleinigkeiten, diverse Unterschiede, die mir in den Sinn kommen und mich hellhörig werden lassen.

Meinen Suffkopf geklärt, der Kater verzieht sich langsam aber sicher, verwöhne ich mich mit meinem Lieblingsduschbad. Mir ist zwar noch flau in der Magengegend, aber das lässt sich mit einem ordentlichen Frühstück und etwas Kaffee - nicht zu vergessen, Aspirin - wieder in Ordnung bringen.

Ich stelle die Dusche aus, mir wird schlagartig kalt. Somit schlinge ich mir das Badetuch um die Hüften und gehe zum Waschbecken, um diesen ekelhaften Alk-Geschmack loszuwerden. Mit der Zahnbürste im Mund mustere ich mich, nehme mich nach Monaten der Selbstverleugnung bewusst wahr und bekomme eine kleine Ahnung, warum er so entsetzt reagierte, als er mich nackt vor der Dusche stehen sah. Ist es das, was ihn so schockierte? Er hat mich doch gestern Abend heimgebracht, mich ausgezogen und ins Bett gesteckt. Ihm muss doch da bereits aufgefallen sein, welche Veränderung ich durchgemacht habe. Okay, vielleicht ist es ihm nur nicht so klar vor Augen geführt worden wie gerade eben.

Ja, ich habe in den letzten Monaten einige Kilo abgenommen. Und ja, ich sehe blass und ausgemergelt aus. Meine Hüftknochen drücken sich durchs Badetuch. Meine Rippen zeichnen sich überdeutlich ab. Ich gebe zu, mit meinem Körper Raubbau betrieben zu haben.

Ich blicke mir in die Augen und treffe eine Entscheidung. Egal was heute noch passiert, dieses Leben hat ein Ende. So geht es nicht mehr weiter. Ich muss mich in den Griff bekommen. Die Abwärtsspirale stoppen und aufhören dem hinterher zu trauern, was ich nicht mehr haben kann. Selbst wenn dieses Etwas draußen in der Küche sitzt.

Vielleicht musste es passieren. Vielleicht musste er noch einmal wahrhaftig vor mir stehen, damit mein Leben endlich weiter gehen kann und ich begreife, dass es auch ohne ihn geht.

Nur... die Frage, die sich mir seit einigen Minuten ins Hirn brennt, ist:


Wer zum Geier sitzt eigentlich dort in meiner Küche?


Er sieht aus wie er. Er redet wie er. Aber tief in mir drin keimt der Verdacht, dass ER nicht ER ist. Oh ja, erklärt mich für völlig verrückt. Ich kann es euch nicht übel nehmen. Und doch überfällt mich ein komisches Gefühl. Je nüchterner ich werde, umso überzeugter bin ich, dass dieser Mann nicht mein Ex ist. Wir waren zwei Jahre zusammen. Es war eine extrem intensive Beziehung. Für mich gab es nur ihn. Tja eben, es gab nur ihn für mich. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich im Grunde keine Ahnung habe, was mit seiner Familie ist. Wieso habe ich nie nach ihnen gefragt? War ich so blind vor Liebe und zu fixiert auf ihn, dass es mir egal war?

Für mich bedeutet Familienbande nichts. Oh, bitte nicht falsch verstehen. Ich finde es toll, wenn es Eltern gibt, die ihre Kinder bedingungslos lieben, akzeptieren wie sie sind, stolz darauf sind, was sie im Leben erreicht haben. Hätte ich jemals ein eigenes Kind, würde ich mir wünschen, genau so ein Vater für meinen Nachwuchs zu sein.

Was meine eigene Kindheit betrifft, war dies nicht der Fall. Aufgewachsen in einem am Existenzminimum dümpelnden Elternhaus, ging ich schnell meinen eigenen Weg, der genauso gut da hätte enden können, wo er begonnen hatte. Dem war zum Glück nicht so. Ich bin stolz es aus dem Sumpf herausgeschafft zu haben. Ich habe nie zurückgeblickt. Mir fehlte schon immer die Bindung zu meiner Familie. Welche mir es auch nicht schwer machte zu gehen und sie hinter mir zu lassen. Es ist einfach zu viel vorgefallen, um bei einem Gedanken an sie, herzliche Gefühle zu bekommen. Aber gut, das ist lange her und im Eigentlichen kein Problem mehr.

Ist es aber möglich, dass eben genau diese Vergangenheit mich davon abhielt, mehr wissen zu wollen, als das, was er mir in unserer gemeinsamen Zeit freiwillig preisgab? Ich stocke in der Bewegung, starre mich überrascht im Spiegel an und ziehe bei der Erkenntnis, die in mir reift, meine Augenbrauen hoch. Mein Gott, was bin ich nur für ein Mensch? Ja, es hat mich nie interessiert. Für mich war immer wichtig, dass er da war. Einzig und allein nur für mich. Im Umkehrschluss gab es auch nur ihn für mich. Verdammt! Was habe ich nur getan? Bin ich schuld daran, dass er der Meinung war, mich von jetzt auf gleich verlassen zu müssen? Fragen, die geklärt werden müssen, bevor ich mich auf meine Zukunft konzentrieren kann.

