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Was Preema nicht weiß

von Sameena Jehanzeb (Autor:in)
360 Seiten

Zusammenfassung

EINE HOMMAGE AN DAS LEBEN! Wenn deine Reise am Ende beginnt, wohin mag sie dich führen? Manche Tage fangen mieser an als andere. Besonders solche, an denen man schwerelos und ohne nennenswerte Erinnerungen in einem weißen Nichts aufwacht. Preema Anand sind nur zwei Dinge geblieben: ihr Name und die Gewissheit, dass die Welt untergegangen ist. Doch kurz bevor ihr Verstand dem Wahnsinn verfällt, trifft sie auf weitere Überlebende, die sich auf eine vermeintlich idyllische Lichtung mitten im Nirgendwo gerettet haben und Antworten in wilden Theorien suchen. Je dringlicher auch Preema die Geheimnisse ihrer Umgebung und die ihrer eigenen Vergangenheit zu ergründen versucht, desto deutlicher wird, dass ihre Erinnerungen gefährlicher für sie sein könnten als die grauen Schemen, die die Überlebenden heimsuchen…

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

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www.sameena-jehanzeb.de

 

 

 

Ebenfalls erschienen:

BRÏN

Winterhof

Runa. Eine kurze Geschichte vom Winterhof

Frozen Ghosted Dead


 

Impressum:


Was Preema nicht weiß
2. Auflage

© Sameena Jehanzeb, 2020
Eifelstr. 4 | 53119 Bonn
mail@sameena-jehanzeb.de

Gesamtgestaltung, Illustration: saje design, www.saje-design.de
Lektorat, Korrektorat: Maike Claußnitzer 

ISBN (Print): 978-3-96698-306-8


Alle Rechte vorbehalten. 
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.



Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.



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Dieser Roman enthält Themen, die bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen können. Eine Auflistung dieser Themen kann über den aufgeführten QR-Code oder durch Direkteingabe im Browser abgerufen werden:


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Manchmal zerbricht unsere Welt.

Manchmal werden wir von ihr zerbrochen.

 

In Erinnerung an meinen Vater Hashim

(1952 – 1989)

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Heute • 13. April 2036

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Die Welt endete am 13. April 2036 mit ohrenbetäubendem Getöse, einem allumfänglichen Verlust der Orientierung und einer so tiefgreifenden Furcht, dass sie einem den Verstand in tausend Scherben brach. Preema Anand erinnerte sich nicht daran, was genau geschehen war. Zu klein und weit verstreut waren die Splitter, die einst ihr Erinnerungsvermögen ausgemacht hatten. Aber an die Schreie und das Weinen erinnerte sie sich und an die Angst … Oh ja, an die Angst erinnerte sie sich sogar überdeutlich. Auch jetzt noch steckte ihr das blanke Entsetzen in den Knochen, ließ sie am ganzen Körper zittern und ihre Haut unangenehm kribbeln. Alles brannte und juckte, doch so sehr sie sich auch kratzte, es wollte nicht aufhören. Der Schock saß wohl einfach zu tief und veranlasste ihre Synapsen dazu, wilde Signale aus allen Rohren zu feuern.

Alles war so verdammt schnell passiert. Wenn sie sich bloß daran erinnern könnte, was dieses alles tatsächlich bedeutete. Das Maß an Gewalt und Zerstörung, das plötzlich auf Preema eingewirkt hatte, war zu intensiv gewesen, zu verstörend, als dass sie begreifen konnte, was ihr im Detail widerfahren war. In ihrem Kopf herrschte eine große Leere und darüber lag die Erinnerung an einen Schmerz, wie sie ihn sich niemals hätte vorstellen können. Da waren außerdem schwammige Bilder von fallenden Sternen und violetten Blitzen am Himmel, von grellen Lichtern, die sie blendeten. Da war auch die Erinnerung an eine gewaltige Erschütterung, gefolgt von einem Sturz, der endlos zu sein schien. Alles war wirr und bruchstückhaft und gab Preema mehr Rätsel auf, als Antworten zu liefern. Nur ein einzelner Gedanke schälte sich klar aus dem Chaos heraus: Das ist das Ende. Die Welt hatte aufgehört zu existieren.

Angesichts dieser wenigen, aber doch recht eindeutigen Informationen, die Preema durch den Kopf schwirrten, hätte sie nach allen Regeln der Logik tot sein sollen. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür, dass sie noch lebte. Dennoch trieb sie, unversehrt und höchst lebendig, irgendwo im Nirgendwo umher. Und mit Nirgendwo meinte sie einen Ort, der so absolut leer war, dass ihr Körper nicht einmal einen Schatten warf.

Als Preema im ersten Moment aufgewacht war, hatte sie gedacht, dass sie vielleicht in einem Krankenhaus sei. Doch das hatte sich schnell als Irrtum erwiesen. Zunächst glaubte sie, das Desinfektionsmittel riechen zu können, doch im nächsten Moment war der Geruch wieder fort. Alle Gerüche waren fort. Preemas Aufenthaltsort war noch steriler als steril und auch sonst stimmte nichts mit dem Erscheinungsbild eines Krankenhauses überein. Einfach alles um sie herum war vollkommen weiß. Das Oben, das Unten, jede Richtung, in die Preema sich wandte, bot denselben monotonen Anblick. Es schien keine Wände zu geben, keinen Anfang, kein Ende. Sie war der einzige Mensch, ja das Einzige, was überhaupt an diesem Ort existierte. Da war nichts als die unendliche Leere, die Preema aus allen Richtungen umgab.

Die Weiße war in ihrer makellosen Vollkommenheit beunruhigend. Sie stach Preema in die Augen und gab ihr das Gefühl, erblindet zu sein. Sie hatte stets angenommen, Blindsein bedeute, dass alles schwarz wäre, doch nun musste sie erkennen, dass ein vollkommen leerer Raum zu demselben furchteinflößenden Eindruck führte und darüber hinaus auch noch Kopfschmerzen hervorrief, die an Intensität nicht zu überbieten waren. Preemas Nerven waren nur deshalb noch nicht mit ihr durchgegangen, weil sie immerhin sich selbst sehen konnte und ihre Augen folglich in Ordnung sein mussten. Sie sah den gewohnt warmen Braunton ihrer Haut, der vor dem unnatürlich hellen Hintergrund jedoch dunkler denn je hervorstach. Die langen Strähnen ihrer Haare waberten um ihren Körper und bewegten sich, wie schwarzbraune Geister, um ihre Schultern. Darüber hinaus war Preema ganz und gar nackt. Das erschien ihr seltsam, sie wusste bloß nicht, weshalb.

Ihr entblößter Körper war gewiss nicht das einzig Denkwürdige, denn Preema schwebte. Sie hatte die Knie an die Brust gezogen und die Arme locker um die Beine gewickelt. Wie ein Kind im Leib seiner Mutter trieb sie schwerelos in diesem gewaltigen Nichts umher. Es war ein befremdliches, schwindelerregendes Gefühl und Preema wollte, dass es aufhörte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Verständlich, wenn man sich in Erinnerung rief, dass die Welt untergegangen war. Was auch immer das nun eigentlich bedeuten mochte, denn Preema war schließlich noch hier.

Ein reißender Strom aus Fragen und Gedanken brach harsch und unerwartet über sie herein. Was war das für ein sonderbarer Ort? Wie konnte etwas wie dieser weiße Raum existieren, der keinen Anfang und kein Ende besaß? Was war mit der Welt geschehen? Weshalb trieb Preema in einem schwerelosen Nichts umher? Wie war es möglich, dass sie schwerelos umhertrieb? Und weshalb war sie alleine? Sie konnte doch nicht die Einzige sein, die überlebt hatte. Irgendwer musste sie schließlich gerettet haben. Oder entführt. Der Gedanke drängte sich ihr ungebeten auf. Aber weshalb sollte man sie entführen? War sie reich? Wichtig? Nein, weder das Eine noch das Andere fühlte sich richtig an.

Man sollte meinen, all diese Fragen wären bereits beunruhigend genug gewesen, doch die unangenehmste Frage, die Preema im Kopf herumgeisterte, war die, wer sie eigentlich war. Bis auf ihren Namen wusste sie kaum etwas über sich selbst. Ihr Verstand war genauso leergefegt wie der Raum, in dem sie sich befand. Sie wusste mit Sicherheit, dass da unzählige Erlebnisse und Informationen in ihrem Gedächtnis gespeichert sein sollten, doch woher sie diese Gewissheit nahm, konnte sie wiederum nicht erklären. Preema hatte das Gefühl, eine dicke, bleierne Tür stünde zwischen ihr und ihren Erinnerungen, ja, ihrer gesamten Persönlichkeit. Nicht weit entfernt und dennoch unerreichbar. Vielleicht hatte sie sich eine Gehirnerschütterung zugezogen. Bei einem Weltuntergang konnte so etwas schon mal vorkommen. Litt sie womöglich unter einer Amnesie? Erinnerte man sich an die Bedeutung des Wortes Amnesie, wenn man eine solche hatte? Preema lachte über sich selbst und fasste sich an die Stirn. Sie würde jemanden finden müssen, der ihr dabei half, all diese und noch viele weitere Fragen zu beantworten.

»Hallo? Kann mich jemand hören? Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen!«, rief sie laut hinaus. Doch der weiße Raum schluckte ihre Stimme und verhinderte, dass ihre Rufe in die Ferne getragen wurden. Kein Hall und kein Echo begleiteten ihre Worte. Niemand antwortete ihr.

In Preemas Kopf drehte sich alles und sie schmeckte die ersten Anzeichen der Übelkeit auf der Zunge. Sie brauchte Boden unter den Füßen und das nicht im metaphorischen Sinne. Sie wusste vielleicht nicht, wie lange sie schon hier war, aber sie konnte auch nicht ewig ziellos umhertreiben und nichts tun. Wenn niemand kam, um ihr zu helfen, musste sie diesen Part eben selbst in die Hand nehmen.

Vorsichtig, als hätte sie Angst, eine unsichtbare Seifenblase zum Platzen zu bringen, streckte sie ihre Arme und Beine aus. Mit den Händen tastete sie voraus, hinunter und zu jeder Seite. Sie drehte sich ungeschickt um sich selbst und kämpfte darum, Halt zu finden. Doch so weit Preema die Hände auch ausstreckte, ihre Finger wollten keinen Kontakt mit irgendetwas herstellen und ihr Körper fand ebenso keine Balance. Sie kam sich vor wie ein Wurm, der ins Wasser gefallen war und verzweifelt versuchte, an die Oberfläche zu schwimmen. Ihr Kopf schien noch dazu in Watte gehüllt zu sein und die Augen waren so schwer, dass sie stets eine halbe Sekunde zu spät den Befehlen des Gehirns gehorchten.

Vermutlich, dachte sie, habe ich bloß die Orientierung verloren.

Das Unbehagen gewann dennoch schnell an Substanz und machte Preema nervös. Sie konnte doch nicht wirklich schwerelos sein. Sicher war sie keine Expertin, was die Gesetze der Physik anging, aber sie wusste, dass die Schwerelosigkeit nur außerhalb der Erdatmosphäre existierte. In der Schwerelosigkeit zu treiben hätte bedeutet, dass Preema sich nicht mehr auf der Erde befand, und das war völlig unmöglich. Weltuntergang hin oder her, Menschen existierten nicht im luftleeren Raum, und dass es hier Luft gab, stand wohl außer Frage. Um ganz sicher zu gehen, atmete sie dennoch einmal tief ein und wieder aus. Sauerstoff: check. Auch wenn ihr die Luft etwas schal und das Atmen schwieriger als üblich erschien.

Sie schloss die Augen, während sie sich von den unsichtbaren Händen tragen ließ. In ihrem Kopf summte es wie in einem Bienenstock, ihre Haut fühlte Dinge, die gar nicht da waren, und ein permanenter Schmerz hatte es sich direkt hinter ihren Augen bequem gemacht, wenn auch nicht mehr so stark wie in den ersten Momenten nach ihrem Erwachen. Als sie die Augen schließlich wieder öffnete, sah sie, wie eine Strähne ihres Haars seitlich an ihr vorbeitrieb. Sie schien Preema hämisch zuzuwinken. Was für ein absurder Gedanke.

Du bist nicht schwerelos. Das ist völlig unmöglich, ermahnte sich Preema zur Vernunft. Etwas stimmte nicht mit ihrer Wahrnehmung, das war die einzig vernünftige Erklärung. Haarsträhnen konnten nicht winken und Menschen konnten nicht schweben.

Entschlossen schob sie alle Fragen und Merkwürdigkeiten beiseite und versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Sie lauschte ihren eigenen Atemgeräuschen und bemühte sich, die leisen Ängste zurückzudrängen. Sie war traumatisiert, daran bestand kein Zweifel, und höchstwahrscheinlich lag darin die Erklärung für ihre derzeit unerklärliche Lage. Was ihr auch zugestoßen war, es hatte sie mächtig aus der Bahn geworfen.

Ruhig atmend begann sie sich das Gefühl der Schwerkraft in Erinnerung zu rufen. Ein Gefühl, das sie schon ihr ganzes Leben lang begleitete und das so tief in ihrem ganzen Sein verwurzelt war, dass nicht einmal der Weltuntergang es vergessen machen konnte. Das Gefühl von Füßen auf festem Boden, die Vertrautheit, an den Untergrund gebunden zu sein. Ein untrennbarer Pakt zwischen Körper und Schwerkraft, der sowohl im Leben als auch im Tod noch galt. Mochte die Seele auch fliegen lernen, der Körper würde auf ewig mit dem Grund verbunden sein. Es sei denn, jemand schießt dich mit einer Rakete in den Weltraum … Unsinn. Konzentriere dich, Preema!

In ihrem Geist visualisierte Preema den Boden. Schlicht und einfach. Simple, graue Fliesen, wie die in ihrem Badezimmer. Sofort spürte sie ein Lächeln auf den Lippen. Granitgraue Fliesen im Badezimmer. Nicht gerade eine weltbewegende Erinnerung, aber eine, die ihr Hoffnung machte. Sie erinnerte sich plötzlich an den genauen Farbwert und die etwas raue Beschaffenheit der Oberfläche. Sie erinnerte sich auch daran, wie kühl sich die Kacheln unter ihren Fußsohlen anfühlten, wenn sie nach einer heißen Dusche aus der Kabine hinaustrat. Die Eckdaten ihrer Persönlichkeit waren irgendwo, Preema musste nur einen Weg finden, an sie heranzukommen. Doch eins nach dem anderen. Die Erinnerungen liefen ihr schließlich nicht davon. Hoffte sie wenigstens.

Preema schloss einmal mehr die Augen und machte sich so lang wie möglich. Sie stellte sich vor, wie sich ihre Zehen in den Boden drückten, wie ihr Gewicht auf den Fersen und Fußballen ruhte. Sie konzentrierte sich auf die starre Unnachgiebigkeit der Fliesen und darauf, wie es sich anfühlte, im Einklang mit der Schwerkraft zu sein.

»Komm schon. Komm schon!«, flüsterte sie sich ermutigend zu, während ihre Zehen in der Leere stocherten. Plötzlich berührten sie etwas. Preema jauchzte in einer Mischung aus Schreck und Freude und riss die Augen auf. Da war er, der Boden, genauso, wie sie es vermutet und erwartet hatte. Mit einem Mal spürte sie das Gewicht ihres Körpers wieder, während sich ihre Füße fest auf soliden Grund hefteten. Für ein paar Sekunden drehte sich in ihrem Kopf alles so schnell, dass sie glaubte zu stürzen, dann aber merkte sie, wie die Welt wieder ins Lot kam, wie sich ein Oben und ein Unten etablierte und ihr die Haare auf die Schultern und über den Rücken fielen. Preema drückte die Zehen in den Grund, sprang ein paar Mal vorsichtig auf und ab, nur um sich zu vergewissern, dass auch wirklich alles mit rechten Dingen zuging.

Die Schwerkraft hatte sie wieder!

Für einen Moment glaubte Preema, den grauen Fliesenboden ihres Badezimmers tatsächlich sehen zu können. Die Erscheinung verschwand jedoch, sobald sie direkt hinsah, und ließ nichts zurück als den weißen Raum. Nun, auch wenn er optisch nicht vom Rest zu unterscheiden war, hatte sie den Boden doch gefunden, da würde sie auch alles andere noch aufspüren. Die Wände mussten schließlich irgendwo sein, und wo es Wände gab, gab es auch Türen, und wo es Türen gab, gab es auch einen Ausgang. Entschlossen setzte sich Preema in Bewegung.

 

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Für eine ganze Weile lief Preema ziellos umher. Sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, wie lange sie durch den weißen Raum irrte. Sie hatte keinen Anhaltspunkt dafür, wie spät es war, doch es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Niemand begegnete ihr und nirgends fand sich auch nur eine einzige Wand, Säule oder irgendetwas anderes, das auf ein tragendes Element hinwies. Physikalisch betrachtet mindestens fragwürdig. Je länger ihre Suche andauerte, desto mehr Zweifel machten sich in Preema breit. Immer wieder suchte sie ihre Umgebung ab und rief in die Ferne. Doch wie zuvor antwortete ihr nur die Stille. Eine Stille, die ihr zunehmend unheimlicher wurde. Preema rannte und rannte, ohne müde zu werden, die Szenerie aber wollte sich einfach nicht ändern. Die Weiße dehnte sich erbarmungslos aus, unendlich wie ein Universum ohne Sterne, und gab nichts von ihren Geheimnissen preis. Bewegte sie sich überhaupt vorwärts oder trat sie auf einem riesigen, unsichtbaren Laufband auf der Stelle, wie ein Hamster in seinem Rad?

