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BRÏN

von Sameena Jehanzeb (Autor:in)
492 Seiten

Zusammenfassung

MAGISCH. WITZIG. MÖRDERISCH. »Ein Tag fängt nicht gut an, wenn einem die Katze in den Brunnen kotzt.« Unbemerkt von ihren Bewohnern ist die Erde über magische Adern mit dem fernen Planeten Brïn verbunden. Als Juno eines Morgens in eine Pfütze stolpert, betritt sie unwissentlich ein Portal, das sie ans andere Ende des Universums katapultiert. Ausgerechnet zu einer Zeit, da die Magie aus den Fugen gerät, ein bestialischer Mörder durch die Gassen streift und albtraumhafte Kreaturen das Fortbestehen der Welt bedrohen, ist Juno plötzlich auf Brïn gestrandet. Damit nicht genug: Die berüchtigte Weltenwächterin Shi Kamika scheint es auf Juno abgesehen zu haben. Ist die Wächterin Freund oder Feind? Mit magischen Pfeilen im Köcher und einem Hauch von Schabernack in den Mundwinkeln schickt sich Shi Kamika an, Junos Leben noch gründlicher auf den Kopf zu stellen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



Sameena Jehanzeb

BRÏN



Besuchen Sie die Autorin im Internet:
www.sameena-jehanzeb.de



Ebenfalls erschienen:

Was Preema nicht weiß

Winterhof

Runa. Eine kurze Geschichte vom Winterhof


Impressum:


BRÏN

1. Auflage

Überarbeitete Neuausgabe 2020

Erstveröffentlichung im August 2017

© Sameena Jehanzeb
Eifelstr. 4 | 53119 Bonn
mail@sameena-jehanzeb.de

Gesamtgestaltung, Illustration: saje design, www.saje-design.de
Lektorat, Korrektorat: Maike Claußnitzer


Alle Rechte vorbehalten.


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.



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Dieser Roman enthält Themen, die bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen können. Eine Auflistung dieser Themen kann über den aufgeführten QR-Code oder durch Direkteingabe im Browser abgerufen werden:


www.sameena-jehanzeb.de/inhaltswarnungen

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Kinobes Leitfaden

für Betonungskünstler


~ Edition: Terra ~



Als Person, die kurz davor ist, eine Reise quer durch Raum und Zeit zu unternehmen, wirst du in dem folgenden Abenteuer auf verschiedene Namen und Titel treffen, die dir zunächst fremd erscheinen mögen. Womöglich wirst du sogar befürchten, mit einem unansehnlichen Knoten in der Zunge zu enden, doch dieser Furcht kann vorgebeugt werden.

Obwohl niemand von dir eine – im Sinne der Verfasserin – korrekte Aussprache verlangt, bist du vielleicht pedantisch genug, einen Namen so aussprechen zu wollen, wie er von der Autorin gedacht war. Hierbei möchte dir ›Kinobes Leitfaden für Betonungskünstler‹ behilflich sein.

Brïn ist eine multikulturelle Welt, die Menschen aus allen Nationen der Erde und aus verschiedenen irdischen Epochen beherbergt. Sie hat ihre eigenen Gepflogenheiten entwickelt, wobei vereinzelt Elemente terranischer Traditionen mit einfließen. Die meisten Namen und Bezeichnungen in diesem Roman orientieren sich an der Aussprache eines bis ins kleinste Detail durchbürokratisierten Landes mit Namen Deutschland. Das heißt im Regelfall: Ein R ist deutlich zu hören und wird weder gerollt noch verschluckt oder gar zur Adoption freigegeben.

Abweichungen von der deutschsprachigen Phonetik finden sich in Namen, die aus anderen Ländern Terras stammen.


Zu den Namen und Bezeichnungen in BRÏN:


Akko = A | ko

Bramas = Bra | mas

Brïn = Briin

Brïnai = Brii-na-i (singular)

Brïnae = Brii-na-e (plural)

Ein Brïnai, zwei Brïnae

Djakal = Dʒa | kall

Das Dj von Djakal wird zu einem englischen J wie in Jack - Jack Sparrow, Jack Reacher, Jack-o’-lantern … Du verstehst das Konzept.

Edana = E | daa | na (singular)

Edanae = E | daa | na | e (plural)

Eine Edana, zwei Edanae.

Erigen = E | rii | gen

Eydwall = Eid | wall

Wie der Schutzwall

Jack = Dʒäk

Du siehst richtig. Es gibt tatsächlich einen Jack in diesem Roman.

Jeanne = ʒan

Jeanne stammt aus Frankreich, entsprechend weich spricht sich das J in ihrem Namen. Etwa wie in Bonjour, Journal, etc.

Juno = Dʒuu | no

Das J spricht sich wieder wie das englische J in Jack.

Kamika = Ka | mii | ka

Kassia = Kass | ja

Lorden = Lor | den

Lyre = Lü | re

Midori = Mii | do | rii

Die erste Edana Brïns stammte von dem Inselreich Japan. Japanische Silben sind der Aussprache deutscher Silben überraschend ähnlich, haben aber meist die Betonung auf dem i eines Wortes. (Jetzt weißt du auch, weshalb das i in Brïn ein langes ist.)

Shi = Shii

Vgl.: Shiitake-Pilz

Eine ebenfalls aus dem Japanischen stammende Silbe. Abgeleitet von dem Wort Senshi (= Krieger).

Skra = Skra (singular)

Skrae = Skrä (plural)

Ein Skra, zwei Skrae.

Zolana = So | laa | na

Vgl.: Sonntag


Und nun genug der Erklärungen. Die Verfasserin wünscht einen angenehmen Aufenthalt auf Brïn.

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Prolog


Jeanne


Terra im Mai 1431 n. Chr.

Rouen, Normandie



Es war Maries fünfzehnter Geburtstag. Damit war sie eine richtige Frau, und man sah es ihr bereits an. Ihre Brüste hatten in den letzten zwei Jahren begonnen, sich zu verführerischen, hellen Äpfeln zu formen, und ihr Rumpf zeigte eine geschmeidige Rundung, die in lange, schlanke Beine überging. Obwohl sie aus einer Bauernfamilie stammte, wenn auch aus recht wohlhabender, war Maries Haar immer gepflegt und glänzte wie Mondlicht, das auf die seichten Wellen eines Sees traf. Es fiel ihr wie ein rotbrauner Wasserfall bis hinab auf den Ansatz ihres wohlgeformten Pos, und wenn Marie gedankenverloren eine Strähne durch die Finger zwirbelte, dann war das ein hypnotischer Anblick, der einen alles andere stehen und liegen ließ. Ihre dunklen Lippen schoben sich in solchen Momenten zu einem angedeuteten Schmollmund vor, den sie gelegentlich mit der Zungenspitze anfeuchtete und damit auch noch zum Glänzen brachte. Sie war eine wahrlich süße Erscheinung.

Marie duftete außerdem immer nach Wildrosen. Ihre Mutter züchtete sie im Garten, und man hätte den Verdacht hegen können, dass sich das Mädchen die blasse, seidige Haut mit den Blütenblättern abrieb. Heute trug sie ein Kleid in der Farbe lieblicher Vergissmeinnicht. Das Blau harmonierte perfekt mit Maries wasserblauen Augen und ließ ihr ohnehin immer strahlendes Lachen noch schöner erscheinen. Ihre Stimme klang glockenhell. Eine Melodie wie der Gesang von Engeln, die im Herzen ihrer Bewunderer eine ganz besondere Saite erklingen ließ. Bewunderer hatte sie viele.

Jeanne sah an sich selbst herab. Sie war erst vor Kurzem dreizehn Jahre alt geworden, und ihr Körper ähnelte noch mehr dem eines Kindes als dem einer Frau. Ihre Brust war flach, ihre Taille schmal und ihre Beine erweckten den Eindruck von zwei staksigen Stöcken mit knubbeligen Knien. Ihre strohblonden Haare waren glatt, aber es schien unmöglich, sie auf elegante Art zu flechten. Stattdessen fielen ihr immerzu unzähmbare Strähnen ins Gesicht. Außerdem war sie viel zu groß für ein Mädchen. Schon jetzt überragte sie ihre ältere Freundin um wenigstens zwei Finger breit und es mangelte Jeanne in jeder Weise an der Anmut Maries. Gleichzeitig fühlte sich Jeanne aber schon sehr erwachsen, und sie empfand Dinge, die ihr sehr erwachsen vorkamen. Deswegen musste sie heute mit Marie sprechen, bevor es dafür zu spät war. Jeannes Finger zitterten, obwohl ihre Furcht unbegründet war. Schließlich vertraute sie Marie so sehr wie niemandem sonst auf der Welt.

Als Jeanne Marie am Brunnen sitzen sah, eingehüllt in das Licht des Vollmondes, lief sie zu ihrer Freundin und ließ sich auf den Brunnenrand neben sie fallen. Marie zog die Finger aus dem kühlen Wasser, sah zu ihrer Besucherin auf und lächelte fröhlich.

»Jeanne! Da bist du ja. Wo hast du dich so lange versteckt?«

»Hier und da«, grinste das jüngere Mädchen heiter. »Ich habe dich beobachtet und aufgepasst, dass dich niemand wegstiehlt!«

Marie lachte und warf den Kopf zurück. »Ach, Jeanne, du bist so süß.«

»Wer war das, mit dem du eben getanzt hast?«, fragte Jeanne betont beiläufig. In Wahrheit war sie natürlich sehr neugierig.

»Irgendwer«, gab Marie desinteressiert zurück.

»Das sah nicht aus wie irgendwer. Er hat dich geküsst.«

»Dafür bist du noch zu jung, Jeanne.«

Jeanne gab ein leises, undamenhaftes Grunzen von sich. »Ich bin kein Kind mehr, Marie.«

Wieder ihr fröhliches Lachen. »Aber natürlich bist du das.«

Jeanne griff nach Maries Hand und drückte sie ganz fest. »Ich bin noch nicht sehr hübsch, das weiß ich, Marie. Aber in ein paar Jahren werde ich es sein. Für dich.«

»Für mich? Jeanne! Was redest du denn für einen Unsinn?« Marie kicherte und strich dem Mädchen mit der freien Hand über das ewig zerzauste Haar.

»Wir gehören doch zusammen, Marie. Oder nicht?«

Marie nickte. »Freundinnen fürs ganze Leben.«

»Fürs ganze Leben, ja genau.« Jeannes Finger strichen zart über Maries Wange, und sie spürte das nervöse Klopfen in der Brust. »Das ganze Leben«, sagte sie noch einmal. Der Moment war gekommen. Jeanne beugte sich vor, nahm Maries Gesicht zärtlich in die Hände und küsste die Ältere rasch auf die Lippen, bevor sie der Mut verließ. Die Schmetterlinge flatterten wild in ihrem Bauch und das Blut rauschte in ihren Ohren.

Maries Reaktion kam so prompt und hart wie der Aufprall, der damit einherging. Der Stoß gegen die Brust verschlug Jeanne beinahe den Atem. Sie rutschte vom Brunnenrand und landete unsanft auf dem Boden. Verwirrt setzte sie sich auf und schaute mit geweiteten Augen zu Marie, die aufgesprungen war und sich mit dem Handrücken die Lippen rieb. Ihr Gesicht, sonst das perfekte Antlitz einer Madonnenstatue, war zu einer Grimasse verzogen, und Jeannes Welt zerbrach, als sie darin nichts als Abscheu erkannte. »Marie«, flüsterte sie, kam flink auf die Füße und reckte die Hände nach ihrer Freundin.

Doch Marie wich mit einem Quieken in der Stimme zurück. »Bleib weg!«, rief sie. »Was denkst du denn?«

»Aber wir lieben uns doch, Marie.«

»Lieber Gott!«, Marie schlug ein Kreuz über der Brust. »Wofür hältst du mich? Ich bin doch nicht … ich bin doch keine …« Sie konnte es nicht einmal aussprechen, so sehr entsetzte sie der Gedanke.

»Bitte sieh mich doch nicht so an, Marie«, flüsterte Jeanne. Sie kämpfte mit den Tränen. Ihr schlaksiger Körper zitterte wie Espenlaub.

»Wie sonst sollte ich dich ansehen? Du hast versucht, mich zu küssen!« Marie spuckte auf den Boden und achtete nicht darauf, wie sehr Jeanne diese Geste schmerzte und zusammenzucken ließ. »Wenn du mir noch einmal zu nahekommst, erzähle ich allen, was du getan hast, und dann sperren sie dich in einem Kloster weg. Wenn du Glück hast!«

»Marie!«

»Das ist so abstoßend. Ich will dich nie mehr wiedersehen!«, rief Marie und rannte zurück zu der hell erleuchteten Feststube.

»Marie!«

»Verschwinde!«

Jeannes Lippen zitterten, und ihrer Kehle entfuhr ein Wimmern, das an einen getretenen Hundewelpen erinnerte. Das Mädchen sank auf den Boden und schlang die Arme um die drahtigen Beine. Das hatte sie sich alles ganz anders vorgestellt. Sie hätte nie erwartet, dass Marie so gemein zu ihr sein würde und ihre Gefühle unerwidert blieben.

Schluchzend verbarg sie das Gesicht zwischen den Knien und spürte den kühlen Stein des Brunnens in ihrem Rücken. Eine kantige Spitze bohrte sich zwischen ihre Rippen, und sie rutschte auf dem Boden herum, um ihre Position zu verändern. Doch der Schmerz breitete sich eher noch weiter aus, anstatt nachzulassen. Ein brennendes Stechen durchdrang ihre ganze Seite und sie spuckte Blut.

»Au«, jammerte sie kaum hörbar, »au.«



Die Gegenwart brach unbarmherzig in Form dreckiger Lederstiefel, die ihr in die Rippen gerammt wurden, über Jeanne herein. »Aufwachen, Ketzerin! Genug ausgeruht.«

Jeanne rollte sich herum, um ihre bereits zur Genüge lädierte Körperhälfte vor weiteren Tritten zu schützen. Offenbar hatte die Erinnerung an Maries Abweisung Jeanne noch verwundbarer gemacht. Die körperlichen Schmerzen waren auf jeden Fall schwerer zu ertragen als vor dem Traum. Wie lange war sie schon in diesem Loch? Tage? Wochen? Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie ihr Heimatdorf verlassen hatte und mit den Soldaten in den Krieg gezogen war. Die gefeierte Heldin, die Jungfrau mit den Visionen. Sie hätte wissen müssen, dass es nicht ewig gut gehen konnte. Sie hätte wissen müssen, dass ihre eigenen Leute sie fallen lassen und dann noch einmal zutreten würden. So wie es Marie vor all den Jahren mit ihr gemacht hatte. Man durfte eben niemandem vertrauen.

»Nur zu, Bastard«, röchelte Jeanne und wischte sich das Blut aus den Mundwinkeln, »tritt noch einmal zu! Ich glaube, es sind noch ein paar heile Rippen übrig!« Sie lachte mit unverhohlener Verachtung.

Der Wachmann packte sie an den Haaren und stieß sie quer durch die Zelle. Sie prallte gegen die Wand und fiel wie ein nasser Mehlsack zu Boden. Jeanne keuchte und versuchte, auf alle viere zu kommen. Der große Kerl über ihr trat ihr noch einmal wuchtig in die Seite, und sie hätte beinahe gelacht, als sie spürte, wie die nächste Rippe brach. Doch statt eines Lachens hörte sie sich schreien. Jeannes Kleider hingen bereits in Fetzen an ihr herunter. Der Mann riss ihr nun auch den letzten Rest vom Leib. Trotz ihrer Schmerzen lugte sie zwischen den verfilzten Haaren hervor und warf dem massigen Kerl einen hasserfüllten Blick zu. Er fummelte an seiner Hose herum und versuchte sich freizumachen. Dazu also war er hergekommen. Wie einfallslos.

Nicht mit mir, dachte Jeanne. Sie spuckte Blut und sammelte jedes Fünkchen Kraft zusammen, das noch in ihr stecken mochte. Sie würde eher sterbend untergehen als geschändet von einem verlausten Schwein ohne Ehre. Während er sich mit seiner deutlich sichtbaren Erregung zu ihr hinabbeugte, schloss Jeanne eine Hand um den Dreck des Zellenbodens und atmete ein letztes Mal so tief ein, wie ihre Lungen es erlaubten. Sie ignorierte den stechenden Schmerz, der damit einherging. Als die rauen Hände des Wärters ihren Schenkel berührten, entfesselte sie ihre ganze Wut. Sie warf sich herum und schleuderte ihm den Dreck genau in die Augen. Er fluchte und zog sich ein Stück zurück, um sich das Gemisch aus Dung, Kotze und was immer sich sonst noch in diesem Loch gesammelt hatte, aus dem Gesicht zu klauben. Sie wartete nicht, bis er sich sortiert hatte. Stöhnend stemmte sie sich auf, suchte Halt an der feuchten Kerkerwand, biss die Zähne zusammen und trat mit aller Kraft zu. Die Bewegung schickte ein Feuerwerk von Stichen durch ihren zerschundenen Körper, doch sie ignorierte es. Ihr Tod war unvermeidlich, es gab keinen Grund, noch zimperlich zu sein. Ihr drohte der Scheiterhaufen, da kam ihr die Möglichkeit, vorher ihren Verletzungen zu erliegen, wie ein Segen vor.

Ihr Tritt hatte den Mistkerl hart genug getroffen, um ihn an die gegenüberliegende Wand der Zelle zu stoßen. Sie sah eine aufgeplatzte Lippe und einen rötlichen Fleck um sein Auge, der sich bald zu einem satten Bluterguss entwickeln würde. Sie glaubte zu lächeln, war sich aber nicht sicher, ob ihre Gesichtsmuskeln dazu noch fähig waren. Es spielte keine Rolle. Es war ein befriedigendes Gefühl, so oder so. Eines, das leider nicht sehr lange vorhalten würde. Der Mann raffte sich bereits wieder auf und sah entschlossener denn je aus. Sie hatte natürlich damit gerechnet, dass ihre Gegenwehr ihn nicht allzu sehr beeinträchtigen würde. Dafür waren ihre Tritte nicht mehr kräftig genug, und ihre eigenen Verletzungen behinderten sie. Den nächsten Angriff des Mannes würde sie vermutlich nicht abwehren können. Mit etwas Glück würde sich im Handgemenge eine der gebrochenen Rippen in ihr Herz bohren, bevor ihr der Bastard mit seinem Geschlechtsteil zu nahekommen konnte.

Jeanne sah seine Bewegung wie durch einen Schleier. Vielleicht würde sie auch bloß ohnmächtig werden und mit dem, was er ihr währenddessen antat, später fertigwerden müssen. Bei der Vorstellung drehte sich ihr der Magen um, und wäre noch etwas darin gewesen, hätte sie sich übergeben. Sie zog sich so weit wie möglich in sich selbst zusammen, machte sich klein und rund und kauerte sich in die Zellenecke. Er ragte über ihr auf und leckte sich grinsend das Blut von der Lippe. »Wehr dich nur, ich mag widerspenstige Stuten.«

Jeanne funkelte ihn an. Sie wünschte sich, ihre Blicke wären imstande, ihn zu durchbohren. Sie würde nicht lange fackeln. Ein sauberer Stich ins Herz und Ende. Was gäbe sie jetzt nicht alles für ein Messer.

»Was geht hier vor sich?«

Jeannes Kopf und der des Wärters fuhren herum zu der neuen Stimme: ein zweiter Wärter, jünger, besser in Form, sauberer als ihr aktueller Gegner, mit dunklen, aber gewollt positionierten Stoppeln im Gesicht. Dazu fremdländische Gesichtszüge, sonnengebräunte Haut, seltsam leuchtende Augen, die wie zwei glühende Kohlen in ihren Höhlen ruhten. Seine Mimik zeigte Verachtung und Besorgnis. Eine merkwürdige Kombination, fand Jeanne.

»Scher dich zum Teufel«, knurrte Jeannes Angreifer dem neuen Besucher zu. »Du kannst sie später haben.«

»Du Scheißkerl bewegst deinen stinkenden Wanst jetzt aus der Zelle oder ich schlage dir den Kopf gleich hier ab und spieße ihn draußen zur Warnung auf.«

Schönere Worte hatte Jeanne selten gehört.

»Was bildest du dir ein, Bursche? Mach dich weg, sonst fängst du dir eine, dass dir morgen noch die Ohren klingeln«, erwiderte der Scheißkerl.

Der Jüngere machte eine blitzschnelle Bewegung. Jeanne fragte sich, ob sie vielleicht kurz ohnmächtig geworden war, denn er erschien ihr beinahe übermenschlich schnell. Mühelos wurde der schwerere Mann an die Wand gedrückt, und seine Füße zappelten machtlos ein paar Zoll über dem Boden. Der Jüngere hielt ihn am ausgestreckten Arm oben, als wäre sein massiger Gegner federleicht. Seine andere Hand lag nun über Nase und Mund des zappelnden Wärters. Der schrie mit erstickter Stimme und schlug hilflos mit den Armen nach dem Gesicht seines Angreifers. Doch der junge Wärter gab nicht nach und nahm die Bemühungen seines Gegenübers mit stoischer Gelassenheit hin, als wäre das zappelnde Etwas am Ende seines Armes nicht mehr als ein aufgeschrecktes Huhn.

Jeanne nahm den entfernten Geruch von Feuer wahr. Der ältere Wärter hörte schnell auf zu strampeln, seine weit aufgerissenen Augen erstarrten, die Arme fielen leblos an den Seiten herab. Als der junge Wärter den Arm zurückzog, sackte der ältere mit einem dumpfen Geräusch auf den strohbedeckten Boden. Jeanne glaubte, eine schwarze Rauchwolke aus seinem halb offenen Mund entweichen zu sehen. Ihre Sinne spielten ihr eindeutig Streiche.

Der siegreiche Wärter wandte sich zu ihr um. Sie begegnete seinem Blick und studierte die Miene des Mannes, um dessen Absichten auszumachen. Doch sein Gesicht war eine perfekte Maske, die nichts preisgab. Aufgrund seiner Jugend und des gepflegten Äußeren wirkte er auf den ersten Blick weniger bedrohlich, doch hinter den funkelnden Augen erkannte Jeanne instinktiv den Jäger in ihm. Der hier war nicht etwa ein freundlicher Samariter, er war ein Wolf im Schafspelz. Er machte einen langsamen Schritt auf sie zu und Jeanne schloss mit einem bitteren Seufzer die Augen. Sie atmete flach und betete darum, dass ihr Körper endlich zu kämpfen aufhören und sie sterben lassen möge.

