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Winterhof

von Sameena Jehanzeb (Autor:in)
160 Seiten

Zusammenfassung

»Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen.« Von klein auf liebt Kora den Schnee und den Winter. Seine eisige Umarmung gibt ihrem kranken Herzen das Gefühl, im richtigen Takt zu schlagen. Je älter Kora wird, desto weniger Schnee gibt es in ihrem Leben. Die Welt wird wärmer, die Umweltkatastrophen verheerender und schon bald muss Kora den Winter suchen. Schließlich findet sie ihn in einem kleinen Dorf, in dem der Legende nach die Schneekönigin wohnt. Als sie tatsächlich auf diese trifft, stellt die Königin des Winters sie vor eine Entscheidung, bei der Kora nur verlieren kann – ganz gleich, welche Wahl sie trifft.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Sameena Jehanzeb

Winterhof

 

 

Besuchen Sie die Autorin im Internet:

www.sameena-jehanzeb.de



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Kurzgeschichten:

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Impressum:


Winterhof 

Neuauflage im Januar 2020

Erstveröffentlichung im Oktober 2018


© Sameena Jehanzeb

Eifelstr. 4 | 53119 Bonn

mail@sameena-jehanzeb.de


Gesamtgestaltung und Illustration: saje design, www.saje-design.de

Lektorat: Sabrina Uhlirsch, www.spreadandread.de

Korrektorat: Roswitha Uhlirsch, www.spreadandread.de

 

Alle Rechte vorbehalten.


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.




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Dieser Roman enthält Themen, die bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen können. Eine Auflistung dieser Themen kann über den aufgeführten QR-Code oder durch Direkteingabe im Browser abgerufen werden:


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Für Nico.

 

Dem ich all seine Ideen stehle,

bevor er Zeit hatte, sie zu denken.



Vorwort

 

Märchen sind dazu da uns zu verzaubern. Sie erzählen uns Geschichten von mutigen Rittern, tapferen Prinzessinnen, von Elfen und Feen, Träumen und Wünschen, die in Erfüllung gehen. Sie pflanzen uns Harmonie in die Herzen und ein glückliches Lächeln auf die Lippen. Wollen wir nicht alle solche Märchen erleben, die uns innerlich tanzen lassen?

Doch es gibt auch andere Märchen. Solche, die beißen. Sie sind gefährlich und düster. Ein Märchen wie das, was du gerade in den Händen hältst.

Wenn du Koras Geschichte folgen willst, so sei gewarnt! Dies ist kein Märchen für unschuldige Kinder, keine schöne Gute-Nacht-Geschichte, die sanfte Träume verspricht.

Dieses Märchen hat Zähne und es wird sie benutzen.

 

 

 

»Sei vorsichtig mit deinen Wünschen,

sie könnten in Erfüllung gehen.«

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Das Märchen beginnt



Es war einmal ein Mädchen, das träumte von Schnee – schon sein ganzes Leben lang. In seinen Träumen erwachte es stets auf einer schneebedeckten Lichtung. Der Ort war umringt von hohen Tannen, die ebenfalls ganz und gar mit Schnee bedeckt waren. Am Ende der Lichtung, ganz dicht am Rande einer steilen Klippe, stand eine große Eiche mit Blättern aus Frost und einem Stamm aus glasklarem Eis. Ein Teil ihrer Wurzeln fiel in schweren Schlingen über den Rand der Klippe und verschmolz mit dem Dunkel der Nacht. Von dem Baum ging ein sanftes Schimmern aus. Kühles Licht, das dem des fahlen Mondes ähnelte. Aus seiner Krone rieselten feine blaue Lichter, die wie Glühwürmchen in der Luft tanzten und langsam zu Boden fielen. Hinter der Eiche, weit entfernt und inmitten eines zugefrorenen Sees, sah das Mädchen die Umrisse eines weißen Schlosses. Auch die Palastmauern schienen ganz aus Eis und Schnee zu bestehen und schimmerten ebenso im Mondlicht wie die Eiche. Das imposante Bauwerk wurde von großen Kälteschwaden eingehüllt, die wie farblose Hexen um es herumwirbelten, bis sie schließlich auf den See fielen, wo sie zu Pulverschnee verpufften und auseinanderstoben.

