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Destiny´s Choice: Finding you

von Alina Jipp (Autor:in)
360 Seiten
Reihe: Destiny´s Choice, Band 2

Zusammenfassung

Boston – eine neue Stadt, ein neues Leben für Ari und Dean. Endlich haben sie sich eingelebt und sind sich nähergekommen, schon erschweren neue Probleme ihr Leben. Familiengeheimnisse werden gelüftet und stellen die jungen Leuten vor harte Proben. Zusätzlich erschweren alte und auch neue Bekannte ihr Leben, boykottieren sogar ihre Beziehung. Können Ari und Dean gemeinsam die ihnen gestellten Aufgaben lösen und eine glückliche Zukunft beginnen? Teil 2 der Destiny´s Choice Dilogie

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Alina Jipp

 

Destiny’s Choice – Finding you

 

Destiny Arizona
Zeit zu zweit

Als ich nach einer Nacht voller Zärtlichkeiten erwachte, ging draußen gerade erst die Sonne auf. Zum Glück musste ich heute nicht früh raus, es war schließlich Sonntag. Beziehungsweise raus musste ich jetzt schon, denn danach verlangte meine Blase, aber hinterher durfte ich mich wieder zu Dean ins Bett kuscheln. Vorsichtig, um ihn nicht aus dem engen Bett zu schubsen, drehte ich mich um. Seit seinem nächtlichen Unfall und unserer ersten gemeinsamen Nacht, schlief ich regelmäßig bei und auch mit ihm. Egal wie beengt es war, ich konnte mir kaum etwas Schöneres vorstellen, als mich im Schlaf an ihn zu schmiegen und morgens in seinen Armen aufzuwachen.

Deans Gesicht sah im Dämmerlicht so herrlich entspannt aus und der leichte Bartschatten, der heute Morgen sichtbar wurde, machte ihn männlicher. Ein Drei-Tage-Bart stände ihm bestimmt gut. Blöderweise bestand er darauf, sich täglich zu rasieren, doch im Grunde interessierten mich solche Äußerlichkeiten sowieso nicht.

Die Zeit, die ich mit ihm gemeinsam verbrachte und die stundenlangen Gespräche über Gott und die Welt, die wir führten, waren viel wichtiger. Leider blieb uns wenig Zeit dafür, obwohl wir nun schon zwei Wochen lang das Bett teilten. Doch Arbeit und Schule beziehungsweise Universität fraßen uns regelrecht auf. Das sah wohl auch Patrick so, der uns beiden heute kurzerhand freigegeben hatte. Unser erster freier Sonntag seit Dean im Kino arbeitete, das waren inzwischen immerhin bereits über zwei Monate und wir wollten ihn genießen.

Okay, eigentlich wollten wir heute ausschlafen, zumindest hatten wir das gestern besprochen. Das hatte bei mir ja schon einmal nicht wirklich funktioniert. Aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut. Schließlich stand ich seit Jahren jeden Morgen um sechs Uhr auf und so wachte ich auch heute um diese Uhrzeit auf.

Dean kräuselte die Nase leicht im Schlaf und ich musste sehr an mich halten, um nicht darüber zu streicheln und ihn zu wecken. Das wäre wirklich unfair, denn im Gegensatz zu mir, kämpfte er ziemlich mit dem frühen Aufstehen und mit der Doppelbelastung, die das Studium und die Arbeit mit sich brachten. Auch wenn er es nicht zugeben mochte. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass ich ihn für schwach halten würde, weil er damit mehr Probleme hatte als ich. Aber eigentlich war genau das Gegenteil der Fall. Ich bewunderte ihn dafür, wie er das Ganze nun doch durchzog. Gerade erst am Freitag hatte er seine erste wichtige Arbeit an der Universität abgegeben und ich drückte nun ganz fest die Daumen für eine Spitzennote. Verdient hätte er diese allemal, so wie er dafür pauken musste. Leider konnte ich ihm keine Hilfe sein, da ich mich mit der Thematik nicht auskannte. Da hatte ich noch Glück. Denn der Highschoolstoff kam mir um einiges einfacher vor als das, was er lernte.