»Sieh mich an«, hörte sie ihn mit einer derart sanften Stimme sagen, dass ihr die Angst mit tausend Spinnenbeinen über den Rücken lief. »Jeanne, sieh mich an.« Sie gehorchte mit Mühe. »Du darfst jetzt nicht aufgeben. Du musst durchhalten.«

»Wozu?«, gab sie röchelnd zurück. »Damit du mich brennen sehen kannst?«

Der Sarkasmus in ihrer Stimme schien den Wärter heimlich zu amüsieren und entlockte seinem Mundwinkel ein Zucken. »Du wirst nicht brennen.«

»Hinter welchem Stein haben sie dich hervorgezogen? Weißt du nicht, wer ich bin? Morgen früh stellen sie mich auf den Scheiterhaufen, und bei Gott, ich werde brennen wie eine Fackel. Wenn ich die Chance habe, vorher zu sterben, dann werde ich sie gerne nutzen, Mann. Hast du vielleicht Lust, mir dabei zu helfen?«

»Hör mir jetzt zu, Jeanne. Du musst diese Nacht überstehen, wenn du leben willst. Sie werden dich morgen auf den Scheiterhaufen stellen, ja. Sie werden das Feuer entfachen und du wirst schreien.«

Jeanne hätte bereits jetzt gerne geschrien. Genügte es denn nicht, dass sie lebendig verbrannt werden würde? Warum musste er ihr noch mehr zusetzen? Hatte er sie vor seinem Genossen beschützt, damit er sie am Morgen ihrer eigentlichen Strafe zuführen konnte? »Was willst du von mir? Reicht es dir nicht, was mich erwartet? Kennt ihr denn gar keine Gnade?«

»Ich versuche dich zu retten, Jeanne. Also hör zu! Sorg dafür, dass du nicht noch mehr Prügel einsteckst, bevor sie dich an den Pfahl binden. Ich kann dich nicht retten, wenn du dich vorher umbringen lässt. Verstanden?«

»Du kannst mich nicht retten, Narr. Wieso solltest du das auch wollen? Sie würden dich gleich neben mir anbinden.«

»Das lass meine Sorge sein. Wenn sie das Feuer entfachen, Jeanne, musst du schreien. Sie müssen glauben, dass du wirklich brennst, dass du Angst hast, dass du leidest, dass du stirbst. Wir müssen sie von dir ablenken. Gib ihnen, was sie wollen, dann verschwinden sie schneller.«

»Natürlich werde ich all das tun, verdammt. Glaubst du denn, irgendein heiliger Lichtstrahl wird mich retten? Es war alles gelogen. Meine Visionen sind nur Geschichten! Ein Mädchen muss erfinderisch sein, wenn es in dieser Welt überleben will.«

»Das ist nicht wichtig. Du wirst beschützt werden und nichts spüren. Das verspreche ich dir.«

Jeanne lachte knapp und freudlos. »Wenn du nicht vorhast, mich umzubringen, dann lass mich einfach in Frieden und geh.«

»Du glaubst mir nicht, verständlich. Aber ich weiß, dass du leben willst, und deswegen wirst du tun, was ich sage. Hier.« Der Wärter zog eine kleine Phiole aus seinem Wams, in der eine milchig weiße Flüssigkeit aus sich selbst heraus leuchtete. Er nahm den Verschluss ab und hielt Jeanne das Fläschchen an die Lippen. »Trink das.«

»Was ist das?«

»Wasser.«

Sie schnaubte und neigte den Kopf zur Seite. Der Mann fasste bestimmt nach ihrem Kinn und zwang sie, den Mund zu öffnen. Er flößte ihr das Wasser ein und hielt ihr schnell den Mund zu, ehe sie es ausspucken konnte. Jeanne versuchte sich zu widersetzen, doch ihre Wunden hatten sie zu sehr geschwächt. Sie schluckte. Was spielte es noch für eine Rolle, ob er sie vergiftete oder betäubte?

Die Flüssigkeit lief ihre trockene Kehle hinab und begann sich sofort spürbar im ganzen Körper auszubreiten. Die Schmerzen in Jeannes Brustkorb ließen plötzlich nach, das Atmen fiel ihr leichter und sie sog die Luft tief in die Lunge ein. Sie spürte die Tränen über ihre Wangen laufen, spürte das geschwollene Gesicht, die abgerissenen Fingernägel, die unzähligen Wunden auf ihrem Körper. Die Verletzungen waren noch da, doch die Schmerzen schienen geringer als bisher.

»Was war das wirklich?«, fragte Jeanne erstaunt und mit einer Stimme, die so klar und stark wie seit Tagen nicht mehr in der Zelle erklang.

»Wie ich schon sagte, Wasser. Heilwasser.«

»Das ist ein verflucht gutes Heilwasser.«

»Kann man so sagen, Schwester. Also, bereit, mir zu vertrauen?«

»Ich bin geneigt, es in Erwägung zu ziehen.«

»Das ist ein Anfang. Die Nacht über werde ich hier sein und den Aufpasser spielen.« Jeannes Helfer wandte sich dem toten Scheißkerl zu. »Er und seinesgleichen werden dich bis zum Morgen nicht mehr belästigen. Schlaf etwas und ruh dich aus. Morgen wird ein aufregender Tag für dich.«

»Wer bist du?«, fragte Jeanne und merkte, wie Erschöpfung und Müdigkeit sie bereits mit sich rissen.

»Ein Freund«, hörte Jeanne ihn noch sagen, bevor die Welt schwarz wurde.



Als der Morgen kam, schlug Jeanne die Augen auf. Ihr Blick fiel auf die Stelle der Zelle, an der kürzlich der tote Wärter gelegen hatte. Es war keine Spur von ihm geblieben. Sie fragte sich, ob sie alles nur geträumt hatte, ob er und der andere nur ein Gespinst ihrer Phantasie gewesen war, während sie mit dem Tod gerungen hatte. Sie fühlte sich noch immer elend und schwach, aber ihre Rippen schienen nicht gebrochen zu sein. Nicht mehr.

Das Stampfen schwerer Stiefel ließ sie aufhorchen. Sie kamen sie holen. Jeanne wehrte sich nicht, als sie auf die Beine gezogen und aus der Zelle gestoßen wurde. Sie schlurfte mit krustigen, nackten Füßen über den harten Boden und ignorierte die brennenden Schmerzen, die ihr die Schnitte in den Fußsohlen bereiteten. Brennend. Ein Anflug von Panik überkam sie bei dem Wort. Sie hatte in ihrem Leben noch niemals solche Angst gehabt. Es war nicht die Angst vor dem Tod, sondern vor den Flammen. Jeanne konnte sich keinen schlimmeren Tod vorstellen als den, lebendig zu verbrennen. Sie hatte andere Frauen brennen sehen. Hilflos an den Pfahl gebunden, flehentlich um Gnade rufend. Die entsetzlichen Schreie aus ihren Kehlen verfolgten Jeanne seit jeher, doch gerade jetzt kamen sie ihr wie eine unausweichliche Prophezeiung vor.

Der Marsch vom Gefängnis zum Marktplatz von Rouen war begleitet von Beschimpfungen. Der mordlüsterne Pöbel spuckte nach ihr, warf mit verdorbenem Gemüse und Steinen. Die Wachen stießen die ganz forschen Schaulustigen zurück in die Menge, und der Priester sang sein Gebet. Der Geruch von Weihrauch klebte in Jeannes Lunge. Als der Marktplatz in Sicht kam, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Der Scheiterhaufen erhob sich inmitten der grölenden Meute, und sein Schatten senkte sich bedrohlich über Jeanne. Ihre Füße gerieten ins Straucheln, und sie stolperte, fiel auf die Knie. Keine Sekunde später traf sie ein Hieb auf den Rücken.

»Steh auf!«

Jeanne raffte sich auf und wankte weiter ihrem Ende entgegen. Das Geschrei der Menge wurde unerträglich laut. Die Welt verschwamm vor ihren Augen, doch sie schlurfte vorwärts, unbarmherzig angetrieben von den sporadischen Schlägen auf ihr längst taub geprügeltes Kreuz. Sie prallte gegen die aufgestapelten Holzscheite und schnappte nach Luft. Ihre Füße verweigerten den Dienst. Die Rute traf sie mit drei kräftigen Hieben. Die Männer packten sie und warfen sie auf den Stapel.

»Sei stolz, Jeanne. Sei mutig. Sei stark«, flüsterte sie sich selbst zu und ließ sich von ihrem Henker an den Pfahl drücken und daran festbinden. Er wickelte ein Seil um ihren Körper, das sie nahezu vollständig bewegungsunfähig machte und ihr die Luft nahm. Jeanne hob den Kopf und sah zum Himmel auf. Ein klares Blau, nur ein paar Wolken zogen vorbei. Sie wünschte sich, sie könnte noch an einen Gott glauben, an irgendetwas, doch ihr Inneres war leer. Der Wind strich ihr sanft durch die Haare wie eine Abschied nehmende Liebkosung. Wie gerne hätte sie sich von ihm davontragen lassen. Wie ein Blatt … eine Feder im warmen Luftzug.

Der Geistliche predigte und hielt seine Rede. Jeanne blendete alles aus. Sie konzentrierte sich darauf, nicht in Panik zu geraten. Sog die Luft tief ein, atmete wieder aus und stellte sich eine bessere Welt vor. Eine Welt, in der sie sich nicht in Marie verliebt hatte, in der sie nicht versucht hatte, sie zu küssen. Eine Welt, in der sie nicht aus ihrem Zuhause flüchten musste und in der sich ihre Mitstreiter, ihr ganzes Land nicht gegen sie wandten. Eine wunderschöne Welt, in der sie willkommen war. Sie lächelte für einen seligen Moment, dann stieg ihr der Geruch von brennendem Holz in die Nase.

Jeanne wurde starr. Rauch kroch empor. Die Scheite unter ihren Füßen brannten noch nicht, doch die äußeren Holzstücke waren bereits verkohlt, und das Feuer war gierig. Es fraß sich schnell vorwärts. Jeannes Brustkorb hob und senkte sich schnell. Sie begann zu husten. Der Ruß brannte in ihren Lungen. Sie suchte die Menge ab, doch sie fand kein Mitgefühl in den Blicken der Zuschauer. Nein. Sie gierten nach ihrem Tod, sie freuten sich auf ihr bevorstehendes Leiden. Das Holz unter ihren nackten Füßen wurde wärmer. Sie starrte hinunter. Die ersten kleinen Feuerzungen schlängelten auf Jeannes Zehen zu. Sie hörte, wie sie leise, ängstliche Töne von sich gab.

»Sei stolz. Sei mutig. Sei stark. Sei stolz. Sei mutig. Sei stark. Sei stolz. Sei mutig. Sei stark«, sagte sie sich wieder und wieder vor. Die Flammen erreichten ihre Zehen und zogen ihr die Haut vom Fleisch. Sie biss die Zähne zusammen, unterdrückte den Schrei in ihrer Kehle, wimmerte verzweifelt, zerrte an ihren Fesseln. Nun war bewiesen, dass sie die Begegnung mit dem jungen Wachmann nur geträumt hatte. Diese Flammen waren mehr als real. Sie verursachten echten Schmerz. Als das Feuer nach ihren Knöcheln und Waden griff, begann sie endlich zu schreien, und die Menge tobte. Doch ihre Beine wurden schnell taub. Sie wagte es nicht, an sich hinabzusehen. Was würde sie erblicken? Zwei schwarze Kohlestumpen? Ihr Blick streifte abermals die Menge. Sie verfluchte sie alle. Wie sie vor Begeisterung tobten und johlten. Sie hasste diese Welt. Es war ein trügerischer und untreuer Ort. Es war besser, dass sie bald fort sein würde.

»Jeanne.«

Sie hörte die Stimme nicht mit den Ohren. Sie war in ihrem Kopf. Tatsächlich und wahrhaftig. War das nun Gottes sarkastische Art, ihr zu sagen, dass sie ein böses Mädchen gewesen war?

»Wir sind hier, Jeanne. Hab keine Angst. Halt dich im Feuer verborgen, bis es erlischt.«

Jeanne hätte am liebsten laut gelacht.

»Schrei! Je eher sie kriegen, was sie wollen, desto eher verschwinden sie.«

Und Jeanne schrie. Sie spürte längst nichts mehr, doch solange sie schrie, war sie noch nicht tot. Ihre Schreie würden jemand anderen verfolgen. Etwas von ihr würde in dieser Erinnerung weiterleben. Sie schrie und schrie und schrie, bis ihre Kehle wund war und die Flammen sie so hoch einhüllten, dass sie von der Außenwelt abgeschirmt war. Sie spürte noch immer nichts und war dankbar. Das Seil, das sie gehalten hatte, war längst an ihr herabgefallen, und sie hob die Hände vor die Augen. Sie stand in Flammen, aber sie brannte nicht. Sie war das Feuer selbst. Ihre Haut war fort, ihre Muskeln, ihre Knochen. Alles fort. Nur die Flammen leisteten ihr Gesellschaft und formten, was Jeanne ausmachte. Sie lachte leise oder glaubte es zu tun. Sie bewegte die feurigen Finger, strich sich über die glühenden Arme. War das möglich? Sie hob den Blick, sah hinter den Vorhang aus lodernden Flammen. Direkt vor ihr, am Rand des Scheiterhaufens, standen zwei Gestalten. Eine von ihnen war eine Ordensschwester, die die Hände im Gebet gefaltet hatte und die Lippen bewegte. Jeanne schaute geradewegs in ihre grünen Augen, und sie verstand augenblicklich, dass das Gewand dieser Frau nur eine Verkleidung war und kein Ton über ihre Lippen kam.

»Wir sind bei dir«, hörte Jeanne die falsche Schwester in ihren Gedanken sagen.

Jeannes Blick fiel ein Stück weiter rechts auf den Wärter. Er. Seine Augen waren auf sie gerichtet und glühten in der Farbe von Bernstein. Er wirkte hochkonzentriert, seine Hand war fest um eine Hellebarde verkrampft. Er rührte sich nicht, doch als er ihre Aufmerksamkeit bemerkte, legte sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen. Jeanne spürte, wie ihr warm ums Herz wurde, was eigenartig war angesichts ihrer Situation. Er beschützte sie. Sie wusste nicht, wie er es tat oder warum, aber sie wusste plötzlich mit absoluter Gewissheit, dass er die Flammen beherrschte, dass er sie kontrollierte, dass er die Flamme war.

Ein Freund, hatte er gesagt. Ein Freund. Jeanne lächelte zurück und setzte sich ruhig in die Holzscheite, die langsam zu Asche zerfielen.

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Kapitel 1


Ein Mord zum Tee


Terra im November 1888 n. Chr.

London, England



Kamika stöhnte und stampfte sich den schnell matschig werdenden Schnee von den Stiefeletten. Was für unbequeme und archaische Dinger das waren. Ihre Edana hatte darauf bestanden, nur authentische Kleidung zu tragen. Dass Zolana ausgerechnet sie nach Terra hatte mitbringen wollen, würde Kamika ihr niemals verzeihen. Nun gut, vielleicht nicht niemals, aber sie würde es sich nicht nehmen lassen, es Zolana bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorzuwerfen und dabei möglichst theatralisch zu übertreiben. So viel Strafe musste erlaubt sein. Denn die Wächterin sehnte sich nach ihrem Zuhause und nach ihrer restlichen Familie. Sie war es leid, in diesen unpraktischen Kleidern und auf diesem magielosen Planeten herumzuschleichen, den sie in seiner Gesamtheit schon immer verachtet hatte. An jedem Morgen in den vergangenen siebzehn Tagen hatte sie sich in eines dieser unkomfortablen Korsette schnüren lassen müssen, das ihren Bewegungsfreiraum unangenehm einschränkte und ihr die Atmung erschwerte. Modisch nannten sie das in dieser Zeitlinie. Kamika fühlte sich bloß lächerlich in diesem Aufzug und hatte ernsthafte Bedenken, was ihre Beweglichkeit im Ernstfall betraf. Noch dazu waren die Röcke an den Knöcheln grundsätzlich zu kurz, denn Kamika war größer als die meisten Frauen auf Terra, und ihre athletisch geformte Gestalt sowie ihre kurzen Haare wurden ständig tadelnd beäugt. Auf Brïn sahen die Menschen zu ihr auf. Dort war sie eine Weltenwächterin, eine Shi. Hier auf Terra war sie wie üblich ein Skandal.

Was hätte sie jetzt nicht alles für ihre Jägerkluft gegeben. Die weichen Hosen, die leichte, aber robuste Rüstung aus den modernsten Fasern Brïns … Und natürlich fehlte ihr die Jagd selbst. Bei den Adern, sie hätte nicht geglaubt, dass sie die Skrae einmal vermissen würde. Selbst ihre administrativen Pflichten wären ihr lieber gewesen als eine Mission auf Terra, noch dazu eine so ungenau definierte. Sie hasste es, ständig im Pferdedung zu stehen, einen Nachttopf für ihre Notdurft verwenden zu müssen und allgemein wie eine halbe Wilde zu leben. Sie hasste es, wie eine geistig Verwirrte behandelt zu werden, sobald sie versuchte, als Frau eine Meinung zu äußern. Sie hasste den Geruch dieser Welt, die Stille des Windes, die Intoleranz der Menschen und auch solch banale Dinge wie das schwache, rückständige Gaslicht und die Kerzen. Überall Kerzen! Für Erigen wäre das hier ein großer Spielplatz gewesen, der allerlei Streiche ermöglichte. Für Kamika war es eine Aneinanderreihung von potenziellen Brandherden. Ach, Erigen. Sie vermisste den Wächter und seine unbekümmerte, manchmal allzu kindische Art.

In ihrer Zerstreuung stieß sie mit ihrem nutzlosen Regenschirm – denn klatschnass war sie in dem kalten Schneeregen letztlich doch geworden – gegen den Tisch im Flur. Die Porzellanvase darauf geriet ins Wanken und zerschellte auf dem Boden. Sie fluchte und schob die Scherben gerade mit dem Fuß beiseite, als ein Schrei durch die kleine Pension hallte. Kamika wurde sofort eiskalt. Sie rannte. Sie stürmte die Treppe hinauf zu Zolanas Schlafzimmer und rief in einer instinktiven Reaktion die Magie des Windes zu sich. Doch es lag ein sehr weiter Weg zwischen Terra und der magischen Quelle auf Brïn, so dass ihr der Wind ungewohnt schwerfällig antwortete.

Begleitet von einem heftigen Windstoß, stürzte Kamika kraftvoll durch die hölzernen Türen. Sie nahm die Szenerie im Bruchteil einer Sekunde in sich auf. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus.

Zolana lag in einem Teich aus Blut, die Augen geschlossen. Neben ihr hockte das einfältige Hausmädchen, das ständig wie ein grauer Geist um sie beide herumlief. Sie jammerte, und ihre Wangen waren nass von den vielen Tränen. Sie schüttelte Zolana an den Schultern und blickte nun erschrocken auf, als Kamika so wild hereingestürmt kam.

»Lady Kamika, er hat sie ermordet.«

Kamika fiel neben Zolana auf die Knie, hob ihre Augenlider an, prüfte die Pupillen, den Puls. »Sie lebt noch«, sagte sie und hörte das Hausmädchen scharf die Luft einziehen.

Die Wächterin versuchte sich ein Bild von der Verletzung zu machen. Ja, ihre Freundin lebte, aber es sah verdammt schlecht aus. Überall war Blut, und Zolanas Haut wirkte bereits totenbleich. Kamika zog die Phiole mit Heilwasser aus ihrem Ausschnitt und goss es über die Wunde, die tief in Zolanas Brust klaffte. »Wer war das?«

»Ich habe ihn nicht gut sehen können«, antwortete das Hausmädchen mit zittriger Stimme. »Er trug einen langen schwarzen Mantel und auf dem Kopf einen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Er ist zum Fenster raus geflüchtet, als ich Lady Zolana Tee bringen wollte. Sein Messer hat er dort fallen lassen.« Sie zeigte auf eine blutverschmierte Klinge, die nahe beim Fenster lag. Ein altes Ding mit Rostflecken.

Für eine Sekunde war Kamika versucht, zum Fenster zu laufen und Ausschau nach dem Angreifer zu halten. Doch sie wusste, es würde niemand zu sehen sein. Es war schon zu dunkel, und die Laternen boten da keine Abhilfe. Die Straßen dieser Stadt waren eng und verworren, und es reihte sich ein Haus an das nächste. Kaum Platz genug, um die Arme auszubreiten. Wer auch immer hier auf der Flucht war und sich auskannte, der vermochte es, in Windeseile unterzutauchen.

Sie hörte ein Röcheln und konzentrierte sich wieder auf ihre Edana. Das Heilwasser reichte nicht. Es war zu wenig für eine solche Verletzung, die vermutlich das Herz getroffen hatte. Kamika fluchte im Geiste. Lorden hätte hier sein sollen. Er war der Heiler. Sie musste die Edana so schnell wie möglich zurück nach Brïn bringen. Wenn es sein musste, dann unter Anwendung von Magie, ungeachtet der Gefahr, entdeckt zu werden.

Zolanas Augen flatterten einen Spalt breit auf. Das Hausmädchen kreischte hysterisch, als wäre sie gerade einem Gespenst begegnet. Zolanas schwache Stimme wurde völlig übertönt. Kamika befahl dem Mädchen zu schweigen. Sie warf erst einen ängstlichen Blick auf Kamika und dann auf die am Boden liegende Zolana und kroch blutverschmiert in eine Ecke des kleinen Raumes, wo sie ihre dürren Beine umklammerte und manisch vor und zurück wippte. Die Wächterin strich Zolana über die Wange. Die Edana war zu schwach. Kamika wurde klar, dass sie ihre Freundin nicht würde retten können. Es war zu spät.

»Zolana«, flüsterte Kamika und nahm die Hand ihrer Edana in ihre eigenen. »Es tut mir leid. Ich habe als Wächterin versagt.« Zolana versuchte zu sprechen, doch ihre Kehle gab keinen Laut mehr von sich. Sie blickte kurz zu dem verängstigten Hausmädchen und drückte energisch Kamikas Hand. »Was hat sie dir gesagt?«, fragte Kamika an das Mädchen gewandt.

»Nichts.«

»Irgendetwas hat sie dir gesagt«, giftete Kamika sie ungeduldig an. Zolana gab einen jämmerlichen Laut von sich, der die Wächterin über alle Maße erschütterte. Dann wurde die Frau schlagartig schlaff in ihren Armen. Kamika heulte leise auf und vergrub das Gesicht in Zolanas Haar. Eine Minute lang umklammerte sie den leblosen Körper, und stille Tränen widersetzten sich ihrer Kontrolle. Sie hatte seit vielen Jahren nicht mehr geweint, und verdrängte Emotionen drohten sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen. Es konnte nicht real sein.

Kamika sah schließlich in Zolanas Gesicht und fand nur Leere. Vollkommene Leere. Eine weitere Erkenntnis drohte die Wächterin an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Die Magie der Edana war nicht mehr in Zolana verankert. Dann fiel Kamika die fehlende Kette auf. »Das Artefakt. Wo ist die Perle?« Ihr Kopf fuhr zu dem Dienstmädchen herum. »Sie hatte eine Halskette mit einer Perle daran. Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht, Lady Kamika. Er muss sie mitgenommen haben.«

»Sag das nicht. Nein, nein, sag das nicht«, flüsterte Kamika mit Grabesstimme. Erst jetzt bemerkte sie die aufgerissenen Schubladen der Kommode, die herausgezerrten Kleidungsstücke und die offenen Schränke. Jemand hatte das Zimmer in aller Eile durchsucht. Kamika hob den Arm und spürte dem Echo der Magie nach, doch selbst dieser sonst einfache Zauber bereitete ihr Mühe. Ihre Hand bewegte sich fast schwebend durch den Raum und sie spürte ein sanftes Ziehen. Sie folgte diesem Gefühl und es wurde stärker, als sie direkt auf das Mädchen zeigte. »Hat sie dir etwas gegeben?«

»Nein, Lady Kamika. Sie war kaum ansprechbar, als ich sie gefunden habe.«

»Hat sie dich berührt?«

Das Mädchen machte ein verwirrtes Gesicht und stotterte. »I… Ich habe ihr die Hand gehalten, bis Sie hereingekommen sind.«

Kamika blickte wieder auf Zolanas stilles Gesicht hinab. Wenn der Angreifer Zolanas Kette gestohlen hatte, dann gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatte er einen wichtigen Teil der Magie Brïns mit sich genommen oder die Edana hatte den magischen Anker an das nächstbeste verfügbare Gefäß gebunden, das ihr zur Verfügung stand – ihr Dienstmädchen –, und Kamika spürte die Magie an dem Mädchen haften. Die Wächterin drohte an den Entwicklungen zu verzweifeln, doch sie musste sich jetzt zusammenreißen und noch eine Weile durchhalten.

»Wie ist dein Name?«

»S… Sofia.«

»Sofia. Nimm den Mantel vom Haken und zieh ihn über. Ich muss dich in Sicherheit bringen.«

»Wie bitte, Lady Kamika?« Das Mädchen zitterte am ganzen mageren Körper, und ihr Blick huschte wie der eines gehetzten Tieres hin und her.

»Mach schon!«

Das Mädchen zuckte ängstlich zusammen und tat, wie ihr befohlen wurde. Sie verließen das Haus nur wenige Augenblicke später durch den Hinterausgang. Kamika rief eine Kutsche herbei. Sie betäubte den Kutscher mit einer winzigen Prise ihrer Magie. Es würde reichen, wenn er wenige Minuten bewusstlos blieb. Sie wollte nicht, dass er hier draußen erfror. Alles, was sie brauchte, war nur ein wenig Zeit, ein kleiner Vorsprung, bevor jemand Zolanas Leichnam fand. Sie hatte keine Zeit zu erklären, was geschehen war, oder sich womöglich noch zu verteidigen. Die Menschen auf diesem Planeten waren so entsetzlich stupide und würden ihr ohnehin kein Wort glauben.