Im Winterhain des Mädchens fiel immer Schnee und die Luft war frei von schweren Gerüchen. Es gab hier keine bunten Farben. Nur das Weiß des Schnees und das kalte Licht des Mondes. Das Mädchen war ganz für sich und konnte tun und lassen, was es wollte. Niemand war dort, der ihm sagte, was es durfte und was nicht, was gesund war und was nicht. Wollte es auf Bäume klettern, dann tat es das. Wollte es mit ganzer Kraft über die Lichtung rennen, dann tat es das. Das Mädchen liebte es, dass dieser Ort allein ihm gehörte, und es liebte es, ein Kind des Schnees zu sein. Der Name dieses Kindes war Kora.

Manchmal glaubte Kora, die Bäume des Hains flüstern zu hören, aber sie konnte nie verstehen, was die knorrigen Gesellen sagten und ob sie zu dem Mädchen sprachen oder in ihren eigenen Gedanken verloren waren. Wenn Kora in ihrem Winterhain spielte, dann war sie davon überzeugt, dass sie eine Schneeprinzessin und ihr wahres Zuhause der weit entfernte Palast auf dem See war. Vielleicht glaubten es auch die Bäume und flüsterten deshalb so leise, weil sie ihre kleine Hoheit nicht verärgern wollten. Die Schneeprinzessin wäre gerne in das Schloss aus Eis und Schnee zurückgekehrt, doch es führten keine Wege von dem Winterhain zu dem wunderschönen Palast. Kora stellte sich vor, dass einst eine lange, gläserne Brücke ihren Winterhain mit dem Schloss verbunden hatte. Doch die Brücke war zerstört worden und die kleine Schneeprinzessin im Winterhain gefangen, bis sie eines Tages gefunden wurde. Sie musste nur noch ein klein wenig länger warten.

Frohgemut tanzte das Mädchen auf seiner Lichtung barfuß im Schnee. Der Winterhain war kalt, aber die Schneeprinzessin war es auch, sodass ihr die Kälte fast warm erschien. Sie genoss die frostige Luft und den Anblick ihrer schneebedeckten Zuflucht die ganze Nacht lang. Am Morgen erwachte sie stets in ihrem Bett in der realen Welt, ganz und gar erfüllt von dem Zauber ihres Winterhains.

Die kleine Schneeprinzessin wuchs bald zu einer Frau heran und die Frau verliebte sich in einen Prinzen, der in Wahrheit gar kein Prinz war, sondern nur ein einfacher Mann. Auch sie glaubte längst nicht mehr daran, eine Schneeprinzessin zu sein, und träumte nur noch selten von dem verzauberten Winterhain, in dem sie stets hatte vergessen können, dass sie mit einem Leiden geboren worden war. Die Ärzte hatten Kora als Kind schon erklärt, dass ihr Herz zu klein sei und nicht richtig mit dem Rest ihres Körpers wüchse. Manchmal fühlte sich die Frau sehr müde und das Atmen fiel ihr schwer. Sie konnte viele Dinge nicht tun, da diese sie zu sehr anstrengten. Darum hatten ihre Eltern ihr nie erlaubt zu rennen, herumzuspringen oder auf Bäume zu klettern. Jetzt, da sie erwachsen war, verstand Kora all das und es machte ihr nichts mehr aus. Doch als sie nun ihrem Prinzen gestand, dass sie ein kleines, krankes Herz hatte, fürchtete sie, er würde gehen und sich nach einer gesunden Prinzessin umschauen. Aber der Mann vergötterte die Frau, die vom Schnee träumte, mitsamt ihrem kleinen, kranken Herzen. Er wollte nichts lieber sein als ihr Märchenprinz. Und so versprachen sie sich, einander ewig zu lieben und nie wieder getrennte Wege zu gehen.