»Hey, warum starrst du mich an, anstatt zu schlafen?« Deans verschlafene Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

»Ich bin aufgewacht und sehe dich gern an. Wieso sollte ich es also nicht tun?«, fragte ich ihn, bevor ich ihm einen Kuss auf den Mund hauchte.

»Mhhh, das gefällt mir. In Zukunft darfst du mich jeden Morgen wachküssen, Prinzessin, so komme ich bestimmt auch leichter hoch.« Er grinste verwegen und zog mich vorsichtig herum, sodass ich auf ihm lag. Danach küsste er mich noch einmal, diesmal allerdings nicht so harmlos. Seine Zunge plünderte meinen Mund regelrecht, dennoch gefiel mir genau diese stürmische Art so an ihm. Sie ließ mir nämlich keine Zeit, über irgendetwas nachzudenken oder mich gar zu fragen, ob es falsch war, was wir fühlten. Denn die Angst vor Mr. Kennedys Reaktion auf unsere Beziehung blieb leider dauerhaft fühlbar. Nur jetzt gerade, konnte ich mich nur auf Dean, seine Zunge in meinem Mund und seine Hände, die zärtlich über meinen Körper strichen, konzentrieren.

»Du bist so wunderschön, Ari«, sagte Dean lächelnd, nachdem er den Kuss unterbrochen hatte. »So möchte ich wirklich jeden Tag beginnen. Dann wäre ich ein glücklicher Mann.« Seine Hand wanderte meinen Schenkel hinauf, doch da musste ich ihn leider Gottes stoppen. Nicht, weil ich keine Lust hatte, sondern weil mich ein menschliches Bedürfnis aus dem Bett zwang.

»Ich muss schnell ins Bad«, flüsterte ich und schämte mich furchtbar dafür. Dean lachte allerdings nur.

»Lauf nur. Ich gehe hinterher und danach machen wir es uns vielleicht wieder gemütlich. Wenn die Dusche größer wäre, würde ich vorschlagen, gemeinsam zu gehen, aber das wird wohl eher nichts.« Nun lachte ich ebenfalls, die Vorstellung, zusammen in der winzigen Dusche zu stehen, war einfach zu komisch. Leider musste ich dadurch nur noch dringender und beeilte mich, aus dem Bett zu steigen. Auf dem Weg zur Tür drehte ich mich noch einmal um.

»Oh, man. Ich glaube, wir sind das unromantischste Pärchen der Welt.« Dann rannte ich ins Bad, ohne auf eine Antwort von Dean zu warten. Pärchen. Wie das klang. Glücklich lächelnd saß ich auf dem Klo und hüpfte danach allein unter die Dusche. Zum ersten Mal in meinem Leben führte ich eine richtige Beziehung und es fühlte sich so gut an. Blöderweise konnte ich nicht vollständig aus meiner Haut und erwartete fast, dass Mr. Kennedy davon erfahren würde und uns alles um die Ohren flog. Dean beruhigte mich zwar immer wieder, dass er gar nichts mitbekommen würde, derweil wir nur die Klappe hielten, trotzdem schaffte ich es nicht, die unterschwellige Angst komplett zu verdrängen. Für mich stand ja auch bedeutend mehr auf dem Spiel als für ihn. Enterben würde sein Vater ihn wegen unserer Beziehung sicher nicht gleich, aber meiner Familie konnte er sehr leicht schaden.

Doch daran wollte ich jetzt nicht denken, stattdessen einfach die Zeit mit Dean genießen, solange es ging. Nur mit einem Handtuch bekleidet, verließ ich das Badezimmer wieder, um zu meinem Freund zurückzugehen. Allerdings war der gar nicht mehr im Bett, sondern empfing mich in unserem Wohnzimmer mit gedecktem Frühstückstisch.