Sofia japste vor Schreck, als die ältere Frau sie mit einem kräftigen Ruck in die Kabine schubste und die Tür hinter ihr zuschlug. Kamika sprang auf den Kutschbock, griff nach den Zügeln und spornte das Pferd zu einem schnellen Trab an. Ehe jemand ihr Verschwinden bemerken konnte, waren sie auf dem Weg aus der Stadt heraus. Kamika trieb das Pferd an, so schnell es der unebene Untergrund erlaubte. Glücklicherweise waren nur sehr wenige Passanten auf den Straßen unterwegs, und nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie den Stadtrand. In noch erkennbarer Ferne lag der Wald, in dem sich das Tor zu Kamikas Heimatwelt befand. Als der Weg zu schmal für die Kutsche wurde, spannte Kamika das Pferd ab. Sie holte Sofia, die sich nun nach Kräften wehrte, aus der Kabine und setzte sie auf den Rücken des Pferdes. Mit einer schnellen Bewegung saß sie hinter Sofia auf und trieb das Pferd in den Wald. Die Sicht wurde schlechter, sobald sie zwischen den Stämmen waren und das Mondlicht nur noch schwach zu ihnen durchdrang. Die dichte weiße Schneedecke reflektierte die wenigen Lichtstrahlen jedoch hell genug, so dass sie sich vorsichtig über den immer schmaler werdenden Pfad bewegen konnten.

»Luah«, sagte Kamika nach einer Weile, und ein kleines flirrendes Irrlicht erschien vor ihr, das in sprunghaften Bewegungen den Weg vorgab.

Die Bäume lichteten sich nach und nach. Vor ihnen erhob sich der Steinkreis, der Kamika nach Hause und die Terranerin in die Fremde bringen würde. Die Wächterin brachte das Pferd zum Stehen, wendete es und gab ihm einen Klaps auf die Flanke. Das Tier, das die Geste bereits kannte, trabte gehorsam davon.

Kamika hielt das Mädchen fest am Arm und zog sie hinter sich her. Sofia sagte nichts, blickte sich aber immer wieder in alle Richtungen um. Ob auf der Suche nach einem Fluchtweg oder aus Furcht vor Verfolgern, konnte Kamika nicht beurteilen. Erst als sie Anstalten machte, mit Sofia in den Kreis zu treten, begann das Mädchen erneut, sich zu wehren und zu schreien.

»Hör auf zu kreischen!« Das Dienstmädchen zuckte zusammen, wurde still und zitterte. Es war offensichtlich, dass Sofia die fremde Frau fürchtete. Kamika biss die Zähne zusammen. »Schon gut. Es tut mir leid. Dir wird nichts passieren, das versichere ich dir. Wir müssen hier weg. Ob es dir gefällt oder nicht, du hast keine Wahl.«

Das Mädchen schüttelte energisch den Kopf und versuchte sich loszureißen. Kamika war stärker und ging geradewegs mit ihr in den Steinkreis, der sofort aufleuchtete. Sofia schrie weiter und zerrte an ihrem Handgelenk, doch Kamika hielt sie unnachgiebig fest und zog sie mit sich. Sie hatte jetzt keine Zeit für Nettigkeiten. Das Portal würde bald zusammenbrechen, und Kamika wollte verdammt sein, wenn sie dann auf dieser Welt festsitzen müsste.

Das Wasser war kalt, schwer und stumm, als es wie von selbst aus dem Erdreich zu quellen begann, zuerst die Füße der beiden Frauen in eine eisige Umarmung schloss und dann den Steinkreis auszufüllen begann. Die Wächterin hatte angenommen, dass sie diesen Weg zusammen mit Zolana gehen würde, doch stattdessen hielt sie Sofia im Arm, die nicht wusste, wie ihr geschah. Das Wasser reichte ihnen schon nach wenigen Augenblicken bis zur Hüfte, und Sofia wirkte mit jeder Sekunde hysterischer. Ihre Zähne klapperten bereits heftig, und ihre Lippen färbten sich blau. Das Wasser stieg schnell höher und kletterte nun Sofias Hals empor.

»Tief einatmen und Luft anhalten«, sagte die Wächterin. »Je mehr du herumzappelst, desto schneller wird dir die Luft ausgehen, also beruhige dich endlich.«

Sofia stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus und strampelte im Griff ihrer Entführerin. Sie reckte den Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und erst im allerletzten Moment, als ihr klar wurde, dass es wirklich kein Entkommen gab, füllte sie ihre Lungen ein letztes Mal mit der kostbaren Luft und schloss Augen und Mund. Kamika wartete einen Wimpernschlag länger, ehe das Wasser auch sie ganz und gar verschlang. Sie behielt die Augen offen und betrachtete die leuchtenden Steine durch das klare, eiskalte Nass. Es stieg schnell bis zur Oberkante der Steine, und der Zylinder aus Wasser erreichte seine endgültige Höhe. Sofia zappelte weiter in ihrem Arm. Kleine Luftbläschen entwichen ihren Lippen und stiegen tanzend der Oberfläche entgegen. Das Leuchten der Steine wurde jetzt heller und heller. Unsichtbare Symbole zeigten sich, bis alles ein schneeweißes Rauschen war. Kamika festigte ihren Griff um Sofia noch einmal, und dann spürte sie den vertrauten Sog an ihrem Körper. Schon wurden sie in den Strudel gezogen. Kamika verlor die Orientierung. Quälend langsam vergingen die Sekunden, in denen sie wie eine leere Muschelschale herumgewirbelt wurde.

Es wurde still. Endlich spürte sie wieder den frischen Wind auf der Haut. Lebendig. Voller Geschichten. Ein vertrauter Freund, der sie willkommen hieß. Sie spürte seine Magie durch ihre Poren dringen. Sie war zu Hause. Der Wind setzte sie zart und sanft im Portalraum ab. Doch der kurze Moment der Glückseligkeit verflog, als das Kreischen des Dienstmädchens an Kamikas Ohren drang. Sie ließ Sofia los, und das Mädchen begann zu rennen, nur um kaum drei Schritte weiter vor zwei sehr bedrohlich dreinschauenden Hütern stehen zu bleiben. Sofia stolperte zurück und fiel. Die beiden Hüter ragten über ihr auf, und sie kroch auf dem Gesäß hektisch hin und her.

»Sie gehört zu mir«, gab Kamika Laut.

»Shi Kamika, willkommen zurück!«, rief die oberste Hüterin Adelai, die froh gelaunt hinzukam. »Das war ein kurzer Aufenthalt. Wir haben euch nicht so schnell zurückerwartet. Was hat eure Reise unterbrochen?« Sie erblickte das fremde Mädchen und runzelte die Stirn. »Wer ist das, und wo ist die Edana?«

Kamika packte Sofia am Arm und zog sie auf die Beine. »Hüterin, ruf sofort alle Brïnae auf Terra und den Nachbarplaneten zurück. Sie müssen augenblicklich heimkehren.«

»Sofort? Die Familien der Kolonien werden nicht begeistert sein, ihren Aufenthalt unterbrechen zu müssen.«

»Sie werden noch weniger begeistert sein, auf Terra zu stranden, wenn die Tore zusammenbrechen.«

»Zusammenbrechen? Shi Kamika, wo ist Edana Zolana?«, fragte die Hüterin jetzt mit einer schlimmen Vorahnung.

»Tot«, antwortete Shi Kamika bitter, zog die jammernde Terranerin mit schnellen Schritten hinter sich her und beachtete das schockierte Schweigen der versammelten Hüter nicht. Sie eilte vorbei an den fragenden Gesichtern, vorbei an dem ungläubigen Entsetzen, das sich in ihren Augen spiegelte. Die Edana, die Führerin Brïns, die Stimme der Magie. Tot.

Vor nicht einmal einer Stunde wäre Kamika mit Freude in den Turm der Shi zurückgekehrt. Doch jetzt würde sie ihren Mitstreitern vom Tod ihrer Edana berichten müssen und davon, dass die wichtigste Magie des Planeten an einen ungeübten und möglicherweise nicht geeigneten Erdmenschen gebunden war. Danach, danach würde Kamika endlich Zeit haben zu begreifen, was heute geschehen war, und sie würde Zeit haben zu trauern.

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Kapitel 2


Etwas endet, etwas beginnt


Brïn im Katesser 11'383 n. S.

Eydwall, Ideris



»Haben es alle geschafft?«, fragte Shi Erigen bedrückt, als die Wächterin mit dem rabenschwarzen langen Haar und den smaragdgrün leuchtenden Augen in den Besprechungsraum zurückkehrte.

»Fast alle«, antwortete Shi Kassia dem Wächter des Feuers. »Zwei Studenten waren auf Abenteuerreise und hatten sich entgegen den Anweisungen zu weit von den Toren entfernt. Sie sind offenbar nicht mehr rechtzeitig hindurchgekommen.«

Für einen langen Atemzug versetzte das den ganzen Raum in Stille, ehe Shi Erigen schwer seufzte. »Wir müssen den Angehörigen Bescheid geben.«

»Ich habe meine Tempelhüter bereits angewiesen, die Nachricht zu überbringen.«

Erigen nickte. »Was passiert mit den Kindern aus den Kolonien? Sie dürfen nicht auf Brïn bleiben.«

»Die neue Edana wird bald lernen, die Magie zu benutzen, die ihr anvertraut wurde. Dann kann sie ein neues Tor nach Terra errichten. Der Aufbau einer neuen Kolonie wird anfangs sicher etwas an Komfort vermissen lassen, aber es wird ausreichen.«

»Sie ist selbst noch zu jung, um auf Brïn leben zu dürfen. Hast du sie dir angesehen, Kassia? Sie sieht aus wie ein halbes Kind und hat überhaupt keine Ahnung von der Magie, die ihr gegeben wurde. Es könnte Monate dauern, bis sie so weit ist.«

»Darüber können wir uns später noch Gedanken machen, Erigen.«

»Was für ein furchtbarer Tag das ist«, ächzte er. »Können wir die Kinder solange auf einen der Nachbarplaneten bringen? Was meinst du, Kassia?«

Die Wächterin des Erdelements studierte ihren Freund mit bohrendem Blick. Sie kannte ihre Mitstreiter alle gut. Sie standen seit beinahe vier Jahrzehnten Seite an Seite, und sie wusste genau, wann Erigen einen Hintergedanken hatte. »Du willst, dass ich meine Familie auf Naruht kontaktiere.«

»Das ist unsere beste Chance.«

»Hast du vergessen, dass ich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde?«

»Wie könnte ich? Aber du hast auch gesagt, die Naruhti lassen ihre Töchter niemals ganz im Stich.«

»Naruht ist nicht frei von Magie.«

»Aber es ist nach Terra die beste Alternative. Sie könnten dort leben, ohne Schaden zu nehmen.«

Kassia verschränkte nachdenklich die Arme und sah ihren Gefährten lange Sekunden mit undurchdringlicher Miene an. »Na schön, ich werde es versuchen.«

»Ich hätte nie erlauben dürfen, dass Zolana Brïn verlässt. Wieso war sie überhaupt dort? Was wollte sie auf Terra, außerhalb der Kolonien?«, kam es leise aus Lordens Richtung.

Kassia und Erigen unterbrachen ihr Gespräch und schauten zu dem sonst unbeugsam fröhlichen Wächter, der jetzt wie ein gebrochener alter Mann im Stuhl hing. Shi Lorden und Shi Kamika waren noch immer kaum ansprechbar. Der Verlust Zolanas hatte die beiden besonders hart getroffen.

»Sie hat etwas gesucht oder jemanden«, antwortete ihm Kamika heiser. »Mehr hat sie auch mir nicht gesagt.«

»Sie muss doch einen Grund gehabt haben. Warum wollte sie, dass nur du sie begleitest, Kamika? Ausgerechnet du?« Lordens Stimme zitterte. Man hörte den Schmerz darin, aber auch eine Spur von Wut.

»Wie ist das gemeint?«

»Du weißt, was ich meine.«

»Bei den Adern, Lorden. Dass du mir so etwas zutraust, ist schlimm genug, aber Zolana?« Sie funkelte Lorden wütend aus geröteten Augen an. »Ich habe sie nicht angefasst. Das hätte sie mir auch nie erlaubt.«

»Aber warum würde sie sonst verlangen, dass du sie nach Terra begleitest und nur du allein? Du verabscheust diese Welt.«

»Lorden, ich weiß es doch auch nicht!«, raunzte Kamika hilflos.

»Bitte fangt nicht an zu streiten«, bat Kassia beschwichtigend. »Wir müssen jetzt alle stärker denn je zusammenhalten.«

»Kann ich etwas für dich tun, Kamika?«, fragte Erigen vorsichtig.

Die Wächterin der Winde schüttelte den Kopf und er strich ihr liebevoll durch das goldblonde Haar. Zolanas getrocknetes Blut klebte noch immer an ihrer viktorianisch-terranischen Kleidung und unter ihren sonst sauber gepflegten Fingernägeln. Sie saß die meiste Zeit stumm und reglos da, und Erigen wusste, sie wünschte sich, aus diesem entsetzlichen Traum aufzuwachen. Sie war nicht die Einzige.

»Ich komme zurecht. Kümmert euch um Lorden, er braucht euch dringender. Wenn ihr mich entschuldigt, dann gehe ich mich jetzt waschen und statte Tari einen Besuch ab.« Kamika erhob sich und wich den Blicken der Shi aus, als sie mit steifen Schritten den Raum verließ.

»Kamika, ich habe es nicht so gemeint. Kamika!« Lorden sah ihr verzweifelt nach. Er hätte am liebsten laut gebrüllt. Er wollte der Wächterin nicht die Schuld am Tod der Edana geben, aber ein Teil von ihm tat es doch. Er wollte, dass jemand schuld war. Egal wer. »Es tut mir leid«, hauchte er und vergrub das Gesicht in den Händen. Kamika war längst fort.



Sofia hockte in der Ecke des Zimmers und umklammerte ihre Knie. Endlich hatten die Fremden sie alleine gelassen, statt sie mit Fragen zu löchern, deren Inhalt sie nicht verstand. Sie verstand wirklich niemanden und niemand verstand sie. Die Männer und Frauen, die sie hierhergebracht hatten, redeten mit ihr in einer Sprache, die Sofia noch nie gehört hatte. Lady Kamika schien die Einzige zu sein, die mit Sofia sprechen konnte, doch von der hatte das Mädchen nichts mehr gesehen, seit sie hier abgeliefert worden war. Wo dieses hier war, konnte Sofia nicht sagen. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der Steinkreis im Wald, das Wasser, das sie voll und ganz einhüllte und ihr die Luft abschnitt, die Angst und das Gefühl zu ertrinken. Zuerst hatte sie den Boden unter den Füßen verloren und dann die Orientierung. Als sie endlich wieder etwas anderes wahrgenommen hatte als weißes, blendendes Licht, hatte die Welt sich scheinbar so stark vor ihren Augen gedreht, dass ihr übel geworden war. Fremde Menschen in fremder Kleidung hatten um sie herumgestanden und in einer fremden Sprache auf sie eingeredet. Zum ersten Mal hatte sie beim Anblick von Lady Kamika Erleichterung empfunden, als diese in ihr Sichtfeld getreten war und ihr, wenn auch grob, auf die Füße geholfen hatte.

Inzwischen saß Sofia seit bestimmt einer Stunde hier und traute sich nicht, sich aus ihrer Ecke herauszubewegen. Es war warm, obwohl draußen vor dem Fenster der Schnee fiel und in ihrer Kammer kein Kamin brannte. Genau genommen war nicht einmal ein Kamin zu sehen. Alles war sauber und hell und weckte bei Sofia den Eindruck, dass dieser Ort für sehr viel wohlhabendere Menschen als sie bestimmt war. Es wirkte alles fremdartig. Die Wände leuchteten aus sich selbst heraus und tauchten den Raum in ein warmes Licht. Sie hatte noch niemals ein Zimmer wie dieses gesehen oder so feine Stoffe und Teppiche, wie sie hier lagen. Sofia fühlte sich plötzlich schäbig und schmutzig in ihren braunen, fleckigen Arbeitskleidern. Der Stoff juckte so beständig auf ihrer Haut, dass sie das Gefühl normalerweise nicht mehr wahrnahm, doch hier zwischen diesen vornehmen Stoffen, Teppichen und Gardinen spürte sie es deutlicher denn je und kratzte sich in einem fort, was es nur noch schlimmer machte. Auch glaubte sie ihren eigenen Körper zu riechen. Eine saure Mischung aus Straßendreck und Schweiß, neben anderen Dingen, die ihr Körper absonderte. Sie fragte sich, ob das hier ein Gefängnis war. Wenn es eines war, dann war es viel schöner als jede Kammer, die sie als freie Frau bewohnt hatte. Es hätte sicher schlimmer kommen können.

Trotzdem fürchtete sich Sofia. Sie wusste nicht, was sie erwartete, wo sie war, wer Freund oder Feind war. Wieso hatte Lady Kamika sie hierhergebracht? Was wollten all die Fremden von ihr? In was war sie bloß hineingeraten? Verdächtigten sie Sofia womöglich, Lady Zolana ermordet zu haben? Würde man sie bald abholen, um sie hängen zu lassen?

Sofia wimmerte und kaute sich die Fingernägel wund.

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Kapitel 3


Skraelsen


Brïn im Antheste 11'384 n. S.

Westlicher Gebirgspass, Euridis



Der Hilferuf der Jäger sorgte bei den Weltenwächtern für Besorgnis. Seit die Portale zu den Nachbarplaneten zusammengebrochen waren, war auch das magische Netz geschwächt, das die Skrae davon abhielt, auf Brïn einzufallen. Die Jäger hatten seit Generationen nicht mehr derart viel zu tun gehabt wie in den letzten zwei Monaten. Als Shi Kassia den Hilferuf eines erdgebundenen Jägers empfing, fiel ihre sonst ruhige und gelassene Grundhaltung von ihr ab und die Jägerin in ihr gewann die Oberhand. Die vier Shi hatten sich umgehend auf ihre Greife gesetzt und eilten nun dem Ort entgegen, an dem die Jägerstaffel offenbar in einen Hinterhalt der Skrae geraten war. Zahlreiche Jäger lagen bereits reglos auf einer weiten Wiese, als die Shi in Sichtweite kamen. Wer sich noch aus eigener Kraft bewegen konnte, hatte hinter umgefallenen Baumstämmen oder Felsen Schutz gesucht. Die Shi hielten auf die größte Gruppe Jäger zu, als eine ganze Schar von Skrae aus dem Dickicht des umliegenden Waldes brach und in einem tödlichen Schwarm auf die geschwächten Jäger zueilte. Die Shi trieben ihre Greife an, doch sie sahen, dass es sinnlos war. Sie würden die Jäger nicht vor den Skrae erreichen.

»Scheiße!«, fluchte Erigen. »Sie sind zu weit entfernt.«

»Nicht für mich«, antwortete Kamika trocken und lenkte ihr Greifweibchen direkt auf die Skrae zu. Der Wind folgte ihr in einem kräftigen Strom und verlieh ihrem Greif noch mehr Geschwindigkeit.

»Kamika!«, rief Lorden ihr nach, aber die Wächterin der Winde ignorierte ihn, wie so oft in den letzten Wochen. Sie hob die Füße auf den Rücken ihres Greifs und richtete sich auf. Das Tier schlug ein weiteres Mal kräftig mit den schneeweißen Flügeln und holte ein letztes Mal Schwung, dann zog es die Schwingen dicht an den Körper und schoss diagonal in die Tiefe. Kamika stieß sich mit aller Kraft ab, ehe ihr Greif die Flügel wieder spreizte und in einer sanften Kurve laut kreischend zurück in den Himmel aufstieg. Kamika aber glitt wie ein Speer durch die Luft. Sie zog den goldenen Bogen vom Rücken und richtete ihn auf den ersten Skra ganz vorne an der Spitze des Schwarms. Sie zog die Sehne zurück und ein magischer Pfeil bildete sich mit knisternder Energie zwischen ihren Fingern. Sie zielte und schoss. Noch bevor der erste Pfeil sein Ziel erreichte, hatte sie bereits drei weitere abgeschossen. Sie ließ Pfeil um Pfeil von der Sehne gleiten und jeder einzelne traf ins Ziel. Die Reihen der Skrae wurden dünner und die ölig schwarzen Kreaturen stoppten verunsichert ihren Vormarsch, scharten sich umeinander und kletterten über die eigenen Artgenossen, während die goldenen Pfeile unbarmherzig aus dem Himmel auf sie niederregneten. Sie fixierten die schnell fallende Wächterin mit ihren hellgelb glühenden Augen und fletschten ihre scharfen Reißzähne oder schlugen wütend mit langen Klauen in die Luft.

Kamika stürzte tiefer und rief schließlich die Winde herbei, die ihren Fall verlangsamten. Sie steckte den Bogen zurück in die Rückenhalterung und zog stattdessen ihre beiden Dolche vom Gürtel. Sie war furchtlos, als sie mitten durch die Schar Skrae brach und mit einem kräftigen Ruck auf den Füßen im Gras landete. Die Druckwelle stieß die schuppigen Kreaturen auseinander und für einen kurzen Moment stand die Wächterin in dem einsamen Auge eines schwarzen, wirbelnden Sturms. Dann begriffen die Skrae, was geschehen war, und fanden ihre Orientierung wieder. Sie richteten ihre gierigen Blicke auf die einsame Shi und stürzten wie von einem einzigen Gehirn gesteuert auf Kamika zu. Die Wächterin erwartete sie bereits. Ihre Dolche schnitten singend und mit tödlicher Präzision durch die Luft. Kamika hieb Gliedmaße um Gliedmaße ab und hatte ein Dutzend Kreaturen erlegt, ehe die erste zu ihr durchbrach und ihr eine Klaue über den Arm zog. Kamika schrie, überrascht von dem Schmerz, ließ sich davon aber nicht beirren. Sie lenkte einen der Dolche ins Auge des Skra.

Die Körper türmten sich bald kreisförmig um sie herum auf und sie kämpfte, ohne müde zu werden. Gnadenlos führte sie ihren wütenden Tanz auf, bis jeder einzelne Skra auf der Lichtung auf sie konzentriert war. Die schwarze Masse baute sich um Kamika auf, um schließlich wie eine unaufhaltsame Lawine auf die Wächterin einzustürzen. Kamika sah sie kommen und hätte sich fürchten sollen. Stattdessen schloss sie die Augen, lächelte und wartete.

Die Feuerwand brach in einem lodernden Sturm über die Skrae herein und riss die Hälfte der Kreaturen umgehend in den Tod. Ihre Asche verteilte sich über die weite Graslandschaft. Wurzeln, spitz wie Speere, stießen aus dem Boden empor und bohrten sich wie peitschende Tentakel durch die Körper der Skrae. Kreatur um Kreatur wurde von den Pflanzen aufgespießt und fortgeschleudert. Die leblosen Reste flogen durch die Luft und fielen mit einem dumpfen Knall ins Gras, wo das Erdreich sich öffnete und sie verschlang.

»Kamika! Kamika!«, schrie Erigen und schickte eine Feuerschwalbe nach der anderen in die Menge der Skrae. Lorden spürte die unterirdischen Wasseradern auf und ließ sie in kraftvollen Fontänen, die einen Ring um Kamika bildeten, aus dem Boden schießen. Die Skrae kreischten und wurden auseinandergeworfen, manche ertranken in der unnatürlich unnachgiebigen Wassersäule. Das Kreischen der Skrae verstummte bald und man hörte nichts als das Atmen der Wächter.

Lorden verschloss das Wasser wieder im Erdreich und wurde von dem reflektierten Licht auf Kamikas goldener Rüstung geblendet. Inmitten der fallenden Asche sahen er und die übrigen Shi ihre Freundin zu Boden sinken. Ein sterbender Engel, fuhr es ihnen einheitlich durch den Kopf, als hätten sie diesen terranischen Ausdruck ständig in Gebrauch.

Die Shi rannten. Erigen fiel als Erster vor Kamika auf die Knie und hob ihren Oberkörper in den Arm. Er tastete sie in Eile ab, begutachtete die Schnitte. Sie ächzte und verzog das schmutzige Gesicht vor Schmerz. Ihr Brustpanzer hatte das meiste abgefangen, trotzdem hatte sie zahlreiche Schnittwunden an Armen und Beinen. In ihrer linken Bauchhälfte befand sich ein tiefer Stich, wo eine der scharfen Schwanzspitzen die Wächterin sauber durchbohrt hatte. Sowohl ihr eigenes rotes Blut als auch das ölig schwarze Blut der Skrae klebten an ihr und durchtränkten den einst weißen Anzug. Erigen goss sofort Heilwasser in den tiefen Stich und drückte die Wunde ab, um den Blutfluss zu stillen.