Als eine Weile ins Land gezogen war, brachte Kora zwei Töchter zur Welt. Sie hatten beide starke und gesunde Herzen und machten ihre Eltern noch viel glücklicher, als die es sich hätten vorstellen können. Kora liebte ihren ungekrönten Prinzen und ihre beiden ungekrönten Prinzessinnen. Sie liebte ihr normales und von so viel Glück gesegnetes Leben und ihr kleines, krankes Herz plagte sie gar nicht mehr so oft. Ihr Leben war kein Märchen, aber es war märchenhaft und es gab nichts, was sie hätte ändern wollen. Nur eines vermisste sie manchmal: den Schnee. Denn es war ihr nie möglich gewesen, den Winterhain und das Flüstern der Bäume zu vergessen.

Den Winterhain ihrer Träume konnte der Prinz ihr nicht schenken, aber er konnte sie an einen Ort bringen, der fast genauso zauberhaft war. Ein wahres Winterwunderland und so klein, dass es auf den meisten Karten gar nicht verzeichnet wurde. Die örtlichen Legenden sagten, dass es die Wiege des Winters selbst sei.

Hätten die Frau und ihr Mann bloß geahnt, was dort auf sie wartete. Hätten sie bloß geahnt, wem sie dort begegnen würden. Vielleicht wären sie dann nicht aufgebrochen, um den Schnee zu finden. Vielleicht hätte das kleine, kranke Herz dann noch ewig weiterschlagen dürfen.

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10


Das Insekt explodierte mit einem schmatzenden Geräusch auf der Windschutzscheibe und hinterließ einen ekelerregenden Schleimfleck in rot und eitergelb. Eindeutig ein Blutsauger. Die Sensoren des Mietwagens reagierten auf den vermeintlichen Regentropfen und setzten die Scheibenwischer in Bewegung. Die Wischblätter vollführten ihren bogenförmigen Tanz von rechts nach links und verteilten den Schleim in unappetitlichen Schlieren weiter über die Scheibe. Kora wandte angewidert den Blick ab und studierte stattdessen den Newsfeed ihrer Tablet-App.

Verschiedene Katastrophen sprangen sie in Form bunter Schlagzeilen an und leuchteten ihr in HD-Qualität entgegen. Sie seufzte leise. Überschwemmungen, wohin man auch blickte, Dürre in Indien, Waldbrände in Kanada, ein Tornado in Europa, ein heftiges Erdbeben im Norden Japans und und und. Die Vorfälle häuften sich von Jahr zu Jahr mehr, wurden ständig zahlreicher und gleichzeitig zerstörerischer. Doch in diesem Jahr schien Mutter Natur eine besonders eindeutige Botschaft loswerden zu wollen und die war den Menschen nicht allzu freundlich gesinnt.

Kora wechselte die Einstellung des Feeds und ließ sich die Nachrichten aus der näheren Umgebung ihres aktuellen Standorts anzeigen. Sie war lange, sehr lange nicht mehr in dieser Gegend gewesen – oder in der kleinen Stadt Snjórley1, wo sie mit ihren Eltern einst den Urlaub verbracht hatte –, aber der Norden war noch immer recht wild, geprägt von vielen kleinen, weit auseinanderliegenden Dörfern mit einer Menge Wald dazwischen. Um in die nächste größere Stadt zu gelangen, musste man fast eine Stunde lang fahren. Ein letztes Stück Wildnis in einer fortwährend lauter und voller werdenden Welt. Doch auch der Norden litt unter dem warmen Winter, der sich als scheinbar endlos andauernder Herbst manifestierte. Bedauerlicherweise ohne die schillernden Farben, die wenigstens etwas Freude verbreitet hätten. Die milden Temperaturen ließen die wilden Flüsse über die Ufer treten und ganze Stadtteile knietief im Wasser versinken. Und überall waren Insekten, die sich scharenweise darin vermehrten. Ach, wie Kora den silbern schillernden Anblick gefrorener Flüsse und Bäche vermisste.