Hoffnungslos sank Preema schließlich auf die Knie, auf einen Boden, den sie nicht sehen konnte, und vergrub das Gesicht in den Händen. Die Weiße schluckte auch ihr leises Weinen und ihre Verzweiflung. Es gab keine Wegweiser, keine Hinweise auf die Lösung dieses undefinierten Rätsels, und es gab niemanden, den sie um Hilfe bitten konnte. Was war das nur für ein furchtbares Spiel? Was erwartete man von ihr? Welchen verborgenen Hebel musste sie umlegen, damit es endlich weiterging? Irgendwohin. Hauptsache weg von hier. Raus aus dem weißen Raum.

»Hallo!«, brüllte Preema noch einmal wütend in die Leere. »Verdammt nochmal! Zeigt euch! Was wollt ihr von mir?« Sie hatte genug. Genug von der Einsamkeit, genug von der Weiße. »Ist denn niemand hier? Bitte«, wimmerte sie ohne jede Hoffnung. Noch immer fühlte sich niemand bemüßigt, ihr zu antworten.

War irgendetwas hiervon überhaupt real? War sie vielleicht in einem Traum gefangen? Es fühlte sich nicht an wie ein Traum. Es war auf eine absurde Weise zu normal. Träume fühlten sich anders an. Dennoch kniff sie sich in den Arm und zuckte angesichts des zwickenden Schmerzes zusammen. In Träumen spürte man keinen Schmerz, da war sie sich halbwegs sicher. Schmerzen und der Tod weckten einen auf, war es nicht so? Sie kniff sich noch einmal, etwas fester, doch bis auf ein unangenehmes Pochen an der malträtierten Stelle erreichte sie damit nichts.

»Ihr wollt mich doch auf den Arm nehmen«, sagte sie zu niemandem im Besonderen und lachte aus purer Verzweiflung. Sie malte sich aus, wie es sein würde, den Rest ihres Daseins in dieser trostlosen Leere zu verbringen. Mit nichts zur Gesellschaft als sich selbst, bis sie verhungert, verdurstet oder einfach nur wahnsinnig geworden war. Wie lange mochte das dauern?

Ihre Füße schienen plötzlich durch den Boden zu sinken, das Schwindelgefühl meldete sich zurück und sie glaubte zu spüren, wie auch die Schwerkraft sie erneut verließ. Preema stieß einen erstickten Ton aus.

»Was geschieht mit mir?«

Sie presste die Handballen auf die Augen, sog scharf die Luft ein – wieder und wieder – und doch schien nicht mehr Sauerstoff in ihren Körper zu gelangen. Sie war in einem Albtraum gefangen und der Wahnsinn reckte gierig die Arme nach ihr. Ihr Boden verlor mit jedem Atemzug an Festigkeit, aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihre Haare langsam aufstiegen und erneut zu schweben begannen.

»Aufhören. Aufhören!«, befahl sie sich selbst in ihrer heraufziehenden Panik und schlug sich mehrfach gegen die Stirn. Sie versuchte sich zu beruhigen, betrachtete ihre Hände, studierte die vertrauten Bahnen der Arterien und Venen, die durch ihre Haut schimmerten, und die vielen feinen Härchen darauf. So viele Härchen. Wie viele es wohl waren? Preema sank in sich zusammen und begann zu zählen. Haar um Haar, Haar um Haar. Ihr Körper wippte sanft vor und zurück, während sie ihrer eigenen Stimme lauschte. Eins, zwei, drei … zehn, zwanzig, dreißig …

Nach einer Weile schlug ihr Herz wieder ruhig in ihrer Brust und der Boden fühlte sich wieder fest und solide an. So, wie es sich für einen Boden gehörte.

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Heute

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Schisch-schusch, machte es irgendwo und Preema horchte auf. Es war das erste Geräusch an diesem Ort, das nicht von ihr selbst ausging. Schisch-schusch, erklang es noch einmal.

»Hallo?«

Schisch-schusch.

Es war ein weicher Ton, ähnlich Papierblättern, die übereinander geschoben wurden, nur lauter und ein klein wenig stockend am Schluss. Vielleicht auch eine Hydraulik, eine ziemlich kleine. Eine Tür? Hoffnung machte sich breit.

Schisch-schusch.

Preema drehte sich um sich selbst. Inzwischen wunderte es sie nicht mehr, dass es auch diesmal keinen Anhaltspunkt dafür gab, wo sich die Geräuschquelle in diesem endlosen Raum befinden mochte. Das andauernde Fehlen jeglicher Hinweise nährte ein leise dahinsimmerndes Gefühl der Verärgerung, welches schließlich in einem frustrierten Aufschrei gipfelte.

»Schon gut, schon gut«, zwang sich Preema zur Ruhe. Sie versuchte zu spüren, was sich vor ihren Augen verbarg. Doch so sehr sie sich auch bemühte etwas wahrzunehmen, da war kein archaischer Instinkt, der sich meldete und ihr die Superkraft verlieh, Gegenstände oder andere Menschen aufzuspüren. Es wäre schön gewesen, wenn sich wenigstens das Zupfen einer Ahnung gemeldet hätte. Irgendetwas. Das Einzige, was sie jedoch spürte, war ein Zeh, der einfach nicht aufhören wollte zu jucken. Soviel zu ihrer Intuition. Genauso unbrauchbar wie ihr Gedächtnis. Preema blähte die Wangen auf und entließ die Luft langsam durch die Lippen.

»Na schön, dann reißen wir eben noch ein paar Kilometer mehr herunter«, murmelte sie vor sich hin und setzte sich wieder in Bewegung. Denn welche Wahl hatte sie schon? Es musste schließlich irgendwo einen Ausgang geben.

Flop-flop-flop-flop.

Kaum hatte sie sich wieder auf den Weg gemacht, überraschte der weiße Raum sie mit dem nächsten eigenartigen Geräusch. Preema blieb stehen.

Flop-flop-flop-flop.

Was war das nun wieder? Wie zuvor, schien auch dieses Geräusch von überallher gleichzeitig zu kommen. Nach kurzer Überlegung kam Preema zu dem Schluss, dass sie dieses Geräusch immerhin kannte. Theoretisch jedenfalls, denn was genau es war, wollte sich ihr dann doch nicht offenbaren, und so verfluchte sie ihren Verstand einmal mehr dafür, dass er sich derart beharrlich weigerte, normal zu funktionieren.

Flop-flop-flop-flop.

»Hallo?«, rief sie ungehalten in den Raum. »Hier ist doch jemand!«

»Hey!«, rief die Stimme eines Mannes plötzlich zurück und Preema zuckte vor Schreck so heftig zusammen, dass sie sich auf die Zunge biss und Blut schmeckte. Sie fluchte leise. »Hey, hier unten!«, rief der Unbekannte wieder.

Preema schaute hinunter, doch da war niemand, der zu ihr aufblickte. Alles war weiß wie zuvor und ohne jede räumliche Wirkung.

»Das andere Unten!«, lachte er. »Entschuldige. Von deiner Warte aus bin ich wohl oben.«

»Was denn nun? Oben oder unten?«, schimpfte Preema und warf schnaubend die Arme in die Luft. Wie sollte man sich vernünftig über den ersten Kontakt zu einem anderen Menschen freuen, wenn der Spielchen trieb und sie an der Nase herumführte?

»Sowohl als auch«, rief der Fremde. Er klang amüsiert, was Preema erst recht auf die Palme brachte.

»Ich bin wirklich nicht zum Scherzen aufgelegt.«

»Dann ist deine Zündschnur entweder sehr kurz oder du bist schon länger hier draußen, als es gut sein kann.«

»Beides!«, gab Preema barsch zurück.

»Schau nach oben!«

Preema tat, was die Stimme verlangte, und sogleich stockte ihr der Atem. Denn zwei Dinge faszinierten sie. Zum einen war da zunächst einmal dieser andere Mensch. Ihn nach der langen Zeit im weißen Raum zu sehen, erzeugte eine Welle der Freude und Preema gab ein untypisches Geräusch von sich, das dem eines aufgeregten Welpen glich. Sie sprang beinahe ebenso euphorisch von dem einen auf den anderen Fuß, quiekte vor Glück und winkte zu dem Mann hinauf. Vergessen war der Ärger, denn noch niemals hatte sich Preema so sehr darüber gefreut, einen anderen Menschen zu sehen, schon gar nicht einen völlig Fremden. Vermutete sie zumindest.

Die zweite Faszination galt der Tatsache, dass der Mann kopfüber an der unsichtbaren Decke hing, ganz ohne irgendwelche Hilfsmittel zur Befestigung. Preema war sich sicher, dass das nicht normal war. Während sie zu ihm hinaufblickte, blickte auch er zu ihr herauf, denn für ihn musste es so erscheinen, als wäre sie über ihm. Es war absurd. Der Mann spazierte an der Decke entlang, als wäre es das Normalste der Welt, auf dem Kopf zu stehen. Das Geräusch, das Preema zuerst nicht hatte zuordnen können, entpuppte sich nun als die Sohlen seiner Sandalen, die bei jedem Schritt gegen seine Fersen klatschten. Flip-Flops!, fiel es ihr schlagartig wieder ein.

»Bist du real?«, fragte Preema zweifelnd.

»Das will ich doch sehr hoffen«, antwortete der Unbekannte und lachte laut. »Wie geht es dir da oben … ich meine dort unten … oder … wie auch immer!« Wieder lachte er und seine gute Laune sprang auf Preema über wie ein freundlicher Virus.

»Wenn ich ehrlich sein darf, ich hatte schon bessere Tage«, rief sie zu ihm hinauf … oder hinunter. Es war kompliziert. »Du kennst nicht zufällig einen Weg, der aus diesem Hamsterrad hinausführt?«

»Von einem Hamsterrad weiß ich nichts, aber einen Weg hinaus kenne ich zufällig doch«, rief der Mann zurück.

Mit dieser Antwort hatte Preema, trotz aller Hoffnungen, nicht gerechnet. »Ist das dein Ernst? Mach bitte keine Witze. Ich irre hier seit einer Ewigkeit umher und habe dieses endlose Nichts mehr als satt.«

»Es wird schnell langweilig, nicht wahr?« Der Ausdruck auf seinem Gesicht war pure Heiterkeit. Wie konnte er so fröhlich sein, nach dem, was mit der Welt geschehen war?

»Kann man so sagen«, antwortete Preema und nickte.

»Magst du dich vielleicht zu mir gesellen?«

»Zu gerne, ich weiß bloß nicht wie ich das anstellen soll.« Preema kicherte. Sie fühlte sich auf einmal selbst albern und fröhlich, als hätte sie einen Schwips. Es musste daran liegen, dass sie über alle Maße erleichtert darüber war, nicht mehr alleine zu sein. Die Glücksgefühle schienen ihr aus allen Poren zu fließen, so dass sie den Weltuntergang für eine Weile völlig vergaß. »Wie komme ich zu dir rauf?«

»Das ist leicht. Reich mir deine Hand!« Der Mann reckte seine eigene Hand Preema entgegen, doch zwischen ihnen lagen sicher zehn Meter Abstand. So würden sie nicht weiterkommen.

»Versteckst du vielleicht irgendwo eine Leiter?«

»Du brauchst keine Leiter. Spring einfach zu mir heru… ich meine hinauf

Springen? Über eine solche Distanz? Das hätte Preema nicht einmal geschafft, wenn sie Profisportlerin gewesen wäre, und ihr kleines Hüftgold verriet, dass das sicher nicht der Fall war. »Keine Chance!«, rief sie entgeistert. »Das ist viel zu weit.«

»Die Dinge sind hier nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Die Entfernung ist in Wahrheit viel geringer. Spring! Glaube mir, du wirst mich erreichen!«

Preema schnalzte mit der Zunge. Sie vermutete einen Trick oder aber einen Scherz auf ihre Kosten. Andererseits hatte sie hier schon genug Seltsames erlebt, um nichts mit Sicherheit ausschließen zu können.

»Wehe du lachst mich gleich aus!«, warnte Preema in verspieltem Ton. Dann machte sie sich bereit, nahm die Hand des Fremden ins Visier und sprang. Sie drückte sich mit aller Kraft ab und reckte die Hand so weit von sich fort, bis sie das Gefühl hatte ihr Körper dehne sich aus wie der von Elasty Girl. Schon wieder so eine nutzlose Information. Danke für nichts, liebes Gehirn.

Zu Preemas völliger Überraschung stieg sie allerdings immer höher und höher hinauf, bis ihre Hand die des Mannes berührte und er seine Finger fest um ihre schloss. In dem Moment, da sich ihre Hände berührten, verlor Preema die Orientierung und sie hatte das Gefühl, zu fallen. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, fiel sie wie ein nasser Sack auf ihren Retter. Er versuchte noch sie aufzufangen, doch Preema traf ihn so ungünstig, dass er chancenlos zu Boden ging und unter ihr liegend ein leises »Au« von sich gab.

»Bin ich gerade auf dich gefallen? Das ist doch nicht möglich«, sagte sie perplex.

»Hier ist fast alles möglich. Hallo übrigens, ich bin David«, gab er buchstäblich erschlagen von sich.

»Hi, ich bin Preema.«

»Freut mich dich kennenzulernen, Preema.«

Er hatte Mühe, zu sprechen, was, wie Preema nun klar wurde, darauf zurückzuführen war, dass sie mit vollem Gewicht auf ihm lag und ihm die Luft abschnürte. Noch dazu war sie vollkommen nackt. Nicht, dass das eine Rolle spielte, wenn Menschen kopfüber an einer unsichtbaren Decke entlangliefen. Ihre Scham hatte Preema ohnehin ebenso vergessen wie ihr Leben. Es störte sie außerdem nicht, nackt zu sein, und falls es David aufgefallen war, schien es ihn nicht zu kümmern. Irgendwo im Hinterkopf wusste Preema, dass ihr das eigentlich hätte verdächtig erscheinen müssen, sie war jedoch zu erleichtert und zu glücklich, nicht länger die einzige Existenz in diesem endlosen weißen Raum zu sein. Sie war nicht mehr alleine. Alles andere war nebensächlich. Fürs Erste jedenfalls.

»Entschuldige«, sagte sie, kletterte von dem jungen Mann herunter und stellte sich aufrecht hin. »Das war ein wenig aufdringlich von mir.«

»Ich wurde schon von härteren Dingen getroffen«, gab David heiter zurück und ließ sich von Preema auf die Füße helfen.

»David, du ahnst nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen. Ich irre schon so lange allein umher, dass ich kurz davor war, den Verstand zu verlieren. Weißt du, wo wir hier sind? Kannst du mir sagen, was passiert ist?«, fragte sie ihn, doch er spielte unsicher an seinem Ohrläppchen und schüttelte dann den Kopf.

Er war jünger als Preema. Vielleicht Mitte zwanzig, hatte etwas zu langes, blondes und lockiges Haar und helle, aber derzeit sommerlich goldbraune Haut. Wahrscheinlich verbrachte er viel Zeit in der Sonne. Oder besser gesagt, er hatte sicher viel Zeit darin verbracht, als es noch eine Sonne gegeben hatte oder einen Strand, an dem man liegen, ein Meer, in das man hinausschwimmen konnte. Seine Kleidung bestärkte den Eindruck, denn die bestand nur aus einer grellbunten Bermudashorts, einer Holzkette um den Hals und natürlich den Flip-Flops, deren sonst nervtötendes Klatschgeräusch Preema zurzeit wie die schönste Symphonie erschien. In der Not fraß der Teufel nicht nur Fliegen, er lauschte offenbar auch dem Sound von Flip-Flops.

»Ich bin vermutlich nicht viel schlauer als du«, antwortete David mit einem nachdenklichen Blick. Seine Stimme war tief und ruhig. »Meine Erinnerungen sind etwas lückenhaft. Eben noch genieße ich meinen Urlaub, sitze am Strand und nippe an meinem Cocktail. Auf einmal dreht sich alles und das Nächste, was ich sehe, ist der weiße Raum. Erinnerst du dich daran, wie du hergekommen bist?«

»Nein, kein Stück«, antwortete Preema unzufrieden. »Ich habe selbst nur ein paar bruchstückhafte Erinnerungen an den letzten Moment, bevor ich hier aufgewacht bin. Zumindest glaube ich, dass das der letzte Moment war. Aber so leer, wie mein Gedächtnis ist, könnte das auch ein Schnipsel von vor zehn Jahren sein.«

David nickte mit einem beunruhigend verständnisvollen Ausdruck. »Das kommt mir sehr bekannt vor.«

»Dann erinnerst du dich auch an nichts?«

»Ich erinnere mich an einiges mehr als noch zu Beginn, aber nicht an alles. Vor allem nicht an das, was mich hergebracht hat.«

Preema sprach es nicht aus, doch zwei Menschen, die beide an Gedächtnisverlust litten, waren für ihren Geschmack einer zu viel, um Zufall zu sein.

»Was hältst du von einem Tapetenwechsel, Preema? Du hast sicher Lust auf eine etwas vielfältigere Umgebung.«

»Oh ja, bitte!«, gab sie zurück.

»Kannst du den Wegweiser schon sehen?«

»Wegweiser?«, fragte sie verwundert.

»Also nein. Das habe ich mir schon gedacht. Komm, ich zeige dir, wo es langgeht.« David schaute sich einen Moment um, offensichtlich suchte er etwas. Preema konnte sich nicht vorstellen was das sein mochte. Was sah er, was sie nicht sah?