»Lebt sie?«, schrie Lorden und rutschte durch den frischen Schlamm. In einer wenig anmutigen Bewegung gelangte er zu seiner Mitstreiterin, reckte im selben Zug die Hände nach ihr und spürte mit seinen Sinnen den Körper der Windwächterin nach sichtbaren und unsichtbaren Verletzungen ab. Kamika fluchte leise und Lorden sprang wieder auf die Füße, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie nicht in Lebensgefahr war. Er raufte sich die Haare und lief aufgebracht auf und ab. Die Verletzungen waren weniger schlimm, als sie im ersten Moment erschienen. Oberflächliche Schnitte, die mit der richtigen Behandlung schnell, und ohne große Spuren zu hinterlassen, verheilen würden. Die Wunde in ihrem Bauch hatte alle wichtigen Organe knapp verfehlt. Er hatte sie schon in schlimmerer Verfassung erlebt. Lorden war erleichtert und wütend zugleich. »Es reicht, Kamika! Das muss aufhören! Ich kann nicht noch jemanden aus unserer Familie verlieren!« Er trat mit voller Wucht gegen einen der toten Skraekörper und stürmte seinem eigenen Greif entgegen, der gehorsam auf seinen Reiter zugetrabt kam.

Kamika drehte mühsam ihren Kopf und sah dem Wasserwächter nach. »So temperamentvoll habe ich ihn selten gesehen«, krächzte sie und bereute ihren Versuch zu lachen sofort. Die Gesichter der beiden anderen Wächter blieben ernst.

»Er hat recht. Wenn du so weitermachst, bringst du dich noch um.«

»Was ist mit den Jägern?«, fragte Kamika, ohne dem stillen Vorwurf Beachtung zu schenken.

»Wohlauf«, antwortete Kassia. Ihre Gedankenstimme klang ebenfalls gereizt. Es war weniger ein echter Klang als ein unübliches Stechen in Kamikas Kopf.

»Na bitte. Worüber beschwert ihr euch?«

»Kamika. Das kann nicht so weitergehen.« Erigen raunzte unzufrieden und schüttelte dann den Kopf. Es hatte keinen Sinn. Sie hatten dieses Gespräch in den vergangenen Wochen schon mehrfach geführt.

Kassia zog ein Tuch aus einer ihrer Taschen und begann, den Schmutz von Kamikas Gesicht und den Wunden zu wischen. Ihr Blick war härter als üblich und ihre Bewegungen ein wenig zu grob. Kamika aber biss die Zähne zusammen und sagte nichts dazu. Kassia war offensichtlich wütend auf sie, auch wenn die stumme Wächterin es zu verbergen versuchte.

Nun kam auch Lorden zurück und wirkte nur wenig beherrschter als zuvor. Er kniete sich nieder und leerte eine ganze Flasche konzentriertes Heilwasser auf Kamika aus. Er verteilte die schimmernde Flüssigkeit vorsichtig über ihrem Körper und ließ seine Magie hineinfließen. Das Wasser spülte in die Schnitte, reinigte die Wächterin vom verbliebenen Blut der Skrae und begann, die Verletzungen sofort zu verschließen. Kamika spürte die kühle Liebkosung der Wassermagie und ihre Schmerzen verblassten unmittelbar. Sie schaute zu Lorden auf, der mit verschränkten Armen und düsterem Blick zurückstarrte. Er schnaubte, noch immer verärgert. Es war seltsam, ihn so zu sehen. Der neue Lorden wirkte viel älter und strenger als der alte Lorden, der immer gelacht und damit im Handumdrehen Herzen höherschlagen lassen hatte.

»Wenn du noch einmal so ein riskantes Ding durchziehst, Kamika, kette ich dich höchstpersönlich im Turm fest und werfe den Schlüssel weg«, sagte er in seinem neuen Befehlston.

»Mach keine große Sache daraus, Lorden. Ich wusste, dass ihr nicht weit hinter mir wart.«

»Das war das letzte Mal!«, wiederholte er laut und verließ sie mit vor Wut geblähten Nasenflügeln.

Erigen und Kassia halfen Kamika auf, nachdem ihre Wunden bestmöglich gereinigt und versorgt waren. Die tieferen Stiche würden mehr Zeit und fähigere Hände zur Heilung brauchen. Kamika müsste sich ein paar Tage schonen, doch sie hatte Glück gehabt. Mal wieder.

»Bring sie zurück, Erigen. Wir kümmern uns um die Jäger.«

»Es geht mir gut, Kassia«, versuchte sich Kamika zu widersetzen.

»Keine Diskussion jetzt.« Erigen stützte Kamika auf dem Weg zu Tari und half ihr, auf den Rücken des Greifs zu steigen. Sie unterdrückte ein Ächzen, als ihre Verletzungen sich mit einem unangenehmen Ziehen und Stechen meldeten. Ihr Begleiter schaute sie besorgt an. »Mach dich nicht so breit, ich steige hinter dir auf«, sagte er.

»Ich komme zurecht!«

»Du bist nicht unsterblich, verdammt. Jetzt hör auf zu maulen und lass mich dir helfen.« Der Feuerwächter knurrte missmutig und ignorierte den Protest seiner Freundin. Er schwang sich hinter ihr in den Sattel, klemmte seine Arme um die verletzte Shi und rief dem Greif einen Befehl zu. Das Tier breitete die Schwingen aus und begann seinen kraftvollen Anlauf.

Erigen machte sich Sorgen um Kamika und er fühlte sich ungewohnt machtlos, denn er wusste nicht, wie er sie von diesem selbstzerstörerischen Weg abbringen sollte.



»Wie geht es ihr?«, brummte Lorden, als er, mit Kassia im Schlepptau, verdreckt und müde heimkehrte.

»Sie wird es überleben. Die Heiler behalten sie über Nacht im Tempel«, antwortete Erigen.

»Das heißt, sie steht vermutlich schon wieder auf ihrem Balkon und starrt in die Leere.«

»Sie hat mir versprochen, bei den Heilern zu bleiben.« Erigen zwinkerte leichthin.

»Und du glaubst tatsächlich, sie gehorcht dir?«

»Es war eine Bitte, kein Befehl.«

»Viel besser!«, echauffierte sich der Wasserwächter, schüttelte den Kopf und schaute aus dem Fenster. »Sie hat kein Recht, sich so aufzuführen. Zolana war meine Frau. Es ist auch für mich nicht leicht, aber ich habe eine Verantwortung. Genau wie Kamika. Irgendetwas müssen wir tun, um sie wieder zur Vernunft zu bringen.«

»Du kannst ihr nicht vorschreiben, wie sie trauern darf, mein Freund.«

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Kapitel 4


Jack


Brïn im Antheste 11'384 n. S.

Eydwall, Ideris



Zehn Wochen. Solange hatte er darauf gehofft, dass sich das Tor nach Terra wieder öffnen würde. Doch den letzten Berichten zufolge sah es so aus, als ob die Tore noch sehr lange verschlossen bleiben würden. Zu lange. Die neue Edana schien nicht allzu nützlich zu sein, aber was erwartete er auch von einer Terranerin? Es war ohnehin eine Zumutung, dass eine wie sie die Nachfolge von Edana Zolana antreten sollte.

Dass er auf Brïn festsaß, missfiel ihm von Tag zu Tag mehr. Zuerst dachte er, er könne warten. Doch dann wurde ihm klar, dass es auch Terraner auf Brïn gab. Allerdings war das ein gefährlicher Gedanke, denn auf Brïn war das Risiko, entdeckt zu werden, deutlich größer. Auf Terra hatte er sich lediglich mit den einfachen und rückständigen Mitteln der Terraner auseinandersetzen müssen, was kaum eine Herausforderung dargestellt hatte. Die Terraner waren Marionetten unter seinen fähigen Fingern.

Auf Brïn sahen die Dinge ein wenig anders aus. Diese Welt war viel fortschrittlicher und besaß Techniken, ihn zu entlarven, die er sich in ihrer Gänze nicht vorstellen konnte. Es würde viel Vorsicht und Planung erfordern, hier seine Spuren zu verwischen. Natürlich hatte er einen Vorteil. Er war der einzige Mensch auf Brïn, dessen Blut nicht im Zentralarchiv erfasst war. Selbst wenn er bei seiner Arbeit Haare oder Hautschuppen verlor, würde niemand sie so schnell mit ihm in Verbindung bringen können. Er dachte darüber einen Moment lang nach und lächelte schließlich in sich hinein. Seine Mission auf Brïn fortzusetzen, war vielleicht nicht die schlechteste Entwicklung der Ereignisse. Es würde ihn fordern und seine Kunst verbessern. Wenn er es auf Brïn schaffte, dann war er wahrlich ein Meister. Ein Magier, wie es keinen zweiten gab. Zudem waren es letztlich doch genau jene Terraner hier auf Brïn, die seine Aufmerksamkeit verdienten.

Jack zog sich dichter in den dunklen Bereich der Gasse zurück, als die Tür zur Bar aufgestoßen wurde. Ein lautes Getöse drang aus dem Innern. Das Gegröle betrunkener und streitlustiger Gäste. Offenbar war eine heftige Rauferei im Gange, denn er sah einen Stuhl durch den Raum fliegen. All das interessierte Jack jedoch wenig. Es war das gleiche Treiben wie an beinahe jedem Abend. Nein. Er wartete auf die Frau, die gerade aus dem Etablissement floh, ihren Mantel eng um sich schlang und die Kapuze tief ins Gesicht zog. Sie bemerkte ihn in ihrer Eile nicht und begab sich leicht torkelnd auf den Heimweg. Die Gasse war leer. Es war spät und das Wetter nasskalt. Der Winter hielt sich dieses Jahr ungewohnt lange. Jeder, der bei Verstand war, würde die Straßen in einer Nacht wie dieser meiden.

Die Frau rutschte auf den glatten Pflastersteinen aus und stieß gegen die Hauswand. Sie kicherte in ihrem alkoholisierten Zustand und sprach mit sich selbst. »Über Stock und über Stein, aber brich dir nicht das Bein …«, sang sie in schiefen Tönen. Ein Kinderlied von Terra. Jacks Mutter hatte es auch ihm gelegentlich vorgesungen.

Die Frau in der Gasse war noch nicht lange auf Brïn. Gerade einmal vierunddreißig Jahre, und, wie auf dieser Welt üblich, war auch sie seit ihrer Ankunft um keinen weiteren Tag gealtert. Die Magie Brïns hatte sie mit offenen Armen empfangen und sie mit ihrer heilenden Kraft gesegnet. Seit acht Wochen beobachtete er sie dabei, wie sie das Geschenk, das ihr von der Quelle gemacht worden war, undankbar mit Füßen trat. Beinahe jeden Abend frönte sie dem Schnaps und stahl von ihrem Arbeitsplatz berauschende Elixiere, mit denen sie sich den Verstand ausknipste. Es war an der Zeit zu handeln. Er vergewisserte sich mit einem letzten schnellen Blick, dass die Luft rein war, dann trat er flink in das schwache Licht einer Straßenlaterne.

»Guten Abend, mein Lämmchen.«

Sie erschrak und wich vor ihm zurück. Er sah, wie sich der Schrei in ihrer Kehle formte. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung trat er zu ihr und presste ihr die Hand fest auf den Mund. Als sie sich zu wehren begann, drückte er sie dicht an die Mauer, und zog mit der freien Hand seine eigene Kapuze zurück. Er schaute sie mit seinen hellbraunen Augen liebevoll an. Ihr Körper wurde weich und nachgiebig unter seiner Berührung und er nahm die Hand von ihrem Mund.

»Du hast mich erschreckt, Jack!«, tadelte sie ihn. »Du sollst das doch nicht tun.«

»Hmhm. Du solltest eben nicht in einsamen Gassen verkehren«, sagte er mit einer Stimme, die wie warmer Honig war.

»Deswegen habe ich ja dich edlen Ritter. Geleitest du mich nach Hause?«

Sie säuselte ihm mit geröteten Augen süße Worte zu und schlang die Arme um ihn, wie ein glibberiger Tintenfisch die Tentakel um die Beute. Die Frau war entsetzlich abstoßend, besonders in diesem Zustand. »Aber natürlich. Warum sonst wäre ich gekommen, mein Lämmchen?«

»Oh, da könnte ich mir schon das eine oder andere vorstellen.« Sie kicherte wieder, presste sich noch fester an ihn und drückte ihm einen stinkenden Schnapskuss auf. Er ließ sie für eine Sekunde gewähren und schob sie dann bestimmt von sich.

»Nicht hier«, sagte er. »Lass uns zu dir gehen. Da ist es wärmer und gemütlicher als in dieser verschneiten Gasse. Außerdem habe ich ein Geschenk für dich.«

»So? Was ist es?«, fragte sie aufgeregt und zappelte in seiner Umarmung.

»Sei nicht so ungeduldig, mein Lämmchen. Komm! Je schneller wir aufbrechen, desto eher kann ich es dir geben.« Sie ließ sich von Jack stützen und durch die Nacht begleiten.

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Kapitel 5


Wir, die Quelle


Gestern, Heute und Morgen



Von meiner Sphäre aus beobachte ich die beiden Frauen. Ihre Namen sind Celeste und Juno. Celeste ist eine behütet aufgewachsene Eingeborene von Brïn. Ihre Vorfahren dort reichen sieben Generationen zurück. Sie kennt jedes Detail ihrer Heimatwelt, versteht die Abläufe und die Aufgaben der Edana und ihrer Shi wie kaum eine andere. Sie ist engagiert und genießt ihre Karriere als Lyre, auch wenn sie dabei ein wenig uninspiriert vorgeht. Sie ist dennoch perfekt vorbereitet.

Juno dagegen ist eine Terranerin und ahnt nicht einmal etwas von der Existenz Brïns. Sie lebt in einer Zeit, in der sich die Menschen, trotz ihrer Vielzahl und erzwungenen räumlichen Nähe, weiter denn je voneinander entfernt haben. Sie wird in den nächsten Stunden ihres Lebens sterben. Dagegen kann ich nichts tun. Es ist eine Tatsache. Sie wird auf dem Weg zur Arbeit von einem Wagen erfasst werden, weil sie in ihrer Eile eine rote Ampel überquert. Ihr Leben ist anstrengend. Nicht das schlechteste aller Zeiten, aber Zeit ist es, die ihr zu einem erfüllten Leben fehlt. Sie hat kaum Zeit für Freundschaften, ihre letzte Beziehung hat gerade einmal drei Monate gehalten, ehe sie zerbrach. Sie war nicht überrascht, aber dennoch gekränkt. Niemand wird um sie trauern, wenn sie geht, niemand wird sie vermissen. Ich frage mich, ob sie sich dessen bewusst ist. Nicht, dass es ein Kriterium für unsere Wahl wäre, es stimmt mich bloß ein wenig traurig. Für einsame Menschen hatte ich schon immer eine Schwäche.

Juno ist klug und einfühlsam, aber nicht perfekt als erste Wahl. Nicht, wenn es nach Midori geht. Celeste ist als Einheimische besser vorbereitet, deswegen, findet Midori, sollte sie es sein, die wir auswählen. Ich hätte ihr nicht widersprochen, wenn mir nicht das goldene Leuchten in Junos Aura aufgefallen wäre und nicht plötzlich alles einen Sinn für mich ergeben hätte. Meine Suche auf Terra … mein Tod. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort. Das Leuchten in Junos Aura ist eine Markierung, die niemand außer uns sieht. Sie hat noch eine zweite Bestimmung. Wir kennen diese Bestimmung, und wenn ich noch ein schlagendes Herz hätte, dann würde es ihretwegen vor Freude und Dankbarkeit wild in meiner Brust klopfen. Midori ist der Meinung, dass das keinen Einfluss auf unsere Entscheidung haben darf. Aber sie ist schon so lange tot, dass sie vergessen hat, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Eines Tages werde auch ich es vergessen, aber im Moment sind meine Erinnerungen an das Leben noch frisch und lebendig. Obwohl es Juno an Wissen um Brïn mangelt, und trotz ihrer schlechten emotionalen Verfassung, ist sie meine erste Wahl.

»Ich will sie«, sage ich zu den anderen Geistern und zeige auf Juno, die gerade dabei ist, aufzuwachen, und sich gegen den Anbruch eines weiteren langen und freudlosen Tages zu wehren versucht.

»Die Quelle will Celeste.«

»Die Quelle macht nur Vorschläge«, wende ich ein.

»Du verlierst das höhere Ziel aus den Augen, Zolana. Celeste ist bereit. Sie ist eine Brïnai. Das persönliche Glück Einzelner ist im Moment nicht so wichtig.«

Aus Gewohnheit beiße ich die Zähne zusammen. »Sie oder keine von beiden«, sage ich mit eiserner Stimme und nicke in Junos Richtung.

Die Geister sehen mich an, ihre Gesichter gleichen ausdruckslosen Mienen. Ich weiß nicht, ob sie sich von mir erpresst fühlen. Es ist mir auch egal, denn mir ist das Schicksal Einzelner sehr wichtig und als Jüngste in diesem Kreis zählt meine Stimme mehr als ihre. Das habe nicht ich bestimmt, sondern die Quelle. Sie will menschliche Entscheidungen und dies ist eine sehr menschliche Entscheidung.

»Vertraut dem Urteil unserer Schwester«, sagt Alyana, meine Vorgängerin. »Kin Juno besitzt einen Mehrwert, den Celeste nicht hat.«

Ich bin dankbar, dass sie mich unterstützt. Sie war sehr viel länger Edana von Brïn, als ich es war. Siebenundvierzig Jahre, so lange habe ich mein Amt bekleidet, ehe ich ermordet wurde. Doch Alyana respektiert mein Hiersein und meine vorangestellte Meinung ohne Widerspruch.

»Bist du dir sicher, Zolana?«, fragt Midori.

»Ja, ich will Juno.«

»Wie du wünschst«, sagen die übrigen Geister schließlich wie aus einem Mund.

Ein Lächeln huscht über meine Lippen und ich wische Celestes Bild fort. Junos Kater stromert inzwischen im Wohnzimmer der jungen Frau herum und fängt Flusen mit der Pfote. Mein Geist schlüpft für einen Moment in seinen Körper. Er ist fuchsteufelswild, als ich das tue, und wehrt sich mit aller Kraft.

Katzen leben zwischen den Welten und haben ein natürliches Gespür für Magie. Von allen Tierarten sind sie die einzigen Geschöpfe, die merken, was mit ihnen geschieht. Deswegen wehren sie sich gegen Magie und meiden Menschen, die sie wirken können. Sie mögen es ganz und gar nicht, als Marionetten benutzt zu werden, darum ist ihre Ansiedlung auf Brïn wohl auch gescheitert. Doch heute bleibt Junos Kater keine andere Wahl, denn ich brauche seine Hilfe. Ich steuere den Körper zu dem Zimmerbrunnen und ziehe mit meinen Fingern an einem Strang der Magie. Auf Befehl zuckt das kleine Tier und gibt ein gluckerndes Würgen von sich. Juno kennt dieses Geräusch gut, sie ist inzwischen darauf konditioniert und schlagartig hellwach. Hastig springt sie aus dem Bett. Ich ziehe mich aus dem protestierenden Körper zurück, im selben Moment, als er seinen Mageninhalt ausgießt.

Ein Tag fängt nicht gut an, wenn einem die Katze in den Brunnen kotzt. Als Juno an diesem Morgen nun von ebendieser blubbernden Schweinerei im Wohnzimmer begrüßt und von ihrem Kater mit dem unschuldigsten aller Blicke erwartet wird, denkt sie sicherlich, dass der Tag kaum noch schlimmer werden könnte. Gleichzeitig ahnt sie natürlich, dass derlei Begebenheiten meist erst der Auftakt eines insgesamt bescheidenen Tages sind. Ich sehe die Bestätigung in ihren Augen, als ihr klar wird, dass sie deswegen zu spät zur Arbeit kommen und weitere Minuspunkte einfahren wird. Junos Kater, der noch ganz verstört ist von meinem Übergriff und das herannahende Donnerwetter kommen sieht, nutzt seinen Vorsprung und flüchtet durch das Fenster, das ich für ihn geöffnet habe. Er rennt durch den Hinterhof, während Juno besorgt die Verfolgung aufnimmt. Eine Hauskatze hat in Junos verkehrsbelebter Nachbarschaft keine großen Überlebenschancen. Aber hätte ihr in diesem Augenblick jemand gesagt, dass sie schon wenige Minuten später durch eine unscheinbare Pfütze rennen wird, und diese sie mitten in der Bewegung einfach verschlucken und in einer neuen Welt ausspucken wird, so hätte sie sich die Verfolgung des Pelzviehs vielleicht doch noch einmal überlegt oder ihren Schlafanzug wenigstens gegen straßenfähige Kleidung getauscht. Da sie allerdings nichts von alledem ahnt, kommt es, wie es kommen muss.

Ich leite den kleinen Kater, indem ich seine alternativen Routen mit wenigen Spritzern Magie blockiere. Er weicht den Blockaden nur zu bereitwillig aus. Juno sprintet hinter ihm her, springt über Äste und Sträucher und stolpert geradewegs in meine unschuldig wirkende Pfütze hinein, die hinter einer kleinen Mauer lauert. Sofort spürt sie den kräftigen Ruck, der sie einsaugt. Ich sehe den Schreck in ihren weit aufgerissenen Augen, ehe sie darin versinkt und durch einen wirbelnden Strudel aus Licht und Wasser katapultiert wird. Es sind nur Sekunden, bis sie wieder Luft an der Haut spürt, aber sie keucht dennoch und spuckt Wasser. Vor ihren Augen rasen jetzt die Bilder vorbei und der Aufprall treibt ihr die verbliebene Luft aus den Lungen. Rational betrachtet wird Juno nun langsam klar, dass sie still auf dem Boden liegt, doch würde man sie nach einer weniger sachlichen Meinung fragen, so würde sie vermutlich darum bitten, dass jemand den Schleudergang abstellen möge. Ich weiß aus Erfahrung, dass sich vor ihren Augen alles dreht und sie völlig außerstande ist, sich aufzurichten.

Sie hört das klägliche Maunzen ihres Katers und sucht mit den Augen die Umgebung ab. Das gestreifte Tier kommt vorsichtig auf sie zugelaufen und setzt sich patschnass auf ihre Brust. Sie legt die Arme um ihn. Ihr ist kalt, sehr kalt, aber ich kann ihr nicht helfen. Von hier aus muss sie alleine weitergehen. Ich sehe, wie sich ihr Blick verdunkelt, und sie verliert das Bewusstsein. Ich drücke mir die verschränkten Finger an die Brust und lächle hoffnungsvoll. Ich weiß, sie ist die richtige Wahl.



Kamika stand auf dem Balkon ihres Wohnbereichs und blickte zum Himmel auf. Der Horizont war klar und wolkenlos. Kalt, aber sanft wehte ihr der Winterwind durch das kurze blonde Haar. Er flüsterte zu ihr. Tröstlich. Vertraut. Wenn die Wächterin unruhig war, kam sie gerne hier heraus auf den Balkon, um den Wind zu spüren, lehnte sich auf die Brüstung und schaute auf ihre Welt, ihre Heimat hinab. Der Wind beruhigte sie – normalerweise. In letzter Zeit fiel es ihr schwer, zur Ruhe zu finden. Zu viel war geschehen. Sie hatte zu viel verloren. Kamika rieb sich über die Stelle, an der sie der Skra beinahe komplett durchbohrt hatte. Die vergangene Nacht hatte sie bei den Heilern verbringen müssen, und sie hatten Kamika nur widerwillig gehen lassen, als sie heute Morgen aus dem Krankenbett geklettert war und sich geweigert hatte, noch länger dort liegen zu bleiben. Erigen und Lorden hatten nicht unrecht. Sie genoss die Skraejagd, bei der sie ihrem unterdrückten Zorn freien Lauf lassen konnte, etwas zu sehr. Es kam ihr entgegen, dass die Angriffe der Kreaturen aggressiver wurden und immer häufiger stattfanden. Das magische Netz, das den Planeten vor deren Eindringen schützte, wurde schwächer, und nicht nur das. Die Magie, die den Schild unentwegt mit neuer Energie speiste, war im Ungleichgewicht. Es schien fast so, als ob sich ein Teil der Magie vollständig zurückgezogen hätte.