Zurück im Schlafzimmer werfe ich mir saubere Pants, mein Wohfühl-T-Shirt und eine Jogginghose über. Ein paar dicke Socken über die Füße gezogen, begebe ich mich mit flauem Magen und rasendem Herzen in die Küche. Im Türrahmen bleibe ich stehen, genieße den Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Ich bin erstaunt, dass er tatsächlich hier in meiner Küche an einem gedeckten Frühstückstisch sitzt und in der Tageszeitung liest. Vertieft in einem Bericht bemerkt er nicht, dass ich zu ihm an den Tisch trete. Ich schau über den Zeitungsrand und runzle überrascht die Stirn. „Finanzbericht über den Dow-Jones-Index?“

Er schreckt hoch und zieht verlegen den Kopf ein. „Ähm... ja, also... das ist schon wichtig. Ich muss doch wissen, was in der Welt passiert. Oder nicht?“

„Seit wann interessiert dich das?“, frage ich ihn skeptisch.

Er faltet die Zeitung übertrieben langsam und sorgfältig zusammen, kaut auf seiner Unterlippe, an der mein Blick hängen bleibt und in mir der Wunsch wächst, genau das für ihn zu übernehmen. Meine Lippen auf seinen zu spüren. Ich schüttle meinen Kopf, muss wieder klar werden. In diese Richtung sollten meine Gedanken nun wirklich nicht abschweifen. Aber... dieser Mund macht mich wahnsinnig. Ich reiße meinen Blick davon los und wandere über sein Gesicht hinauf zu seinen steingrauen... Moment! Da stimmt etwas nicht. Das kann nicht sein! Seine Augen sind steingrau, was ich wirklich faszinierend finde. Sie ziehen mich in ihren Bann und ich würde mich sehr gern darin verlieren. Es gibt nur ein Problem, als ich ihn das letzte Mal sah, waren sie noch grün.

Ich richte mich schockiert auf, gehe auf Abstand. Sein Blick folgt mir und ein vorsichtiges Lächeln breitet sich auf seinem attraktiven Gesicht aus. „Hast du es nun gesehen?“, fragt er mich leise.

„Wer bist du?“, flüstere ich.

„Frank.“

Also trügt mich mein Gefühl nicht. Die ganze Zeit habe ich einen völlig Fremden vor mir. Und doch ist es, als würde ich ihn bereits seit Jahren kennen. Mit der Situation überfordert, lasse ich mich auf einen Stuhl sinken und starre ihn an. Ich kann meinen Blick nicht abwenden. Das ist alles total verrückt und doch... wieder nicht.

„Erklär’s mir einfach!“

„Tobias ist mein Zwillingsbruder.“

„Und das erklärt was?“

„Ich denke, so Einiges. Wir kennen uns bereits seit zwei Jahren.“

Ich schüttle vehement den Kopf. „Niemals, wann soll ich dich kennengelernt haben? Ich wusste bis vor ein paar Sekunden nicht einmal, das Tobi einen Bruder hat.“

Frank seufzt auf. „Ich weiß. Und doch ist es, wie ich sage. Wir haben uns vor zwei Jahren auf einer Partie das erste Mal getroffen.“

Ich überlege, wann und wo das gewesen sein soll, komme aber nicht darauf. „Du musst mir schon auf die Sprünge helfen. Mag sein, dass es noch am Restalkohol liegt, aber ich komm nicht dahinter.“

„Es war die Geburtstagspartie von Juli. Sie feierte ihren Fünfundzwanzigsten. Vielleicht kannst du dich noch erinnern, dass ihr Krach hattet. Tobias war damals stinksauer und wollte dich hängen lassen.“ Er sieht auf seine Finger und flüstert: „Nicht das erste Mal. Ich konnte es einfach nicht mit ansehen, wie er dich behandelt. Du warst so auf ihn fixiert, dass du es nicht einmal bemerkt hast, dass nicht er dich begleitete. Mir ist es bis heute ein Rätsel, warum du es nicht gesehen hast. Ja, wir sind Zwillinge, aber keine Eineiigen. Wir sehen uns sehr ähnlich, aber doch gibt es sehr gravierende Unterschiede.“ Frank steht auf, holt die Glaskanne mit dem heißen Kaffee und schenkt mir ein. Gibt ein Stück Zucker hinzu und gerade genug Sahne, wie ich es am liebsten mag. Die ganze Zeit beobachte ich ihn und kann es doch nicht fassen. Er weiß, wie ich meinen Kaffee trinke. Das wusste nicht einmal Tobias. Mir war es egal. Für mich war nur wichtig, dass er sich bei mir wohlfühlte, ich ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen und erfüllten konnte. Niemals hat sich jemand Gedanken darüber gemacht, was ich mag, wie es mir geht. Es hat bisher niemanden interessiert, ob ich wirklich glücklich bin. Was bin ich nur für ein Idiot! All die Monate habe ich einem Mann hinterher getrauert, dem ich im Grunde egal war. Ich ergreife sein Handgelenk, stoppe ihn in seinem Bemühen mir ein belegtes Brötchen auf meinem Teller zu servieren und schaue ihm in die Augen.