»Hey, Honey. Du hättest ruhig noch ein bisschen länger duschen können, dann wäre ich fertig geworden.« Er stand am Herd und ich konnte nicht anders, als gleich zu ihm zu laufen, um zu kontrollieren, ob er mal wieder sich oder das Essen verbrannt hatte. Er versuchte sich inzwischen ja öfter am Herd, aber irgendwie endete es jedes Mal mit einer Katastrophe. Zumindest in kulinarischer Hinsicht. Verbrannt hatte er sich zum Glück erst drei Mal. Leider schien es auch dieses Mal nicht auf ein leckeres Gericht hinauszulaufen, denn die undefinierbare Masse in der Pfanne sah nicht wirklich appetitlich aus.

»Was wird das?« Meine Stimme klang angeekelt, dabei gab ich mir wahrhaftig Mühe, normal zu sprechen.

»Omelett, das magst du doch so gern.« Dean grinste etwas kläglich. »Allerdings sieht das bei dir nie so gräulich aus. Was mache ich nur immer falsch?« Das fragte ich mich auch, schließlich hatte ich es ihm bereits mehrere Male gezeigt.

»Vielleicht schmeckt es besser, als es aussieht.« Viel Hoffnung hatte ich zwar nicht, aber probieren musste ich es wohl oder übel. Immerhin gab er sich Mühe und das wollte ich honorieren. Egal wie schwer es mir fiel.

»Zieh dich an und ich versuche in der Zwischenzeit, etwas zu retten. Wenn es nicht genießbar ist, lade ich dich zum Frühstück ins Waffle House ein. Diese Woche habe ich mir echt viel auszahlen lassen und kann mir das leisten.« Leise seufzend ging ich in mein Schlafzimmer hinüber, das ich im Moment nur zum Lagern meiner Klamotten nutzte. Seit Dean den Esstisch besorgt hatte, machte ich meine Aufgaben nur noch dort und schlafen tat ich ja bei ihm. Wenn ich mir der Sache mit ihm sicherer wäre, könnten wir umräumen. Die Betten und Schreibtische, Dean lernte ja ebenfalls im Wohnzimmer, weil keiner von uns gern allein in seinem Zimmer saß, könnten wir im Keller einlagern. Und aus einem Zimmer ein Schrankzimmer machen, dann hätten wir im anderen Platz für ein größeres Bett … Ich malte mir alles so schön aus, dabei wäre es selbst unter normalen Umständen noch viel zu früh für so etwas. Was stimmte im Moment nur nicht mit mir? So sehr ich meine Mutter liebte, bisher hatte ich ihr immer genau dies zum Vorwurf gemacht. Sie begab sich viel zu schnell in eine Beziehung, zog mit den Männern zusammen und spielte heile Familie. Und kaum war ich zum ersten Mal verliebt, gingen meine Gedanken sofort in dieselbe Richtung. Aber nur weil ich daran dachte, musste ich es ja nicht gleich in die Tat umsetzen.

»Ari? Brauchst du noch lange?« Erst auf Deans etwas verzweifelt klingende Frage, kam ich endlich in Gang, zog mich im Eiltempo an und lief wieder hinüber ins Wohnzimmer.

»Bin fertig, was ist denn?« Ob das Frühstück essbar sei, traute ich mich gar nicht erst zu fragen. Doch zu meiner Überraschung sah das, was Dean auf zwei Tellern angerichtet hatte, ganz gut aus. Na ja, immer noch ein bisschen gräulich, aber immerhin nicht schwarz und die Konsistenz stimmte auch. Trotzdem nahm ich erst einmal vorsichtig ein winziges Stückchen, um es zu probieren. Ich staunte nicht schlecht. Es schmeckte eigentlich ganz okay, zwar nicht so wie meins, aber man konnte es tatsächlich essen.

»Lecker«, sagte ich begeistert und nahm nun ein größeres Stück auf meine Gabel. »Dein Vater wird sich bei unserem nächsten Telefonat wundern, wenn ich ihn davon informiere.« Natürlich verzog Dean gleich wieder das Gesicht, blieb allerdings stumm. Dabei wusste ich genau, wie sehr er diese Anrufe mit seinem Vater hasste. Obwohl ich inzwischen vorher immer alles, was ich mitteilen wollte, mit ihm absprach. Da wir uns einig waren, ihm nichts von uns zu verraten, blieb mir meistens nicht viel zu berichten.