In weniger als einem Jahr würden die Shi mit Edana Sofia den schützenden Schild erneuern müssen. Aber wäre die neue Edana bis dahin so weit? Kamika hatte kein Vertrauen zu Sofia. Es lag nicht nur daran, dass sie eine Terranerin war und Kamika den Terranern grundsätzlich misstraute. Irgendetwas stimmte mit diesem Mädchen einfach nicht. Irgendetwas stimmte mit ihrer Magie nicht. Sofia und die Magie von Brïn waren nicht eins. Nicht so, wie sie es mit Zolana gewesen war. Vielleicht war bei der Übertragung der Magie etwas schiefgegangen. Vielleicht hatte Zolana nicht mehr genug Zeit gehabt oder vielleicht hatte sie einen Teil der Magie an die Perle gebunden, bevor man sie gestohlen hatte. Was es auch war, es störte die Harmonie des Schildes.

Kamika schloss die Augen und ließ sich vom Wind liebkosen. Frieden. Sie versuchte sich an einem zaghaften Lächeln und verdrängte für einen Moment alle unliebsamen Gedanken.

Eine Erschütterung in den magischen Adern riss die Wächterin aus ihrer friedvollen Atempause. Unruhe und Verwirrung zeichneten sich stattdessen auf ihrem Gesicht ab. Ein Portal hatte sich geöffnet. Ein sehr starkes, eines, das Brïn mit einer anderen Welt verband. Mit welcher? Und wie? Sie spürte den Adern der Magie nach, schickte ihre Sinne über die Winde hinaus in die Welt. Der Eintrittspunkt nach Brïn befand sich ganz in der Nähe, in Eydwall. Kamikas Verwunderung stieg. Sie spürte dem Weg des Portals nach, und dann … nichts. Es war fort, bevor sie herausfinden konnte, wo das Tor hinführte, oder besser gesagt, wo es seinen Ursprung hatte. Denn Brïn war der Zielort, nicht der Ausgangspunkt, das hatte sie noch erkennen können. Sie fand keine Spur von einem Eindringling. Also konnte es kein Skra sein. Vielleicht war es nur ein Flackern der Magie gewesen oder Sofia hatte endlich einmal Erfolg dabei gehabt, ihre Fähigkeiten zu testen.

Andere Gefühle drangen plötzlich zu Kamika vor. Aufregung. Hoffnung. Freude. Zuneigung. Wessen Emotionen waren das? Nicht ihre eigenen, das stand fest. Die Magie selbst schien der Ursprung zu sein. Kamika verstand nicht, was vor sich ging. Sie wünschte sich, nicht zum ersten Mal, die Magie könnte mit Worten zu ihr sprechen. Es würde vieles einfacher machen. Aber die Stimmen der Quelle zu hören war natürlich eine Fähigkeit der Edana, und die amtierende Edana war ihrer Gabe noch nicht gewachsen.

»Habt ihr das gespürt?«

Sie hörte Kassias Gedankenstimme, löste sich vom Geländer ihres Balkons und machte sich auf den Weg zum Besprechungsraum. Etwas ging vor sich und das war immerhin gut für eine Ablenkung.

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Kapitel 6


Eins


Brïn im Antheste 11'384 n. S.

Eydwall, Ideris


Der Mann von der Stadtwache schaffte es gerade noch rechtzeitig auf die Straße, bevor sich sein Mageninhalt in einer spektakulären Fontäne auf den Boden ergoss. Er war kreidebleich und zitterte am ganzen Leib. Ein seltsames Bild, denn er war ein kräftiger Mann in seinen besten Jahren und galt nicht als besonders sensibel. Doch was er oben in dem kleinen Apartment vorgefunden hatte, war zu viel gewesen.

Er gab alles bis auf den letzten Tropfen von sich und wischte sich das Gesicht mit einem Tuch trocken. Seine Augen tränten, das Erbrochene lief ihm inzwischen sogar aus der Nase und er bekam kaum Luft. Der Gestank der Verwesung schien sich in seinen Lungen und seinen Nasenflügeln festgesetzt zu haben und in seinen Ohren hörte er das unaufhörliche Summen des Fliegenschwarms, der sich an faulenden Gedärmen und geronnenem Blut gütlich tat. Eine neue Welle der Übelkeit überkam ihn, doch es blieb bei einem zwecklosen Würgen. An diesem Punkt war der Mann mehr als froh über seinen nunmehr gänzlich leeren Magen. Mit einem letzten tiefen Atemzug richtete er sich auf und zog seinen Taschenspiegel hervor. Er gab die Signatur der Zentralwache über den Rahmen ein und lieferte seinen knappen Bericht ab.

»Schickt sofort Verstärkung her. Bringt jemanden mit, der Spuren sichern kann. Sagt auch im Turm der Shi Bescheid. Die Wächter sollten davon erfahren.« Sein alarmierter Tonfall und das erbärmliche Erscheinungsbild waren offenbar überzeugend genug. Der Mann in der Zentrale nickte mit offenem Mund und machte sich daran, die Befehle weiterzuleiten.

Nach nicht einmal zwanzig Minuten war die Straße abgesperrt und die Blauröcke befragten die Nachbarn, während die Wissenschaftler, die drei besten von Eydwall, sich mit ihrer ersten Mordsache auseinandersetzen mussten. Sie kannten sich mit solchen Situationen nicht aus und hatten keine Ahnung, wie sie sich einem Tatort richtig nähern mussten. Naturgemäß trugen sie sterile Kleidung, denn das erschien ihnen in jedem Fall logisch, und auch eine genaue Dokumentation würde ihnen später zugutekommen. Sie verhielten sich, wie sie es bei einem Experiment oder einer Testreihe taten. Sachlich, logisch, gewissenhaft. Doch es war kein leichtes Unterfangen. Die Leiche der Frau war an die Wand genagelt wie ein Schmetterling. Der Mörder hatte ihr die Kehle durchgeschnitten und sie dann in der Mitte längs aufgeschlitzt, vom Brustkorb bis zum Schambein. Ihre Gedärme waren herausgefallen und hingen hinab bis auf den weißen Steinboden, wo das getrocknete Blut einen großen rotbraunen Teppich gebildet hatte. Einige ihrer Organe schienen seltsam ordentlich positioniert. Herz, Lunge, Gehirn und die Fortpflanzungsorgane lagen in einem Halbmond um die Füße der Frau inmitten der Lache aus Blut. Vielleicht war es Zufall, dass es ausgerechnet jene Organe waren, in denen die Magie sich am dichtesten konzentrierte. Doch die Brïnae waren grundsätzlich kein Volk, das sich gerne auf Zufälle berief.

»Im Namen der Quelle!«

Die Wissenschaftler drehten sich in Richtung der aufgebrachten Stimme um und sahen durch ihre Schutzbrillen das leichenblasse Gesicht von Shi Lorden, der sichtlich um Fassung rang. Die übrigen Shi drängten ihn aus dem Weg und wurden augenblicklich ebenso starr und bleich wie Lorden.

»Was ist hier vorgefallen?«, streifte Kassias Stimme schwach durch die Gedanken der Anwesenden.

»Wer macht so etwas?«, keuchte auch Erigen.

»Sie darf nicht hier sein«, sagte eine der Wissenschaftlerinnen trocken und zeigte knapp auf Kamika.

Die Wächterin der Winde sah sie an und runzelte die Stirn. »Was soll das bedeuten? Wer bist du?«

»Mein Name ist Dala, ich leite diese Forschungsgruppe.«

»Und warum bist du der Meinung, ich sollte nicht hier sein, Kin Dala?«, fragte Kamika schroff.

Die Forscherin ließ ihren Blick von Kamika zu Lorden wandern. »Es könnte problematisch werden, wenn sie bleibt, Shi«, sagte die Frau an Lorden gewandt, als wäre Kamika gar nicht da.

Die Wächterin wollte gerade erneut ansetzen, als Lorden die Hand hob und seiner Gefährtin damit signalisierte, sich zurückzuhalten. »Kin Dala, was soll diese Bemerkung? Was ist hier los?«

»Shi Lorden, deine Mitstreiterin hat vielleicht etwas damit zu tun. Desw…«

»Was?«, rief Kamika dazwischen und Erigen schaffte es gerade noch, einen Arm um ihre Hüfte zu schlingen, bevor sich Kamika auf die Wissenschaftlerin stürzen konnte. »Lass mich los!«

»Beruhige dich, Kamika! Glaubst du, es wird besser, wenn du dich mit ihr prügelst?«, flüsterte er ihr warnend zu. Sie hörte auf, sich gegen seinen Griff zu wehren, und sah die Frau fassungslos an.

»Es würde mir zumindest etwas Genugtuung verschaffen!«, fauchte sie stattdessen in Erigens Richtung.

Wieder schweifte der Blick der Frau von der aufgebrachten Wächterin zu Lorden. »Es gibt Hinweise, dass sie hier war«, sagte sie wachsam.

»Ich bin niemals hier gewesen, Lorden!«

»Was für Hinweise?«, fragte er, ohne Kamika zu beachten.

Die Wissenschaftlerin nickte einem ihrer Kollegen zu. Dieser ging zu seiner Ausrüstung und zog ein durchsichtiges Tütchen heraus. Im Innern waren drei Haare, keines länger als eine Handlänge, rot gefärbt vom Blut der Toten. Man erkannte dennoch, dass sie einmal blond gewesen sein mussten.

»Wir haben sie gleich getestet. Das Zentralarchiv sagt, sie gehören zu Shi Kamika.«

Lorden und Kassia sahen Kamika fragend an.

»Kanntest du sie?«, fragte Erigen dicht hinter der innerlich kochenden Wächterin.

»Ich weiß nicht einmal, wer hier gestorben ist!«

»Der Name der Toten ist Kin Merle. Alter sechsundfünfzig, gestrandete Terranerin. Auf Brïn seit vierunddreißig Jahren.«

»Eine Gestrandete von Terra«, schnaubte Kamika. »Dann kannte ich sie ganz sicher nicht.«

»Nicht hilfreich«, raunte Erigen.

»Das ist nicht zwingend ein Beweis dafür, dass Shi Kamika dieser Frau etwas getan hat, Kin Dala.«

»Das will ich auch nicht behaupten, Shi Kassia. Im Augenblick wissen wir aber nicht, was geschehen ist. Wenn wir festlegen konnten, wann genau Kin Merle verstorben ist, erfahren wir vielleicht mehr. So, wie es aussieht, liegt, beziehungsweise hängt, sie hier seit etwa zwei bis drei Tagen.«

»Du solltest vorerst in den Turm zurückkehren, Kamika. Bis das geklärt ist.«

»Lorden!«, begehrte nun Erigen auf. »Du glaubst doch wohl nicht …«

»Natürlich nicht«, unterbrach Lorden seinen Freund ruhig. »Aber wenn sie verdächtigt wird, dann sollte sie auf keinen Fall hier sein. Am Ende wirft man ihr sonst auch noch vor, sie hätte versucht, etwas zu vertuschen. Kamika«, wandte er sich nun an sie, »bitte, zu deinem eigenen Schutz. Wir werden herausfinden, was wirklich passiert ist.«

»Du glaubst mir nicht«, gab Kamika fassungslos von sich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es sollte mich nicht wundern.«

»Wir glauben dir, meine Schwester. Aber Lorden hat recht. Du darfst nicht hier sein, wenn wir beweisen müssen, dass du nichts damit zu tun hast.« Kassias Gedankenstimme erklang hell und besorgt.

»Fein. Ich gehe. Viel Erfolg.« Kamika schob sich unsanft den Weg frei und stampfte die Stufen hinab. Sie fühlte die Welt unter sich zusammenbrechen. Ihr Leben entglitt ihr zunehmend. Wie kamen ihre Haare an diese entstellte Person? Und welcher Brïnai war überhaupt fähig, eine so grausame Tat zu vollbringen?

Kamika konnte jetzt nicht in den Turm zurückkehren, um dort nervös auf die anderen zu warten. Unwissend, was vor sich ging. Falls es je einen Moment gegeben hatte, der dazu geeignet war, sich nach Strich und Faden zu betrinken, dann war es dieser. Und wie es der Zufall wollte, war sie nicht weit entfernt vom ›Roten Klee‹.

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Kapitel 7


Die Wilde & die Fremde


Brïn im Antheste 11'384 n. S.

Eydwall, Ideris



Die beiden Blauröcke stießen Kamika in die Zelle und warfen die schwere Glastüre zu, bevor sie ihre Balance wiederfinden konnte. Trotzdem stand sie bereits an der Glaswand, kaum dass sich das Schloss verriegelt hatte und der Bannzauber aktiv wurde.

»Hey! So behandelt man keine Dame!«, brüllte sie den beiden Männern hinterher und erntete dafür bloß ein herzhaftes Lachen. Aus gutem Grund, wenn Kamika ehrlich war, denn nichts an der Wächterin würde die Blauröcke davon überzeugen können, dass eine feine Dame in ihr steckte. Schon gar nicht in diesem angetrunkenen Zustand, der ihr die Zunge schwer und sie gleichzeitig sehr redselig machte. Sie schnaubte, straffte ihr ruiniertes Oberteil mit dem großen braunen Bierfleck darauf und warf den Wachen rüde Schimpfworte hinterher.

»Miiaaaaaau!«, fuhr es laut und elend durch die kalte, kleine Zelle.

Kamika zuckte zusammen und wandte sich um. Zwei Betten standen in dem kahlen Raum. Eher Gestelle als echte Schlafstätten, ohne ein gemütliches Kissen oder wenigstens eine Decke. Deutlich bequemer als ihr letzter Aufenthalt in einer Zelle, aber schön fand sie es deswegen noch lange nicht. Auf einem der Bettgestelle lag bereits eine schmale Gestalt. Zusammengerollt und stumm, nur ab und an regte sie sich, wenn ein Zittern durch ihren Körper fuhr. Neben ihr saß eine kleine gestreifte Katze mit spitzen Ohren und großen grünen Augen, die herzzerreißend vor sich hinheulte.

»Kannst du mal aufhören, solch einen Krach zu machen? Du bist hier nicht die Einzige in misslicher Lage«, sagte Kamika, mehr zu sich selbst als zu dem Tier, und ließ sich auf das freie Bett fallen. Doch die Katze versank offenbar in größerem Selbstmitleid als Kamika und wollte einfach keine Ruhe geben. Mit einer der Vorderpfoten tastete das Tier die gekrümmten Schultern seines Besitzers ab. Sie stieß mit dem pelzigen Kopf gegen den des Menschen, doch nichts schien ihn aufwecken zu können. Kamika schob ihre schlechte Laune für den Augenblick beiseite und sah sich ihre beiden Mitinsassen genauer an. Die Person, die sich so beharrlich weigerte aufzuwachen, war augenscheinlich eine junge Frau, und so wie sie dalag, war ihr Zustand nicht der beste. Kamika verzog ärgerlich die Miene und ging zu ihr hinüber.

»Hey, du, lebst du noch?« Sie rüttelte vorsichtig an der nackten Schulter der Frau. Ihre Haut war eiskalt und sie reagierte nicht. Ihre Katze geriet dafür in Aufregung, begann sich an Kamikas Arm zu reiben und gab ein lautes Schnurren von sich, das Kamika gegen ihren Willen milder stimmte. Sie setzte sich auf die Bettkante und beugte sich über den zur Wand gerichteten Körper der Frau. Das Licht in der Zelle war schon weit heruntergedimmt, aber die Sicht reichte aus, um Kamika wütend werden zu lassen. Die Frau vor ihr war vollkommen unterkühlt. Sie schlief nicht etwa nur sehr fest, sie befand sich vielmehr in einer Art Delirium. Ihre Haut war blass, die Fingerspitzen bläulich verfärbt, ebenso wie ihre nackten Füße. Sie trug nur ein dünnes Hemdchen mit feinen Trägern und eine luftige bunte Hose, die vielleicht im Hochsommer tragbar gewesen wäre, aber sicher nicht im späten Winter. Die Gefangene zitterte nur noch in Schüben, als hätte ihr Körper selbst dafür keine Kraft mehr. Kamika schnaubte einmal mehr an diesem Abend. All ihre Frustration gipfelte in der Erkenntnis, dass sich niemand darum scherte, was mit dieser Frau geschah. Mit einem Satz war sie bei der Tür, presste das Gesicht dicht an die Glasscheibe und brüllte im besten Befehlston einer Shi von Brïn: »Blaurock! Beweg sofort dein faules Hinterteil hierher und bring mir eine Decke und heiße Suppe!« Sie hörte den Mann verächtlich grunzen und sah aus den Augenwinkeln, wie er tiefer in seinen Stuhl rutschte und die Füße bequem auf den Tisch warf. »Meine Zellengenossin geht bald drauf!«

»Nicht mein Problem!«, rief der Mann zurück.

Kamika hatte Lust, die Tür aus den Verankerungen zu brechen und sie dem Bastard über den Schädel zu ziehen. Sie hätte es tun können, sie war eine Shi, und kein Gefängnis, egal ob es ein gewöhnliches war oder eines mit magiebannenden Scheiben und Wänden, hielte sie auf. Aber als Shi musste sie auch dann die Gesetze achten, wenn sie ihr nicht gefielen. Und Kamika steckte bereits in genügend Schwierigkeiten, auch ohne sich über die Gesetze hinwegzusetzen, nur deshalb, weil sie es konnte. Zuzusehen wie ihre Mitinsassin starb, stand allerdings nicht auf der Liste von Dingen, die sie bereit war hinzunehmen. »Es wird dein Problem, wenn sie dir bis morgen weggestorben ist. Dann wanderst du nämlich in eine Zelle der Jäger und die sind weitaus weniger bequem als dieses Etablissement hier!«

Der Mann schwieg, aber dann ließ er seine Füße auf den Boden sinken. Er wusste, dass Kamika wegen einer Rauferei in einer Bar nicht lange einsitzen musste und die Shi sie am nächsten Morgen abholen würden. Außerdem war Kamikas zorniges Temperament der letzten Monate kein Geheimnis, und auch, dass man sie des Mordes verdächtigte, hatte sich schon rege verbreitet. Ihm wurde klar, dass er sich mit der falschen Wächterin anlegte, wenn er es darauf ankommen ließ.

Auf dem Flur entstand Bewegung. Kamika sah seinen Schemen verschwinden und wieder auftauchen, begleitet von dem leicht schlurfenden Gang schwerer Stiefel auf kahlen Fliesen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Wächter endlich vor Kamika stand, in den Händen ein kleines Tablett mit zwei abgedeckten Schüsseln und etwas Brot daneben. Er blickte Kamika mürrisch an und setzte dann das Tablett auf die Ablage vor der Durchreiche. Die schmale Klappe in der Glastür bewegte sich leicht und gleichmäßig ein Stück zurück, dann zur Seite und der Mann schob die Schüsseln hindurch.

»Wo ist die Decke?«, brummte Kamika betont unfreundlich.

»Keine mehr da«, kam die grimmige Antwort.

»Dann besorge eine!«

»Das ist hier kein Gasthof. Nur weil du eine Shi bist, kriegst du keine Sonderbehandlung, klar? Die Kleine ist eine Streunerin. Die hat sicher schon Schlimmeres überlebt.«

»Was ist mit der Heizung?«, fuhr sie ihn wirsch an.

»Kaputt«, antwortete er knapp.

Kamikas Blick wurde wieder finster. Sie sah die Hände und Füße der jungen Frau vor sich. Kalt, verfroren, aber weich und gepflegt. »Woher kommt sie?«

»Keine Ahnung. Ein paar Kollegen haben sie halb bewusstlos im Stadtpark hinter dem Regentenhaus gefunden. Sie ist nicht auf Brïn registriert, brabbelte unverständliches Zeug und war verwirrt. Als sie mit ihr reden wollten, ist sie aggressiv geworden und wollte die Flucht ergreifen. Also haben sie sie niedergerungen und hergebracht.«

»Wie lange ist das her?«

»Zwei, nein, drei Tage.«

»Drei Tage? Sie liegt da seit drei Tagen in diesen Fetzen und es kümmert euch nicht, dass sie allmählich erfriert?« Kamika war außer sich.

»Nun mach keine große Affäre daraus, Shi! Die Heizung ist erst seit heute Mittag ausgefallen. Morgen wird jemand kommen und die Lavasteine neu aufladen.«

»Morgen? Und bis dahin kannst du nicht einmal eine Decke auftreiben? Herzloser Mistkerl! Schick sofort eine Nachricht zum Turm. Wer auch immer hier morgen aufschlägt, um mich herauszuholen, soll ein paar warme Kleider mitbringen.« Sie riss dem Wachmann das Tablett aus der Hand und marschierte zu der schlafenden Frau. Hinter sich hörte sie den Mann fluchen und mit der Faust gegen die Scheibe schlagen, dass es dumpf in der Zelle donnerte. Kamika nahm ihren eigenen Umhang ab, drehte die Fremde auf den Rücken, tastete ihr über die Stirn und deckte sie zu. Kein Fieber. Bisher. Sie hob den Oberkörper der Frau an und legte ihn sich halb auf den Schoß. Kamikas Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Irgendwo unter den Schürfwunden und dem Dreck war die Streunerin sehr hübsch. Schwarzbraune Locken, die im Augenblick recht verfilzt wirkten, eine leicht getönte Haut, die Kamika an den Sommer erinnerte, und weiche Gesichtszüge. Sie war schon erwachsen und längst kein Mädchen mehr, aber so verletzlich, wie sie in ihren Armen lag, wirkte sie furchtbar jung und schutzbedürftig. Die Wächterin griff nach einer der Schüsseln und nahm den Deckel ab. Der Duft einer kräftigen Fleischbrühe stieg ihr in die Nase.

»Kannst du mich hören? He, wach auf!« Sie schüttelte den Körper vorsichtig und nach ein paar Sekunden flatterten die Augenlider träge auf. Es fiel der jungen Frau schwer, den Blick zu fokussieren, und es dauerte, bis sie Kamika richtig ansah. Zwei beinahe farblose Juwelen in einem ausgezehrten Gesicht. Ungewöhnlich. »Hier ist heiße Suppe für dich.« Die Augen verdrehten sich wieder und die Frau drohte aufs Neue ins Delirium zu gleiten. Kamika schüttelte sie noch einmal. Kräftiger. »Nichts da. Bleib wach! Mund auf!«, befahl sie streng und setzte die Schüssel an die Lippen ihrer Patientin. Die begehrte leise auf, aber sie gehorchte. Mühsam nahm sie einen ersten Schluck und beinahe zeitgleich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ihre Hände langten zittrig nach der Schüssel und legten sich auf die warme Keramikschale. Kamika spürte die Finger auf ihren eigenen. Eisige, zarte und schwache Finger, die nach Wärme suchten. Die junge Frau trank, bis sie nicht mehr konnte. Ihre Wangen hatten wieder etwas mehr Farbe und auch ihre Finger waren mehr rosa als blau, als Kamika sie noch einmal kritisch beäugte.

»Danke«, krächzte die vermeintliche Streunerin schwach und schlief augenblicklich wieder ein, geborgen in Kamikas Armen.

Die Shi sah die Fremde an und merkte, dass all ihre Wut mit einem Mal verflogen war. Stattdessen fühlte sie sich leer und traurig. Sie ging der Unbekannten durch das verdreckte Haar und legte sie vorsichtig ab. Die Katze strich Kamika derweil unablässig laut jammernd um die Füße und rieb sich energisch an ihrem Bein.

»Ich nehme an, du hast auch noch nichts zu futtern bekommen, hm?« Sie stellte den Rest der Suppe auf den Boden. Das Tier stürzte sich begierig darauf und begann wild zu schlabbern und Brocken aus der Schüssel zu fischen. »Guten Appetit, Kätzchen.« Kamika schob sich mit unter den Umhang und legte den Arm um die Fremde. Der Körper war noch immer kühl, glich aber nicht mehr ganz so sehr einem Eiszapfen. Seit Monaten fühlte sich Kamika erstmals wieder nützlich und fiel bald in einen friedlichen Schlaf.