»Aha«, rief er zufrieden, lief ein paar Schritte, änderte die Richtung und war plötzlich verschwunden.

»David!«, rief Preema erschrocken. Sein Kopf wurde wieder sichtbar, als er hinter der unsichtbaren Wand hervorblickte. »Was …?«

»Kommst du?«, fragte er unschuldig.

»Aber …«, begann Preema und wusste dann doch nicht, was sie eigentlich sagen sollte. Also lief sie eilig auf Davids schwebenden Kopf zu, der gleich darauf wieder verschwand. Preema streckte die Hand aus und suchte nach der Wand. Sie konnte einfach keinen Unterschied sehen. Keine Kante, keinen Schatten, gar nichts. Dann aber trafen ihre Finger auf einen kühlen Widerstand. Nicht richtig fest, eher ein wenig gummiartig. Zu Preemas Überraschung verschwand ihre Hand, sobald sie die Kante umgriff. Ein unbedeutender und dennoch surrealer Anblick.

»Man könnte meinen du würdest doch ganz gerne hierbleiben.« David lugte erneut grinsend hinter der Wand hervor.

»Himmel, nein. Ich habe nur Schwierigkeiten, zu verstehen, wie das möglich ist. Wie kann es sein, dass ich so lange hier herumgeirrt bin, ohne auch nur einmal auf eine Barriere zu stoßen? Ganz eindeutig gibt es hier Wände, auch wenn ich sie nicht sehen kann. Und wieso kannst du sie sehen? Stimmt etwas nicht mit meinen Augen?«

Davids Grinsen wurde breiter. »Deine Augen sind in Ordnung. Es dauert bloß eine Weile, bis man die Wände und Durchgänge wahrnimmt. Sie sind überall, man muss aber erst lernen, worauf es zu achten gilt.«

»Ich kann doch nicht so präzise jedes Hindernis im weißen Raum versehentlich umgangen haben«, protestierte Preema kopfschüttelnd.

»Die Wände hier sind schlau und sie sind nicht fix an einen Ort gebunden. Sie sind da, aber nicht immer solide, verstehst du?«

»Nein«, gestand sie geradeheraus. Wieder lachte David.

»Sie sind … hm … Es ist nicht so, dass sich die Wände bewegen würden. Sie sind, wo sie sind, aber sie sind nicht immer im selben Raum wie wir. Manchmal muss man warten, bis sie erneut erscheinen, und oft sind wir nur im falschen Moment an der richtigen Stelle.«

»Versuchst du, mich auf den Arm zu nehmen?«, fragte sie ganz ernst.

David seufzte. »Nein, auch wenn es verrückt klingt, es ist, wie es ist. Das Ganze richtig zu erklären ist schwierig. Ich verstehe es ja selbst kaum. Du wirst aber mit der Zeit feststellen, dass es noch wesentlich verrücktere Dinge gibt als Wände, die nur manchmal da sind.«

»Ich muss nicht alles verstehen. Bring mich bitte nur von hier weg, um die anderen Probleme kümmere ich mich später.«

»Das mache ich mit Freuden. Hier, nimm meine Hand, damit du mir nicht verloren gehst«, sagte er mit dem Elan eines Abenteurers. Preema ergriff die Hand, die er ihr anbot, und folgte ihm und dem Flop-flop-flop seiner Schuhe nur zu gerne.

Er führte sie zielsicher von einem Gang in den nächsten, wobei für Preema alles gleich blieb. Sie konnte ihrem neuen Wegbegleiter nur vertrauen, während sie versuchte wahrzunehmen, was er wahrnahm: das Schimmern einer Durchgangskante, eine Markierung am Boden, einen schmutzigen Pfad, irgendetwas. Doch es blieb alles schneeweiß. David aber folgte Wegen, die gut sichtbar vor ihm lagen. Schwach schimmernden Wegweisern, wie er erklärte, die sich Preema scheinbar noch nicht zeigen wollten. Stattdessen zählte sie ihre Schritte, in der Hoffnung, ein Muster zu erkennen, doch schon kurz darauf hatte sie alle Schrittzahlen wieder vergessen und war sich unsicher, ob sie zuletzt nach links oder rechts abgebogen waren. War sie schon immer so vergesslich gewesen?

Die Zeit tickte weiter vorbei, ohne eine Spur von sich zu hinterlassen. Preema hatte keine Ahnung, wie lange sie schon umherliefen, doch alles war besser, als alleine und ohne jede Perspektive in dem weißen Raum gefangen zu sein.

»Wir sind da.«

»Wir sind da?« Die Enttäuschung in ihrer Stimme war unverkennbar. »Aber hier ist doch nichts.« Sofort überkam sie der schreckliche Gedanke, dass David ihr nur etwas vorgemacht hatte und sie weiterhin in dieser endlosen Weite festsaß. Dass sich David selbst vielleicht so sehr nach einem Ausgang sehnte, dass er ihn sich herbeiphantasierte.

»Hier, du kannst den Durchgang anfassen.« Er legte seine Hand auf die weiße Leere und Preema tat es ihm nach.

Der Widerstand war da, die Oberfläche schien etwas wärmer zu sein als die vorherigen Wände und nun erkannte sie auch hier und da das zaghafteste Schimmern feiner Linien. Sie breiteten sich wie ein filigranes Spinnennetz unter ihrer Handfläche aus.

»Der erste Moment, nachdem sich der Durchgang öffnet, wird dich vielleicht ein wenig überfordern. Deine Sinne müssen sich erst wieder an die Existenz einer Umwelt gewöhnen. Aber ich bleibe bei dir und fange dich auf, falls du die Orientierung verlierst. Bist du bereit?«

Was mochte sich hinter diesem obskuren Portal befinden? Der Ausgang aus einer Theaterkulisse? Ein Parkplatz vor einem gigantischen Lagerhaus? Die Trümmer einer verwüsteten Welt?

»Ich bin bereit«, antwortete Preema. Sie hatte keine Ahnung, ob das der Wahrheit entsprach, sie würde jedoch auf keinen Fall freiwillig noch länger im weißen Raum bleiben. Alles war besser, als hier draußen zu verweilen und vom Leben ausgesperrt zu sein.

Sie spürte, wie David gegen die unsichtbare Barriere drückte und diese ein Stück nachgab, wie eine weiche Membran. Für einen kurzen Moment leuchteten all die feinen Haarlinien darauf hell auf, dann stoben sie blitzförmig auseinander und waren verschwunden. Unter ihren Handflächen begann sich ein Loch zu bilden. Es wurde größer und größer, bis es groß genug war, dass ein erwachsener Mensch hindurchpasste. Preema riss die Augen auf, als sie plötzlich die vielen Farben sah.

Gerüche strömten ihr entgegen und Klänge. Vogelgezwitscher und das beruhigende Rascheln von Baumkronen im Wind, Wasserfälle. Pflanzenhalme schwangen auf der anderen Seite sanft hin und her. So viele unterschiedliche, geschäftige, lebendige Klänge. Farben und Schatten! Preema stieß einen Freudenschrei aus und atmete tief ein. Ein vage vertrauter Duft drang in ihre Nase ein und füllte ihre Lungen. David kletterte durch die Öffnung und Preema folgte ihm aufgeregt. Ihre Füße landeten prompt auf kühler Erde und saftig grünem Gras. Sie erinnerte sich an Gras und an ein Mädchen, dessen rotblondes Haar vor dem Hintergrund der grünen Wiesen herausstach wie ein Leuchtfeuer.

Und plötzlich war sie da, die erste Erinnerung daran, wer Preema Anand war.

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Damals • 27. August 2005

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Es hätte ein perfekter Samstagmorgen sein können. Vögel zwitscherten von den Ästen der Bäume herunter, Hummeln und Bienen wechselten geschäftig summend von einer Blüte zur anderen oder flogen schwankend und schwer beladen zu ihren Nestern zurück. In der Luft lag der Duft von frisch geschnittenem Gras. Wie jede Woche, und stets zur selben Zeit, schob Andreas Wenke seinen Rasenmäher mit stoischer Ruhe und selig lächelnd über den Rasen. Es spielte für den Mann wohl keine Rolle, ob das Gras überhaupt Gelegenheit hatte nachzuwachsen, denn er wich nur dann von seinem üblichen Terminplan ab, wenn es regnete oder stürmte. Die Nachbarschaft hatte sich längst damit abgefunden, dass der Samstagmorgen dem Rasenmähermann von nebenan gehörte. Die einen malten zur Entspannung Mandalas aus, Andreas Wenke mähte seinen Rasen.

Eine warme Decke tiefer Glückseligkeit lag über dem Viertel, erschaffen von der Freude der Menschen, die zwei Tage lang der Arbeit fernbleiben und stattdessen in der Sommersonne baden durften. Die älteren Kinder stromerten derweil fern der Aufsicht eines Erwachsenen durch die Siedlung, genossen die schulfreie Zeit und ihre wachsende Unabhängigkeit. Wochenenden im Sommer waren für alle ganz besonders schöne Tage und nur die hartgesottensten Zyniker vermochten es, keine Freude an einem sonnigen Sommerwochenende zu empfinden. Nun, Zyniker und natürlich Nicole Grebe und Preema Anand, die sich derzeit lautstark dem teuersten Gesetz der modernen Zivilisation widersetzten und den Frieden des Wochenendes ohne jede Scham zerstörten.

Die Stimmen der beiden Mädchen schnitten schrill durch die friedlich dahinträumende Nachbarschaft und schlugen Vögel, Katzen und sämtliche Nager im Umkreis von hundert Metern in die Flucht. Ihr Geschrei schaffte es sogar, das Knattern und Rattern des Rasenmähers zu übertönen. Dessen Motorgeräusche gerieten kurz aus dem Takt, als sein Steuermann vor lauter Schreck eine scharfe Kurve ins Gras zeichnete und damit das perfekte Linienmuster einer ganzen Dekade ruinierte. Andreas Wenke schaltete den Rasenmäher unplanmäßig ab und fluchte, als er das krumme Malheur in seinem Vorgarten erblickte. Die Kinder kümmerte Andreas Wenkes zerstörtes Rasenmuster freilich wenig. Sie hatten viel größere Probleme und kreischten weiter so laut, wie es ihre Lungen hergaben. Der Zorn eines Kindes war schon schlimm genug, der Zorn zweier Kinder … Mögen die Götter aller Völker Gnade walten lassen!

Nicole und Preema klammerten sich seit mehreren Minuten aneinander, als hinge ihr Leben davon ab, und hätte man sie danach gefragt, so wäre genau das auch der Fall gewesen. In ihrer noch jungen Welt war das, was sie gerade durchlebten, durchaus von einer zutiefst dramatischen und einschneidenden Tragweite. Wie alle Kinder, die irgendwann erwachsen wurden, würden sie mit der Zeit den Blick auf dieses Ereignis ändern und feststellen, dass es weitaus größere Katastrophen im Leben gab. Doch an diesem Punkt waren die beiden Mädchen noch nicht angelangt und so protestierten sie in aller Form gegen das Unrecht, das hier und heute geschah. Sie hatten sich inzwischen längst gegenseitig die Schultern nass geweint und heulten kaum verständliche Worte in die Halsbeuge der anderen. Aber Nicole und Preema kannten einander besser als Schwestern und verstanden sich auch ohne Worte.

»Nicole, wir müssen los!«, rief Patrick Grebe, Nicoles Vater. Er stand unter Zeitdruck, war verärgert und hatte für das Drama der beiden Kinder längst jedes Verständnis verloren. Seit die Mädchen erfahren hatten, dass Nicoles Familie in ein neues Haus umzog – auf die andere Flussseite, was dem Ende der Welt gleichkam –, herrschte ein unheiliger Krieg zwischen den Kindern und Nicoles Eltern.

»Ich hasse euch!«, schrie Nicole ihre Eltern zum wiederholten Male an und wie zuvor verstärkte sie ihren Griff um Preema dabei ein bisschen mehr.

»Ich auch! Böser Baba Grebe!«, kreischte Preema in feinstem Glasschneider-Sopran hinterher.

»Jetzt macht nicht so ein Theater!«, schimpfte Herr Grebe, dessen Worte in einer stressigen Situation wie dieser immer ganz eigenartig und unverständlich wurden. Normalerweise hätten Preema und Nicole das sehr amüsant gefunden, wenn er so lustig sprach, doch nicht heute.

»Daran ist nur dieser hässliche Gnom schuld!«, schimpfte Nicole zurück.

»Hör auf, deine Schwester einen Gnom zu nennen!«

»Niemals!«, hielt Nicole dagegen.

Die beiden Kinder waren wütend und verletzt, weil ihre Freundschaft auf so rüde Weise und selbstverständlich gegen ihren Willen beendet wurde. Sie fühlten sich von Nicoles Eltern verraten. Wer oder was gab Erwachsenen das Recht, einfach umzuziehen und das Leben ihrer Kinder zu zerstören? Wieso hatte niemand gefragt, was Preema und Nicole davon hielten, dass sie künftig nicht mehr nebeneinander wohnen durften?

Schuld an der ganzen Misere war der neue Familienzuwachs, um den Nicole wahrlich nicht gebeten hatte. Das versicherte sie Preema, die Angst davor hatte, von einer echten Schwester ersetzt zu werden, immer wieder. Nicht nur, dass Gnomi, wie Nicole und Preema den kleinen Neuzugang vom ersten Moment an nannten, seit drei Monaten Tag und Nacht heulte und schrie, jetzt zogen die Grebes auch noch um, weil die Wohnung für vier Personen angeblich zu klein war. Gnomi konnte ja im Keller schlafen, wenn sie mehr Platz brauchte, da würde Nicole auch das dauernde Geschrei nicht mehr hören müssen. Von der Idee wollten die Eltern jedoch nichts wissen und schimpften stattdessen noch mit Nicole, dass man so nicht mit seiner Schwester umgehen dürfe. Aber einfach so umzuziehen und Nicoles und Preemas Leben zu ruinieren, das war offenbar in Ordnung. Gemein war gar kein Ausdruck für diesen unverschämten Vorstoß.

»Zarah!«, rief Nicoles Vater. »Hättest du wohl die Güte, deine Tochter an dich zu nehmen? Die Umzugshelfer warten darauf, dass ich ihnen die Türe im neuen Haus aufschließe.«

»Ich komme nicht mit!«, schimpfte Nicole aus voller Lunge. »Ihr könnt mit dem Gnom umziehen, aber ich bleibe hier bei Preema! Preemas Zimmer ist sowieso viel schöner und Papa Anand hat be…«

»Und wenn ich dich knebeln und fesseln muss, junge Dame, du setzt dich jetzt in dieses verdammte Auto!«, brüllte Herr Grebe dazwischen, während er versuchte, die beiden Kinder auseinanderzubekommen. Ihre kleinen Hände und Arme waren erstaunlich stark und unnachgiebig, so dass seine Versuche, Nicole wegzutragen, zu einer ungewollt komischen Szene ausarteten, die garantiert so manchen Nachbarn heimlich amüsierte. Tahir Anand, der oben hinter dem Schlafzimmerfenster stand und sich das Ganze nur aus der Entfernung ansehen konnte, schmunzelte jedenfalls halb vergnügt und halb wehmütig. Er würde Nicole vermissen, die inoffizielle zweite Tochter, die so oft und selbstverständlich in der Wohnung der Anands herumlief oder dort übernachtete, dass er manchmal vergaß, dass sie die Tochter von jemand anderem war. Er war sich sicher, dass es den Grebes mit Preema nicht viel anders erging. Die beiden Elternpaare hatten längst akzeptiert, dass ihre Töchter glaubten, zwei Mütter und zwei Väter zu haben, und alle Erklärungsversuche ignorierten.

Eng wie das Band zwischen Preema und Nicole folglich war, waren die beiden Kinder fest entschlossen, Herrn Grebes Pläne zu vereiteln. Bisher waren sie damit auch ausgesprochen erfolgreich, doch plötzlich spürte Preema die Hände ihrer Mutter auf den Schultern – diese Verräterin! – und klammerte sich instinktiv noch energischer an Nicole. Sie würde ihre Freundin nicht gehen lassen. Niemals!

»Preema! Beti, komm jetzt«, sagte Zarah Anand mit jener strengen Stimme, von der sie nur in besonderen Momenten Gebrauch machte. Dies war solch ein Moment und an jedem anderen Tag hätte der Tonfall gereicht, um Preema – und Nicole – sofort gehorchen zu lassen, doch nicht heute. Heute war ein Tag, an dem alle Regeln außer Kraft gesetzt worden waren.

»Geh weg! Geh weg, Mami ji!«, brüllte Preema wütend. Sie strampelte und trat wild um sich, wand sich wie ein glitschiger Fisch in den Armen ihrer Mutter.

»Preema …«

»Nein! Nein! Nein!«

Die beiden Elternteile schafften es nur mit vereinten Kräften, ihre Töchter voneinander loszureißen. Das Gekreisch der Kinder wurde noch lauter, was niemand für möglich gehalten hätte, und es hätte auch niemanden überrascht, wenn die Nachbarn die Polizei gerufen hätten. Zum Glück wussten alle in der Straße, wie unzertrennlich die beiden Mädchen waren, und wunderten sich über das Drama daher kaum. Sie hatten es vermutlich sogar kommen sehen.