Und da ist es. Dass was ich bisher in Abrede gestellt habe. Was ich nie für möglich gehalten habe. Dieses Gefühl. Diese Stille in meinem Kopf, nicht erdrückend, nur erholsame, alles umfassende Ruhe.


Und ich begreife, was es bedeutet, wenn in einem magischen Moment die Angst von allein schweigt.

Wenn dein Herz schreit

Wenn dein Herz schreit, deine Zukunft dich bedrängt und du vor Angst keinen Finger mehr rühren kannst, dann wird es Zeit...

Entscheide dich!

Entweder du nimmst deine Füße in die Hand und läufst wie ein Feigling um dein Leben, oder du raffst all deinen Mut zusammen und greifst nach den Sternen.

Markus befindet sich genau an diesem Punkt in seinem Leben und bekommt unverhofft Schützenhilfe, aus einer Richtung, die er nie für möglich gehalten hätte.

(c) Nele Betra

Kapitel Eins

Neue und alte Bekannte

Mein Job ist mein Leben.

Schon mal gehört? Mit Sicherheit. Diese Floskel wird einem doch jeden Tag von irgendjemandem mit einem aufgesetzten Lächeln um die Ohren gehauen. In Wirklichkeit sieht die Sache dann aber ganz anders aus. Die tatsächlich Job-Glücklichen sind leider in der Unterzahl. Ich glaube auch, dass genau das die Wurzel des Übels mit Namen „allgemeine Unzufriedenheit“ in unserer Gesellschaft ist.

Ich oute mich dann mal und gebe zu, dass ich zur Gruppe der Job-Glücklichen gehöre. Was im Augenblick auch das Einzige ist, was in meinem Leben funktioniert. Wäre das anders... wer weiß, auf was für dämliche Ideen ich schon gekommen wäre.

Ach ja... noch etwas, was ich vorab erwähnen sollte, es wird nichts anderes geben, worin ich mich noch outen werde.

Auf dem Weg zu einem neuen Pflegefall sitze ich in meinem Auto und grüble wieder einmal über den Sinn des Lebens nach.

Für mich gibt es nur eine Sache, die wirklich Sinn macht und das ist mein Job. Seit zehn Jahren arbeite ich in der ambulanten Altenpflege. Schaut nicht so erschrocken! Es ist ein toller Beruf. Allerdings sollte man ihn nur aus Überzeugung ausüben. Also gut, im Grunde ist es kein Beruf, sondern eine Berufung. Ich folge ihr, seitdem ich darüber nachdachte, wie ich mir meine berufliche Zukunft vorstelle. Bereits im zarten Alter von 17 war mir klar, dass ich mich um alte Menschen kümmern will. Die Entscheidung ist nicht aus dem Bauch heraus gefallen.

Okay, damit ihr das versteht, muss ich etwas mehr ausholen und einen kleinen Schwank aus meiner Jugend erzählen. Keine Angst, ich werde mich kurzfassen.

Ich wohne im sogenannten ländlichen Bereich. Auf Deutsch: Am Arsch der Welt. Hier draußen gibt es nichts außer Tourismus und gelegentlich einige kleine Handwerksbetriebe, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Ich stamme von einer dieser Familien ab. Mein Vater und dessen Vater - das könnte ich noch fünf oder sechs Generationen so weiter führen - betreiben seit mindestens 150 Jahren eine Schreinerei. Was natürlich zur Folge hat, das von mir erwartet wird eben diesen Weg einzuschlagen, um der Nächste in der ehrenwerten Familienchronik zu sein, der sich um Holz und dessen Beschaffenheit kümmert. Sorry, aber dafür hatte ich noch nie Interesse. Ich kann von Glück reden, dass ich noch einen Bruder habe, der nicht aus der Art geschlagen ist und mir sozusagen den Arsch gerettet hat. Er leitet nun mit unserem Vater zusammen die Firma.

Mein Opa war bis zu seinem Schlaganfall vor zwanzig Jahren mit von der Partie. Leider reichte damals selbst die Reha nicht aus, um ihn wieder so fit zu machen, dass er ins Berufsleben zurückfand. Die Jahre vergingen, Oma starb und Opa wurde immer schwächer. Selbstverständlich übernahm die Pflege, soweit es eben ging, unsere Familie. In den letzten Wochen seines Lebens war er bettlägerig und dämmerte im Halbbewusstsein vor sich hin. Nach einem Hausbesuch eines jungen Pflegers, ein unfreundlicher Mensch mit meines Erachtens falschem Beruf, hatte mein Opa einen sehr wachen Moment. Ich kam gerade ins Zimmer, um ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen, als er mich mit vor Wut funkelnden Augen, aber absolut klarem Blick, ansah und nur einen Satz sagte: „Sag diesem Pfleger, er soll mich an meinem knittrigen Hintern lecken.“