»Du bist wirklich die einzige mir bekannte Person, die es schafft, in nur einer Nacht einem Mann die Nase zu brechen, ganz zu schweigen von seinem Ego, in einer Zelle zu landen und dabei noch eine Frau aufzureißen. Ist das deine große Geheimstrategie? Freundschaften in einer Zelle zu beginnen?«

Kamika schlug müde die Augen auf und blinzelte. Die Wände waren inzwischen hell illuminiert und gaben ein sanftes, milchiges Licht ab. Durch das einzige Fenster der Zelle drang heller Sonnenschein, der Himmel war klar und weckte eine Ahnung von Frühling. Sie hielt die Fremde noch immer im Arm und löste sich nun vorsichtig von ihr, darauf bedacht, sie nicht aufzuwecken. Der Atem der Frau ging ruhig und flach. Kein Zittern mehr. Kamika drehte sich um und grinste breit. »Guten Morgen, Erigen. Ich bin froh, dich zu sehen, mein Freund!«

»Na, du hast ja ausgenommen gute Laune. Soll ich dich vielleicht noch eine Weile hierlassen?« Er zog verwundert die Augenbraue hoch.

»So schön finde ich es hier nun auch wieder nicht. Haben dich die anderen geschickt, um mich abzuholen?«

»Nein. Du hattest Glück. Lorden war schon fast am Greifgehege, als ich ihn eingeholt habe.«

»Wie wütend ist der gute Lorden?«

»Frag lieber nicht. Was ist passiert?«

Kamika zuckte mit den Schultern und setzte sich auf. »Ich war im ›Roten Klee‹.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter.«

Erigen stand mit verschränkten Armen da und schaute sie argwöhnisch an. »Wieso treibst du dich im ›Roten Klee‹ herum?«

»Ist es neuerdings ein Verbrechen, sich zu betrinken?«

»Wenn man auf eine Schlägerei aus ist, ja. Du weißt, was das für ein Laden ist.«

»Ich war nicht …«

»Mach mir nichts vor, Kamika. Du bist leichtsinnig, seit wir Zolana verloren haben. Also, was hast du angestellt?«

»Bei den Adern! Ich werde des Mordes beschuldigt, darf man sich da nicht einmal ein starkes Ale genehmigen? Die Nachricht hat sich schnell verbreitet. Einer der Kerle wollte sich wichtigmachen. Er war betrunken, hat mich angegriffen und ich habe ihm gezeigt, was ich davon halte.«

Erigen zog eine Grimasse. »Hm. Schön, lass uns erstmal gehen.«

»Hast du die Sachen mitgebracht, um die ich gebeten habe?«

Er zeigte stumm auf ein Bündel, das auf dem verwaisten Bett lag.

»Hilf mir mal.« Kamika warf sich ihren Umhang um und drehte ihre Zellengenossin auf den Rücken.

»Woah, hey, was wird das denn?«

»Wir nehmen sie mit.«

»Wie bitte?«

»Wir nehmen sie mit«, wiederholte Kamika standhaft.

»Weißt du überhaupt, wer das ist?«

»Nein. Ist das wichtig?«

»Ja?«

»Ist es nicht und ich lasse sie nicht hier.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht, warum!«, begehrte Kamika überraschend laut auf und atmete zur Beruhigung tief durch. »Weil es richtig ist. Weil ich wenigstens einen Menschen retten will, Erigen. Deshalb.«

Erigen seufzte mit übertriebener Verzweiflung. »Du kostest mich teure Lebensjahre, Shi.«

»Deswegen magst du mich so gerne«, antwortete sie müde lachend und begann, der Fremden die warmen Kleider überzustreifen. Die schlief weiter und gab nur hin und wieder ein leises Seufzen von sich. Zu ausgemergelt, um zu merken, was mit ihr geschah.

»Was geht hier vor?« Der Blaurock stand in der offenen Zellentür und verfolgte das unerwartete Geschehen.

»Ah, der Herr Gastwirt«, rief Kamika voller Elan. »Es war wirklich reizend in dieser charmanten Behausung, aber wir reisen ab. Meine neue Freundin hier kommt mit uns.«

»Moment mal! Ihr könnt sie nicht einfach mitnehmen. Sie ist eine Verdächtige.«

»Was hat man ihr denn vorzuwerfen? Verwirrtheit? Sprachprobleme? Orientierungsverlust?« Der Mann schien protestieren zu wollen, doch Kamika kam ihm zuvor. »Sind das neuerdings Verbrechen in Eydwall?«

»Sie hat sich den Blauröcken widersetzt!«, protestierte der Mann.

»Tragisch. Sonst noch etwas?«

»Was ist mit ihrer fehlenden Registrierung?«

»Wenn sie nicht registriert ist, ist sie hier vermutlich fremd. Und wenn sie hier fremd ist, dann dachte sie sicherlich, die Blauröcke wollten sie angreifen. Folglich hat sie sich nicht widersetzt, sondern sich gegen ein paar handgreiflich gewordene Gestalten verteidigt.«

»Das … Du verdrehst die Tatsachen, Shi!«

Erigen schüttelte den Kopf und kniff sich zwischen die Augen. »Es gibt sicher irgendwelchen Papierkram, den ich unterzeichnen muss, nicht wahr?«

»Sicher, aber die Insassin …«

»Wir stellen sie unter die Obhut der Wächter. Keine Sorge. Shi Kamika übernimmt die volle Verantwortung für sie. Falls die Gefangene ausbüxt und die Stadt in Schutt und Asche legt, bringe ich dir Shi Kamika höchstpersönlich zum Verhör vorbei.«

Der Wachmann brummte unzufrieden, nickte aber schließlich. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig.



Juno hörte entfernte Stimmen. Gedämpft wie durch eine Wand.

»Ich wusste nicht, wo ich sie sonst hinbringen sollte. Bei dir ist der sicherste Ort, den ich mir vorstellen konnte.«

»Es war schon gut so. Sie ist hier gut aufgehoben, Lorden. Shi Kamika weiß bestimmt nichts über ihre Herkunft und das wilde Portal?«

»Die Terranerin war nicht oft wach, seit Kamika sie gefunden hat. Es sieht nicht danach aus, dass sie Gelegenheit hatte, viel über sich zu verraten.«

»Glaubst du, Shi Kamika hat etwas mit dem Mord zu tun?«

»Nein!«, rief die jüngere Stimme erschrocken. »Nein, Bramas, das glaube ich keine Sekunde. Aber du weißt, wie schlecht sie auf die Terraner zu sprechen ist. Erst recht seit Zolanas Ermordung. Sie muss nichts über die Herkunft der Gestrandeten wissen, und auch sonst niemand. Kassia und Erigen sind eingeweiht, das reicht.«

»Es wird kein Problem sein, die junge Dame hier unterzubringen. Zeitlich kommt es gut mit Eolas’ Unfall hin«, sagte der ältere Mann nun mit etwas bedrückter Stimme.

»Du sagst es niemandem, ja? Auch nicht deinem Sohn?«

»Gewiss nicht, mein Freund. Ihr Geheimnis ist bei mir sicher. Aber wenn du mir die Frage gestattest, warum willst du es geheim halten?«

Eine Weile war es still, dann fuhr die jüngere Stimme fort. »Nur zur Sicherheit. Die Nachrichtenagentur hat einen Brief des Mörders erhalten und an die Blauröcke weitergeleitet. Darin steht ganz klar, dass unser Opfer ausgewählt wurde, weil sie eine gestrandete Terranerin war. Vielleicht hat es nichts weiter zu bedeuten, aber irgendetwas sagt mir, dass diesem Mord noch andere folgen werden, und ich möchte niemanden in unnötige Gefahr bringen.«

Juno regte sich in ihrem Halbschlaf, denn sie hatte keine Lust mehr auf diesen nicht enden wollenden Albtraum, der jetzt auch noch Morde einzuflechten gedachte. Er war so real gewesen und sie spürte noch immer die Kälte, den Hunger und die Erschöpfung in den Knochen. Schlimmer aber war die Angst gewesen. Nicht zu wissen, wo sie sich befand oder wie sie dorthin gekommen war, und dabei völlig fremden Menschen ausgeliefert zu sein, die sie nicht verstanden und gefangen hielten. Sie erinnerte sich an ein Gesicht, das für einen winzigen Moment vor ihr aufflackerte. Nachtblaue Augen, gerade, feminine Gesichtszüge, geschwungenes kurzes blondes Haar. Ein Anblick, der sie für einen Moment von ihrer Angst befreit hatte. Juno lächelte in ihrem Schlummerzustand und schmeckte die salzige Flüssigkeit auf den Lippen, die mit dem fremden Gesicht gekommen war, die Wärme, die sich in ihrem Inneren ausgebreitet hatte. Es war eine angenehme Wendung gewesen, sie war aber dennoch froh, dass der Traum vorbei war. Juno gähnte und streckte sich. Es tat ihr tatsächlich alles weh und sie fühlte sich genauso ausgelaugt wie in ihrem Traum.

Sie hörte Schritte, die näherkamen. Eine Tür wurde aufgeschoben. Sie spürte den schwachen Luftzug auf den Wangen. Junos Herz pochte in ihrer Brust. Sie riss die Augen auf.

Das hier war nicht ihr Schlafzimmer.

Sie richtete sich auf und erhob sich eilig von einem ihr unbekannten Sofa. Die Kleidung, die sie trug, war fremdartig und gehörte ihr ebenso wenig wie das Zimmer. Sie war außerdem mehrere Nummern zu groß und schien eher auf einen Männerkörper zugeschnitten zu sein. Juno bekam es mit der Angst zu tun und versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie hierhergekommen war, doch in ihrem Kopf herrschte gähnende Leere. Sie sah sich um. Im Türrahmen stand ein älterer Herr in einer seltsamen, kupfern schimmernden Robe. Ihr Kopf pochte plötzlich so deutlich wie ihr Herz.

»Guten Morgen«, sagte der Mann, »kannst du mich verstehen?«

»Natürlich kann ich Sie verstehen«, gab Juno zurück. Was für eine dumme Frage war das? Er hatte allerdings einen leichten Akzent, den sie nicht einordnen konnte.

»Sehr schön. Wie fühlst du dich?«

»Ganz gut. Denke ich.« Juno zögerte. »Wer sind Sie?«

»Ich bin Bramas. Dein Onkel.«

»Mein … Onkel?«, fragte Juno misstrauisch, die sich ziemlich sicher war, dass sie keinen Onkel hatte. »Netter Versuch, aber ich habe keinen Onkel. Sorry.«

»Nun ja, von jetzt an hast du einen.« Der alte Mann wippte froh gelaunt auf und ab.

»Einen Scheiß hab’ ich«, sagte Juno schroff und das frohe Wippen hörte auf. »Was wollen Sie von mir? An mir wird nicht herumgegrapscht, klar?«

»Ähm, ähm. Ich will dir helfen. Irgendwo musst du leben, und in der Bibliothek ist viel Platz – und viel Wissen, das du brauchen wirst«, brachte der Mann etwas irritiert heraus.

Der Typ war doch durchgeknallt. »Danke, aber ich habe bereits ein Zuhause, in das ich jetzt gerne zurückkehren werde.« Damit straffte sie sich, sah einen Moment lang missbilligend an sich herab und setzte sich in Bewegung. Doch der Mann trat vor den Türrahmen und versperrte ihr den Weg. Er hob beschwichtigend die Hände, als er ihren feindseligen Blick und die sich ballenden Fäuste an ihren Seiten sah. »Weißt du überhaupt, wo du bist?«, fragte der ältere Mann vorsichtig.

Juno zog die Augenbrauen hoch. Der Punkt ging an den Fremden. »Ich komme schon klar.«

Dann aber sagte er etwas, was für Juno der Anfang eines noch viel größeren Albtraums werden sollte als der letzte.

»Meine Liebe, ich will nicht mit der Tür ins Haus fallen, doch unter diesen Umständen habe ich leider keine Wahl. Die Sache ist die: Du bist nicht mehr auf dem Planeten, auf dem du geboren wurdest. Das dürfte ein ziemlich langer Heimweg werden.«

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Kapitel 8


Gestrandet


Brïn im Antheste 11'384 n. S.

Eydwall, Ideris



»Brïn ist einer von neun Planeten, auf denen menschliches Leben existiert. Zumindest unter den uns bekannten Welten. Auf einigen dieser Planeten gibt es Magie, echte Magie, und auf Brïn ist sie sehr stark.«

Juno hatte Mühe, ihre Gedanken um eine solche Information zu wickeln. Nach unzähligen Demonstrationen, an denen der Mann vor ihr, ein gewisser Shi Lorden, beteiligt war, blieb ihr allerdings nichts anderes übrig, als das Unglaubliche zu akzeptieren. Er zog Wasser aus der Luft, formte Muster daraus und ließ es wie ein lebendiges Tierchen durch die Luft tanzen.

Er sah anders aus als in ihrer Erinnerung. Seine Haare waren kürzer, seine Augen von einem hellen Eisblau und seine Gesichtszüge kein bisschen weiblich. Schön anzusehen war er schon, aber eben auf eine maskuline Art. Als sie sich für seine Hilfe in der Zelle bedanken wollte, hatte er ihr bloß mit einem verwirrten Ausdruck zugenickt, als wüsste er nicht genau, was sie meinte. Sie musste sich falsch ausgedrückt haben, denn mit der Verständigung haperte es gelegentlich noch. Viel wichtiger aber war seine Mitteilung, dass es momentan keine Möglichkeit gab, ein Portal zur Erde zu errichten.

»Terra ist sehr weit von Brïn entfernt. Weiter als alle anderen Planeten. Deswegen ist die Magie dort so schwach. Praktisch nicht vorhanden. Nur die Edana kann so viel Magie bündeln, dass ein stabiles Tor zwischen Brïn und Terra bestehen kann.«

»Edana?«

»Unsere Führerin.«

»Eine Art Königin?«

»Etwas in der Art.«

Er zog die Mundwinkel mitleidig hoch, als bedauerte er ihre Naivität. Sie kam sich schlagartig ungebildet vor. »Warum öffnet sie kein neues Tor?«

Shi Lordens Gesichtsausdruck änderte sich und Meister Bramas, der Bibliothekar, der hier lebte, unterbrach ihr Gespräch. Er trat mit Shi Lorden auf den Flur und unterhielt sich mit ihm, während Juno alleine in dem fremden Zimmer wartete. Noch immer in die fremden Sachen gekleidet, die ihr jemand übergezogen hatte, rollte sie sich auf dem Sessel zusammen. Würde sie daheim jemand vermissen?

Sie hörte, wie die schwere Tür zum Hinterhof ins Schloss fiel. Meister Bramas kehrte kurz darauf zu ihr zurück und setzte sich.

»Wo ist Shi Lorden?«, fragte Juno.

»Er ist gegangen. Er kann nichts für dich tun, meine Liebe. Du musst wissen, es gab vor ein paar Monaten einen tragischen Zwischenfall. Edana Zolana wurde getötet. Sie war seine Frau.«

»Das … das tut mir leid«, sagte Juno und schluckte. Sie wollte nicht taktlos sein, doch sie musste schließlich irgendwie zurück nach Hause. »Gibt es denn keine neue Edana, die das Tor öffnen kann?«

Bramas schnalzte mit der Zunge. »Ja und nein. Es gibt eine Nachfolgerin, aber sie ist noch neu auf Brïn und sie hat Schwierigkeiten, einen Zugang zu ihrer Magie zu finden.«

»Aber sie wird ihn finden?«

»Da bin ich sicher.« Bramas nickte mit Überzeugung. Juno sah aber deutlich, dass ihn noch etwas beschäftigte.

»Gibt es ein Problem mit ihr?«, fragte sie besorgt.

»Nicht direkt mit ihr. Es ist das Tor selbst.«

»Was heißt das?« Sie hatte das Gefühl, dass sie ihm jede Information einzeln aus der Nase ziehen musste, und Geduld war nicht gerade ihre Stärke.

Er faltete die Hände auf dem Schoß. »Es ist so. Das Tor auf der anderen Seite, auf Terra, öffnet sich immer zu einer anderen Zeit. Hier auf Brïn ist es stabil, aber auf Terra weiß man anfangs nie, in welcher Zeitlinie man bei Durchschreiten eines neuen Portals eintrifft.«

Juno kniff die Augen zusammen. »Soll das heißen«, fragte sie mit einem Anflug von Panik, »selbst wenn die Edana das Portal öffnen kann, komme ich nicht nach Hause, weil ich … keine Ahnung … in der Steinzeit herauskommen könnte?« Bramas nickte zögerlich. Sie sprang von ihrem Sessel auf, raufte sich die dunklen und völlig verknoteten Haare und ging in dem Zimmerchen auf und ab. »Das darf doch nicht wahr sein. Wie bin ich denn überhaupt hier gelandet?«

»Das ist eine Frage, die im Augenblick niemand beantworten kann, Kin Juno. Die wilden Portale von Terra zu Brïn werden normalerweise geschlossen, bevor sie sich richtig manifestieren können. Die Edanae halten stets nur ein Portal offen, das verringert die Chance, dass solche Unfälle passieren.«

»Unfälle?«

»Terraner, die unbeabsichtigt durch ein Tor fallen und aus ihrer Zeit entrissen hier stranden. So wie du.«

»So wie ich«, murmelte Juno. »Aber wenn sich einmal so ein wildes Tor geöffnet hat, dann kann das doch wieder passieren, oder?«

»Hin und wieder passiert es schon, aber nur sehr selten. Vielleicht ein- oder zweimal pro Jahrhundert und dann auch nur für wenige Sekunden«, sagte Bramas sanft. »Selbst wenn sich weitere Tore öffnen sollten, Kin Juno, wäre es sehr gefährlich, sie unerforscht zu benutzen. Sie könnten überall enden. Hunderte Meter über der Erde, auf dem Grund des Meeres, inmitten einer Kriegsschlacht, zehn Jahre in deiner Vergangenheit oder tausende in der Zukunft. Mal eben in eines hineinzugehen, ist dementsprechend wenig empfehlenswert.«

»Was ist mit den anderen Planeten? Gibt es dort Tore zur Erde?«

Bramas nickte. »Normalerweise schon. Aber auch die sind zusammengebrochen.« Er hob eine Hand, weil Juno schon zur nächsten Frage ausholte. »Auch die Führenden der anderen Planeten können vorerst keine Tore öffnen. Im Moment herrscht bei uns eine etwas ungewohnte Ausnahmesituation, Liebes. Die Magie aller Planeten ist miteinander verbunden und Zolanas Tod hat eine große Erschütterung verursacht.«

Juno hörte auf, nachdenklich im Zimmer umherzulaufen. »Das heißt also, ich sitze hier für den Rest meines Lebens fest.«

»Es hat auch Vorteile, auf Brïn zu leben«, sagte der Meister, doch davon wollte Juno jetzt nichts wissen. Sie wollte einfach nur nach Hause – keine Gestrandete auf einem fremden Planeten ohne Dach über dem Kopf sein.

»Vater, darf ich – oh, Verzeihung. Komme ich ungelegen?«

Juno und Bramas sahen zu dem Mann hinüber, der im Türrahmen erschienen war. Er war vielleicht Mitte dreißig, hatte nussbraunes Haar und hellbraune Augen. Er war recht groß und von sportlicher Statur. Seine schmalen Lippen umspielte ein Lächeln, das einen gewissen Charme versprühte. Die Ähnlichkeiten zwischen ihm und Meister Bramas waren nicht zu übersehen.

»Nein, komm nur herein. Kin Juno, das ist mein Sohn. Akko, das ist deine Cousine Juno.«

»Meine was?«

»Sie ist Eolas’ Tochter.«

»Eolas? Aber er und seine Familie sind doch vor zwanzig Jahren verunglückt, dachte ich.«

»Unsere kleine Juno hier hatte offenbar Glück und kam bei einer anderen Familie unter.«

»Wieso haben die sich denn nie bei dir gemeldet?«, fragte der jüngere Mann fassungslos.

»Es ist einiges durcheinandergeraten. Sie wussten gar nicht, wer das Kind war.«

Juno traute sich nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Sie war kaum aufgewacht, da war sie instruiert worden, ihre Herkunft zu verbergen. Egal vor wem. Nur Meister Bramas und Shi Lorden wussten bisher von Junos wahrer Herkunft.

»Das ist eine riesige Schlamperei!«, echauffierte sich der Jüngere.

»Die Kolonien mussten so übereilt aufgelöst werden, Akko, das wird sicher noch Monate für kleine Absurditäten sorgen. Nehmen wir es als kleines Wunder, dass Juno jetzt hier ist«, sagte Bramas an seinen Sohn gewandt. »Wolltest du nicht etwas von mir?«

»Oh, ja, ich muss noch einmal ins Regentenhaus. Könntest du diese Abschriften hier vielleicht für mich einsortieren?« Der Mann namens Akko ließ Juno kaum aus den Augen und hielt seinem Vater den Stapel Papiere hin. Er schaute sie mit unverhohlener Neugier an. Ihr kam der Verdacht, dass er auf eine Reaktion von ihr wartete, doch sie war ganz und gar nicht in der Stimmung für Nettigkeiten und blickte eher verdrießlich drein.

»Ich erledige das, Junge.«

»Danke, Vater.« Akko wandte sich wieder zur Tür um, blieb dann aber noch einmal stehen und richtete seine Worte diesmal direkt an die Besucherin. »Ich hoffe, wir sehen uns später noch.«

Unschlüssig schaute Juno zu Bramas, der die Antwort dankenswerterweise übernahm. »Juno wird vorerst bei uns bleiben. Ihr könnt euch später noch unterhalten.«

»Wundervoll«, sagte Akko enthusiastisch, verneigte sich und verschwand.

»Er scheint nett zu sein«, meinte Juno nach einer Weile, als ihr die Stille zu unangenehm wurde.

»Akko ist ein guter Junge.« Bramas nickte.

Als ›Jungen‹ hätte Juno ihn nun nicht mehr beschrieben, aber aus Bramas’ väterlicher Sicht würde der Sohn vielleicht immer sein ›Junge‹ bleiben.



Er hatte Kin Juno nicht von Kamika erzählt. Offenbar erinnerte sie sich nicht an ihre Helferin und es war besser, wenn sich die beiden nicht allzu oft über den Weg liefen. Er konnte bisher nicht erklären, wodurch sich das wilde Portal von Terra aus geöffnet hatte, und Kamika würde keine Ruhe geben, bis sie die Antwort gefunden hatte, wenn sie von der Herkunft der Gestrandeten erfuhr. Wer wusste schon, wie die Windwächterin letztlich reagieren würde? Lorden war durchaus in der Lage, zu erkennen, dass sich Kamika dieser Tage stets am Rande eines Wutausbruchs entlanghangelte. Sie hatte gewiss nachvollziehbare Gründe für dieses Verhalten und manchmal wunderte sich Lorden, wie viel ruhiger er selbst bleiben konnte. Er schüttelte sich ein wenig, um die sorgenvollen Gedanken zu vertreiben. Er musste jetzt den Rest seiner Familie zusammenhalten und dafür sorgen, dass ihnen Kamika nicht auch noch entglitt. Die Terranerin war sicher untergebracht und niemand musste erfahren, woher sie wirklich stammte. Mit einem barbarischen Mörder in der Stadt war es zudem eine reine Vernunftentscheidung, sie als Brïnai auszugeben, und es war ein glücklicher Zufall, dass er Bramas und dessen Familiengeschichte kannte, in die Juno wunderbar hineinpasste.

Während seine Gedanken weiter abschweiften, legte Lorden die Kleider zusammen und strich ein wenig wehmütig über den kalten Stoff jedes einzelnen Stücks. Er hatte Zolanas persönliche Dinge in seine eigenen Räume bringen lassen, die Zimmer, die dem Wächter des Wassers normalerweise zugeteilt waren, und hortete sie hier seit Monaten. Er hatte sich nicht gleich von ihnen trennen können und der Gedanke behagte ihm auch jetzt noch nicht allzu sehr. Aus ihren gemeinsamen Räumen auszuziehen und sie der neuen Edana zu überlassen, war Lorden dagegen leichtgefallen, denn es steckten zu viele Erinnerungen in diesen Wänden. Wenn er sich umdrehte, dann schmerzte es ihn, Zolana nicht in ihrem Sessel am Fenster sitzen zu sehen, und wenn er etwas suchte, dann erwartete er, ihre Stimme zu hören, die ihm sagte, wo er suchen musste. Es dauerte jedes Mal lange Sekunden bis er sich daran erinnerte, dass seine Frau nie wieder in dem Sessel sitzen oder zu ihm sprechen würde. Nein. Der Umzug war ihm wirklich nicht im Geringsten schwergefallen.