Preema und Nicole waren auf den Tag genau fünf Jahre, sieben Monate und siebenundzwanzig Tage alt. Sie waren am selben Tag, im selben Krankenhaus, im Abstand von exakt drei Minuten und dreizehn Sekunden geboren worden. Sie gehörten zu den ersten einhundert Millenniumskindern, die am 1. Januar im Jahr 2000 geboren worden waren, und auf der Neugeborenenstation lagen sie in ihren Bettchen nebeneinander. Auch wenn sie sich daran nicht mehr selbst erinnern konnten, so hatten es ihnen ihre Eltern doch oft erzählt. Die Mädchen liebten diese Geschichte. Sie gab ihnen das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein.

Von den ersten Atemzügen an also bis hin zum heutigen Tage waren Nicole und Preema miteinander aufgewachsen, denn auch die Wohnungen ihrer Eltern lagen zufällig direkt nebeneinander auf demselben Stockwerk eines Mehrfamilienhauses. Sie teilten sich sogar einen großen, durchgehenden Balkon, der einst durch einen Sichtschutz in der Mitte getrennt worden war. Den Sichtschutz allerdings hatten Nicole und Preema im Alter von drei Jahren niedergerissen und das Ansinnen der Eltern, ihn zu reparieren, war von den beiden starrköpfigen Töchtern jedes Mal aufs Neue zerstört worden. Am Tage ihrer Geburt schien das Schicksal selbst Nicole und Preema vereint zu haben und jeder, der versuchte, sich ihnen in den Weg zu stellen, würde es bereuen. Nun aber sollten sie getrennt werden und das bloß aus dem einen Grund, dass Nicoles Eltern in einer absurden Laune beschlossen hatten, dass noch ein Kind her musste. Ein Schwesterchen für Nicole, dabei hatten Nicole und Preema längst die Schwester, die sie wollten, ineinander gefunden. Wie kamen die Grebes bloß darauf, dass ein neues Baby Preema einfach ersetzen könnte? Nein, dieses ganze Projekt ›Gnomi‹ war nicht in Ordnung, fanden die beiden Mädchen, und sie hätten nichts dagegen gehabt, wenn die Grebes das plärrende Ungetüm dem Storch zurück in den Schnabel gestopft hätten, der so frech gewesen war, Gnomi in Nicoles Zuhause abzuladen.

Während das Getobe und Gezeter in einer lauten Schallwelle schneidender Töne weiter durch die Straße rollte, alles Getier mit Selbsterhaltungstrieb verscheuchte und dafür jeden Nachbarn auf die Straße oder zumindest ans Fenster lockte, unternahmen Preema und Nicole einen letzten Versuch, das Unabwendbare doch noch zu verhindern. Nicoles Vater aber hob seine Tochter von den Füßen und das Mädchen reckte die Arme verzweifelt nach Preema. Preema wiederum wehrte sich so gut sie konnte gegen den Griff ihrer Mutter, die den Arm unnachgiebig um Preemas Körpermitte gewickelt hatte. Die Kinder bekamen ihre Hände ein letztes Mal zu fassen und zogen so fest aneinander, dass ihre Eltern ein Stück vorwärts stolperten und beinahe mit den Köpfen aneinanderstießen. Einen Moment später wurde die Verbindung jedoch endgültig zertrennt. Nicole rief ihrer Freundin zu, dass sie Preema niemals vergessen werde. Dann war sie plötzlich fort, verschwand kreischend im vollgepackten Wagen ihrer Eltern und hämmerte mit kleinen Fäusten gegen die Heckscheibe, bis sie in den Gürteln des Kindersitzes gefangen war. Kurz darauf heulte der Motor auf, und der Wagen fuhr einfach los. Kleiner und kleiner wurde das Auto, das Nicole für immer aus Preemas Leben forttrug. Denn wie sollten die Mädchen diese unendliche Strecke von einer Flussseite auf die andere je bewältigen können? Mit ihren kleinen Beinen würden sie das niemals schaffen und ihre Eltern würden sie ohnehin nie über die Brücke gehen lassen. Es war ein dunkelschwarzer Tag für die Kinder.

Die kleine Preema schaute dem Wagen verzweifelt und weinend nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Nicole war fort und Preema am Boden zerstört. Die Welt würde nie wieder so sein, wie sie einst war.

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Heute

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Ach, Nicole. Was für eine schöne Zeit die beiden Mädchen zusammen verbracht hatten. Die Erinnerung tat so weh wie das Ereignis selbst. Frisch und roh wand sich das Verlustgefühl durch Preemas Brust, in einer Intensität, die Preema überraschte. Dennoch umspielte ihre Lippen auch ein Lächeln. Nicole, das temperamentvolle Mädchen mit dem roten Haar, sprang für einen kurzen Moment vor Preemas Augen umher und löste sich mit dem nächsten Blinzeln in Schall und Rauch auf. Preemas Herz war plötzlich voller Liebe für die Schicksalsschwester, die gleich neben ihr gelebt hatte. Sie hatten so viel Zeit im Haushalt der anderen verbracht, dass sich ihre beiden Familien wie eine einzige angefühlt hatten. Was wohl aus Nicole geworden war? Hatten sie beide sich nach diesem Tag je wiedergesehen?

Preemas Gedächtnis besaß die Antworten auf diese Fragen derzeit nicht. Ihre Erinnerungen reichten nicht weiter als bis zu diesem Tag im August 2005. Dennoch freute sie sich ungemein, ein kleines Puzzleteil von sich selbst wiedergewonnen zu haben. Sie war jemand. Sie war kein ganz leeres Blatt, unbeschrieben wie der weiße Raum, in dem sie erwacht war. Sie drückte die Hände gegen die Brust und versuchte, die Gefühle festzuhalten, die mit der Erinnerung gekommen waren, doch sie verflüchtigten sich schnell, als gäbe es keinen Platz für sie an diesem Ort. Doch auch wenn die Empfindung verblasste, die Erinnerung blieb strahlend hell in Preemas Gedächtnis. Nichts würde ihr diesen Moment ihres Lebens wieder wegnehmen können.

»Preema, hörst du mir zu?«

»Was?« Preema blinzelte desorientiert. David stand vor ihr und schaute sie erwartungsvoll an. »Tut mir leid, ich war in Gedanken versunken.«

»Das war nicht zu übersehen. Hast du dich an etwas erinnert?«

»Ja, woher weißt du das?«

David hob kurz die Schultern. »Ich kenne diesen abwesenden Blick ganz gut.« Er zwinkerte ihr zu. »War es eine schöne Erinnerung?«

»Ja und nein. Ich habe mich an meine beste Freundin aus Kindheitstagen erinnert. Nicole Grebe.«

»Und das ist keine gute Erinnerung?« David schaute sie wohl zu Recht verwundert an.

»Nicht, wenn besagte Freundin gerade mit ihren Eltern im Familienkombi verschwindet und man davon überzeugt ist, sie nie wiederzusehen. Der reinste Weltuntergang war das«, scherzte Preema, bis ihr schlagartig wieder einfiel, weshalb sie überhaupt hier war, und sie prompt ein schlechtes Gewissen bekam. Weltuntergangsscherze waren ab sofort nicht mehr lustig. David schien den kleinen Fauxpas jedoch entweder nicht zu bemerken oder absichtlich zu überhören und Preema atmete erleichtert aus. Das Letzte, was sie im Augenblick brauchte, war, dass sie den vielleicht einzigen anderen Überlebenden mit unbedachten Äußerungen vergraulte.

»Das war nur die erste Erinnerung von vielen, die noch folgen werden. Aber zunächst heiße ich dich auf der Lichtung willkommen«, sagte David und schwenkte seinen Arm in einer einladenden Geste durch die Luft.

Preemas Blick folgte der Bewegung seiner Hand und ihre Lippen öffneten sich erstaunt, doch sie brachte keinen Ton heraus. Lichtung. Das war eine schamlose Untertreibung für das malerische Paradies, das sich vor ihr aufbaute. Es gab so viel zu entdecken, dass Preema nicht wusste, wo sie zuerst hinsehen sollte. Die Lichtung war nicht bloß eine grüne Wiese mit ein paar Blumen und Bäumen darauf, wie Preema es erwartet hätte. Die Lichtung war eine Insel und Preema stand mit David am Rande dieser begrenzten Welt, auf den letzten Ausläufen einer Wiese, die in bunte Blumenfelder überging. Richtig üppige Felder, wie Preema sie noch nie gesehen hatte. Es gab Hügel in den prächtigsten Farben. Leuchtend roter Klatschmohn bedeckte den einen, ein violettes Lavendelfeld den anderen. Sattgelbe Sonnenblumen hier und unzählige blaue Veilchen dort. Irgendwo hinter den bunten Hügeln zeichnete sich die Silhouette eines riesigen Waldes ab. Über der Insel hing ein Himmel, der azurblau, aber nur ein Trugbild vor der endlosen Weiße war. Wie eine riesige Scheibe schwebte er über der Lichtung.

Ein sanftes Plätschern drang an Preemas Ohr und sie schaute zu Boden. Zwischen den Gräsern und Blumen schlängelte sich ein kleiner Bach vorbei an Preemas Füßen. Ihre Blicke folgten seinem Verlauf, bis sie ihn über den Rand der Insel in die weiße Leere fallen sah. Aus dem Augenwinkel nahm sie etwas Glänzendes wahr und sie schaute auf, nur um vor Staunen zu erblassen. Die Insel war umringt von Bergen und Felsen. So massiv und gewaltig, wie Preema noch nie welche gesehen hatte, und doch schienen sie schwerelos in der Luft zu hängen. Zwischen dem Gebirge und der Insel lag eine weite Schlucht, die verhinderte, dass irgendjemand die grauen Riesen je erreichen würde, und der Fuß der Berge wurde blasser, je tiefer sie reichten, bis sie sich gänzlich im weißen Dunst verloren. Die Schlucht ließ nicht erkennen, ob es überhaupt einen Grund gab.

Preema war zu beeindruckt, um sich zu fragen, wie sie und David überhaupt auf die Insel hatten gelangen können. Es gab keine Brücken oder andere sichtbare Übergänge. Auch die Öffnung, durch die sie gekommen waren, hatte sich ohne jede Spur wieder geschlossen.

Preema griff nach Davids Hand, bevor sie sich vorsichtig über den Rand der Insel beugte, um herauszufinden, wohin das Wasser des Bachs floss und was weiter unten vor sich ging. Doch sie konnte den Grund nicht sehen. Das Wasser verschwand in den Nebeln des weißen Raums. Die endlose Tiefe flößte ihr einen Heidenrespekt ein, so dass sie schnell wieder vom Rand dieser Welt zurücktrat und ungläubig den Kopf schüttelte. Noch mehr Rätsel, noch mehr Fragen. Weshalb hatte Preema die Berge nicht bemerkt, als sie im weißen Raum umhergeirrt war? Sie waren gigantisch und mussten kilometerweit zu sehen sein. Der Anblick dieser Felsen war schwindelerregend und machte Preema bewusst, wie klein und verletzlich sie selbst war. Winzig, wie ein Käfer. Silbern reflektierende Wasserfälle stürzten aus dutzenden Öffnungen im Gestein der Berge in die Tiefe und erschufen in unregelmäßigen Abständen Regenbögen, die über die Schlucht hinwegreichten und sich mit der farbenfrohen Natur der Lichtung verbanden. Vielleicht waren Preema und David über einen Regenbogen gelaufen, um hierherzugelangen? Sie schüttelte den Kopf ob dieser absurden Idee. Das hier war sicher nicht Asgard und die Regenbögen kein Bifröst. Märchen und Sagen würden sie hier nicht weiterbringen, auch wenn der ganze Ort ausgesprochen metaphysisch wirkte.

»Sind wir tot?«, fragte Preema ohne jede Spur von Humor. David lachte dennoch laut auf.

»Wie kommst du denn auf die Idee?«

»Sieh dich doch um. Das hier ist keine Lichtung, das ist ein Paradies und es schwebt im Nichts«, gab sie zur Antwort.

»Wenn du jetzt schon beeindruckt bist, wirst du den Rest lieben.«

»Wir sollen hier hoffentlich nicht das neue Adam-und-Eva-Gespann darstellen.«

David lachte herzhaft. »Das würden die anderen sicher anprangern. Komm, ich zeige dir, was es noch alles zu entdecken gibt.«

Preema hatte keinen Zweifel daran, dass es hier unendlich viele Dinge zu entdecken gab, vielleicht waren darunter auch ein paar Antworten.

»Augenblick, sagtest du gerade ›die anderen‹? Heißt das, dass es hier noch mehr Menschen gibt?«

David nickte. »Dutzende. Vielleicht hunderte. Die Insel ist groß.«

»Wie sind die alle hierhergekommen?«

»Wer weiß? Vielleicht hat der Storch sie gebracht.« David lachte erneut, doch bevor Preema etwas darauf erwidern konnte, war ihr Geist schon wieder woanders.

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Damals • 2. Oktober 2005

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Preema und Nicole schauten Tahir Anand unnachgiebig an und hatten die kleinen Fäuste in die Hüften gestemmt. Sie waren wild entschlossen, diesem Spuk hier und jetzt ein Ende zu setzen. Nicole war heute zu Besuch bei Preema und durfte auch über Nacht dableiben. Das fanden beide Mädchen sehr gut, doch es war lange nicht so gut wie damals, als sie einfach nur über den Flur laufen und an die Tür der Freundin hatten klopfen müssen, wenn sie sich treffen wollten. Jetzt sahen sie sich nur noch alle paar Tage einmal, wenn es die Eltern einrichten konnten, sie vorbeizubringen. Es war ein nicht tolerierbarer Zustand. Doch was das Fass nun endgültig zum Überlaufen gebracht hatte, war, dass Preema und Nicole erfahren hatten, dass sie im nächsten Jahr nicht auf dieselbe Schule kommen würden. Verschiedene Flussseiten bedeuteten offenbar auch, dass die Kinder auf unterschiedliche Schulen geschickt werden mussten.

»Ist das wirklich nötig?«, fragte Tahir Anand, den die Blicke der Mädchen förmlich durchlöcherten.

»Schreib jetzt, Baba!«, forderte Preema streng.

»Aber …«

»Kein Aber«, setzte Nicole mit erhobenem Zeigefinger nach.

Tahir Anand seufzte, schob das aktuelle Agenturprojekt von seinem Schreibtisch, legte ein leeres Blatt vor sich und setzte den Kugelschreiber an. Er begann laut mitzusprechen, was er auf das Papier übertrug:


An die Storchzentrale

Abteilung für Beschwerden und Reklamationen

Betreff: Baby-Rückgabe

 

Sehr geehrte Damen und Herren Störche,

 

wir, Nicole Grebe und Preema Anand, möchten uns in aller Form beschweren. Vor fünf Monaten wurde Nicole eine Schwester zugestellt, die wir beide nicht haben wollten. Wir sind ganz außerordentlich verärgert und wollen ›Gnomi‹ keinen Tag länger behalten. Sie ist lästig, laut und man kann überhaupt nichts mit ihr anfangen. Außerdem pupst sie die ganze Zeit. Wir verlangen die sofortige Rücknahme von ›Gnomi‹.

Bevor Sie fragen: Ein Ersatzbaby wollen wir auch nicht, also versuchen Sie besser gar nicht erst uns ein Brüderchen zu schicken.

 

Mit freundlichen Grü…

 

»Mit unfreundlichen!«, fiel ihm Preema scharf ins Wort.

Tahir blieb keine andere Wahl, als Folge zu leisten. Noch keine sechs Jahre alt und schon wusste sie, wie der Kommandoton funktionierte.

 

Mit unfreundlichen Grüßen

Preema und Nicole

 

»Ist das so in Ordnung für euch? Ist alles drin, was ihr sagen wolltet?«, fragte Tahir. Die Mädchen nickten, starrten ihn aber weiterhin derart streng an, dass ihm ein wenig mulmig zumute wurde. »Kann ich sonst noch etwas für euch tun?«

»Briefumschlag, Papa Anand«, verlangte Nicole. Auch dieses Mal gehorchte der Mann und tütete den Brief artig ein. »Briefmarke«, verlangte sie als Nächstes. Aus der Nummer gab es offenbar kein Entrinnen.

»Und nicht den Absender vergessen, Baba. Sonst weiß die Storchzentrale nicht, von wem der Brief kommt«, wiederholte Preema, was Tahir ihr selbst erst vor kurzem beigebracht hatte. Sie hatte ihn ausgefragt, warum er Briefmarken und Adressstempel auf die Briefe setzte. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass er gezwungen werden würde, einen Brief an die Storchzentrale zu schreiben. Er kam nicht umhin, sich zu fragen, wie lange die zwei dieses Manöver bereits geplant hatten.

Nachdem Tahir alle Forderungen erfüllt und einen mustergültigen Brief erstellt hatte, schnappte Nicole ihm diesen aus der Hand, drehte sich um und verließ sein Bürozimmer. Preema tat es ihr gleich und folgte Nicole mit einem Gang hinaus, der nichts als wilde Entschlossenheit demonstrierte.