Erschrocken über seine Worte, diese ungewohnt aggressive Art und der Tatsache, dass mir zuvor der Pfleger mit einem fiesen Grinsen entgegenkam, stand ich an seinem Bett und starrte ihn mit offenem Mund an. Ich liebte meinen Opa. Es schmerzte mich zu sehen, wie er nur noch ein Schatten seines früheren Selbst war. Einst ein stattlicher Mann, freundlich, liebevoll und zufrieden mit seinem Leben, wirkte er jetzt wie ein Geist, der darauf wartete, verblassen zu dürfen, um endlich seinen Frieden wiederzufinden und mit seiner geliebten Frau die Ewigkeit zu genießen. Ich ergriff vorsichtig seine zerbrechliche Hand, strich einige Strähnen seines feinen, grauen, schweißnassen Haars aus dem Gesicht und fragte ihn leise und besorgt: „Opa, was ist los?“ Ich schaute demonstrativ über meine Schulter und nickte in die Richtung, in der zuvor der Typ verschwand. „Hat er sich daneben benommen?“

Leider war die Aufregung zu viel für ihn, er schaute mich an, stimmte mir mühsam zwinkernd zu und schlief ein. Sein Atem rasselte und kam nur noch flach und stockend. Nach jedem zweiten Atemzug befürchtete ich bereits, es wäre sein letzter. Mir wurde mulmig, hatte aber nicht die Kraft ihn allein zu lassen. Nach gefühlten Stunden veränderte sich abermals seine Atmung. Er wurde noch einmal wach, schaute mich an, drückte meine Hand, schloss seine nun trüb wirkenden Augen und schlief mit einem feinen Lächeln auf den Lippen für immer ein. Trotz der Tatsache, dass er einfach so in meinem Beisein starb, war ich froh, ihn in den letzten Minuten seines Lebens nicht allein gelassen zu haben. Es hat mich zu tiefst getroffen und ich brauchte sehr lange, um die Albträume, die sich danach einstellten, los zu werden. Wie sich später herausstellte, war der junge Mann, der uns vom Pflegedienst zugeteilt worden war, bereits mehrere Male negativ aufgefallen. Er soll die ihm anvertrauten pflegebedürftigen Menschen misshandelt haben. Er wurde entlassen und verschwand spurlos. Ich denke, er wird sich in die anonyme Großstadt verzogen haben. Mir war es egal.

Dieses Erlebnis ließ in mir den Wunsch reifen einen Beruf zu erlernen, in dem ich alten Menschen zur Seite stehen, ihnen emotionale Unterstützung geben und sie, wenn möglich, auf ihrem letzten Weg begleiten konnte. Mit Sicherheit hatte ich damals eine sehr verklärte Sicht der Dinge und ja, es ist nicht einfach, immer gute Miene zu bösem Spiel zu machen. Der Beruf ist mies bezahlt, es existieren nicht annähernd genug Stellen, um den tatsächlichen Bedarf abzudecken. Sollten die benötigten Arbeitsplätze auch irgendwann einmal geschaffen werden, gäbe es mit Sicherheit nicht ausreichend Ambitionierte, die den Job ausüben wollen. Ich finde es nur traurig.

Aber gut, ich versprach mich kurzzufassen. Hiermit ist erklärt, warum ich Altenpfleger bin. Dass ich dem Job nun ausgerechnet in meiner Heimat nachgehe, ist gleichwohl schnell erklärt. Da wären wir wieder bei der Sache mit dem ländlichen Bereich. In unserem Dorf und der Umgebung kennt jeder jeden und mir war schnell klar, dass ich meinen Traumberuf nur hier ausüben möchte.

Während der Ausbildung lernte ich Valentin kennen. Sein Name ist Programm, zumindest bei mir. Wenn es nach mir ginge, was es leider nicht tut, wäre er jede Minute meines Lebens mein Valentinsschatz. Total bekloppt, ich weiß, aber so bin ich nun mal. Das Dumme an der Sache ist, dass er keinen Schimmer davon hat.

Seine Familie zog vor Jahren in unser Dorf. Wir verstanden uns vom ersten Augenblick an, wurden enge Freunde, die durch dick und dünn gehen. Nach dem Ende unserer Lehre bekamen wir beide ein Angebot eines Altenheims in der Nähe. Zu der Zeit okay, aber nicht das, was wir wollten. Valentin und ich einigten uns darauf, so schnell wie möglich einen mobilen Pflegedienst anzubieten. Also buckelten wir wie die Irren, legten jeden Cent auf die Seite und schafften es in kürzester Zeit, unseren Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

Natürlich sind wir auf Mundpropaganda angewiesen, um unser Geschäft am Laufen zu halten. Nichts ist wirkungsvoller, als von einem zufriedenen Kunden empfohlen zu werden. Nur sind gewisse Dinge, wie zum Beispiel meine sexuelle Neigung, nicht sehr förderlich. Es hat eben auch Nachteile auf dem Land zu wohnen und zu arbeiten. Was mich zu meinem heutigen Kunden zurückbringt.

Es steht eine Vorbesprechung an und ich bin aufgeregt wie ein Schuljunge vor dem ersten Date. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Denn eigentlich bin ich nicht ängstlich oder kontaktscheu. Nur dieses Mal ist irgendetwas anders.