Das allgemeine Wetterchaos begünstigte zudem noch ganz andere Abscheulichkeiten. In einer fast untergehenden Meldung las Kora etwas, das ihr sogleich aufs Gemüt schlug. Eine oder mehrere bislang unbekannte Personen hatten sich, in dem hektischen Treiben der Helfer, Zutritt in das städtische Krankenhaus verschafft und ein Neugeborenes entführt. Es gab bisher keine Hinweise über den Verbleib der Täter oder des Kindes. Kora fragte sich, wer so etwas Furchtbares fertigbrachte. Was für eine entsetzliche Erfahrung musste es sein, ein Kind zur Welt zu bringen und es wenig später auf solche Weise zu verlieren? Immer voller Ungewissheit darüber, wo es war, wie es ihm ging und ob man es je wiedersehen durfte. Würde man Kora Elin oder Jonna wegnehmen, sie wüsste nicht, wie sie das überleben sollte. Schon bei dem Gedanken daran schnürte sich ihre Kehle zu und ihr Herz begann so angestrengt zu pochen, dass sie sich unwillkürlich über die Brust strich.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Ben vom Fahrersitz aus. Er kannte die Eigenarten und Signale seiner Frau gut, und wenn sie sich an dieser Stelle rieb, machte er sich immer gleich Sorgen.

»Es geht mir gut.« Kora lächelte und legte ihm in einer beruhigenden Geste eine Hand auf den Schenkel. Ben griff danach, hob sie an seine Lippen und küsste die kühlen Fingerspitzen.

»Gut«, meinte er mit einem Nicken, ohne die Straße aus den Augen zu lassen.

Kora warf einen Blick in den Rückspiegel und fand darin die Gesichter ihrer beiden Töchter. Auf den ersten Blick sahen sie ihr ähnlicher als Ben, mit den nussbraunen, glatten Haaren und den grauen Augen. Aber ihre Gesichtszüge und die Form ihrer Münder glichen denen ihres Vaters sehr. Auch die Art, wie Jonna beim Lachen halblaut grunzte oder wie Elin die Fingerspitzen ihrer rechten Hand in rascher Abfolge aneinander tippte, wenn sie tief in Gedanken versunken war, spiegelte Ben in ihnen.

Kora schaltete das Tablet aus und schaute stattdessen wieder auf den schmierigen Rest des Insekts, dem Ben gerade mit Scheibenwischwasser zu Leibe rückte.

»Ein Moskito so weit im Norden und zu dieser Jahreszeit«, murmelte sie mit einem angeekelten Blick auf das Geschmier, das sich Bens Reinigungsversuchen hartnäckig widersetzte. »Das Klima ist völlig außer Rand und Band.«

»Ein einzelner Moskito macht noch keinen Weltuntergang. Vielleicht war es ja auch ein unschuldiger Käfer.«

»Käfer saugen kein Blut.« Und machte das überhaupt einen Unterschied? Nicht ohne Grund beklagte sich Kora schon seit Wochen über das nasse Wetter.

»Es ist viel zu warm für diese Jahreszeit. Kein Winter weit und breit.«

»Darum fahren wir nach Snjórley, du hast die Bilder der Livecam selbst gesehen. Das ganze Dorf ist schneebedeckt.«

»Ich weiß nicht«, meinte sie zweifelnd. »Das waren sicher Aufnahmen aus einem anderen Jahr. Laut Navigationssystem sind wir bloß noch eine Viertelstunde von der Ortsgrenze entfernt. Auf dieser kurzen Strecke kann es doch unmöglich noch deutlich kälter werden. In Snjórley muss es genauso nassgrau sein wie überall sonst im Land.«

»Du hast uns aber Schnee versprochen!«, beschwerte sich Elin sofort vom Rücksitz des Wagens.

Koras Stimmung verbesserte sich augenblicklich. Ihr ging stets das Herz auf, wenn sie ihre beiden wunderschönen Kinder sah.