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Heute

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»… muss man sicher erstmal verdauen«, hörte Preema David sagen, doch sie wusste nicht wovon er sprach. Offenbar hatte er nicht mitbekommen, dass Preema abgelenkt gewesen war, und sie traute sich nicht nachzufragen, was sie in der Zwischenzeit verpasst hatte. Mittlerweile hatten sie sich auch weit vom Rand der Insel entfernt und waren ins Innere vorgedrungen. Sie sah Spuren menschlicher Architektur, nur mit der zeitlichen Einordnung hatte sie Schwierigkeiten. Denn die weißen Säulen und Statuen, die sich zwischen Seen und Teichen erhoben, schienen aus einer viel, viel älteren Epoche zu stammen, als Preema zu kennen glaubte. Halb versunkene, beschädigte Bauwerke, die von der Natur zurückerobert worden waren, verstärkten den Eindruck noch. Sie verteilten sich über ein weites Tal, das durchzogen war von Blumenfeldern und Baumgruppen, Flüssen und Bächen und vereinzelten Felsformationen. Die Szenerie erinnerte Preema an die Überreste einer vergangenen Zivilisation. Nicht ganz fort und doch nicht mehr hier. Eine Ansammlung von Relikten, genau wie Preema jetzt eines war.

»Sie sind im ältesten Teil der Lichtung«, sagte David.

Preema blinzelte und schaute ihn verwirrt an. »Wer?«

»Die anderen Siedler.«

Natürlich meinte er die anderen Überlebenden und nicht irgendeine herbeiphantasierte Zivilisation aus längst vergangenen Tagen. Es fiel Preema schwer, ihre Gedanken beisammenzuhalten. Im einen Moment kam es ihr vor, als wäre sie betrunken, im nächsten war plötzlich wieder alles klar, als wäre nichts weiter gewesen.

»Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren«, gestand sie, nachdem sie schon eine Weile nicht mehr auf Davids Ausführungen geantwortet hatte. »Es fühlt sich an, als hätte ich irgendwelche Drogen genommen. Nicht, dass ich damit viele Erfahrungen hätte. Sagt mir zumindest mein Bauchgefühl.«

»Du brauchst dir keine Sorgen machen, das ist ganz normal. Wir haben das alle durchgemacht. Es ist wohl ein Nebeneffekt des Transfers hierher. Die Verwirrung lässt bald nach.«

»Das hoffe ich. Da ist noch zu viel Leere in meinem Kopf.«

»Gib dir und deinem Körper ein wenig Zeit. Ihr habt eine anstrengende Reise hinter euch.«

David nahm ihre Hand, als wären sie alte Freunde, und gemeinsam folgten sie einem schmalen Pfad zwischen den Hügeln und Wiesen hindurch. Von irgendwoher drangen bald die Stimmen und geschäftigen Klänge anderer Menschen an Preemas Gehör und sie spürte eine Welle der Erleichterung. Sie machte sich eine gedankliche Notiz für später, dass sie David fragen musste, was er über die Details dieser anstrengenden Reise wusste, und hoffte, dass sie es nicht gleich wieder vergessen würde. Sie hätte das gerne sofort geklärt, doch dann trat David mit ihr durch einen gewaltigen steinernen Torbogen, den sie fast nicht als solchen erkannt hätte, weil sich wilder Wein ungehemmt darauf ausgebreitet hatte. Und dahinter fand sie das Leben.

Preema staunte laut. Sie hatte erwartet, dass hier vielleicht ein paar Menschen wartend und ein wenig rastlos herumsitzen würden. Dass sie bestenfalls verunsichert und besorgt waren. Womit sie nicht gerechnet hatte, war das fröhliche Lachen, die vielen offenen und bunten Zelte, in denen Menschen saßen und Tee tranken, Brettspiele spielten oder Handarbeiten machten. Etwas weiter entfernt stand eine ältere Dame abseits der anderen inmitten eines Lavendelfeldes und bemalte eine Leinwand. Das Violett der Blüten erstreckte sich sicher hunderte Meter weit in alle Richtungen und die Blumenköpfe wiegten sich sanft im lauen Wind hin und her. Der charakteristische Duft hüllte Preema ein und für eine Weile stand sie selbst einfach nur da und ließ die Bilder, die er hervorrief, in ihren Verstand sinken. Lavendel. Hängende Gärten voller Lavendel. Hände, zu hell, um ihre eigenen zu sein, die die lockere Erde in den Kästen umgruben und eine neue Jungpflanze in den Topf setzten.

»Du bist zurück!«, rief plötzlich jemand und beendete Preemas jüngsten Erinnerungsschnipsel. Ein Junge von vielleicht sechs Jahren kam auf sie beide zugeeilt, umarmte David kurz und schaute dann erwartungsvoll zu ihm hinauf.

»Hallo, Peter! Hast du mich etwa vermisst?«, fragte David in bester Laune und der Junge nickte.

»Weiß ich, wer du bist?«, wollte der Junge von Preema wissen und Preema runzelte die Stirn.

»Nein, Peter, Preema kennst du noch nicht. Sie ist eine neue Freundin. Ich habe sie im weißen Raum gefunden.«

»So wie mich?«, fragte der Junge und zeigte auf sich selbst.

»Genau wie dich«, bestätigte David mit einem Nicken. »Sei höflich und stell dich ordentlich vor.«

Peter musterte Preema ein wenig schüchtern, dann hielt er ihr die kleine Hand entgegen. »Hallo«, sagte er. »Ich bin Peter.«

»Es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Peter.«

Peters Augen leuchteten voller Neugier und Unternehmungslust, als er sich wieder an Preemas Weggefährten wandte. »Gehst du mit mir Loopings auf dem Fluss machen?«

»Später. Ich muss Preema erst die Siedlung zeigen und sie den anderen vorstellen.«

»Okay«, sagte Peter. »Aber lass mich nicht zu lange warten.«

»Das würde mir nie einfallen.« Peter lief davon und David schaute ihm liebevoll nach.

»Dein Sohn?«, fragte Preema.

»Nein. Ich bin so etwas wie ein großer Bruder für ihn, aber er gehört leider zu niemandem hier. Er ist schon eine ganze Weile hier, kann sich aber an absolut nichts aus seinem Leben erinnern. Nicht einmal an seinen eigenen Namen«, sagte David, während er Preema weiter in die Siedlung hineinführte.

»Peter ist nicht sein richtiger Name?«

»Nein. Er hat ihn sich ausgesucht. Agatha hat ihm die Geschichte von Peter Pan erzählt. Seitdem hält der Junge die Lichtung für das Nimmerland und sich selbst für einen der verlorenen Jungen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie enttäuscht er war, als er feststellen musste, dass es hier weder einen Kapitän Hook noch ein Piratenschiff und schon gar kein Krokodil mit einer tickenden Uhr im Bauch gibt.«

»Ich bin genauso enttäuscht!«, rief Preema. Beide lachten.

»Ganz aufgegeben hat er die Hoffnung noch nicht. Du hast also noch die Chance, dich ihm anzuschließen. Neulich war er überzeugt davon, dass er Hooks Schiff auf dem Fluss gesehen hat.«

Preema lachte. »Wenigstens scheint er glücklich zu sein. Dass er sich an nichts erinnern kann, ist vielleicht ein Segen. So muss er niemanden vermissen.«

»Da hast du vollkommen recht«, stimmte David zu. »Schau, hier sind ein paar deiner neuen Nachbarn.«

Sie erreichten einen kleinen Marktplatz, auf dem sich noch mehr Menschen tummelten und Dinge austauschten. In der Mitte des Platzes stand ein Brunnen. Eine detailverliebte Statue erhob sich aus seinem Zentrum und zeigte eine Gruppe von Menschen, die sich gegenseitig umarmte. Kunstfertige, geschwungene Ornamente schienen zwischen ihren Füßen hervorzusprießen, schmiegten sich hier und da um ihre Knöchel und kletterten manchen Figuren gar bis zu den Schenkeln hinauf. Irgendwo ertönte ein heller Klang und etwas Glänzendes fiel aus dem falschen Himmel. Mit einem leisen Platscher landete es im Wasser des Brunnens. Preema trat näher heran, um nachzusehen, was es war, und entdeckte Münzen am Boden des Brunnens. Neuere, die sie wiedererkannte, und welche, die so alt waren, dass sie aus einem ganz anderen Jahrhundert stammen mochten. Auf jeden Fall waren es zu viele, um sie zählen zu können.

»Ein Wunschbrunnen«, erklärte David. »Manchmal fällt eine neue Münze aus dem Himmel und landet im Becken. Vermutlich ein Scherz der Beobachter.«

»Was meinst du damit, die Münzen fallen aus dem Himmel? Wo kommen sie her?«

»Von irgendwo hinter der Himmelsscheibe«, gab David unbekümmert zurück und hob in einer Geste der Ahnungslosigkeit kurz die Schultern. Dann wandte er sich vom Brunnen ab. »Hergehört, bitte! Wir haben einen Neuzugang! Freunde, das ist Preema. Ich habe sie soeben im weißen Raum gefunden«, rief David über den Platz.

Sämtliche Köpfe drehten sich in Davids und Preemas Richtung. Die Siedler kamen gut gelaunt zusammengelaufen und ein nicht synchroner Chor aufgeregter Stimmen rief: »Willkommen auf der Lichtung!«

»Ich bin Agatha«, sagte die alte Frau, die Preema eben noch beim Malen beobachtet hatte und die ihr nun die Hand reichte. Agathas Haar war schneeweiß und fiel ihr in langen Strähnen über die Schultern, ihre Haut hing faltig an ihr herab, aber die alte Dame störte sich nicht daran. Wie so viele andere auf der Lichtung und auch Preema selbst trug Agatha überhaupt keine Kleidung. Niemand stellte das in Frage. Es gab viele Siedler, die völlig nackt waren, und andere, die gänzlich falsch angezogen wirkten. Eine junge Frau trug ein schimmerndes rotes Abendkleid, das in dieser eher rustikalen Umgebung ein wenig fehl am Platz anmutete. Eine andere spazierte in einem bunten Badeanzug umher und dann traf Preema noch einen Mann, der sich die Krawatte richtete, sein einziges Kleidungsstück, bevor auch er sich Preema vorstellte. Sie würde sich die vielen neuen Namen auf gar keinen Fall merken können, nicht, wenn sich ihr Gehirn weiterhin so unkooperativ verhielt wie bisher.

»Wie lange warst du draußen?«, hörte Preema Agatha fragen.

Sie dachte ernsthaft über diese Frage nach, doch sie hatte keine Ahnung, wie lange sie in der Weiße umhergeirrt war. Es hätte nicht so schwer sein dürfen, eine Antwort zu finden oder wenigstens eine Schätzung machen zu können. »Etwa vierhundertsiebenundzwanzig Haare lang«, antwortete Preema schließlich und lachte über sich selbst. Doch der Scherz ging an Agatha und den anderen Siedlern vorbei.

»Haare?«, fragte die alte Dame verwundert.

Preema winkte halb amüsiert, halb peinlich berührt ab. »Ich kann es nicht genau sagen. Vielleicht war ich bloß eine Stunde oder auch den ganzen Tag da draußen. Ich habe mein Zeitgefühl verloren und aus purer Verzweiflung angefangen, die Haare auf meinen Armen zu zählen.«

Preema schaute sich das Gesicht der alten Frau genauer an. Sie schaute sich auch die Gesichter der anderen Siedler an, in der Hoffnung, dass sie vielleicht jemanden erkannte oder umgekehrt irgendjemand sie erkennen würde. Doch weder das eine noch das andere war der Fall. Bei mehreren Milliarden Menschen, die die Erde bevölkert hatten, war es unwahrscheinlich, dass unter den wenigen Überlebenden der Siedlung jemand war, den Preema kannte. Doch die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Und selbst wenn dieser wahnsinnige Glücksfall zutreffen sollte, vielleicht würden sich die beiden nicht erkennen, weil sie sich beide nicht mehr erinnern konnten. So wie die Dinge derzeit standen, war es gut möglich, dass sie alle einst beste Freunde gewesen waren.

»Wie lange schon seid ihr alle hier?«, fragte Preema.

»Das weiß hier auch niemand«, antwortete Agatha. »Es gibt keine Tag- und Nachtzeiten, nach denen wir uns richten könnten. Aber ich glaube, dass jemand Haare zählt, um die Zeit zu messen, ist neu.« Die alte Frau kicherte und wirkte dadurch für einen Moment wie ein junges Mädchen.

»Heißt das, es wird nie Nacht auf der Lichtung?«, fragte Preema verwundert nach und Agatha nickte. Es gab bereits so viele Dinge, die keinen Sinn ergeben wollten, da hätte sie dieses Detail nicht wundern dürfen. Doch um darüber nachzudenken, blieb auch später noch Zeit. Für den Augenblick war Preema erleichtert und sehr glücklich darüber, dass andere Menschen die Katastrophe überlebt hatten. Sie ließ sich von ihnen in die Mitte nehmen und mit Fragen über sich löchern, auch wenn sie ohne ihre Erinnerungen kaum Antworten für sie hatte. Preema konnte nur hoffen, dass es ihr nicht so wie dem kleinen Peter ergehen würde und ihr Gedächtnis für immer so leer blieb wie seines.

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Heute

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Das Licht auf der Insel war merkwürdig. Preema schaute nachdenklich zum Himmel hinauf, der nicht echt war. Er sah aus wie ein großer Klecks blauer Wasserfarben, der sich auf dem nassen Papier ausgebreitet hatte. Irgendwie schön, aber dennoch seltsam. Die Insel selbst war größer, als sie aus der Ferne auf Preema gewirkt hatte. Sie erstreckte sich so weit in alle Richtungen, dass man gelegentlich vergessen konnte, dass sie wie eine einsame Oase in dem weißen Raum schwebte. Der Ring aus Bergen und Wasserfällen täuschte einem manchmal vor, dass hinter den Gipfeln der Rest der Welt auf einen wartete, doch wenn Preema die höheren Regionen der Insel erklomm oder sich zu weit nach außen bewegt hatte, dann sah sie die gierige Leere, die dort draußen lauerte. Immer, wenn sie hinausblickte, begann sie zu frösteln und wandte sich schnell wieder ab. Sie verstand nicht, was die Lichtung war oder wie sie existieren konnte, doch sie war unglaublich dankbar und erleichtert, dass David sie gefunden und in dieses Refugium gebracht hatte. Es gab hier so viele Dinge, die sie anfassen und sehen, die sie riechen und hören konnte. Allein der Gedanke, sie könnte noch immer da draußen durch die endlose Weiße irren, ließ sie starr vor Angst werden.

Die Lichtung war der Ort, an dem Preema Hoffnung fand. Es gab andere Menschen, Überlebende wie sie. Die Erleichterung darüber ließ sich kaum in Worte fassen. Sie traf Menschen jeden Alters und aus aller Herren Länder. Alte. Junge. Kinder. Wer oder was auch immer diese Menschen hierhergebracht hatte, scherte sich nicht im Geringsten um die körperliche Fitness oder um die ethnische Herkunft der Überlebenden. Es war ein buntes Potpourri der menschlichen Vielfalt. Alle saßen heiter beieinander, redeten und lachten, tanzten und musizierten. Sie diskutierten über alles von Philosophie über Wissenschaft bis hin zu den olfaktorischen Eigenarten verschiedener Käsesorten.

Preema betrachtete die Siedler auf der Lichtung und fragte sich, wie sie so ungezwungen und glücklich sein konnten. Es war gleichermaßen faszinierend wie irritierend, dass hier so viele Menschen zufrieden und heiter saßen, in dem Wissen, dass die Welt untergegangen war. Sie hatte schon Menschen erlebt, die sich wegen eines abgebrochenen Fingernagels mehr echauffiert hatten, als es diese Überlebenden wegen des Weltuntergangs taten.

Oder erinnerten sie sich womöglich gar nicht daran?

Preema hatte schnell begriffen, dass nicht nur sie, David und der kleine Peter an Gedächtnislücken litten. Es betraf alle Siedler. Manche, wie Peter, allerdings mehr als andere, doch alle hatten letztlich mit dem Phänomen zu kämpfen. Preema hatte sich noch nicht entschieden, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Einerseits war es beruhigend, zu wissen, dass sie kein Einzelfall war und ihre Erinnerungen mit hoher Wahrscheinlichkeit und etwas Geduld zurückkehren würden. So war es bei den meisten Siedlern. Andererseits konnte der kollektive Erinnerungsverlust aber nur bedeuten, dass ihrer aller Gedächtnis vorsätzlich ausgelöscht worden war, und es stellte sich die Frage, wer das tun konnte und weshalb man es tun sollte.

Preema schaute einmal mehr zu den Überlebenden, auf ihre glücklichen Gesichter, und sie lauschte dem Lachen, das so frei von allen Sorgen zu sein schien. Sie hatten so viel verloren und doch schienen sie gänzlich unbekümmert. Die Letzten ihrer Art vergessen zu lassen, dass ihre Welt zerstört worden war, war vielleicht ein ganz guter Grund, wenn man verhindern wollte, dass sich die wenigen Überlebenden in ihrer Verzweiflung am Ende noch selbst etwas antaten. Aber wieso erinnerte sich Preema dann noch daran?

»Vielleicht ist bei mir etwas schiefgelaufen«, murmelte sie leise vor sich hin.

»Was hast du gesagt?«, fragte David. Er saß neben ihr auf der Umrandung des Brunnens und versuchte, ein völlig veraltetes Mobiltelefon – ein Smartphone – zu reanimieren, doch der Akku war offenkundig leer, was David nicht davon abhielt, das Gerät zu schütteln und gegen die Handfläche zu schlagen, als würde dies dem Denkvermögen der inaktiven Technik auf die Sprünge helfen.

»David, wie viele Menschen leben auf der Lichtung?«, fragte sie, statt ihren früheren Gedanken zu wiederholen.