Die Vermittlung lief bereits eigenartig ab. Soweit ich weiß, tauchte der alte Herr wie aus dem Nichts auf. Keiner kennt ihn. Nachdem er sich über uns erkundigte, kontaktierte er uns schriftlich. In der heutigen Zeit sehr sonderbar. Ein Telefonat wäre schneller und effizienter gewesen, denn er hatte eine einzige Bedingung, die er zuvor erfüllt haben wollte. Ich, und zwar nur ich allein sollte ihn besuchen kommen. Schnellstens, wenn möglich gestern und unter keinen Umständen durfte ich jemanden mitbringen.

So stehe ich nun nach einer Fahrt von zwanzig Minuten vor einem Haus, welches sehr abgelegen und äußerst schwer auffindbar ist. Bisher wusste ich nicht einmal, dass es dieses Grundstück hier draußen in den Wäldern gibt.

Ich stelle den Motor ab und schaue neugierig durch die Frontscheibe. Vor mir zwischen den Bäumen hindurch lugt ein kleines altes Bauernhaus. Wenn ich es mir ansehe, habe ich das Gefühl schon einmal hier gewesen zu sein, was aber nicht sein kann. Die Schultern zuckend schnappe ich mir die Tasche und meine Jacke, die ich mir sofort überziehe. In den Wäldern ist es immer kühl. Ich mag es, denn selbst im Hochsommer hält man es hier sehr gut aus.

Müsste ich mich für ein Grundstück entscheiden, auf dem ich mein Altenteil verleben will, würde es genau dieses sein. Ich erstarre mitten in der Bewegung und schüttle wegen meiner Überlegungen verständnislos den Kopf. Langsam werde ich irrsinnig. Dass ich mir darüber Gedanken mache, ist neu für mich. Vielleicht liegt es auch an dem heutigen Tag.

Ich schließe die Autotür und begebe mich auf den Weg zur Haustür, die im selben Augenblick geöffnet wird, als ich meinen Fuß aufs Grundstück setze. Ein stattlicher grauhaariger Mann, etwas kleiner als ich, steht im Eingang, grinst mich an und fordert mich ungeduldig winkend auf, näher zu treten.

„Wird auch Zeit, dass du endlich kommst. Ich warte schon seit einer Ewigkeit darauf“, grummelt er, greift unerwartet kräftig meinen Arm und zieht mich in den Flur. Ich winde mich aus seinem Griff, drehe mich zu ihm und reiche ihm zur Begrüßung meine Hand. „Hallo Herr Schreiber, mein Name ist Markus. Sie haben einen Termin vereinbart und wünschten nur mich zu sehen.“

Er winkt ab und geht voraus durch den Flur. „Komm schon, ich mach uns einen Tee. Den magst du ja.“

„Ähm... okay“, antworte ich skeptisch und folge ihm in eine kleine aber gemütliche Küche.

„Setz dich, ich mach das schon“, fordert er mich ungehalten auf.

„Darf ich fragen, warum Sie so genervt sind? Sie haben doch um diesen Besuch gebeten.“ Ich kann einfach meinen Mund nicht halten, denn er gibt mir das Gefühl, ihm käme meine Anwesenheit ungelegen. Dennoch möchte ich höflich sein, was mir von diesem undurchschaubaren grantigen Mann durch seine Art erschwert wird. Wäre er kein potenzieller Kunde, würde ich ihm kräftig meine Meinung geigen.

„Ich bin nicht genervt. Setz dich und halt einfach deine Klappe. Ich hab dir was zu sagen“, fährt er mich an.

Mit der Situation komplett überfordert, folge ich seiner unhöflichen Aufforderung, setze mich in die Essecke und beobachte ihn, wie er sich, für sein Alter sehr agil, durch die Küche bewegt. Dieser Mann ist meilenweit davon entfernt pflegebedürftig zu sein. Warum hat er uns überhaupt angeschrieben? Er sieht fit aus, macht geistig, trotz seiner harschen Art, einen gesunden Eindruck. Was soll das hier also?

Zwei große, uralte Tassen aus Steinkeramik - so welche wollte ich schon immer haben - mit dampfendem Tee in der Hand kommt er zum Tisch zurück, stellt mir eine vor die Nase und ich schließe unwillkürlich die Augen. Volltreffer, das ist mein Lieblingstee. Das Aroma, welches mir in die Nase steigt, liebe ich. Ich verliere mich in Erinnerungen an meine Kindheit.

Oma servierte mir damals jeden Nachmittag nach der Schule dieses Getränk. Unsere gemeinsam verbrachte Zeit werde ich für den Rest meines Lebens mit diesem würzigen Geruch in Verbindung bringen. Ein Hauch von Heimat, Zughörigkeit und Liebe legt sich wie eine warme Decke um mich.

„Markus, du grübelst zu viel. Das war dein größter Fehler. Und es wird dich noch todunglücklich machen, wenn du es nicht abstellst. Was auch der Grund ist, weshalb ich mit dir reden will.“ Ich schlage stirnrunzelnd die Augen auf, sehe, wie er mir gegenübersitzt und meine Reaktion auf seine Äußerung beobachtet.