Mit Zolanas Kleidern verhielt es sich hingegen etwas anders. Noch immer hing ihr vertrauter Geruch in den Stoffen und auch das weckte Lordens Erinnerungen an sie. Der Geruch und die Möglichkeit, das Kleidungsstück in die Arme schließen zu können, spendeten Lorden an besonders düsteren Tagen ein wenig Trost und Kraft. Nun aber glaubte er, einen neuen Zweck für die Kleider gefunden zu haben, der auch Zolana gefallen hätte. Bramas’ vermeintliche neue Nichte stand ohne Hab und Gut da, und anders als die viel jüngere und mager gebaute Sofia hatte Kin Juno in etwa die Maße seiner verlorenen Geliebten. Er könnte also hier sitzen und Zolanas Kleider aufbewahren, bis sie zerfielen, oder er überließ sie der Frau, die ihre ganze Welt verloren hatte. Wenn er Juno schon nicht zurückbringen konnte, so konnte er ihr wenigstens dabei helfen, ein neues Zuhause für sich zu schaffen, und ihr für den Anfang Zolanas Garderobe überlassen. Vielleicht war es an der Zeit, endgültig Abschied zu nehmen.

Mit stoischer Ruhe packte er alles in Kartons und stapelte sie schließlich neben der Tür. Er entschied sich, nur Zolanas Lieblingshemd zu behalten, das sie meist in der Nacht getragen hatte. Ein unsäglich hässliches Ding, das groß genug war, um einen Riesen bequem zu kleiden. Oder eben eine zierliche Edana, die sich darin einwickelte wie eine Raupe in ihren Kokon. Zwischen all den aufwendig geschneiderten Festkleidern, Hosen und Blusen war es dieses unförmige Hemd, das den eigentlichen Schatz der Kleidersammlung darstellte. Mehr brauchte Lorden nicht. Er würde den Rest zu Meister Bramas in die Bibliothek schicken und der gestrandeten Terranerin damit bei ihrem Neuanfang in dieser Welt helfen.

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Kapitel 9


Home, sweet Home


Brïn im Antheste 11'384 n. S.

Eydwall, Ideris



»Das hast du nun davon, dass du dich ständig verwunden lässt.«

»Was meinst du?«, fragte Kamika ihren Freund.

»Das Mordopfer, Kin Merle. Sie war eine Aushilfe bei den Heilern. Am Tag ihrer Ermordung hatte sie zuvor Dienst im Tempel.«

»Und?«

»Du bist aber auch wirklich wieder sehr gesprächig heute«, maulte Erigen, der ein wenig enttäuscht darüber war, dass Kamika kaum erleichtert wirkte. Als wollte sie ihn ärgern, zuckte sie desinteressiert mit den Schultern.

»Die Aufzeichnungen beweisen, dass sie zu den Heilern gehört hat, die deine Wunden nach dem Kampf mit den Skrae versorgt haben. So sind deine Haare auf ihre Kleider gelangt.« Erigen musste sich eingestehen, dass seine Erleichterung darüber größer war, als es ihm behagte. Er hatte keine Zweifel an Kamikas Unschuld haben wollen, doch nun zeigte sich, dass ihn dennoch leise Bedenken begleitet hatten. Kamikas Abneigung gegen alles, was mit Terra in Verbindung stand, war kein Geheimnis. Natürlich machte einen das nicht gleich zu einer Mörderin, noch dazu zu einer so bestialischen. Doch wenn ein Mensch unter Druck geriet, waren viele stressbedingte Reaktionen möglich. Er war wahrlich froh, dass sein Glaube an Kamika nicht erschüttert worden war.

»Damit ist überhaupt nichts bewiesen, Erigen.«

Rumms! Ein weiterer abschmetternder Kommentar, der ihm die Stimmung verdarb. »Du hast die Nacht bei den Heilern verbracht. Das ist dein Alibi. Du kannst Kin Merle nicht ermordet haben.«

»Du kennst die Menschen doch gut genug. Sie werden reden.« Wieder zuckte sie mit den Schultern.

»Seit wann interessiert es dich, was die Leute denken?«

Kamika schüttelte sanft den Kopf. »Diesmal ist es etwas anderes. Wir sprechen hier von der Auslöschung eines Menschenlebens. Es spielt keine Rolle, wie oft ihr wiederholt, dass ich in dieser Nacht nicht bei Kin Merle gewesen sein kann. Es werden Zweifel bleiben. Man wird denken, ihr wollt mich beschützen, hättet die Aufzeichnungen gefälscht, oder was auch immer diesen Sensationsgeiern noch einfällt. Bis der wahre Mörder gefasst wird, werden sie mich im Stillen verdächtigen. Falls er jemals gefasst wird.«

»Nun sei doch nicht so ekelhaft negativ!«

»Er hat keine Spuren hinterlassen. Nicht einmal ein Echo von Magie, dem wir nachspüren könnten.«

»Er war sorgfältig, na und? Er kann sich nicht ewig verstecken. Wir haben seinen Brief, und die Wissenschaftler nehmen jede gesicherte Probe noch einmal genauestens unter die Lupe.«

»Was soll das bringen?«

»Es ist ein Anfang, Kamika. Kannst du nicht ein wenig mehr Erleichterung an den Tag legen?«

»Vielleicht hast du recht.« Sie nickte und straffte sich. Es hatte keinen Sinn, sich hängen zu lassen. »Hast du etwas von ihr gehört?«

»Deiner Freundin aus der Zelle?« Erigen zwinkerte ihr nun mit einem schelmischen Grinsen zu. »Lorden war vor ein paar Tagen bei ihr. Es scheint ihr gut zu gehen, dank dir. Da hast du etwas, worüber du dich freuen kannst.«



»Akko, guten Morgen. Hast du nicht deinen freien Tag heute?«

»Sei mir gegrüßt, Trissa! Ich begleite heute bloß meine Cousine hier, sie muss registriert werden.«

Meister Bramas’ Sohn hatte Juno an diesem Morgen zur Registratur begleitet, um eine Probe ihres Blutes in das Zentralarchiv einlesen zu lassen. Es ging alles sehr schnell, da außer ihr niemand dort war. Die junge Sachbearbeiterin war überrascht, als sie beinahe drei Monate nach dem Zusammenbruch der Portale wieder eine Kundin hatte. Vermutlich aber nicht so überrascht wie Juno, die es gewohnt war, für Behördengänge eine deutlich längere Wartezeit einzuplanen.

»Weshalb erst jetzt?«, fragte Trissa etwas vorwurfsvoll.

»Es ist alles ein wenig durcheinandergeraten nach dem Zusammenbruch der Portale. Sie ist bei einer Pflegefamilie aufgewachsen. Nach ihrer etwas hektischen Ankunft auf Brïn ist sie ziellos umhergeirrt, bis sie kürzlich nach Eydwall kam und Shi Lorden herausgefunden hat, dass sie die Nichte meines Vaters ist. Ist es zu fassen, dass wir zwanzig Jahre lang dachten, sie wäre mit ihren Eltern zusammen umgekommen?«

»Verirrt, mitten im Winter und noch dazu eine Waise?«, sagte die Frau mit unangenehm hoher Stimme. »Armes Ding!«, schloss sie mit einem mitleidigen Schnalzen, machte die Dokumente anstandslos fertig und stellte keine weiteren Fragen. »Aber du hast Glück, dein Onkel ist ein sehr netter Mann – ich traf ihn während einer Fortbildung vor etwa fünfundzwanzig Jahren – und Akko hier ist ein ausgesprochen charmanter Zeitgenosse.« Den letzten Teil sagte sie etwas leiser und mit einem koketten Blick zu dem erwähnten Mann. Wie zur Bestätigung ihrer Worte schmunzelte er bescheiden und verneigte sich leicht vor seiner Kollegin.

Juno übersah den zarten Flirt höflich und wunderte sich stattdessen darüber, dass die Frau hinter dem Schalter nicht alt genug aussah, um auch nur ein Jahr älter als fünfundzwanzig Jahre sein zu können. Während sie sich über die kleinen Dinge ihrer neuen Heimat wunderte, nahm Kin Trissa routiniert ihre Daten auf: Name, Größe, Heimatplanet, Fingerabdruck und zuletzt natürlich eine Blutprobe. Es wunderte sie ein wenig, dass niemand den Wahrheitsgehalt ihrer Angaben überprüfen wollte, aber das war mit den geschlossenen Portalen vielleicht auch gar nicht richtig möglich. Außerdem schienen Akko und Bramas zu viel Vertrauen in Eydwall zu genießen, als dass jemandem Zweifel an ihrem Wort käme.

»Wie steht es mit deinem Namen, Kin Juno? Soll er vor deiner Registrierung geändert werden?«

»Geändert?« Juno legte die Stirn in Falten.

»Solange du nicht eingelesen wurdest, kannst du ihn noch ändern. Nicht allen Brïnae gefällt die Namenswahl ihrer Eltern. Wir machen dann nur eine Notiz für den Fall, dass der ursprüngliche Name einmal für eine Zuordnung gebraucht wird.«

»Danke für das Angebot, aber ich denke, ich bin mit meinem Namen zufrieden.«

»Wie du möchtest, Kin Juno. Dann reich mir jetzt bitte deine linke Hand.«

Beinahe beiläufig erfolgte Junos Markierung als Bewohnerin Brïns. Die Sachbearbeiterin legte ihr dazu ein kleines weißes Gerät um das Handgelenk und in nur wenigen Sekunden war die Prozedur beendet, noch bevor Juno die winzigen kleinen Stiche als echten Schmerz registrieren konnte. Als ihr das Gerät wieder abgenommen wurde, glänzte ein kaum sichtbares weißes Symbol auf der Innenseite von Junos Handgelenk.

»Das war es, Kin Juno. Willkommen auf Brïn! Oh, und Augenblick …« Die Frau kramte in einer etwas angestaubten Ecke ihres Abteils und zog schließlich ein gebundenes Buch aus einem der Regale. »Hier ist noch eine Ausgabe von ›Kinobes Ratgeber‹. Da stehen sicher auch für dich ein paar wichtige Dinge drin. Immerhin dürfen sie euch nicht alles erzählen, solange ihr noch in den Kolonien lebt.«

»Vielen Dank«, antwortete Juno mit Zurückhaltung und nahm das Buch an sich. Sie rieb sich über die frische kleine Tätowierung an ihrem Handgelenk, die sie von heute an als Bürgerin dieser neuen Welt auswies.



Meister Bramas erwartete sie bei ihrer Rückkehr in die Bibliothek bereits in seinem Arbeitszimmer. »Juno, wie ist es gelaufen?«

»Gut, denke ich. Sie haben mich tätowiert.« Sie hielt ihr Handgelenk zum Beweis hoch und verzog dabei das Gesicht. Da hatte sie sich ihr ganzes Leben gegen diesen Körperkult gewehrt, und nun hatte sie es doch erwischt. Sie konnte nur hoffen, dass das unbekannte Symbol kein brïnaisches Äquivalent zum chinesischen Zeichen für Suppe darstellte.

»Dann sei willkommen in deinem neuen Zuhause!«, rief Bramas feierlich und strahlte über das ganze Gesicht.

»Sie ist doch nicht erst vor fünf Minuten angekommen, Vater.« Akko schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

»Sei kein Spielverderber, Junge.« Er wedelte mit den Fingern. »Komm, Juno, lass mich dir etwas zeigen.« Der Bibliothekar drehte sich aufgeregt um und lief los.

Es ging die Treppen hinunter, um eine Ecke, durch schwach beleuchtete Gänge. Dann und wann schauten Bibliothekare neugierig von ihren Arbeiten auf, als die kleine Prozession an den Zimmern vorbeilief. Bramas führte Juno in eines der Zimmer, das zurzeit menschenleer war. Zwischen hohen Regalen, vollgepackt mit Büchern in allerlei Formen und Farben, blieb er stehen. Juno drehte sich und legte den Kopf in den Nacken, um die oberen Reihen zu finden.

»Das hier ist unsere historische Abteilung. Hier findest du alles, was jemals über Brïn, die Magie, die Edanae und die Shi niedergeschrieben wurde. Besucher gibt es hier nur selten, so dass du meistens ungestört sein dürftest. Dort hinten sind auch Abschriften der Tagebücher von der ersten bis zur letzten Edana, manchmal auch die ihrer Wächter. Ein eher persönlicher Ansatz, und manches davon wird dir sicher unverständlich sein, aber wenn du die menschliche Seite der Wächter und ihrer Aufgaben kennenlernen willst, dann sind sie die beste Lektüre. Es gibt selbstverständlich auch Bücher, die das scheinbar Unerklärliche erklären.«

Juno drehte sich im Kreis und starrte die unzähligen Bücher in den Regalen an. »Wo soll ich denn da anfangen, Meister Bramas?«

»Keine Sorge. Es ist alles sauber sortiert und archiviert. Über einen der Spiegel kannst du dir zu jedem Thema Informationen erfragen und Lektüreempfehlungen abholen. Aber ich war so frei und habe dir schon ein paar Bücher zusammengesucht.« Bramas zeigte in die entgegengesetzte Richtung auf einen runden Tisch, der Juno bisher entgangen war. Ein Stapel Bücher türmte sich dort auf. »Du kannst mich natürlich auch jederzeit fragen, wenn du nicht weiterkommst oder etwas Bestimmtes suchst. Die meisten Texte sind außerdem im Spiegelnetzwerk abrufbar. Ich mag es allerdings lieber altmodisch auf Papier. Das riecht besser.«

Juno lächelte. »Das finde ich auch. Und ich kann mir hier jedes Buch ausleihen, das ich möchte?«

»Aber sicher.«

Juno ließ die Finger über die Buchrücken wandern und grinste vor sich hin. Dann ging sie zu dem Tisch, versuchte, aus den ausgewählten Büchern schlau zu werden, musste aber feststellen, dass sie erst einmal nichts von dem verstand, was darauf geschrieben war. Die Schriftzeichen waren ihr vollkommen fremd. »Aber Meister Bramas, das kann ich ja gar nicht lesen.«

»Das werden wir bald ändern. Komm, es gibt noch mehr!«

»Noch mehr?« Sie hatte sich gerade die Bücher auf die Arme geladen und war ganz sicher, dass da nicht ein einziges Buch mehr drauf passen würde.

»Lass mich dir helfen, Kin Juno«, bot Akko an, der still an eins der Regale gelehnt gewartet hatte. Er nahm ihr einen Teil der Bücher ab und lächelte ihr mitleidig zu. Sein Vater konnte sich schrecklich für Bücher begeistern und vergaß dabei manchmal, dass es nicht allen Menschen so erging. Als er Juno nun ansah, hatte er allerdings schnell den Verdacht, dass Bramas diesmal Glück gehabt haben mochte. Die Neugier und Vorfreude standen ihr förmlich in das strahlende Gesicht geschrieben und ihre beinahe farblosen Augen glänzten vor Aufregung.

»Danke«, sagte sie und nickte dem Bibliothekar zu.

»Na los, los!«, rief Bramas ungeduldig und die beiden folgten ihm hastig.

Es ging zurück in den Mitarbeiterbereich der Bibliothek. Doch diesmal bogen sie nicht auf den Gang ab, der sie zu den Arbeitsräumen brächte, sondern stiegen die Treppe hinauf, durch eine Tür im ersten Stock, die in den Privatbereich des Gebäudes führte. Von dort ging es einen weiteren Gang entlang und eine weitere Treppe hoch. Sie bogen um eine Ecke und dann standen sie vor einer schlichten, weiß gestrichenen Tür.

»Nur zu, geh hinein«, ermutigte Bramas sie.

Juno drehte den Knauf und öffnete die Tür. Vor ihr lag ein möbliertes Zimmer mit einem Bett, einem Schrank, einem leeren Regal und einem kleinen Arbeitstisch, der direkt unter einem großen Fenster stand. Durch das Fenster hatte man eine herrliche Aussicht über den weiten und begrünten Hinterhof der Bibliothek und Teile der Stadt.

»Gefällt es dir? Wir haben es die letzten Jahre als Rumpelkammer benutzt und mussten erst einmal etwas ausmisten. Aber es ist doch besser als das Arbeitszimmer mit dem unbequemen Sofa, oder?«

»Es ist toll!«, sagte sie und legte ihren Bücherstapel auf dem Tisch ab. Akko stellte seinen Teil dazu. Das Zimmer war kleiner als Junos alte Wohnung, aber familiärer, obwohl es noch nach frischer Farbe roch und ganz und gar kahl war. Auch die Nachbarschaft war freundlicher und sauberer als in ihrem alten Viertel. Sie spürte eine Welle der Erleichterung über sich gleiten. Sie hatte ein Heim. »Es ist wirklich wunderbar, Meister Bramas.« Wie zur Untermalung ihrer Aussage kam Kater Portos hinter ihnen durch die Tür geschlichen, sprang zielstrebig auf das Bett und rollte sich nach einigem Geschnüffel und Herumwälzen zu einem flauschigen Knäuel zusammen. Es dauerte nicht lange, bis sein leises Schnarchen einsetzte, und Juno musste lachen.

»Dann richte dich erst einmal ein. Deine Kleider habe ich schon im Schrank verstaut, während du mit Akko unterwegs warst, und in deiner Schreibtischschublade ist ein Handspiegel. Wir besorgen dir in nächster Zeit noch einen großen, mit dem du vernünftig arbeiten kannst, aber für den Moment kommst du sicher zurecht.«

»Das ist unglaublich nett von euch. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Ach, das ist doch gar nichts! Wir freuen uns, dich bei uns zu haben«, rief Bramas heiter.

Juno schaute Vater und Sohn an. Sie hatte wirklich Glück, dass sie bei so netten Menschen untergekommen war. Wer weiß, wo sie sonst noch hätte landen können? »Danke, Bramas.«

»Also dann, du weißt ja, wo du mich findest.«

»Oder mich«, ergänzte Akko mit einem Zwinkern.

Bramas und Akko verneigten sich knapp und ließen sie in ihrem neuen Zimmer alleine. Juno breitete die Arme aus und drehte sich voller Freude über ihr neues Heim. Sie nahm die Bücher vom Tisch, stellte sie nebeneinander ins Regal und ließ sich dann zu Portos auf das wirklich bequeme Bett fallen. Der Kater hob kurz den Kopf und sah sie etwas missbilligend an, ehe er sich mit einem eindeutigen Schnurren auf den Rücken warf, die Vorderpfoten anzog und ihr den Bauch entgegenstreckte.

»Kleiner Charmeur!«, rief sie amüsiert und begann, ihm den Bauch zu kraulen.

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Kinobes Ratgeber für Neuankömmlinge

(11’) - 117. Auflage


Abschnitt Eins: Willkommen auf Brïn



Wenn du diesen Ratgeber in Händen hältst, dann hast du gerade deine Volljährigkeit erreicht und bist endlich von deiner Kolonie in deine eigentliche Heimat umgesiedelt worden. Herzlichen Glückwunsch! Da dich deine Eltern und Lehrer bestens vorbereitet haben werden, enthält dieser erste Abschnitt für dich keine neuen Informationen. Somit steht es dir frei, gleich zu Abschnitt Zwei: Die ersten Tage - Orientierung im brïnaischen Alltag zu springen.


Wenn du allerdings nicht in einer der Kolonien Brïns aufgewachsen bist, dann hat es dich aller Wahrscheinlichkeit nach durch Raum und Zeit als gestrandete Person von Terra zu uns verschlagen und dein Leben steht nun kopf. Keine Panik, Brïn heißt dich willkommen!

Um dir dein neues Leben und den Übergang dorthin so leicht wie möglich zu machen, haben wir in diesem Ratgeber die wichtigsten Informationen für dich zusammengefasst.


Eine kurze Einleitung:

Brïn ist deiner alten Welt nicht ganz unähnlich, wie du vielleicht schon bemerkt haben wirst. Unsere Klimazonen sind gemäßigt, die Flora und Fauna entsprechen zu einem großen Teil denen auf Terra. Dies ist auf die Formung Brïns seit Beginn der Symbiose zwischen Menschen und Magie zurückzuführen. Bis zu diesem Moment war Brïn ein unbewohnbares Ödland, auf dem die Elemente wild und zerstörerisch wüteten. Erst unter der Führung der ersten Edana und ihrer vier Shi (Weltenwächter) wurde Brïn zu der Perle geformt, die es heute ist. Im Zuge dessen wurden so viele Tiere und Pflanzen wie möglich von Terra nach Brïn gebracht. Weitere Informationen dazu findest du in Abschnitt Dreizehn: Edana de Brïn, in Abschnitt Vierzehn: Shi de Brïn und Abschnitt Fünfzehn: Entstehung von Brïn

Da sich Brïn auf Basis vieler verschiedener terranischer Kulturen aus allen existierenden Epochen gründet, werden dir manche Eigenarten unserer Welt vertraut erscheinen, andere dagegen sehr befremdlich. Die Gesellschaft von Brïn existiert ganzheitlich demokratisch und in gegenseitigem Respekt, ungeachtet unserer individuellen Unterschiede. Die wichtigsten Gesetzesgrundlagen findest du in Abschnitt Drei: Verhalten & Grundregeln


Für den Anfang soll dies als Einstieg genügen. Im Folgenden findest du noch eine Übersicht zu den wichtigsten Eckdaten deiner neuen Heimat:


Kalendarium:

1 Jahr auf Brïn = 14 Monate = 490 Tage

1 Monat = 5 Wochen

1 Woche = 7 Tage

1 Tag = 27 Stunden


Monatsnamen:

01: Gamel

02: Antheste

03: Elaphebol

04: Munich

05: Thargel

06: Skirophor

07: Hekato

08: Metageit

09: Boedrom

10: Pyanops

11: Maimakter

12: Poseid

13: Dekatrai

14: Katesser


Jahreszeiten:

Frühling: 01. Antheste – 35. Thargel

Sommer: 01. Skirophor – 35. Boedrom

Herbst: 01. Pyanops – 35. Poseid

Winter: 01. Dekatrai – 35. Gamel


Kontinente:

1: Ideris

2: Euridis

3: Oberes Antaris

4: Unteres Antaris

5: Piramis

6: Golidis


Hauptstadt: Eydwall (auf dem Kontinent Ideris)


Hoshide: beginnt am 30.09. und endet am 35.09.


Datum (ein Beispiel):

Diese überarbeitete Auflage des Ratgebers wurde im Monat Dekatrai (13) am dreiundzwanzigsten Tag (23) des Monats und elftausenddreihundertundvierundachtzig Jahre (11’384) nach der Symbiose (n. S.) fertiggestellt. Daraus ergibt sich das numerische Datum: 23.13.11'384 n. S.

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Kapitel 10


Schlaflos


Brïn im Antheste 11'384 n. S.

Eydwall, Ideris



Kamika war hellwach, obwohl es weit nach Mitternacht sein musste. Aios und Eios, die beiden Zwillingsmonde von Brïn, hatten schon die Hälfte ihres allnächtlichen Weges hinter sich gebracht. Mit offenen Augen lag sie in dem fremden Bett und starrte reglos an die Zimmerdecke, deren Farbschicht im Laufe der Zeit feine Risse bekommen hatte. Ihre Augen folgten den zackigen Linien hin und her, während ihre Gedanken ständig abdrifteten und sie wachhielten.