»Das ist schwer zu sagen«, antwortete David auf ihre Frage. »Sie leben verteilt auf der ganzen Insel. Manche wandern umher und andere bleiben lieber ganz für sich. Gelegentlich kommen neue dazu, so wie du.«

»Erinnert sich wenigstens einer von ihnen daran, was passiert ist, bevor sie hier aufgewacht sind?«

»Von denen, die ich bisher getroffen habe, nicht. Es liegt am weißen Raum. Er löscht alle Erinnerungen aus.«

Preema nickte. Sie hatte befürchtet, dass er etwas in dieser Richtung antworten würde. »Ich will mir nicht vorstellen, wie viele arme Seelen in diesem Moment noch da draußen umherirren. Was ist, wenn sie nicht so viel Glück haben wie ich und niemand sie findet?«

»Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Sie finden alle früher oder später zu uns. Alle Wege führen ohne Ausnahme zur Lichtung. Es war dir nicht bewusst, aber du bist schon dem richtigen Weg gefolgt, als ich dich fand. Du hättest es auch ohne meine Hilfe hierher geschafft, es hätte nur ein bisschen länger gedauert.«

Preema fiel es schwer, das zu glauben. Nach allem, was sie wusste, hatte sie einfach nur verdammt viel Glück gehabt David zu begegnen.

»Sie wirken so glücklich und unbekümmert.«

»Warum auch nicht? Sieh dir unser Zuhause an. Es ist wunderschön und wir haben alles, was wir uns nur wünschen können. Es gibt keine Krankheiten und keine Sorgen. Alle sind glücklich.«

»Aber vermisst denn niemand sein Zuhause? Ist niemand wenigstens ein bisschen traurig darüber, was geschehen ist?«

Preema senkte den Blick und ließ ihre Finger über die Blätter einer Mohnblüte gleiten. Sie wollte sich gerne jemandem anvertrauen und sich ihren Kummer von der Seele reden, aber auch David schien sich nicht ans Ende der Welt zu erinnern, und hatte sie da das Recht, ihm davon zu erzählen, nur damit sie nicht alleine unter diesem Wissen leiden musste?

»Du hast irgendwas auf dem Herzen. Was ist es?«

Preema seufzte. »Ich kann es dir nicht sagen. Du bist glücklich in deiner Ahnungslosigkeit und ich habe nicht das Recht, dir das wegzunehmen.«

»Damit machst du mich leider bloß noch neugieriger.«

»Du hast recht. Ich hätte dir gar nicht antworten dürfen.« Sie lachte vorsichtig. »Tut mir leid.«

David fluchte, warf sein nutzlos gewordenes Telefon neben seine Füße und nahm Preemas Hand. »Komm schon. Erzähl es mir.«

»Bist du sicher? Was ich dir zu erzählen hätte, ist heftig. Ich meine wirklich richtig, verstörend heftig. Du wirst mir wahrscheinlich nicht einmal glauben, weil es so unvorstellbar ist …« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin ein großer Junge und stehe das durch. Also?«

»Na schön«, sagte sie und atmete tief durch. »Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass wir unsere Heimat verloren haben? Dass wir kein Zuhause mehr haben?«

»Dann würde ich fragen, was genau du damit meinst.«

»Ich spreche vom Weltuntergang. Von der Zerstörung unserer Welt. Wir können nicht zurück, weil da nichts mehr ist.« Sie beobachtete Davids Reaktion, studierte seine Gesichtszüge und ihr Herz schnürte sich zusammen. Er hatte die Augenbrauen fragend hochgezogen und wirkte völlig ahnungslos. »Du wusstest wirklich nicht, was passiert ist, oder?«, sprach Preema aus, was sie in seinen Blicken las.

»Anscheinend nicht«, antwortete er und zum ersten Mal sah Preema eine sichtbare Unruhe in ihm.

»Es tut mir so furchtbar leid. Ich hätte es dir nicht sagen dürfen. Es ist nur … Dieses Wissen lastet so schwer auf mir. Offenbar bin ich die Einzige, die sich daran erinnern kann.«

»Erzähl mir, was passiert ist. Du sagst also, die Welt ist untergegangen? Was heißt das genau?«

»Ich kann dir nicht viele Details nennen. Wie ich dir schon im weißen Raum sagte, meine Erinnerungen sind schwammig. Ich kann dir nur sagen, dass das Ende gekommen war. Daran besteht absolut kein Zweifel. Die Menschen auf dieser Lichtung sind vielleicht die letzten Menschen, die es noch gibt.«

Die Muskeln in Davids Gesicht gerieten in Bewegung, ließen den Mann mal nachdenklich, mal erschrocken und mal amüsiert erscheinen. Vielleicht empfand er all diese Dinge auf einmal. Wie hätte man es ihm verdenken können?

»Bist du dir wirklich sicher?«, fragte er.

Wie gerne hätte sie ihm geantwortet, dass sie sich nicht sicher wäre. Doch diese eine Erinnerung war laut und unüberhörbar: Das ist das Ende. Vielleicht war das das Einzige, was Preema mit absoluter Sicherheit wusste. Sie sagte jedoch nichts und nickte bloß. Er nahm die stille Antwort zur Kenntnis und blickte eine Weile in die Ferne.

»Wann passiert das?«

Preema runzelte die Stirn ob der Formulierung seiner Frage. »Das ist eine merkwürdige Frage.«

»Kannst du sie denn beantworten? Erinnerst du dich an das Jahr, aus dem du kommst?«, fragte David, als hätte Preema ihn nicht schon beim ersten Mal verstanden.

»Ja, natürlich. Es ist 2036«, antwortete sie in einem Ton, der deutlich machte, wie absurd die Frage war. »Der 13. April 2036, um genau zu sein.«

»Hm. Agatha dürfte deiner Zeit damit am nächsten kommen. Sie kam aus dem Dezember 2035 zu uns«, meinte David und nickte in Richtung der alten Dame, die wie immer auf dem Feld zwischen dem hohen Lavendel an einer Staffelei stand und ihren Pinsel tänzerisch über eine der vielen Leinwände führte. »Sie hat nichts erwähnt, was darauf schließen ließe, dass die Welt kurz vor dem Untergang steht. Es muss plötzlich passiert sein.«

»Ja«, sagte Preema knapp. Das Gespräch lief nicht ganz so ab, wie sie es erwartet hatte. »Plötzlich trifft es gut.«

»Für mich ist es erst 2021. Da bleibe ich wohl der Älteste hier. Zum Glück sehe ich nicht so aus«, sagte er mit einem Zwinkern.

»Warte mal, du bist seit 2021 hier?«, fragte sie mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube. »Du bist schon seit fünfzehn Jahren an diesem Ort? Um Himmels Willen, wie alt warst du, als du herkamst?«

»Nein«, lachte ihr neuer Freund. »Ich kann dir nicht sagen, wie lange genau ich schon hier bin, aber fünfzehn Jahre sind es sicher nicht. Ich hätte sonst wohl schon ein paar Falten und graues Haar bekommen. Nein, ich denke, ich bin vor ein paar Tagen angekommen.«

»Aber du sagtest, es sei 2021 für dich. Stammt deine letzte Erinnerung aus dieser Zeit?«

»Nein, Preema. Ich wurde aus dem Jahr 2021 geholt und hergebracht, du aus 2036, wie es scheint. Wir stammen hier alle aus verschiedenen Zeiten, über nunmehr fünfzehn Jahre verteilt. Die meisten kommen aus den Jahren zwischen 2030 und 2036. Bei Peter und ein paar anderen sind wir uns nicht sicher, sie können sich ja an nichts erinnern.«

»Aus verschiedenen Zeiten … David, treibst du Spielchen mit mir, weil ich die Neue bin und vom Weltuntergang rede?« Preema hoffte inständig, dass David scherzte, denn das, was er da andeutete, war noch absurder als ihre eigenen verrückten Ideen. Der Mann schaute sie allerdings vollkommen humorbefreit an.

»Wieso sollte ich Scherze darüber machen?«

»Weil es sich anhört, als würdest du von Zeitreisen reden, und, David, es gibt keine Zeitreisen«, wandte Preema reflexartig ein.

»Ich wage zu widersprechen.« David grinste. »Es ist kompliziert«, sagte er letztlich mit einem Achselzucken.

Preema fasste sich in einem Reflex an die Stirn, als ein neuer Schmerz hinter ihren Augen aufflammte.

»Ist alles in Ordnung?«

»Nein«, gab sie ehrlich zurück. Nichts war mehr in Ordnung.

»Ich glaube, die Theorie ist neu. Aber es ist immerhin eine, die ins Gesamtbild passt. Das bringt uns vielleicht weiter.«

»Theorie?«

»Die vom Weltuntergang.«

Preema runzelte die Stirn. Auch wenn ihr Gehirn derzeit nicht ganz stolperfrei funktionierte, den Weltuntergang hatte sie sich weder eingebildet, noch hatte sie ihn vergessen. Der beste Beweis für den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage war doch letztlich die Lichtung selbst. »Das ist kein Spaß, David. Ich war da, als es passiert ist.«

»Wir hatten schon ein paar Gedanken in diese Richtung, aber es waren nur Ideen, keiner hatte bisher eine echte Erinnerung daran«, sagte er leichthin und schien eine Weile über alles nachzudenken. »Preema, die anderen wissen nichts von dieser Weltuntergangssache. Ich denke, es wäre besser, wenn wir ihnen vorerst nichts davon erzählen. Bis wir einen echten Beweis finden, meine ich. Oder auch ein paar Antworten darauf, was das für unsere Zukunft heißt.«

»Ich hatte nicht vor, es ihnen zu erzählen. Wenn sie sich wirklich nicht daran erinnern, dann nützt ihnen dieses Wissen auch nichts. Sie müssen sich wirklich nicht daran erinnern, dass all ihre Lieben gestorben sind und es unsere Heimat nicht mehr gibt. Es würde sie nur unglücklich machen und ändern können wir es ja doch nicht.«

David nickte zufrieden. »Wir können es ihnen sicher nicht für immer verschweigen, aber vielleicht finden wir mehr Informationen, bevor wir sie einweihen. Vielleicht sind wir ja hierhergebracht worden, um es zu verhindern.«

»Um was zu verhindern?«, fragte sie dümmlich und war sich dessen vollkommen bewusst. Manche Dinge, mussten dennoch laut ausgesprochen werden.

»Den Weltuntergang natürlich. Es muss doch einen Grund haben, weshalb wir aus einem so engen Zeitrahmen kommen. Fünfzehn Jahre sind nicht gerade viel, wenn man die Zeit manipulieren kann. Wären wir willkürlich ausgesucht worden, dann liefen hier doch sicher Menschen aus viel älteren Epochen herum. Es muss etwas Wichtiges in diesen fünfzehn Jahren passieren. Meinst du nicht?«

David meinte es offensichtlich ernst. Zeitreisen. Der Weltuntergang war schon ein deutlich zu starker Tobak für Preema, aber Zeitreisen … Dafür hatte sie keine Kapazitäten mehr übrig. »Ich glaube, ich muss mir kurz die Beine vertreten. Nein, bleib sitzen«, sagte sie, als David sich anschickte, sich ebenfalls vom Rand des Brunnens zu erheben. »Alleine«, murmelte sie und ignorierte seinen enttäuschten Blick. Ihr Kopf schien diesmal nicht aufgrund ihrer anhänglichen Migräne kurz vorm Platzen zu stehen, sondern aufgrund dieser Lawine an völlig surrealen Dingen, die kontinuierlich auf Preema einstürzten. Wo sollte sie bloß anfangen, um das Chaos in ihrem Kopf zu sortieren?

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Heute

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Preema hatte noch immer keine Ahnung, wie lange sie schon auf der Lichtung, diesem postapokalyptischen Utopia, war. Als hätte der weiße Raum auch die Zeit selbst ausgelöscht. Vielleicht waren Minuten Tage oder Tage nur Sekunden. Die Haare auf ihrem Körper waren ihr einziger Anhaltspunkt, doch sie verspürte nicht den Drang, sie erneut zu zählen, nur um eine vage Vorstellung von der Zeit zurückzugewinnen. Sie hatte so sehr gehofft, dass nun, da sie in der Gesellschaft anderer Menschen war und die Welt erneut in tausend bunten Farben erstrahlte, endlich wieder ein Grundmaß an Normalität einkehren würde. Stattdessen wurde es zunehmend sonderbarer.

Gelegentlich fragte sich Preema, ob sie sich vielleicht in einer überzogenen Abenteuershow befand. War das alles hier vielleicht so etwas wie Versteckte Kamera oder Busted! – Extreme Edition? Würde hier irgendwann ein Fernsehteam aus dem Unterholz springen und rufen: »Reingelegt!«?

Preema hatte furchtbar viele Fragen. Sie fühlte sich unvollständig ohne ihre Erinnerungen, nur halb funktionsfähig, und das ärgerte sie. Wieso erinnerte sie sich an das Ende der Welt, aber an sonst nichts? Und wieso durfte sie weiterleben, wenn so viele andere es nicht durften? Vielleicht hatte sie ein Leben geführt, das ebenso leer war wie der weiße Raum, so dass es leicht war, ihre Erinnerungen zu löschen. Es gab vielleicht einfach nicht so viele wichtige Dinge in ihrem Leben, an denen sie festhalten konnte.

Preemas Gedanken verdüsterten sich zunehmend und zogen sie immer weiter in einen tiefen Abgrund. Das brachte sie alles wirklich kein Stück weiter. Jeder neue Erklärungsansatz kam ihr verrückter vor als der vorherige. Aus Gewohnheit strich sie sich über die Arme, als wolle sie die Ärmel eines Pullovers hochschieben. Sie musste herausfinden, was hier los war. Danach bliebe noch genug Zeit, in ihrer persönlichen Depression zu versinken.

Was wusste sie bisher? Die Welt war untergegangen, aber Preema lebte noch, so viel stand fest und das verbuchte sie erstmal als positiv. Es machte sie etwas stutzig, dass sie keinerlei Verletzungen zu haben schien. Nicht einmal einen Kratzer. Die Narben auf deinem Körper erzählen die Geschichten deiner Abenteuer, erklang die fremde Stimme in ihrem Kopf. Es war keine ganz fremde Stimme. Sie kannte den Mann, der diese Worte gesprochen hatte, doch sie erinnerte sich nicht daran, wer er war.

Angesichts der wenigen, aber dafür sehr traumatisierenden Eindrücke in Preemas Kopf und angesichts der Schmerzen, die sie an irgendeinem Punkt in der Vergangenheit empfunden hatte, kam ihr die Makellosigkeit ihres Körpers jedenfalls reichlich merkwürdig vor. Sie suchte sich selbst nach Spuren gewaltsamer Einwirkungen ab, doch ihre Haut war perfekt. Zu perfekt. Nach allem, was die letzten Bilder in ihrem Gedächtnis andeuteten, hätte sie Schnitte, wenn nicht sogar gebrochene Knochen haben müssen. Doch da war nichts. Vielleicht war sie länger bewusstlos gewesen, als sie angenommen hatte. Lange genug, so dass ihre Verletzungen verheilt waren. Sollte sie nicht aber eine alte, wellenförmige Narbe auf dem linken Unterarm haben? Bilder von ihren eigenen kindlichen Beinen auf einem Waveboard kamen ihr in den Sinn, gefolgt von der unsanften Kollision mit einem Drahtzaun. Die Erinnerung an den Schmerz flammte frisch in ihr auf, sie sah das Blut rot aus ihrem Arm herausquellen und stieß einen spitzen Schrei aus. Der Schmerz verebbte jedoch ebenso plötzlich wieder, wie er aufgetaucht war, und mit ihm verschwand auch das Blut, als wäre es nie da gewesen. Stattdessen sah sie die Narbe kurz auf der Haut, doch auch sie verblasste sofort wieder und zurück blieb nur ein glatter, makelloser Arm.

Sie kniff die Augen zusammen, rieb sich mit den Händen das Gesicht und genoss für einen Moment die Dunkelheit, die ihre geschlossenen Lider ihr gewährten. Dieser Ort trieb sie noch in den Wahnsinn. Sie wusste nicht, was real war und was sie sich einbildete. Erst der Weltuntergang, dann der weiße Raum und obendrauf auch noch Zeitreisen. Halluzinationen waren vermutlich das kleinste ihrer Probleme. Sie hatte gehofft, von den Siedlern Antworten zu bekommen, doch sie war verwirrter denn je. Preema stellte inzwischen alles in Frage, was sie zu wissen oder zu sehen glaubte. Die Wunde auf ihrem Arm hatte sich beispielsweise sehr echt angefühlt. Doch war das wirklich eine Erinnerung von ihr oder schlichte Einbildung? Es gab schließlich keine Technologie, die Narben spurlos verschwinden lassen konnte. Nein. Von solchen Erfindungen träumte die Menschheit zwar seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar länger, aber es waren eben nur Träume.

Die Menschheit. Warum machten sie diese Worte nervös? Wollte ihr der eigene zerbrochene Verstand etwas mitteilen, das vielleicht noch unglaublicher war als Zeitreisen?