„Was wollen Sie von mir? Und was mich eigentlich viel mehr interessiert... wieso glauben Sie, mich zu kennen? Ach ja, und noch eins, so wie Sie hier rumspringen, machen Sie nicht den Eindruck, eine Pflegekraft zu benötigen. Also kommen Sie endlich zum Punkt!“ Wie gesagt, ich will ruhig bleiben und erfahren, was der alte Mann zu besprechen hat, aber diese Selbstverständlichkeit, die er an den Tag legt, wenn es um meine Person geht, ist mir dann doch eine Nummer zu grotesk.

„Es hilft dir nichts dich künstlich aufzuregen...“, murmelt er und schaut gedankenverloren in seine Tasse.

„... deswegen bekommst du auch nicht schneller Antworten“, beende ich verblüfft den Satz.

Er hebt den Kopf, grinst mich schlitzohrig an und ich rutsche immer nervöser auf meinem Platz herum. Es ist nichts Besonderes an diesem Spruch, allerdings ist er außer dem Tee noch etwas, was mich an meine Oma erinnert. Ich kann gar nicht zählen, wie oft sie ihn mir vorgehalten hat, weil ich wieder einmal zu ungeduldig war und mich nicht zügeln konnte.

Er setzt sich aufrecht hin, strafft den Rücken, als würde er sich für etwas wappnen, und schaut auf die Wanduhr über der Spüle. „Also gut, kommen wir zum Wesentlichen. Allzu viel Zeit bleibt mir sicher nicht mehr.“

„Kein Problem, Herr Schreiber, das passt mir sehr gut rein. Ich habe anschließend noch einen Termin“, entgegne ich geschäftsmäßig. Dass dies nicht der Wahrheit entspricht, sondern nur meinem unguten Gefühl geschuldet ist, dass ich so reagiere, kann er nicht wissen. Somit verschaffe ich mir ein Hintertürchen, um blitzartig aufzubrechen, sollte es mir zu dumm werden.

„Lass den Schreiber-Quatsch, sag einfach Markus!“, schlägt er mir brüsk vor.

Erstaunt reiße ich die Augen auf und meine Brauen wandern unwillkürlich über die Stirn. „Na das ist ja ‘nen Zufall. Ich heiße auch Markus. Hm... unsere Nachnahmen sind ebenfalls gleich, was nichts Ungewöhnliches ist. Der Name Schreiber könnte auch unter die Kategorie Sammelbegriff fallen, von daher... Aber, dass Sie auch noch Markus heißen, ist schon erstaunlich“, sinniere ich wie eine Wunderblume über die Übereinstimmung.

Als ich fertig bin mit meinem Selbstgespräch, fällt mir sein Blick auf. Er stützt sein Kinn in seine rechte Hand, hat den kleinen Finger im Mundwinkel und kaut auf dem Nagel, während seine linke Augenbraue unter sein graues Haar rutscht und er mich abwartend mustert, mich regelrecht belauert. Plötzlich kneift er seine Augen zusammen und es blitzt mir blau entgegen... also nicht nur einfach blau, sondern stahlblau. Bei dem vollen grauen Haar ergibt das einen extrem intensiven Kontrast. Im Grunde erinnern sie mich sogar an meine und es ist, als würde ich in einen Spiegel blicken, nur dass ich wirre dunkelbraune Locken mit mir herumtrage, die ich partout nicht gebändigt bekomme. Ich schüttle zum wiederholten Male meinen Kopf, um mich von diesen abwegigen Gedanken zu befreien. Was soll das nur?

„Dann legen Sie mal los!“, fordere ich ihn gelassen auf. Es kostet mich meine gesamte nicht vorhandene Schauspielkunst auch so zu wirken, denn in mir tobt die Angst. Der Mann kommt mir bekannt vor und das ist nun mal absolut nicht möglich.

„Nun gut, fangen wir mit einer einfachen Frage an. Wie geht es Valentin?“

„Wie bitte?“

„Na mein Junge, das war doch nun wirklich eine ganz simple Frage, bei der du einfach nur mit gut oder schlecht antworten brauchst.“

„Ich verstehe nicht...“

Er seufzt und redet mit mir wie mit einem Kleinkind. „Dein Freund? ... Valentin, wenn ich recht in der Annahme bin. Wie geht es ihm?“

„Nein, Sie verstehen nicht. Ich begreife schon, was Sie meinen. Aber warum fragen Sie mich das?“

Er zuckt mit den Schultern, schaut auf seine Tasse und atmet tief durch. „Weil ich neugierig bin. Und... na ja, es ist wirklich sehr lange her“, flüstert er niedergeschlagen. Seine ganze Ausstrahlung ändert sich von einer Sekunde auf die andere. Wie er mir so in sich zusammengesunken gegenübersitzt, hat er überhaupt nichts Kämpferisches mehr an sich. Ja genau, das ist es, wonach ich die ganze Zeit suche, bisher wirkte er kämpferisch. Und nun strahlt er eine unerwartet tiefsitzende und verzehrende Einsamkeit aus. Das Schlimme daran ist, dass ich es nachvollziehen kann. Dieses Gefühl kenne ich seit Jahren. Und es wird von Tag zu Tag unerträglicher.

„Was ist sehr lange her?“, hake ich nach.

„Das mit Valentin...“, sagt er so leise, dass ich mich vorbeugen muss, um ihn zu hören.