»Guck nicht so, irgendetwas muss ich ihm schließlich erzählen und wir sind uns doch einig, dass es das Beste ist, möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben.« Dean nickte ergeben, seufzte aber leise. Schnell beugte ich mich zu ihm hinüber und küsste ihn zärtlich.

»Die Situation ist nicht ideal, aber wir kriegen das hin. Zusammen schaffen wir das. Manchmal musst du mir einfach in den Hintern treten, wenn ich daran zweifle. Nach dem Essen hüpfe ich kurz unter die Dusche und danach müssen wir los.« Nun grinste er schon wieder, während ich ihn wahrscheinlich eher etwas verdattert anschaute. Wo wollte er denn hin? Eigentlich dachte ich, wir würden hinterher unsere Kuschelzeit im Bett fortsetzen.

»Los?«, fragte ich daher.

»Ja, aber ich verrate nicht wohin. Es ist eine Überraschung.« Da ich inzwischen wusste, wie sehr er Überraschungen liebte und dass ich keine Chance hatte, mehr aus ihm heraus zu bekommen, beschloss ich schnell aufzuräumen, solange Dean sich fertigmachte.

Dean
Überraschung mit Hindernissen

Irgendwie tat es gut, wie Ari mir blind folgte. Sie wusste ja absolut nicht, was ich mit ihr vorhatte, trotzdem kam sie mit und freute sich auch noch. An so etwas war ich gar nicht mehr gewöhnt, obwohl das früher total normal für mich war. Allerdings zu der Zeit, wo ich noch alle mit meinem Geld aushielt, sie also sozusagen für ihre Begleitung bezahlte. Ari dagegen würde mir selbst zu einem Spaziergang in den Park folgen, für den ich keinen Cent ausgeben musste. Dessen konnte ich mir sicher sein.

Doch heute hatte ich etwas ganz Besonderes für sie geplant. Ein Kollege aus dem Kino, für den ich in der letzten Woche sämtliche Schichten übernehmen musste, hatte mir aus Dankbarkeit zwei Karten für ein Spiel der Celtics überlassen. Okay wahrscheinlich eher, weil er sich selbst nicht in der Stadt aufhielt ab mittags, doch der Grund war ja eigentlich völlig egal. Ich glaubte zwar nicht, dass Ari ein großer Sportfan war, aber allein die Stimmung einmal live zu erleben, lohnte sich schon. Außerdem spielten sie gegen Miami Heat und auch dieses bisschen Heimatgefühl würde uns beiden guttun.

Das Spiel war allerdings nur das Finale des heutigen Tages, denn natürlich spielten sie nicht am Vormittag, sondern erst am späten Nachmittag. Nur leider mussten wir die Karten jetzt von Jack, dem Kollegen, abholen. Während Ari duschte, hatte ich eine Nachricht von ihm bekommen. Wir wollten uns im Park treffen. Hoffentlich schaffte ich es, Ari dorthin zu lotsen und die Karten entgegenzunehmen, ohne dass sie etwas von unserem wahren Grund für den Spaziergang erfuhr. Ich suchte schon die ganze Zeit fieberhaft nach einer Erklärung für den Ausflug in den Park. Wäre es wärmer, könnten wir auf den See hinaus rudern, aber bei sechs Grad Außentemperatur klang das nicht besonders verlockend. Ab und zu gab es am Sonntag kleine Konzerte im Pavillon, vielleicht hatte ich ja Glück und heute fand wieder eines statt. Eigentlich wollte ich noch danach im Internet suchen, doch Ari kam zu früh aus dem Badezimmer und dann war ich mit meinem seltsamen Omelett beschäftigt gewesen.

»Wo geht es hin?« Ari sah mich fragend an, als wir das Haus verließen und der eisige Wind uns traf. Ihre Jacke war viel zu dünn für die Temperaturen, wir mussten ihr dringend eine dickere besorgen.

»Das ist eine Überraschung. Ich hoffe nur, du erkältest dich nicht.« Wie meistens, wenn es um sie ging, spielte sie es herunter.

»Ich bin nicht aus Zucker, Dean. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.« Solche Sprüche sagte sie öfter und ich wusste wie so oft nicht, wie ich darauf reagieren sollte.