Das Weltall – Unendliche Weiten: Dies sind die Abenteuer von Preema Anand …

Das war absurd. Nicht allein die Tatsache, dass sie sich auf einmal an völlig banale Dinge wie eine alte Fernsehserie und deren Intro samt Melodie erinnerte, während sich die wirklich wichtigen Informationen am Rande ihrer Wahrnehmung versteckten. Wirklich beunruhigend war es, Raumschiffe als mögliche Erklärung für ihre Situation in Betracht zu ziehen und damit auch außerirdisches Leben. Denn die Menschheit besaß keine solch ausgereifte Raumfahrttechnologie. Es gab Forschungseinrichtungen wie die NASA, primitive Spaceshuttles, die kaum mehr als teure Konservenbüchsen mit Raketenantrieb waren, und die ISS, die in der Umlaufbahn der Erde kreiste. Preema hatte außerdem die vage Idee eines Bauprojektes auf der Mondoberfläche vor Augen, doch diesem Bild traute sie von allen am wenigsten. Mondstationen gab es nicht. Raumschiffe gab es nicht. Solche, die einen endlosen weißen Raum beherbergten oder eine eigene Schwerkraft erzeugen konnten und eine vergleichsweise riesige Insel im Rumpf versteckten, schon gar nicht. Da war sich Preema sicher. Solche Dinge gehörten in Science-Fiction-Bücher und das Fernsehen, aber nicht in die Realität. Sie glaubte nicht an Außerirdische oder andere unbewiesene Existenzen. Sie mochte die Idee, begeisterte sich für Geschichten rund um solche Dinge, aber nicht mehr. Hatte sie nicht stets diese Leute belächelt, die Aluhüte trugen, behaupteten, von Aliens entführt worden zu sein, oder der heilige Sankt Dingensbummens sei ihnen auf ihrem morgendlichen Toastbrot erschienen? Doch Preema war noch hier, unverletzt, und die Welt war es nicht. Musste sie da nicht auch das Unmögliche und Aberwitzige in Betracht ziehen? Wie sonst ließe sich die plötzliche Zerstörung der Welt erklären, die Tatsache, dass Preema trotzdem noch existierte und dass sie in einem Zustand der Schwerelosigkeit aufgewacht war? Wenn sie sich die fehlende Gravitation zu Beginn nun nicht eingebildet hatte und es nicht an ihrer kaputten Wahrnehmung lag? Wenn sie wirklich und wahrhaftig schwerelos gewesen war? Es gab inzwischen ausreichend Beweise dafür, dass die Dinge hier anders liefen, als Preema es gewohnt war. David war kopfüber an der Decke entlangspaziert, als er sie im weißen Raum gefunden hatte. Auch daran ließ sich wenig schönreden.

Die aktuellen Begebenheiten stellten Preemas Unglauben also dezent auf die Probe. Denn das Wenige, das sie über ihren Aufenthaltsort wusste, reichte, um deutlich zu machen, dass ihr Verständnis von der Realität möglicherweise überdacht werden musste. Ihr Verstand aber wehrte sich, so gut er konnte. So sehr, dass Preema erst jetzt bemerkte, dass sie sich gleich an mehrere Dinge aus ihrem Leben vor der Lichtung erinnert hatte. Sie konnte Star Trek zitieren, glaubte aber nicht an Außerirdische und auch nicht an irgendeine Gottheit. All das waren vielleicht nicht die hilfreichsten Informationen über sich selbst, doch immerhin waren es Fortschritte, die ihrem Dasein zarte Konturen verliehen.

Woran hatte sie noch geglaubt? Oder woran nicht?

Preema hielt inne, als sie aus dem Nichts einen Anflug von Panik in sich aufsteigen spürte. Mit jeder neuen Erinnerung kam auch gleich ein nagender Zweifel. Wo war sie eigentlich gewesen, bevor die Welt untergegangen war? Was hatte sie gemacht? War jemand bei ihr gewesen?

Der Kopfschmerz meldete sich zurück, auch das Gefühl von Übelkeit bahnte sich einmal mehr an und Preema presste die Lippen aufeinander, um den sauren Geschmack zurückzudrängen. Wer war sie eigentlich, wenn sie keine wichtigen Erinnerungen mehr an ihr Leben besaß? Wie wollte sie herausfinden, was mit ihr geschah, wenn sie nicht einmal ihre Erfahrungen hatte, die ihr dabei halfen, zu definieren, was Realität im Detail bedeutete?

Die Fragen vermehrten sich viel schneller, als Preema sie verarbeiten konnte. Frisch entfacht kroch ihr die Angst über Arme und Beine, direkt ins Herz. Vergessen waren die Ruhe und die Entschlossenheit, die sie eben noch verspürt hatte.

»Aufhören, aufhören, aufhören!«, befahl sie ihrem verirrten Verstand. Sie musste ihrem Kopf eine andere Beschäftigung geben, bevor er sie mit noch mehr wahnwitzigen Theorien und Ängsten in den Wahnsinn trieb. Sie schaute sich um und entdeckte in der Ferne Agathas Silhouette vor einer ihrer Staffeleien. Vielleicht war etwas Kunst genau das, was Preema jetzt brauchte.

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Heute 

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»Du wirkst bekümmert, mein Mädchen. Was hast du auf dem Herzen?«, fragte Agatha, als Preema nähergekommen war.

Mein Mädchen. Eine seltsame Bezeichnung für eine erwachsene Frau von sechsunddreißig Jahren, trotzdem musste Preema lächeln. Die alte Dame gab ihr, auf eine willkommene Art und Weise, das Gefühl, wieder ein Kind zu sein. Behütet und umsorgt. Hier auf der Lichtung, mit all den Dingen, die um sie herum geschahen, beruhigten sie diese zwei kleinen Wörter. Einen Hauch von Halt und Sicherheit in einer Welt, die Preema zunehmend entglitt.

Agatha war körperlich betrachtet eine der Ältesten auf der Lichtung. Dreiundachtzig Jahre zählte sie bereits, wirkte aber fit und gelenkig wie eine Zwanzigjährige. Manchmal vergaß sie schon einmal das eine oder andere, aber sonst war ihr Verstand messerscharf und ihr Pinselstrich präzise bis ins letzte Detail. Agathas Werke waren so realistisch, dass man sie mit einer Fotografie verwechseln konnte, und Preema bewunderte es, wie die alte Frau aus Töpfen voller Farbe diese schillernden Szenerien und lebensecht wirkenden Portraits erschuf. Sie zauberte ihre Gedanken mit einer unglaublichen Lebendigkeit auf die Leinwände.

»Wer sind all die Menschen und Orte auf deinen Bildern?«

»Freunde, Feinde, Familie. Da drüben, der ernst dreinblickende Terrier, das ist mein Liebling Rudi.«

»Und wer ist die junge Frau, an der du gerade arbeitest?«, fragte Preema mit Blick auf die Balletttänzerin, die im Scheinwerferlicht der Bühne auf einem Fuß balancierte. Die Tänzerin ließ die Pose mühelos wirken, doch Preema ahnte, wie viel Körperbeherrschung dahintersteckte.

»Das bin ich«, antwortete Agatha mit einem Lächeln.

»Du warst Tänzerin?«

»Für eine kurze Zeit. Auf dem Bild war ich siebzehn Jahre alt. Mutter hat mir immer gesagt, ich hätte zu schwache Knöchel für das Ballett und dass ich töricht wäre, an der Tanzerei festzuhalten. Sie hat recht behalten. Zwei Jahre nach dieser Aufführung brach ich mir den Knöchel und mit meiner Karriere war es vorbei«, erzählte Agatha.

»Wie schade, aber dafür bist du eine meisterhafte Künstlerin geworden«, sagte Preema, während sie den Blick über Agathas viele Werke schweifen ließ und jedes einzelne bewunderte. »Es sieht alles so echt aus. Manchmal glaube ich fast, die Objekte in deinen Bildern bewegen sich tatsächlich.«

»Wahrscheinlich tun sie das sogar. Auf der Lichtung kann man sich da nie so ganz sicher sein«, gab Agatha beiläufig zurück.

»Wo hast du gelernt, so zu malen?«

»Nirgends. Das ist die Magie dieses Ortes. Seit ich auf der Lichtung bin, male ich besser als Rembrandt und Vermeer, davor war ich schon zufrieden, wenn man erkennen konnte, ob ich eine Gießkanne oder einen Esel anvisiert hatte.«

»Du nimmst mich auf den Arm«, sagte Preema. Ein solches Können entwickelte man schließlich nicht einfach so über Nacht. Sie war selbst nicht ganz unbegabt, was die Malerei anging, doch das hatte sie über viele Jahre hinweg trainiert und verfeinert und sie war weit davon entfernt, auch nur annähernd so gut zu sein, wie es Agatha war.

»Auf der Lichtung können wir sein, wer wir sein wollen. Alles ist möglich. Ich könnte sogar wieder sie sein, wenn ich es wollte«, sagte Agatha mit einem Fingerzeig auf die Balletttänzerin. »Die Malerei hat mich immer fasziniert, und seit ich hier bin, male ich. Meistens die Bilder, die ich in meinen Erinnerungen sehe.«

»Einfach so? Du kannst doch nicht aus dem Nichts heraus plötzlich zu solch einer begnadeten Malerin geworden sein«, bohrte Preema nach.

»Aber natürlich geht das, mein Mädchen. Schließlich sind wir in einem Traum gefangen und in Träumen ist alles möglich.«

»Wie bitte?«, fragte Preema perplex.

»Nichts hiervon ist real«, bestätigte Agatha ihre Aussage noch einmal achselzuckend.

Mit einer solchen Antwort hatte Preema nicht gerechnet und so blinzelte sie ein paar Mal, während sie mit sich um Worte rang. Irgendwelche Worte, doch nicht eines wollte ihr einfallen. Was deutete Agatha da an? Die alte Dame derweil schaute nachdenklich auf die Leinwand. Ihr Pinsel verharrte in der Luft und die nasse Farbe lief langsam zu einem blau schillernden Tropfen zusammen, der sich an der Spitze formte und auf die Balletttänzerin zu fallen drohte. Preemas Auge zuckte bei der Vorstellung, wie dieser Tropfen Agathas Gemälde ruinieren würde.

»Was möchtest du sein, Preema?«

»Was, ich?«

»Die Malerei ist es nicht, oder?«

»Nein, das heißt, ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was meine Hobbys waren oder wofür ich mich begeistert habe. Alles, was ich mir für den Moment also wünsche, ist, wieder ganz zu sein. Zu wissen, wer ich bin.«

Agatha schaute sie plötzlich eindringlich an, als versuche sie über den Rand einer Brille hinwegzublicken, nur dass Agatha natürlich keine Brille brauchte. Nicht auf der Lichtung. Sie schien Preema dabei bis auf den Grund der Seele zu blicken, so dass sich Preema, die bereits vollkommen nackt war, nun auch zum ersten Mal nackt fühlte und die Arme um den Körper schlang. Agathas Blick war unheimlich. In einem Reflex schüttelte Preema sich, um die Gänsehaut zu vertreiben, und die Bewegung schien den Bann zu brechen, der über Agatha gefallen war.

»Ich frage mich, was du angestellt hast, dass du mit uns hier festsitzt«, gab Agatha schließlich grüblerisch von sich.

»Angestellt?«

»Wie schlimm war es?«

»Wie schlimm war was? Was soll ich denn angestellt haben?«

»Das eben ist die Frage. Du machst einen anständigen Eindruck. Allerdings sind die vermeintlich Anständigen meistens die Schlimmsten, nicht wahr? Auf mich traf das gewiss zu. Ich frage dich also, was du getan hast, dass du bei uns im Limbus gelandet bist.«

Für die Dauer eines Atemzuges musste Preema überlegen, was die alte Dame meinte. Sie hatte diesen Begriff eine Ewigkeit nicht mehr gehört. »Du meinst den Limbus? Die mythologische Vorhölle?«

»Du hast ihn dir sicher anders vorgestellt, nicht wahr? Ich dachte immer, es wäre kalt und neblig, düster, und dass es hier Geister und grotesk geformte Dämonen gibt, die uns verfolgen. Nun, Dämonen gibt es durchaus ein paar, aber meistens ist es sehr friedlich und schön hier. Ob wir einen Ort wie diesen verdienen?«

»Ich habe nichts …«, begann Preema sich zu verteidigen, brach den Satz aber mittendrin ab. Sie konnte gar nicht wissen, ob sie etwas Schlimmes getan hatte oder nicht. Sie wusste nicht, wie viele Erinnerungen ihr fehlten oder welche Geheimnisse sich vor ihr verbargen. So wie die Dinge derzeit standen, war es durchaus möglich, dass Preema eine Kannibalin wie die Frau in Hannibals Erbe war und in ihrem Keller eine Kühltruhe voller saftiger Körperteile versteckt hatte. »Brr«, entfuhr es ihr und sie schüttelte sich angesichts dieser abstoßenden Vorstellung und der Erinnerung an eine Filmreihe, die nun wirklich keinen weiteren Reboot gebraucht hätte.

Die alte Dame seufzte und legte Pinsel und Mischpalette ab. Im letzten Moment, so dass der blaue Tropfen nur um Haaresbreite an der Leinwand vorbeifiel. »Ich sollte gar nicht mit dir darüber sprechen. Dein Freund würde es nicht gutheißen.«

»Mein Freund? Du meinst David?«

»Er ist ein merkwürdiger junger Mann, findest du nicht? Immerzu versucht er, die Neuen von der Wahrheit abzulenken, und erzählt ihnen diesen Unsinn über Zeitreisende. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob er wirklich zu uns gehört oder nicht doch einer von denen ist. Wahrscheinlich spioniert er uns für sie aus.« Sie wurde kurz still und ihre Augen bekamen einen gehetzten Ausdruck. »Sag ihm nicht, worüber wir gesprochen haben, ja, Preema?«

»Von denen? Wen meinst du damit?«, fragte Preema zunehmend ungeduldiger. »Von welcher Wahrheit könnte David mich denn abzulenken versuchen?«

»Du musst mir versprechen, es für dich zu behalten, wenn ich dir mehr erzählen soll. Ich kann nicht riskieren, dass David davon erfährt. Ich traue ihm nicht.«

Preema beschlich ein ganz ungutes Gefühl. »Agatha, ich verspreche dir alles, aber sag mir bitte, was hier los ist.«

»Man wird dir viele Dinge auf der Lichtung erzählen. Aber die Wahrheit ist, wir sind gestorben, mein Mädchen.«

»Was?« Für einen Moment hatte sich Preema ernsthaft Sorgen gemacht, doch wie es schien, hatte sie es am Ende doch bloß mit einer verwirrten alten Dame zu tun. Agatha wirkte plötzlich auch viel älter und gebrechlicher als noch vor einem Moment. »Hab keine Angst, Agatha. Wir werden herausfinden, was hier vor sich geht, und dann wird alles gut.«

Agathas Blick wurde hart. »Behandle mich nicht, als wäre ich ein Kind. Ich bin alt, aber mein Verstand ist klar.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger seitlich an die Stirn.

»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber wir sind doch nicht tot, Agatha. Sieh dich um. Wir stehen hier auf einem wunderschönen Feld und unterhalten uns. Und du malst diese großartigen Bilder, die wir alle sehen und anfassen können.«

»Hast du denn nie The Sixth Sense gesehen, Preema? Die Toten wissen zu Anfang nie, dass sie gestorben sind«, sagte Agatha mit fester Stimme und jagte Preema damit eine Gänsehaut über die Arme. In ihren getrübten Augen sah Preema, dass die alte Frau an das glaubte, was sie sagte. »Es hat auch bei mir eine Weile gedauert, bis ich es verstanden habe. Sicher hatte ich einen Schlaganfall, es wäre nicht der erste, aber dem letzten bin ich offensichtlich nicht entkommen.«

»Aber das hier ist nicht das Fernsehen, Agatha.«

Vielleicht hätte ihr Preema unter anderen Umständen geglaubt, doch sie hatte den Weltuntergang erlebt und wusste wenigstens diese eine Sache besser. »Wenn das hier das Jenseits wäre, dann müssten noch viel mehr Menschen auf der Lichtung sein. Die Insel wäre gar nicht groß genug, um uns alle aufzunehmen.«

»Sie sind ja nicht alle hier. Die Lichtung ist nur eine Zwischenstation für die Unentschlossenen. Für diejenigen, die nicht richtig zu den guten, aber auch nicht so ganz zu den schlechten Menschen gehören. Über unser Schicksal muss erst noch entschieden werden.«

»Ich kann mich kaum daran erinnern, wer ich bin, ganz zu schweigen von Dingen, die ich verbrochen haben könnte.«

»Dein Kopf erinnert sich vielleicht nicht daran, aber dein Herz tut es gewiss. Wir haben alle etwas Schlimmes getan. Deswegen sind wir noch hier.«

»Das heißt, irgendjemand beobachtet und richtet über uns? Wer?«

Agatha schnalzte mit der Zunge. »Das ist eine sehr gute Frage. Sie zeigen sich nicht gerne. Wenn du mich fragst, dann gehört David zu denen, die uns beobachten und uns bewerten. Es gibt sicher noch andere wie ihn, aber die sind besser darin, ihr Geheimnis zu verbergen.«

»Demnach ist David, eine Art verdeckter Ermittler?« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Er will immer nur das Beste für alle.«

Agatha zuckte ungerührt die Schultern, als wüsste auch sie nicht, was genau Davids Motive sein mochten.

Preema ließ ihren Blick über die Weite der paradiesischen Insel schweifen. Über die blühenden Wiesen, die üppigen Baumkronen und die schillernden Wasserfälle in der Ferne. Es war ein übernatürlich schöner Ort, der geradewegs aus einem Traum geboren war. Der einzige lebendige Fleck in einem ansonsten leeren Universum. Ein Ort, der nicht existieren konnte. Aber nur, weil etwas unerklärlich erschien, bedeutete das nicht, dass die Erklärung nicht irgendwo da draußen darauf wartete, gefunden zu werden.