„Sie kennen meinen Partner?“

Bei meiner Frage schnaubt er abfällig und schüttelt den Kopf. „Partner? Dass ich nicht lache! Er ist alles Mögliche für dich, aber nicht dein Partner... so, wie es hätte sein sollen... so, wie es sein könnte, wenn du nur auf mich hörst und tust, was ich dir sage.“ Er schaut über meine Schulter hinweg durch das hinter mir befindliche Fenster hinaus in den Wald, mit den Gedanken an einem völlig anderen Ort, nur nicht hier. Für mich wirkt er der Welt entrückt, erklärt mir aber hysterisch: „Du musst es anders angehen. Nicht wie ich. Ich war feige und dumm, hab Rücksicht auf jeden genommen, nur nicht auf mich und Valentin. Wenn ich vorher gewusst hätte, was uns erwartet, was ihn erwartet, hätte ich alles ändern können. Aber nein, ich war ein Feigling und ich hasse mich dafür.“

Ich verstehe kein einziges Wort, von dem was er versucht mir zu erklären. Sehe nur, wie er in Selbsthass versinkt und in einer emotionalen Abwärtsspirale steckt.

„Markus, Sie sollten sich beruhigen“, sage ich sanft und lege meine Hand auf seine. Der Kontakt holt ihn zwar wieder zurück, aber nur, um meine Hand rüde von sich zu schieben und mich verbittert anzufahren. „Dafür hab ich noch genug Zeit, wenn ich tot bin! Was glaubst du wohl, warum ich hier bin? Verstehst du denn nicht, dass es wichtig ist, was ich dir zu sagen habe?“

Ihn zu beschwichtigen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Also lehne ich mich zurück und warte. Plötzlich schaut er mir direkt in die Augen und mir fährt eine unheimliche Gänsehaut über den Körper.

„Ich werde dir jetzt ein kleines Geheimnis verraten. Hör einfach zu und unterbrich mich nicht!“ Er schaut noch einmal auf die Uhr. „Mir bleiben noch ein paar Minuten, das sollte reichen. Fragen kann ich dir nicht beantworten. Verstanden?“

Ich nicke ihm auffordernd zu, er räuspert sich und beginnt zu erzählen: „Ich bin du. Schüttel nicht den Kopf! Es ist, wie es ist. Ich werde dir auch nicht auf die Nase binden können, wie es dazu kommt, dass ich hier vor dir sitze, ich weiß es selber nicht. Der Punkt ist der: Uns, oder besser gesagt dir, wurde eine zweite Chance gegeben. Ich kann dir Verstand einbläuen, den ich nicht hatte.“

Dieser alte Mann soll ich sein? Verdammt, ich hatte doch gestern keinen Tropfen Alkohol. Ich liege sicherlich noch in meinem Bett und träume diesen ganzen Scheiß. Kann mich mal bitte jemand wecken und hier raus holen?

„Mir ist klar, was du denkst. Vergiss nicht, dass du mein jüngeres Ich bist.“ Er fährt sich mit der rechten Hand über sein unrasiertes Kinn und grinst. „Ich habe wirklich schöne Zeiten mit Valentin verlebt, selbstverständlich nur als Geschäftspartner und Freund. Was der größte Schwachsinn war. Ich weiß, dass er mich geliebt hat, so wie ich ihn. Ich erfuhr es leider zu spät. Damals war ich nur zu feige es zu sagen, genauso wie er. Er glaubte, ich würde nur freundschaftliche Gefühle für ihn hegen. Wie du siehst, sind wir beide, Valentin und ich, Dummköpfe gewesen. Aber das wird sich ändern.“

Nach einem Schluck Tee redet er weiter. „Du hast richtig gehört. Ich rede von Valentin in der Vergangenheit. Tja, leider zeigte mir das Leben auf erbarmungslose Art und Weise, was ich verpasste. Weißt du, wenn das Schicksal merkt, dass du nicht um deine Liebe kämpfst, nimmt es dir alles, nur um dich für deine Dummheit zu bestrafen. Und das ist auch der Grund, warum du mir genau zuhören musst. Von jetzt ab in genau zwei Tagen wird es zu einem Streit zwischen euch kommen. Valentin setzt sich fuchsteufelswild ins Auto. Auf dem Weg nach Hause wird er von der Straße abkommen und zwanzig Meter die Böschung hinabstürzen. Bei diesem Unfall wird Valentin schwer verletzt und...“ Er räuspert sich, wischt sich hastig über die Augen und spricht hektisch weiter. „Ich kann dir nicht sagen, wie du eingreifen sollst. Das musst du selbst herausfinden.“ Er lacht grausam auf. „Glaub mir, nichts ist so schwer wie die Liebe. Ich brauche dich nicht zu fragen, ob du bereit bist oder Valentin genug liebst, um den Mut aufzubringen in dein und sein bisheriges Schicksal einzugreifen. Ich weiß, dass ich dazu fähig gewesen wäre, wenn ich wie du jetzt ein paar Dinge gewusst hätte. Also nimm dieses Wissen und mach das Beste draus!“ Es scheint, als hätte er alles gesagt, denn er lehnt sich zurück, verschränkt die Arme vor seiner Brust und lächelt, als würde sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gehen.