»Eine Winterjacke brauchst du trotzdem dringend. Die kalte Zeit hat noch gar nicht angefangen und die ist lang in Boston. Das müssen wir ganz oben auf unsere Anschaffungsliste setzen.« Eigentlich war es ja eher ihre Liste und für gewöhnlich gab ich nur widerwillig meinen Anteil zu irgendwelchen Neuanschaffungen dazu. Weil der Großteil für mich unnötig wirkte, dieses Mal allerdings würde ich sogar freiwillig mehr geben. Schließlich ging es hierbei um ihre Gesundheit. Doch so einfach willigte sie natürlich mal wieder nicht ein. Wenn es sich um sie handelte, konnte sie nur schwerlich etwas annehmen.

»Quatsch, eine dickere Jacke kaufe ich mir allein. Ich wollte sowieso mal in den Secondhandladen der Kirchengemeinde stöbern. Die sollen wirklich schöne Sachen zum kleinen Preis haben.« Allein bei dem Gedanken an gebrauchte Kleidung schüttelte es mich. Gebrauchte Möbel waren schon schlimm genug, aber Klamotten, die fremde Menschen auf ihrer Haut getragen hatten? Das ging ja wohl gar nicht.

»Für sowas gehen wir arbeiten. Eine gute Jacke ist einfach nötig Punkt und deshalb kaufen wir dir eine.«

»Vielleicht solltet ihr einfach den Job wechseln, so wie ich und richtig Geld verdienen«, erklang auf einmal eine Stimme hinter uns, die ich eigentlich am liebsten nie wieder hören wollte. Layna. Hoffentlich würde sie Ari nichts von unserem Techtelmechtel erzählen. Obwohl dieses längst vorüber war, bevor Ari und ich uns näher gekommen sind, so hatte ich doch ein ungutes Gefühl. Wenngleich es nie eine Aussprache darüber gab, dass es vorbei war. Allerdings hatte ich sie auch seit Wochen kaum gesehen und wenn nur aus der Ferne. Jetzt, da ich sie genauer betrachtete, sah ich die Veränderungen, die sie seitdem durchgemacht hatte. Ihre Klamotten waren von angesagten Marken und nicht mehr Noname, ihre Frisur saß perfekt und ihr Make-up sah ebenfalls absolut professionell aus. Wie konnte sie sich das nur leisten? Immerhin war sie auch noch Studentin und arbeitete nur nebenbei.

»Was machst du denn zurzeit? Eventuell gibt es da auch eine Stelle für uns.« Ari sah wirklich neugierig aus. Dabei wollte ich nur noch von hier verschwinden. Sie sollte Layna nicht näher kommen und erst recht nicht mir ihr zusammen arbeiten.

»Für Dean leider nicht. Mein Boss stellt bisher nur Frauen ein, aber möglicherweise ändert er das ja irgendwann. Aber vielleicht hast du einfach mal Lust, mich zu begleiten, Ari. Wenn ich neue Angestellte vermittle, erhalte ich eine Provision.« Was sollte das denn für ein seltsamer Job sein? Irgendwie fingen meine Alarmglocken bei ihren Ausführungen an zu klingeln. Glücklicherweise sah Ari ebenfalls äußerst skeptisch aus.

»Du bekommst Geld, wenn du neue Mitarbeiter vermittelst? Das klingt echt unseriös.« Layna lachte nur.

»Ja, wahrscheinlich etwas eigenwillig, ist aber alles völlig seriös. Du kriegst einen richtigen Vertrag, super Gehalt und sogar eine Krankenversicherung. Zumindest ab einer bestimmten Leistungsklasse.« Layna zuckte mit den Schultern.

»Was für Leistungsklassen?«, fragte ich nach, denn im Moment verstand ich nur Bahnhof.

»Dean, das geht dich gar nichts an. Ari, wenn du Lust hast, komm einfach heute Abend mit und ich zeige dir alles, dann kannst du immer noch in Ruhe entscheiden.« Zum Glück konnte ich da einschreiten.