»Du wirkst blass. Geht es dir gut? Es ist nicht so tragisch, tot zu sein«, gab Agatha in tröstlichem Ton von sich. »Es hätte uns doch sehr viel schlechter treffen können.«

»Ich bin mir sicher, ich werde auf dieser Insel den Verstand verlieren. Erst der Weltuntergang, dann Zeitreisen und nun sagst du mir, ich sei gestorben und sitze in der Vorhölle fest – wegen etwas, an das ich mich nicht einmal erinnern kann.«

»Was meinst du mit Weltuntergang?«, fragte Agatha plötzlich alarmiert und Preema schalt sich in Gedanken für ihr loses Mundwerk. Die alte Frau begann viel zu schnell zu atmen und presste sich die Hand an die Brust. »Was ist passiert? Ist … Oh nein. HALKRON war es, nicht wahr?«

»Wer ist Halkron?«, fragte Preema neugierig, doch dann schlug ihre Neugier in Sorge um, denn Agathas Atmung geriet mehr und mehr außer Kontrolle. »Agatha, bitte beruhige dich!«

Und dann wurde Agatha ruhig. Viel zu ruhig. Sie wurde vollkommen reglos und ihr Blick war mit einem Mal leer. Preema hatte zuvor schon Menschen in der Siedlung gesehen, die plötzlich und ohne Vorwarnung aufhörten, mit ihrer Umwelt zu interagieren. Sie fielen von einem Moment auf den anderen in eine Art Trance. David hatte ihr erklärt, dass dies immer dann geschah, wenn jemand eine große Erinnerung wiederfand. Für eine Weile waren sie dann nicht mehr ansprechbar und standen reglos in der Gegend herum. Es war ein gewohnter Anblick auf der Lichtung und auch Preema war es schon widerfahren, ohne dass sie das selbst wahrgenommen hätte. Agathas Starre aber war anders. Etwas daran stimmte nicht. Die alte Frau war nicht bloß in ihrer eigenen Welt versunken, da lag eine Spur von Terror in ihren Gesichtszügen.

»Agatha? Geht es dir gut?«

Anstelle einer Antwort, begann Agatha plötzlich zu krampfen. Sie drückte Preemas Hände mit absurder Kraft zusammen, dann verdrehte sie auf einmal die Augen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war. Agatha zuckte so heftig, dass sich Preema fragte, wie sie eigentlich noch aufrecht stehen konnte.

»Agatha?«, fragte Preema erneut, doch die alte Frau gab ihr keine Antwort. »Hilfe!«, rief Preema laut über die Lichtung. Sie war viel zu weit von den anderen entfernt, als dass sie jemand würde hören können. Preema fasste nach Agathas Arm und in dem Moment geschah es.

Preemas Perspektive änderte sich urplötzlich. Es schien ihr fast, als würde sie in Agathas Körper eingesaugt und durch dessen Augen hinaufblicken. Was Preema dann sah, war ein zum Leben erwachter Alptraum. Gesichtslose und graue Gestalten, die mehr einem durchscheinenden Schatten als einem soliden Körper ähnelten, schauten zu Preema herab. Ihre halbwahren Umrisse ragten über Preema auf, wo die Augen sein sollten, waren nur verschwommene dunkle Flecke zu erkennen. Sie standen um Agatha und Preema herum und bewegten ihre Arme erst hierhin, dann dorthin. Sie waren überall. Preema spürte Agathas Krämpfe, als wären es ihre eigenen, ihr Kopf schien in Flammen zu stehen. Etwas wurde ihr mit Gewalt in die Brust gerammt, und Preema gab ein ersticktes Stöhnen von sich. Sie war gelähmt vor Angst und konnte nicht erkennen, womit die Gestalten hantierten oder was genau sie eigentlich taten. Das grelle Licht im Hintergrund blendete Preema zu sehr, um Details erkennen zu lassen. Klar war nur, die Grauen machten Dinge mit ihr. Was waren das für Wesen? Was taten sie der alten Dame an? Was taten sie Preema an?

Preema konnte sich nicht bewegen. Sie war in Agathas Körper gefangen und wusste doch, dass das nicht möglich war. In einem entfernten Teil ihres Bewusstseins erinnerte sie sich daran, dass sie neben Agatha stand und ihre Hand die alte Frau festhielt. Schließlich machte etwas in ihrem Verstand ›klick‹. Sie begriff nicht, was hier geschah, aber sie musste zurück in ihren eigenen Körper. Er war noch da, sie konnte ihn spüren. Sie musste nur die Kontrolle zurückerlangen. Preema befahl ihren Fingern, sich zu bewegen. Es kam ihr vor, als krieche die Anweisung im Schneckentempo durch ihre Nervenbahnen, bis sie endlich in ihren Fingern ankam. Ein schwaches Signal, aber deutlich genug. Langsam, zögernd gehorchten sie. Preemas Finger zuckten, ehe sie sich von Agathas Haut lösten, einer nach dem anderen, und als Preema ihre Hand schließlich von der alten Frau zurückzog, wurde sie mit einem heftigen Ruck in ihren eigenen Körper zurückgeworfen.

Für einen Moment war alles dunkel. Sie hatte offenbar die Augen geschlossen und konnte sie nicht mehr öffnen. Auch ihre Muskeln gehorchten ihr nicht mehr. Sie flehte ihren Verstand an, sich wieder mit ihrem Körper zu verbinden, doch alles fühlte sich irgendwie falsch an und ihr Kopf schrie vor Schmerz. Urplötzlich flogen ihre Augen auf und Preema war zurück auf der Lichtung. Sie stand noch immer dicht neben Agatha und sah die alte Dame vor sich stehen. Sie war wieder sie selbst und die Grauen waren fort. Trotzdem stolperte Preema ein paar Schritte zurück. Das Entsetzen jagte ihren Puls in die Höhe. Wie waren die Kreaturen so schnell verschwunden? Und wohin? Preema blickte sich angsterfüllt um, doch sie sah die grauen Gestalten nirgends.

Agatha zitterte inzwischen nicht mehr. Sie war starr wie eine Säule und genauso kalkbleich geworden. Einen Menschen derart reglos zu sehen, war ein unheimlicher, geradezu widernatürlicher Anblick, der Preema eine Eiseskälte über den Rücken jagte.

»Agatha?« Ihre Frage kam nur gebrochen heraus, und bevor sie auf Agatha zugehen konnte, begann der Körper der alten Frau plötzlich auszutrocknen. Er bekam lange Risse, wie ausgedörrte Erde, die in Windeseile ihre Haut überzogen und staubige Wölkchen aufwarfen. Preema hob erschrocken die Hand vor die Augen, als ein grelles Licht auf Agatha fiel und Preema blendete. Sie sah hinauf. Der Himmel hatte sich geöffnet und formte ein rundes Loch, mit einer gleißenden Korona. Die Risse auf Agathas Haut wurden tiefer und tiefer und plötzlich rieselte Sand aus ihren Augen, von ihren Wangen, und die langen, weißen Locken zerbröselten in feine Körner. Eben stand Agatha noch da und im nächsten Augenblick zerfiel sie in eine Schar unzähliger winziger Teilchen. Glänzender Staub, von dem jedes Körnchen leuchtete wie ein winziger Stern. Die Teilchen fielen nicht zu Boden, sie stiegen hinauf, leuchtend und funkelnd, dem blau getünchten Himmel entgegen. Hinauf, in das Licht der Öffnung. Und als der letzte kleine Stern darin verschwunden war, schloss sich diese Luke im Himmel und das Licht erlosch. Von jetzt auf gleich gab es keine Spur mehr von Agatha oder dem Loch im Himmel. Nicht ein einziges kleines Staubkorn von ihr war zurückgeblieben.

»Agatha?«, wimmerte Preema. Sie hörte die Hysterie in ihrer Stimme. Jemand berührte Preema am Arm. Sie schrie gellend laut auf und schlug wild um sich. Kamen die Grauen jetzt auch zu ihr? Würde sich Preema auflösen und von dem Licht eingesaugt werden, wie es der armen Agatha eben widerfahren war? »Nein! Nein! Ich will nicht! Lasst mich in Ruhe!«

»Wow, schon gut! Ich bin es nur!«, rief David und wich ein wenig zurück, um Preema den Raum zu geben, den sie offenbar brauchte. »Ich habe dich schreien gehört. Was ist denn passiert?«

»Wer?« Preemas Gedanken überschlugen sich und es dauerte einen Moment, bis sie ihn wirklich erkannte und sich daran erinnerte, wer er war. »Bei allen Heiligen! Du hast mich zu Tode erschreckt, David. Die Grauen … Agatha! Sie haben … Wir müssen ihr helfen, David! Die haben sie … sie haben … i-ich weiß nicht, was sie getan haben, aber Agatha …« Preema stand da, plapperte und stotterte, völlig überfordert von dem, was sie gerade erlebt hatte.

»Ganz ruhig«, sagte David, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert.

»Wie soll ich ruhig bleiben?«, fragte Preema, noch immer zittrig. »Da hat sich gerade ein Mensch vor meinen Augen einfach so in seine Atome aufgelöst und wurde in den Himmel eingesaugt!«

»Ich verstehe. Das muss ein Schock für dich gewesen sein.« Manchmal, so wie jetzt, wirkte David wie ein verlegener und hoffnungslos naiver Teenager und nicht wie ein junger, aber dennoch erwachsener Mann.

»Ein Schock für mich? David, hast du mir zugehört? Agatha hat sich aufgelöst! Etwas hat sie geholt, da waren diese Grauen und dann …« Preema war aufgebracht. Warum erschreckte ihn das nicht? Glaubte er ihr nicht oder … »Du weißt schon, was mit ihr passiert ist, nicht wahr?«

»Es tut mir leid, dass du das mitansehen musstest.«

Er war viel zu gelassen und eindeutig nicht überrascht. Ein Hauch von Panik ergriff Preema, als sie an das dachte, was Agatha eben noch über David gesagt hatte. »Gehörst du zu ihnen?«, kam es Preema nur flüsternd über die Lippen.

»Preema, wieso siehst du mich auf einmal so entsetzt an? Zu wem soll ich gehören?«

Preema hatte das Gefühl jemand zöge ihr den Boden unter den Füßen weg. »Die Grauen. Du wusstest von den grauen Gestalten und hast mich nicht gewarnt. Gehörst du zu ihnen? Spionierst du für sie?«

»Nein!«, rief er verwirrt. »Himmel, Preema, was hat Agatha dir denn erzählt? Ich habe dir nichts bewusst verschwiegen, es gab bloß noch keine gute Gelegenheit, mit dir darüber zu sprechen. Nach unserer letzten Unterhaltung wirktest du schon so durcheinander, dass ich dich nicht mit noch mehr Informationen erschlagen wollte. Und dann habe ich es irgendwie vergessen.«

»Vergessen?« Preema lachte, ein Akt der Verzweiflung. Wie konnte man ein derart wichtiges Detail zu erwähnen vergessen? »Wo ist sie jetzt? Wo haben die sie hingebracht?«

Der junge Mann atmete schwer aus und mied Preemas Blick. »Agatha ist fort. Sie wird nicht wiederkommen.«

»Nein, nein, nein«, wehrte Preema stur ab. »Sie muss wiederkommen. Was haben diese Kreaturen mit ihr gemacht?«

»Nichts. Sie …«

»Sag doch nicht ›nichts‹!«, schimpfte Preema. »Was da mit Agatha passiert ist, war eindeutig kein nichts. Da war ein … ein … ein Transportstrahl oder etwas in der Art. Der muss irgendwo hinführen.«

»Was geht denn hier vor sich? Was soll der Tumult?« Einer der Siedler stand auf einmal da. Ein Mann namens Jonas, wenn sich Preema recht erinnerte. Ihre aufgeregten Worte hatten nun auch ihn und weitere Siedler angelockt und alle schauten Preema mit verwunderten Blicken an, als hätte sie den Verstand verloren. Vielleicht war das ja auch der Fall. Falls nicht, konnte nicht mehr viel fehlen, bis es so weit war.

»Wir haben Agatha verloren«, sagte David an Jonas gewandt und ließ dabei die Schultern hängen.

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Heute 

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»Agatha. Testgruppe Delta. Reihe … Reihe … sieben …«, murmelte Jonas grüblerisch und kaum hörbar vor sich hin. Leise, aber nicht zu leise für Preemas Gehör.

»Was hast du gesagt?«, horchte sie einmal mehr auf. Testgruppe? Das klang nun wirklich alles andere als beruhigend. »Es reicht! Irgendjemand klärt mich jetzt darüber auf, was hier los ist! Ihr wisst doch mehr, als ihr mir sagt.«

»Ich muss etwas überprüfen«, verkündete Jonas, ohne auf Preema einzugehen, wandte sich ab und ließ sie mit all ihren Fragen einfach stehen. Er entfernte sich mit eiligen Schritten und blickte immer wieder verstohlen zur Seite.

»Hey!«, rief ihm Preema nach, doch der Mann schenkte ihr keine Beachtung und beschleunigte seinen Gang sogar noch etwas.

»Schon gut, lass ihn gehen«, meinte David. »Setzen wir uns erstmal.«

»Ich will mich nicht setzen!«, blaffte sie ihn an. »Ich will wissen, was mit Agatha passiert ist, verdammt nochmal.« Preemas Nerven lagen blank und waren zu angespannt für langes Herumdrucksen.

David fuhr sich unbehaglich durchs blonde Haar. »Ich werde dir alles sagen, was ich weiß.«

»Fang damit an, mir zu erklären, wer oder was diese grauen Gestalten sind«, forderte Preema, während sie unruhig auf und ab lief und an den Fingernägeln kaute. Eine Angewohnheit, die sie schon vor Jahren abgelegt hatte, wie ihr jetzt wieder bewusstwurde, doch in einer derart verstörenden Situation wie dieser ließ sich der Drang nicht länger zurückhalten.

»Wir nennen sie die Beobachter. Sie sind Forscher, Wissenschaftler. Meistens bemerken wir sie gar nicht. Sie werden nur selten sichtbar und manche von uns sehen sie nie. Ich selbst habe sie bisher nur einmal gesehen, kurz nach meiner Ankunft auf der Lichtung. Danach sind sie mir nie wieder erschienen, scheinbar habe ich nicht das, was sie suchen. Aber die anderen Siedler berichten gelegentlich von Begegnungen mit den Beobachtern.«

»Sie werden nur selten sichtbar«, griff Preema diese eine Information auf. Sie schaute David mit einem Ausdruck an, der nicht klar erkennen ließ, ob sie Angst hatte oder wütend war. So oder so schüchterte ihn ihr Blick merklich ein.

»Sie sind ungefährlich, wirklich.«

»Agatha würde hier sicher widersprechen, wenn sie nicht aufgesaugt worden wäre«, gab Preema verbittert zurück.

»Für gewöhnlich stehen sie nur da und machen Notizen.« David wollte sie beruhigen, doch wie, um Himmels Willen, konnte er das alles so gelassen hinnehmen?

»Wer sind sie? Was sind sie?«

»Kannst du es dir nicht denken?«

»David, ich habe gerade gesehen, wie sich ein Mensch vor meinen Augen aufgelöst hat und von einem seltsamen Licht eingesaugt wurde. Dir ist es vielleicht entgangen, aber mein Interesse an Ratespielen ist gerade extrem winzig.« Sie untermauerte die Aussage mit einer Geste ihrer Finger, die kaum genug Platz ließ, um ein einzelnes Pfefferkörnchen aufnehmen zu können.

David rieb sich unzufrieden das glatt rasierte Kinn. »Außerirdische«, sagte er schließlich und sah, wie Preema mehrmals zögernd blinzelte.

»Ich habe mich sicher verhört«, bot Preema an und hob in einer abwehrenden Geste die Hand. Doch David schüttelte den Kopf.

»Das ist die Wahrheit, Preema. Sie sind so real wie du und ich.«

Preema massierte sich die Schläfen. Sie konnte nicht einmal sagen, dass sie von Davids Einwurf überrascht gewesen wäre. Zu gerne hätte sie darüber gelacht, dass er ihr all die Merkwürdigkeiten mit einer Entführung durch Außerirdische erklärte, doch auf eine völlig unglaubliche Weise ergab alles einen Sinn. Irgendwo tief drin hatte sie diese Vermutung selbst schon aufgestellt, wollte es jedoch nicht wahrhaben.

»Außerirdische, die uns beobachten und Notizen machen«, wiederholte Preema, um sicherzugehen, dass sie nichts falsch verstanden hatte. David nickte. »Und was kommt danach? Wenn sie fertig damit sind, ihre Notizen zu machen, schneiden sie uns dann auf? Holen sie uns von der Lichtung weg, wie sie es mit Agatha getan haben?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739488134
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Hopepunk Kurd Laßwitz Preis Fantasy Schicksal Futuristisch Liebe Weltuntergang Kismet LGBT Liebesroman Science Fiction

Autor

  • Sameena Jehanzeb (Autor:in)

Sameena Jehanzeb wurde 1981 in Bonn geboren. Bei Tag ist sie Grafikdesignerin, Illustratorin und Scherenschnittkünstlerin, eine nimmermüde Sarkasmusschleuder und Katzenbändigerin. Bei Nacht wird sie zur Geschichtenweberin und verfasst Abenteuer in den Bereichen Fantasy und Science-Fiction. Sowohl beim Schreiben als auch beim künstlerisch-handwerklichen Arbeiten setzt sie sich am liebsten mit phantastischen Themen, Sagen und Märchen auseinander oder begibt sich auf einen Ausflug in die Zukunft.
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Titel: Was Preema nicht weiß