Ich sitze wie angenagelt auf der Bank und starre ihn fassungslos an. Er zwinkert mir zu und verschwindet schlagartig vor meinen Augen. Das ist alles nicht wahr, das kann es einfach nicht sein.

Kapitel Zwei

Überzeugungen und Hoffnung

Herzrasen, durchgeschwitztes T-Shirt, ein um die Füße verheddertes Laken und Dunkelheit, sind die Dinge, dir mir als Nächstes ins Bewusstsein rieseln. Ich schlage die Augen auf und starre in die Nacht. Meine Fresse, das ist der verrückteste Traum, den ich je hatte!

Eine leichte Brise weht kühle Luft durch das offenstehende Fenster in mein Schlafzimmer und lässt mich frösteln. Ich brauche dringend eine Dusche und danach einen starken Kaffee. Der Traum sitzt mir dermaßen in den Eingeweiden, dass ich immer noch den Geruch vom Tee in der Nase habe. Mich auf die Bettkante gequält, suche ich den Schalter für die Nachttischlampe und stoße dabei ein Gefäß mit Flüssigkeit um. „Verdammter Mist! Wer stellt denn hier seine Tasse ab?“, fluche ich und finde endlich den Lichtschalter. Reflexartig bücke ich mich und hebe das Trinkgefäß auf, was ich - und da bin ich mir absolut sicher - nicht auf meinen Nachttisch gestellt hatte.

Ich erstarre mitten in der Bewegung, meine Augen werden riesengroß, fallen mir buchstäblich vor Schock aus dem Gesicht, als ich die Tasse näher betrachte.

„Ich glaube, jetzt drehe ich komplett durch“, nuschle ich und starre weiterhin das Unfassbare in meinen Händen an, denn es ist genau die Teetasse, die mir mein älteres ICH im Traum servierte. Voller Ehrerbietung und fassungslosem Staunen umfasse ich den Trinkbecher wie einen Schatz, der sich jeden Moment vor meinen Augen in Luft auflösen könnte, und stelle ihn behutsam auf das Schränkchen, um ihn wie ein Volltrottel mit offenstehendem Mund zu bestaunen.

Es müsste mich schockieren, mir Todesangst einjagen, tut es aber nicht. Was nur noch viel erschreckender ist. Wenn das die Tasse aus meinem Traum ist, was bedeutet das für mich? Sollte ich jemanden dazu holen, der mir bestätigt, dass sie wirklich existiert? Und selbst wenn ich das täte und diese Person bestätigt, dass sie dort steht, was würde das für mich bedeuten? Dass ich - also mein älteres ICH - es irgendwann in der Zukunft schaffe, mit welchen Mitteln auch immer, Kontakt zu mir aufzunehmen, um mir zu sagen, dass ich ein Feigling bin? Memo an mich: Der Aufwand lohnt nicht, denn... Überraschung, das weiß ich bereits.

Aber nein, das war nicht alles, worüber mein späteres ICH mich informierte. Menschenskind, je mehr ich darüber nachdenke, umso verrückter kommt es mir vor. Davon abgesehen, dass ich, ob ich will oder nicht, das Erlebnis als Real einstufen muss, habe ich die Pflicht sämtliche Informationen ebenfalls als Fakt anzusehen. Und wenn das der Fall ist, dann bleibt mir nur eine Entscheidung: Ich muss meinen Hintern aus dem Bett bewegen und endlich mein Leben und das von Valentin in die richtige Spur bringen. Bestenfalls in eine gemeinsame Zukunft als Paar.


Mein Entschluss steht. Ich mache mich so flink wie noch nie in meinem Leben landfein, trinke in aller Eile einen Espresso, denn ohne bin ich unausstehlich und mache mich auf den Weg ins Büro. Unterwegs lasse ich den Traum Revue passieren. Was hat mein anderes ICH noch gesagt, Valentin liebt mich, ist aber der Meinung ich würde diese Gefühle nicht erwidern? Was für ein dummer Mann. Ich erinnere mich endlich glasklar an alles. Was für mich bisher nur im Nebel lag, drängt sich schlagartig an die Oberfläche. In mir keimt ein Gefühl der Hoffnung, greift nach meinem Herzen und lässt es rasend zurück, um meinen Magen in Aufruhr zu versetzen und - oh Schreck! - noch ein Stück tiefer zu wandern, sodass mir meine Hose zu eng wird. Ein Grinsen stiehlt sich auf meine Lippen, verschwindet aber abrupt, als mir meine Situation voller Peinlichkeit bewusst wird.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739480992
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Liebesroman Wut Gay Romance Liebe Hass Angst Catering Romance Fantasy Urban Fantasy

Autor

  • Nele Betra (Autor:in)

1972 in Sachsen-Anhalt geboren und aufgewachsen, lebt die Autorin nun seit 2001 mit ihrer Familie unweit von Stuttgart. Unter dem Pseudonym Nele Betra verfasst sie romantische Geschichten in unterschiedlichen Genre sowie Genremix.
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Titel: Was wäre wenn …?