Sie hatte Lorden nicht die ganze Wahrheit gesagt. Niemand kannte die ganze Wahrheit. Vor vielen Jahren, nach ihrer Ankunft auf Brïn, hatte Kamika ein ganzes Jahr damit verbracht, an Zolana zu denken und von ihr zu phantasieren. Wie ein dummes Kind war sie sich dabei vorgekommen. Ein dummes, liebeskrankes Kind, zu feige, etwas zu sagen. Sie hätte es nie gewagt zu glauben, dass die Edana ihre Zuneigung je erwidern würde. Nachdem Kamika aber zur Wächterin berufen und in den Turm der Shi eingezogen war, hatte Zolana sie regelrecht ermutigt, bis es irgendwann passiert war. Ihre erste echte intime Erfahrung mit einer anderen Frau. Einer, die sie nicht für falsche Zuneigung bezahlen musste. Die Tür zu einer neuen Welt hatte sich für Kamika geöffnet. Wortwörtlich, was Brïn anging, aber auch metaphorisch, was ihre Neigungen und Sehnsüchte betraf. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie glauben konnte, dass all das wirklich geschah und plötzlich alles möglich war. Drei Monate lang kam Zolana in Kamikas Schlafzimmer geschlichen, wenn alle anderen im Turm längst schliefen, und im Morgengrauen war die Edana wieder verschwunden. Es waren leidenschaftliche Momente gewesen, aber auch geheime, und es hätte ewig so weitergehen können. In jener Zeit war Kamika überwältigt gewesen von neuer Hoffnung und Zuversicht und sie hatte geglaubt, Zolana empfände wirklich etwas für sie. Nach all diesen Jahren der Zurückweisung und Einsamkeit, der Vorsicht und Furcht vor sich selbst, durfte sie plötzlich sie selbst sein. Sie wurde nicht länger geächtet.

Doch dann war der Tag gekommen, an dem der alte Wasserwächter, Shi Bionis, in den letzten Schlaf gesunken war, und plötzlich hatte Lorden vor ihnen gestanden, erfüllt von der Magie des Wassers. Ein wenig überfordert hatte er damals ausgesehen, schüchtern sogar. Obwohl er ein echter Brïnai war und kaum älter als Kamika zu dieser Zeit, war Lorden noch nicht lange auf dieser Welt zu Hause gewesen. Er hatte noch gar nicht recht die Zeit gehabt, sich in seiner Heimat einzuleben, bevor er von der Magie des Wassers gerufen worden war. Doch in der Sekunde, in der Zolana ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war Kamika klargeworden, dass sich die Edana in ihn verlieben würde. Ihr war auch klargeworden, dass Zolanas Gefühle für Kamika bei Weitem nicht so tief gingen. Die Erkenntnis hatte sich wie eine Schlinge um den Hals der Wächterin gewickelt und ihr den Atem abgeschnürt. Dreimal war die Edana nach Lordens Ankunft noch zu Kamika gekommen, und dann, von einem Tag auf den anderen, war es vorbei. Die Wächterin hatte lange, einsame Wochen vergebens darauf gewartet, dass Zolana wieder in ihr Zimmer geschlichen kam. Aber sie blieb alleine und niemand kam, nicht einmal, um ihr zu erklären, was geschehen war. Es schien fast so, als wäre das, was sie mit Zolana geteilt hatte, nur ein schöner Traum gewesen. Für Kamika war damit eine schwierige Zeit angebrochen, in der sie ihre Gefühle einmal mehr verbergen musste und in der sie einmal mehr erlebte, wie ihre große Liebe sie im Stich ließ.

Seit mehr als drei Jahrzehnten nun bewahrte Kamika dieses Geheimnis und nicht einmal Erigen ahnte etwas davon. Sie hatte zugesehen, wie Lorden und Zolana einander verfielen, wie sie sich verliebt ansahen und anfangs nur heimlich berührten. Später schaffte sie es, ihnen zur Hochzeit zu gratulieren und sich anschließend zu schwören, sich nie wieder zu verlieben. Mit der Zeit waren die Erinnerungen an die gemeinsamen Nächte mit Zolana verblasst und der Schmerz war zu einer dumpfen Gleichgültigkeit verödet. Kamika hatte sich einige Affären erlaubt, die nicht alle Bedürfnisse stillen konnten, die aber das Alleinsein gelegentlich erträglicher machten. Doch nach Zolanas Ermordung war alles frisch und unvermindert zurückgekommen. Sehnsucht. Enttäuschung. Der Verlust ihrer Geliebten. Mehr denn je wünschte sich, nein, brauchte Kamika jemanden, mit dem sie reden konnte. Sie fühlte sich zum Bersten voll und glaubte, bald platzen zu müssen. Doch es gab niemanden, dem sie ihr Geheimnis anvertrauen durfte. Es würde Lorden das Herz brechen, wenn er davon erfuhr, und Zolanas Andenken würde es auch beflecken. Die Edana hatte sich für ihr Verhältnis mit Kamika geschämt, davon war die Wächterin überzeugt.

Zu dieser späten Stunde war es allerdings weniger Zolana, die Kamika durch den Kopf spukte, was sie am meisten erstaunte. Auch der Mord an der Terranerin hielt sie nicht vom Schlafen ab, sondern die zerzauste Schöne aus der Zelle. Warum, fragte sie sich. Sie hatten kein Wort miteinander wechseln können. Kamika hatte die bewusstlose junge Frau zunächst in ihr Apartment mitgenommen, doch sie hatte die kurze Zeit, die sie in Kamikas Obhut verbracht hatte, durchgeschlafen. Kurz nach ihrer Ankunft war Lorden vor Kamikas Tür erschienen, um die Fremde zu Meister Bramas, ihrem Onkel, zu bringen. Noch bevor Kamika die Chance gehabt hatte, zu protestieren, oder sie wenigstens nach ihrem Namen zu fragen, war ihre Zellennachbarin auch schon wieder fort gewesen. Ihren Namen hatte die Wächterin natürlich trotzdem bald erfahren, dennoch ließ es Kamika nicht los, dass sie so schnell ihrer Obhut entzogen worden war. Lorden hatte ihren etwas zu grantigen Protest einfach abgewiegelt und gesagt, dass die Frau schließlich Bramas’ Nichte sei und es keinen Grund gebe, sie im Turm zu behalten. Der Bibliothekar war offenbar schon seit einer Weile auf der Suche nach seiner Nichte gewesen und Lorden, als dessen Freund, hatte es endlich geschafft, sie aufzuspüren, ehe Kamika ihm in die Quere kommen konnte.

Im Grunde war also alles in Ordnung. Trotzdem fand die Wächterin keine Ruhe, sie ließ ihr keine Ruhe. Kamika hatte das Gefühl, ihre Zellennachbarin im Stich gelassen zu haben. Sie hätte bei der Unterbringung dabei sein sollen. Sie hätte sich vergewissern müssen, dass die junge Frau an einen sicheren Ort kam und dort gut versorgt wurde. Nicht, dass sie Grund zum Zweifeln gehabt hätte. Lorden würde nie einen Menschen wissentlich in Gefahr bringen. Es war einfach nur das unsäglich nagende Gefühl, etwas Wichtiges nicht richtig zu Ende gebracht zu haben. Kamika verurteilte Lorden heimlich dafür, dass er ihr den Schützling so schnell entrissen hatte. Die Freundschaft der beiden Wächter litt mehr und mehr.

Genug! Kamika zischte frustriert, warf die Decke von sich und trat ans Fenster. Mit verschränkten Armen stand sie entblößt im kalten Licht der beiden Monde und schaute zu den wandernden Himmelskörpern hoch, während sie vor sich hinschmorte. Was genau war eigentlich ihr Problem?

»Hey, Shi.« Die verschlafene Stimme störte Kamika in ihren umherirrenden Gedanken. »Was machst du da? Komm wieder ins Bett.«

Kamika drehte ihr nur kurz das Gesicht zu und sah wieder aus dem Fenster, ohne einen Kommentar abzugeben.

»Ist irgendetwas?«

Ja, dachte Kamika, irgendetwas war. Nur was? Sie löste sich von dem Fenster und begann wortlos, ihre Kleider einzusammeln. Nun wurde die andere Frau etwas aufmerksamer und stützte sich auf ihre Ellbogen.

»Willst du schon gehen?«, fragte sie verwundert.

»Ich habe noch etwas zu erledigen«, antwortete Kamika knapp.

»Um diese Uhrzeit? Gibt es etwa schon wieder einen Angriff der Skrae?«

Kamika schüttelte sanft den Kopf und setzte sich zu der Frau auf die Bettkante, während sie sich ihr Shirt überstreifte und in ihre Stiefel schlüpfte.

Die Frau schmiegte sich zärtlich an Kamikas Rücken, liebkoste ihr den Nacken und ihre Arme wanderten um Kamikas Körper. »Musst du wirklich schon gehen? Wo wir gerade wach sind …«

»Elisia …« Kamika sprach ihren Namen in einem Tonfall aus, der unmissverständliches Desinteresse vermittelte.

Elisia zog sich zurück und lehnte sich schweigsam an das Kopfende ihres Bettes. Sie beobachtete ihre Besucherin eine Weile, wie sie mit stoischer Ruhe das eng geschnürte Hemd zurechtrückte und tonlos vor sich hin grübelte. »Du kommst nicht wieder, habe ich recht?«

Für einen Moment hielt Kamika inne. »Ja«, sagte sie schließlich.

»Ist das alles? Ein schlichtes ›Ja‹?«

Kamika zog die Schnüre an ihrem Stiefel fest und wandte sich zu Elisia um. »Machst du mir jetzt eine Szene?«

»Nein, ich wusste, dass der Tag kommen würde. Aber ich bin neugierig. Warum jetzt? Es lief doch gut. Wir hatten ein paar interessante Monate zusammen.«

Die Wächterin zuckte mit den Schultern und erhob sich. »Die hatten wir.«

»Es gibt wohl wirklich niemanden, der es vermag, dein Herz zu stehlen, was, Kamika?«

»Man kann nicht stehlen, was nicht da ist.«

Elisia lachte leise und freudlos. »Ich hoffe für dich, dass du dich irrst.«

Kamika legte sich den Umhang über die Schultern und ging zur Tür. Sie warf noch einmal einen Blick zurück, die Hand auf dem Knauf. Die Frau beobachtete sie mit stillem Vorwurf. »Mach’s gut, Elisia.«

»Leb wohl, Shi.«

Die Tür öffnete sich und Kamika verschwand aus Elisias Leben so spurlos, wie sie gekommen war.

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Kapitel 11


Das kleine ABC für Aliens


Brïn im Elaphebol 11'384 n. S.

Eydwall, Ideris



Von der Spitze des Daches aus, wo Juno sich sehr gerne aufhielt, hatte sie eine gute Aussicht über die fremde Stadt. Im östlichen Teil lag der Palast des Regenten mit dem angebundenen Zentralarchiv. Ein großes Areal mit einem flachen, aber breiten Gebäude in seiner Mitte und einer gewaltigen Kuppel darauf. Dort befand sich das politische Zentrum Brïns. In einigem Abstand dazu ließen sich Gärten und Statuen erkennen, gefolgt von einem Meer aus Häusern und kleineren Türmen, die der Bibliothek ganz ähnlich waren. Nicht weit entfernt herrschte außerdem reges Treiben auf dem großen Stadtplatz. Es war der größte Markt, den Juno jemals gesehen hatte, und stand dem geschäftigen Treiben einer Großstadt-Shoppingmeile in nichts nach, außer dass er deutlich bunter und lebhafter wirkte. Es hatte etwas von einem Basar. Die Stadt wurde außerdem von zwei Flüssen und etlichen Bächen durchflossen. Alle hatten sichtbar klares Wasser und überall wuchsen Büsche und Bäume. Es war eine beeindruckende und schöne Stadt. Das Beste an der Aussicht aber war der hohe Turm der Shi, der Wolkenturm, der im Norden der Stadt lag. Seine weiße Fassade schimmerte im Sonnenlicht wie Perlmutt und überragte alles andere. In regelmäßigen Abständen flogen die Greife dort ein und aus, umkreisten den hohen Turm und verschwanden hinter den Bäumen der weitläufigen Gärten. Von ihrem aktuellen Standort aus waren die Tiere nur kleine Punkte, doch manchmal hatte Juno Glück und ein Greif überflog die Bibliothek, so dass seine Flügel einen weiten Schatten warfen. Es hieß, die Wächter von Brïn säßen auf dem Rücken dieser gewaltigen Tiere, die auf einem Planeten mit Namen Naruht gezüchtet wurden. Die Reiter hatte Juno noch nie gesehen, keinen bis auf Shi Lorden.

Der Turm der Shi übte eine besondere Faszination auf Juno aus. Denn dort lebten die Edana und ihre Weltenwächter. Neben Shi Lorden gab es noch drei weitere Wächter, die Juno nur dem Namen nach kannte. Sie hatte hier und da ein paar Berichte über die Shi im Spiegelnetzwerk aufgeschnappt, aber hauptsächlich konzentrierten sich dabei alle auf Shi Kamika, die Wächterin der Winde, mit ihrer ganz besonderen Verachtung für alles, was mit Terra zu tun hatte. Es ging das Gerücht, dass sie eine terranische Frau ermordet haben sollte, und obwohl sie inzwischen ein Alibi aufweisen konnte, kam der Verdacht immer mal wieder zur Sprache. Mittlerweile hatte Juno die Gerüchte um die Wächterin ebenso oft gehört wie Bramas’ Empfehlung, sich von dieser speziellen Wächterin vorsichtshalber fernzuhalten. Eine unnötige Warnung, wie Juno fand, denn sie glaubte nicht, dass sie den Shi im Allgemeinen oft begegnen würde. Schließlich waren sie in etwa so abgeschirmt wie Prominente auf der Erde. Eine ganz andere Gesellschaftsschicht. Noch dazu hatte Juno nicht oft Gelegenheit, die Bibliothek überhaupt zu verlassen, und soweit sie wusste, trieben sich auch die Wächter nicht allzu häufig außerhalb ihres Turms herum. Es sei denn, sie gingen zur Jagd oder gaben Kurse für die Elitemagier an der Universität. Aber all das berührte Juno nicht und es war ihr auch ziemlich gleichgültig.

Sie war inzwischen seit ungefähr drei Wochen in Eydwall, der Hauptstadt von Brïn, und es gab noch immer Tage, an denen sie aufwachte und alles anzweifelte. Sie war das Alien auf einem fremden Planeten. Ein Planet, der mit Magie funktionierte. Kein Hokuspokus oder Simsalabim, nein, echte und wahrhaftige Magie, die ein paar erstaunliche technologische Entwicklungen ermöglichte. Schwebebahnen, Kommunikationsspiegel, die einem Smartphone weit überlegen waren, und sogar einen planetaren Schutzschild gab es. Die Magie konzentrierte sich in den Elementen, vor allem im Wasser und der Luft. Sie atmeten die Magie und das Wasser war in allem, was sie tranken, aßen und anfassten. Meister Bramas behauptete, auch sie würde früher oder später anfangen, die Magie zu spüren und sie wirken zu können. Das Wasser besaß außerdem eine besondere Heilkraft. Es hielt die Menschen jung und gesund und gewährte ihnen eine Lebensspanne von etwa eintausend Jahren.

Eintausend Jahre.

Juno konnte und wollte sich nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob sie sich mental gewachsen fühlte, eine solch lange Zeit zu leben. Sie wollte nach Hause, zurück in ihre eigene vertraute Welt, zurück zur Erde. Doch hier war das Problem: Es gab keinen Rückweg. Selbst wenn die Brïnae irgendwann ein neues Portal zur Erde öffnen könnten, dann wäre ihr diese Erde vermutlich genauso fremd wie Brïn. Die Chancen, dass sich das Portal zur selben Zeit auf der Erde öffnete, zu der Juno sie verlassen hatte, standen eins gegen unendlich. Der Gedanke trieb Juno gefährlich nahe an den Rand der Verzweiflung und so schüttelte sie ihn ab, so gut es ging. Brïn war jetzt ihr Zuhause, und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie eigentlich nicht viel mehr zurückgelassen als vertraute Strukturen. Sicherlich würde sie sich auch irgendwann an die Strukturen von Brïn gewöhnen.

Junos neuer Armreif begann zu leuchten und eine kleine Laufschrift darauf erinnerte sie daran, dass sie einen Termin hatte. Meister Bramas rief zum Unterricht. Zuhause hatte sie sich mit ihren siebenundzwanzig Jahren einigermaßen erwachsen gefühlt. Sie hatte einen Job gehabt, genau genommen zwei, eine Wohnung, und alles in allem war sie gut zurechtgekommen. Hier in den Archiven der Bibliothek auf einer fremden Welt, unter fremden Menschen und Gepflogenheiten, kam sie sich dagegen vor, als ginge sie wieder zur Schule. Was sie genau genommen auch tat. Glück im Unglück, nutzten sie immerhin dieselbe Sprache, was erstaunlich genug war. Meister Bramas hatte eine Erklärung dafür, die ganz schön phantastisch auf Juno wirkte und eine Art Dolmetscher-Magie beinhaltete. Gedankenmuster, die aufeinander abgestimmt wurden, ohne dass sie etwas davon merkte. Offenbar hatte sie die Anpassungsphase größtenteils während ihres Zellenaufenthalts verschlafen, aber ihr Weltbild war bereits so durcheinander, dass sie sich vornahm, eine Information nach der anderen zu verarbeiten. Für den Augenblick nahm sie es als glückliche Fügung hin, dass sie in der Lage war, sich sprachlich zu verständigen. Die Schriftsprache der Brïnae dagegen war eine völlig andere Geschichte. Juno kannte nicht ein einziges der verschlungenen Zeichen, die sie sehr an orientalische Schriftmuster erinnerten. Schwieriger noch als die normale Schriftsprache waren die magischen Symbole. Man musste Magie beherrschen, um diese Zeichen verstehen zu können, und für Juno waren es einfach nur herrlich anzusehende Muster, die mal mehr und mal weniger miteinander harmonierten. Trotzdem hatte sie sich ihr Regal mit Büchern vollgestopft und sie blätterte abends darin, in der Hoffnung, etwas wiederzuerkennen.

»Die Symbole werden zu dir kommen, hab etwas Geduld. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du die Magie spüren wirst. Wer weiß? Vielleicht steckt in dir sogar eine Tempelhüterin!«

Bramas hatte gelacht und ihr aufmunternd auf die Schulter geklopft. Die Vorstellung von echter Magie und Zauberei war unwirklich. Sie konnte allerdings nicht leugnen, dass sie von der Idee fasziniert war.

Meister Bramas stand bereits im Arbeitszimmer und wartete, als sie den Fuß der Treppe erreichte. Wie immer kam sie zu spät, weil sie zu viel Zeit oben auf dem Dach verbrachte. Ihr Bewegungsradius in Eydwall war begrenzt. Alleine verlief sie sich noch in den Straßen, was Bramas für gefährlich hielt, denn es galt zu bedenken, dass ein Mörder auf freiem Fuß war. Er wollte nicht, dass Juno ein unnötiges Risiko einging, indem sie alleine in der Stadt umherirrte. So wenig es ihr auch behagte der Bitte des Brïnai Folge zu leisten, musste sie doch zugeben, dass seine Sorge nicht ganz unbegründet war. Eydwall war keine Metropole, wie Juno sie von Terra kannte. Auf Brïn lebten nur etwa halb so viele Menschen. Diese Welt war klein und groß zugleich. Es gab deutlich mehr Platz in den begrünten Städten und die Menschen hier schienen sich größtenteils zu kennen. Eine Fremde, wie Juno es nun einmal war, fiel auf. Bramas hielt es für sicherer, wenn Juno so lange wie möglich in der Bibliothek blieb. Solange, bis sie zu lesen gelernt und ihre Sprachmelodie gut genug angepasst hatte, um als gebürtige Brïnai durchzugehen und keine neugierigen Fragen beantworten zu müssen, auf die sie nicht immer eine Antwort wusste.

Das Raum-Zeit-Konzept der Portale bereitete Juno zudem ab und an Kopfschmerzen. Niemand wusste, welche Zeit in genau diesem Moment auf der Erde herrschte. Darüber nachzudenken, erinnerte sie bloß daran, wie weit entfernt sie von ihrer Heimat war und dass ihr bekannte Menschen gleichzeitig tot und lebendig waren. Wenn sie zur richtigen Zeit auf die Erde gelangen könnte, ließe sich der Tod ihres Vaters dann verhindern? Würde sie sich selbst begegnen?

Juno schüttelte sich und konzentrierte sich wieder auf ihr unmittelbares Problem: ihre begrenzte Bewegungsfreiheit. Obwohl sie Bramas’ Argumente nachvollziehen konnte, fühlte sie sich allmählich doch ein wenig eingesperrt. Sie beneidete ihren Kater Portos, der unbehelligt die Stadt erkunden durfte und höchstens ein paar bewundernde Blicke aufgrund seiner Seltenheit auf diesem Planeten erntete. Juno blieben vorerst nur das Dach mit seiner wunderschönen Aussicht über die Stadt und der Anblick des majestätischen Turms der Shi, in dessen Nähe sie vermutlich nie kommen würde.

»Mal wieder der Turm, meine Liebe?«

»Es tut mir leid.« Wehmütig setzte sie sich in den Sessel am Fenster. Auf dem Tisch lagen bereits Papier und Füllfeder. Überraschend gewöhnliche Utensilien, wenn man einmal von der magischen Tinte absah, die auf Befehl die Farbe ändern konnte. Juno liebte sie und zögerte nicht, ein paar unnötige, aber dafür hübsch anzusehende Schnörkel auf das Papier zu setzen.

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Kapitel 12


Scherben machen Krach


Brïn im Elaphebol 11'384 n. S.

Eydwall, Ideris



»Habt ihr über Bramas’ neue Schülerin nachgedacht?«

»Du meinst Kamikas neue Freundin?«, grinste Erigen schelmisch. Lorden verdrehte die Augen. Sie saßen alle zusammen am Tisch und spielten ihr Würfelspiel, während sie die Pläne für Unterricht und Training besprachen. Nur Kamika fehlte, wie so oft in den letzten Monaten. Immer häufiger zog sie ihr eigenes Ding durch, verschwand stundenlang, ohne dass sie jemandem sagte wohin.

»Hör auf damit, Erigen. Wenn Kamika die Wahrheit über die Gestrandete erfährt, dann gibt es einen Sturm, den wir so schnell nicht vergessen.«

»Du übertreibst maßlos, Lorden.«

»Und da bist du dir sicher?«

»Ich verstehe nicht, weshalb sie nicht wissen soll, dass wir eine neue Terranerin auf Brïn haben. Sie ist schließlich nicht die erste«, meinte Erigen vorwurfsvoll. »Oder hältst du unsere Schwester vielleicht doch für eine Mörderin?« Lorden senkte den Blick und schüttelte seine Würfel. »Lorden?«, hakte Erigen empört nach.

»Nein. Das tue ich natürlich nicht! Aber sie verdächtigt sogar Sofia, etwas verbrochen zu haben, und sie ist die Edana. Eine andere Terranerin, die noch dazu durch ein wildes Portal gekommen ist, würde Kamika doch nur argwöhnisch machen. Immerzu unterstellt sie ihnen irgendwelche niederen Absichten. Es geht Kamika nicht gut und es ist besser, wenn sie sich nicht noch mehr Sorgen macht.«

»Du machst es mal wieder unnötig kompliziert, Lorden. Ich glaube, sie mag die Kleine.«

Lorden grunzte. »Noch ein Grund mehr, sie von Kin Juno fernzuhalten. Stell dir das Drama vor, wenn Kamika klar wird, dass sie eine Terranerin mag.«

»Ich würde sie gerne auf ihre magische Begabung testen«, fuhr ihnen Kassia dazwischen. »Eine echte Terranerin hatten wir hier lange nicht mehr und sie macht einen klugen Eindruck.« Sie ließ die Würfel rollen und riss in stummem Triumph die Arme hoch. Die beiden Männer stöhnten laut und warfen ihre Einsätze auf Kassias Seite.

»Fragt Kamika noch nach ihr?«, wollte Lorden wissen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752119305
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Jack the Ripper Mord Portalwelten Abenteuer Alternativwelten Spannung Jeanne d'Arc lesbisch Krimi Thriller Liebesroman Liebe

Autor

  • Sameena Jehanzeb (Autor:in)

Sameena Jehanzeb wurde 1981 in Bonn geboren. Bei Tag ist sie Grafikdesignerin, Illustratorin und Scherenschnittkünstlerin, eine nimmermüde Sarkasmusschleuder und Katzenbändigerin. Bei Nacht wird sie zur Geschichtenweberin und verfasst Abenteuer in den Bereichen Fantasy und Science-Fiction. Sowohl beim Schreiben als auch beim künstlerisch-handwerklichen Arbeiten setzt sie sich am liebsten mit phantastischen Themen, Sagen und Märchen auseinander oder begibt sich auf einen Ausflug in die Zukunft.
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Titel: BRÏN