»Heute ist es ganz schlecht, wir haben Pläne, die sich nicht verschieben lassen. Ich habe den Tag seit einer Woche geplant. Vielleicht ein anderes Mal, wenn du überhaupt möchtest.« Beim letzten Satz wandte ich mich direkt an Ari, da mir auffiel, wie unhöflich es war, für sie zu sprechen. Hoffentlich wurde sie nicht sauer deswegen. Doch zum Glück lächelte sie mir zu, bevor sie Layna antwortete.

»Du hast es gehört, wir haben schon etwas vor. Außerdem möchte ich zuerst mehr über diesen Job erfahren. Für mich klingt diese Geheimnistuerei nämlich absolut seltsam. Aber eventuell können wir uns in der Woche mal auf einen Kaffee treffen und du erläuterst mir das genauer. Dann kann ich immer noch entscheiden, ob ich mir das Ganze ansehe.« Erleichtert atmete ich auf, während Layna eine Schnute zog.

»Wer nicht will, der hat schon«, meinte sie schnippisch. »Werd doch glücklich mit deinem Dean. Pass nur auf, wenn er dich bald fallen lässt, wie eine heiße Kartoffel und sich die nächste sucht.« Damit drehte sie sich um und rauschte davon, wohl wissend, was sie mit ihren Worten angerichtet hatte. Ari sah ihr einen Moment verwirrt nach, erst zu mir, dann wieder zu Layna. Ich wartete nur auf den Augenblick, in dem es bei ihr Klick machte und sie mich zur Rede stellte. Doch erst einmal kam gar nichts. Sie sah mich nur fragend an, bis ich es nicht mehr aushielt.

»Wollen wir weiter?« Ja, es war verdammt feige von mir, ihr nicht alles zu erzählen. Doch ich brachte es einfach nicht über mich. Dabei hatte ich nur ein paar kurze Treffen mit Layna gehabt und das auch noch, bevor das mit uns begann. Trotzdem schlug mein schlechtes Gewissen nun voll zu. Wahrscheinlich weil mein ursprünglicher Plan ja ganz anders ausgesehen hatte. Aber an den wollte ich gar nicht mehr denken. Was ich für Ari fühlte, hatte ich zuvor noch nie für eine Frau empfunden und ich durfte sie einfach nicht wegen so einem Mist verlieren. Ari seufzte leise, ehe sie antwortete.

»Ja, lass uns gehen.« Dennoch, glücklich sah sie wirklich nicht aus. Hoffentlich schaffte ich es, die Stimmung noch zu retten. Immerhin hatte ich mir den Tag so schön ausgemalt und nun drohte er in einer Katastrophe zu enden. Zum Glück ließ sie es wenigstens zu, dass ich nach ihrer Hand griff und diese auf dem Weg zum Park festhielt. Als wir am Pavillon ankamen, fand dort zu meinem Glück tatsächlich gerade eine Aufführung statt und ihr Gesicht hellte sich wieder auf.

»Wow, ist das die Überraschung, Dean? Das ist ja wunderschön.«

»Dann lass uns hierbleiben und zuhören. Schade, dass es schon so kalt ist. Im Sommer kann man sich auf die Steinbänke setzen, das wäre natürlich noch schöner, aber die Musik können wir ja auch im Stehen genießen.« Die Band, die heute einen bunten Mix aus Klassikern, Charthits und Country-Musik spielte, war nicht nur vielseitig, sondern echt gut. In meinem alten Leben, in dem ich ständig Konzerte der Megastars besuchte, hätte ich ihnen wahrscheinlich keinen zweiten Blick gegönnt. Ich wäre vorbeigelaufen, aber seit ich Ari kannte, sah ich vieles mit völlig anderen Augen. Vor allem, als sie sich vor mich stellte, sodass ich sie von hinten umarmen und einfach festhalten konnte, während wir der Musik lauschten. Sie lehnte ihren Kopf an meine Brust, schloss die Augen und genoss es einfach. Dabei bekam sie nicht einmal mit, wie unserer Kollege Jack sich zu uns gesellte und sich neben uns stellte. Zum Glück zerstörte er die Atmosphäre nicht, sondern blieb einfach ruhig dort stehen. Erst als die Band eine Pause machte, öffnete Ari ihre Augen wieder und trat zwei Schritte vor, um zu applaudieren. Diesen Moment nutzte Jack, um mir unauffällig den Umschlag mit den Eintrittskarten zuzustecken, den ich schnell in der Innentasche meiner Jacke verschwinden ließ. Das nannte ich mal perfektes Timing.