»Wenn es die ganze Zeit nur regnet, werde ich sauer, Mami.« Das Mädchen zog eine Schnute und versuchte, seine Mutter dabei streng anzuschauen.

»Es wird schon nicht regnen«, sagte Ben, während er sich die roten Bartstoppeln kratzte. Er fand, so ein Dreitagebart mache ihn verwegen, aber er hatte Schwierigkeiten, sich an die Stoppeln zu gewöhnen. Ständig verspürte er einen schwachen, aber beharrlich andauernden Juckreiz, der ihn auf seinem Pfad zur großen Verwegenheit verzweifeln ließ.

»Aber Mami hat gesagt, es wird regnen, Papa.«

»Das habe ich nur, weil ich so wahnsinnig gerne Schnee sehen möchte«, gab Kora strahlend zurück.

»Das macht gar keinen Sinn, Mami. Und wann sind wir endlich da? Es wird schon dunkel!«, quengelte Elin. Sie saß nicht gerne still und harrte bereits seit Stunden im Auto aus.

Kora rechnete es ihrer temperamentvollen Tochter hoch an, dass sie bislang auf einen Schreikrampf verzichtet hatte. »Gleich, mein Schatz. Es sind nur noch ein paar Minuten bis zu unserem Ferienhaus.«

»Das wird auch Zeit! Können wir Eislaufen gehen?«

»Aber natürlich!«, rief Kora und klatschte voller Tatendrang in die Hände. Falls der See zugefroren ist. Sie sprach den Gedanken nicht laut aus, der sich so ungebeten in ihren Geist geschlichen hatte.

»Bauen wir einen Schneemann?«

»Wir bauen eine ganze Schneefamilie!«, meldete sich Ben schnell zu Wort. Der Vorschlag versetzte ihn genauso in Ekstase wie seine Tochter. »Was ist mit dir, Jonna? Hilfst du uns, eine Schneefamilie zu bauen?«

Jonna, die bisher ruhig hinter ihrem Vater gesessen und schweigsam aus dem Fenster geschaut hatte, zuckte mit den kleinen Schultern und schob die Unterlippe ein wenig vor. »Ich wäre lieber an den Strand gefahren«, gab sie lustlos zu. »Natalie und ihre Eltern bauen bestimmt gerade Sandburgen und gehen Schwimmen.«

»Mami mag das Meer nicht«, warf Elin neunmalklug ein.

»Ja, weil sie nicht schwimmen kann«, seufzte Jonna und ließ sich tiefer in den Sitz zurückfallen. »Und weil sie immer sofort einen schlimmen Sonnenbrand bekommt.«

»Ach, Jonna. Schmoll nicht. Wir werden in Snjórley viel Spaß haben. Als ich ein kleines Mädchen war, haben wir Höhlen in den Schnee gegraben und Burgen daraus gebaut – Schneeburgen sind viel schöner als Sandburgen. Am Strand gibt es außerdem keine Schneekönigin. Die würde dort schmelzen!«

»Schneekönigin?«, fragte Jonna und schob sich schnell ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sie kitzelten und ihre Sicht behinderten. Sie versuchte, ihre Neugier herunterzuspielen, aber ihre großen leuchtenden Augen verrieten sie.

Jonna war in sich gekehrter als Elin. Immer nachdenklich, immer ein wenig vorsichtiger als die anderen Kinder ihres Alters. Sie war eine Beobachterin und eine kleine Künstlerin. Ben behauptete, sie käme ganz nach ihrer Mutter, was Kora stets lachend verneinte. Ihr künstlerisches Talent beschränkte sich auf Kartoffelmänner und einfache Origami-Boote. Wenn sie besonders mutig war, wagte sie sich auch mal an ein Fensterbild. Meistens landeten diese Versuche aber gleich wieder im Papierkorb. Jonna dagegen mochte zwar noch jung sein, aber es war nicht zu übersehen, dass ihre Bilder mehr Ausdrucksstärke besaßen als die ihrer Klassenkameraden. Sie benutzte bereits Schattierungen und fügte ihren Motiven Details hinzu, die deutlich machten, wie bewusst Jonna ihre Umwelt wahrnahm.

»Es gibt in Snjórley jedes Jahr ein Fest, bei dem die Schneekönigin in ihrem goldenen Schlitten durch die Stadt fährt. Es heißt, sie bricht dann auf, um den Winter über das Land zu bringen. Dieses Jahr scheint sie allerdings ziemlich spät dran zu sein«, beschwerte sich Kora in gespielter Empörung.

»Trägt sie eine Krone, Mama?«

»Eine wunderschöne, gläserne Krone mit einem blauen Saphir in der Mitte«, versicherte Kora.

»Und lebt sie in einem Schloss?«

»Selbstverständlich! Ihr Schloss ist gewaltig! Ganz aus Eis und Schnee. Und es steht weit entfernt auf einem gefrorenen See, über den kein Weg in den Palast der Schneekönigin führt. Denn sie will nicht entdeckt werden und darum können Menschen das Schloss auch nicht sehen, weißt du?«

»Aber woher willst du dann wissen, dass es wirklich dort steht, wenn es niemand sehen kann?«, hakte Jonna misstrauisch nach.

Mein schlaues Mädchen.

»Nun, es gibt ein paar wenige Menschen, die es angeblich gesehen haben. Denn eine Legende sagt, wenn du es schaffst, eine Schneeflocke mit deinem Auge zu fangen, dann kannst du den Palast der Schneekönigin für einen kurzen Moment in der Ferne erkennen.« Kora hatte keine Ahnung, woher diese Idee so schnell gekommen war, aber sie war dankbar für die unsichtbare Muse, die sie in dieser Sekunde geküsst hatte. Vielleicht steckte doch ein Funke Kreativität in ihr.

Jonnas Augen wurden noch größer und die Abenteuerlust packte sie. »Ist das wahr?«, fragte das Mädchen und Kora nickte ernst. »Dann will ich unbedingt eine Schneeflocke fangen!«, sagte Jonna entschlossen.

»Wir können es versuchen. Aber das wird nicht leicht. Schneeflocken werden nicht gerne gefangen. Schon gar nicht von einem menschlichen Auge. Die Schneekönigin mag es nämlich nicht, dass man von ihrer Existenz erfährt, und der Schnee macht alles, was sie verlangt.« Kora lächelte zufrieden und malte sich aus, welch phantastische Bilder gerade im Geist ihrer Tochter zum Leben erwachen mussten. Sie erzählte den Zwillingen gerne Geschichten, besonders Geschichten vom Schnee.

»Wir sind fast da!«, rief Ben plötzlich.

Kora und die Mädchen warfen die Köpfe herum und blickten hinaus. Am Straßenrand wurde eine dieser unansehnlich braunweißen, touristischen Hinweistafeln sichtbar. Sie zeigte die Silhouette einer idyllischen Dorflandschaft, die eingerahmt wurde von hohen Bergen auf der einen Seite und einem weiten See auf der anderen. Sogar die Schneekönigin hatte einen Platz in dem Piktogramm gefunden und schaute mit kühlem Blick auf die neuen Ankömmlinge herab. Die Tafel verkündete in großen weißen Buchstaben:

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739479484
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Drama Lesbisch Fantasy Märchen düster dark Urban Fantasy Horror

Autor

  • Sameena Jehanzeb (Autor:in)

Sameena Jehanzeb wurde 1981 in Bonn geboren. Bei Tag ist sie Grafikdesignerin, Illustratorin und Scherenschnittkünstlerin, eine nimmermüde Sarkasmusschleuder und Katzenbändigerin. Bei Nacht wird sie zur Geschichtenweberin und verfasst Abenteuer in den Bereichen Fantasy und Science-Fiction. Sowohl beim Schreiben als auch beim künstlerisch-handwerklichen Arbeiten setzt sie sich am liebsten mit phantastischen Themen, Sagen und Märchen auseinander oder begibt sich auf einen Ausflug in die Zukunft.
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Titel: Winterhof