Destiny Arizona
Zweifel

So schön sich die Musik im Park auch anhörte, irgendwie blieb ein komisches Gefühl zurück, das ich seit der Begegnung mit Layna verspürte. Irgendetwas verband die beiden, von dem Dean nicht wollte, dass ich es erfuhr. Nur was? Wir lebten doch erst seit Kurzem hier. Vielleicht ein One-Night-Stand? In den ersten Tagen hing sie ja oft bei uns rum und dann plötzlich nicht mehr, was allerdings genauso an meiner Freundschaft zu Angie liegen könnte. Nachdem Layna Angela den Freund ausgespannt hatte, gingen die beiden sich möglichst aus dem Weg, um Zoff zu vermeiden.

Deshalb wunderte es mich eigentlich ebenfalls, dass ausgerechnet Layna mir zu einem Job verhelfen wollte. Mal ganz abgesehen davon, dass ich meinen im Kino wirklich gern mochte und gar nicht vorhatte zu wechseln, klang ihr Angebot sehr seltsam. Warum tat sie so geheimnisvoll, statt gleich zu erklären, um was es sich handelte? Fast hatte ich das Gefühl, es könne sich um etwas Illegales handeln und damit war ich raus.

Aber auch Dean verwirrte mich heute, obwohl er scheinbar entspannt hinter mir stand und der Musik lauschte, merkte ich jedoch, wie er die Umgebung sondierte. Und dann trat auf einmal jemand neben ihn, als ich applaudierte und steckte ihm irgendetwas zu. Er dachte wohl, dass ich es nicht mitbekam, doch ich sah mich gerade zufällig um, als er einen Umschlag oder so einsteckte, während ein anderer Mann schnell davon ging. Dean tat so, als wäre nichts gewesen. Konnte ich mich so geirrt haben? Ich litt schließlich nicht unter Halluzinationen! Aber womöglich gab es eine ganz harmlose Erklärung für das Ganze. Vielleicht hatte Dean etwas verloren und der Typ es nur gesehen und ihm wiedergegeben. Oh man, jetzt suchte ich schon krampfhaft nach Entschuldigungen für sein seltsames Verhalten. Ich war wirklich nicht besser als Mom, die ihre Männer auch immer und überall verteidigte, wenngleich ihr eigentlich bewusst sein musste, was für Fehler sie hatten.

»Ist dir kalt? Wollen wir weiter, oder möchtest du noch weiter zuhören?«, fragte er ganz unschuldig, als ich ihn dieses Mal direkt ansah. War er ein so guter Schauspieler oder hatte ich mich doch getäuscht? Mir ließ das einfach keine Ruhe.

»Hast du noch weitere Pläne?« Ich versuchte, möglichst harmlos zu klingen, und anscheinend nahm er mir das auch ab, denn er lächelte mich richtig liebevoll an.

»Zuerst bringe ich dich jetzt nach Hause und wir wärmen uns auf. Dann bestelle ich uns eine Pizza. Wir wollen das Schicksal ja nicht herausfordern. Ein zweiter Kochversuch heute kann nur in einer Katastrophe enden.« Er lachte und ich konnte gar nicht anders als mitlachen, denn er hatte völlig recht. Das Risiko sollten wir wirklich nicht eingehen.

»Ich kann aber auch kochen.« Das Geld für den Lieferservice konnten wir sparen, doch Dean lehnte ab.

»Du sollst heute verwöhnt werden und nicht am Herd stehen. Das tust du schon viel zu oft für mich.« Warum war er nur auf einmal so großzügig? Klar, er hatte diese Woche tatsächlich viele Überstunden gemacht, bloß war das noch kein Grund, das Geld gleich mit vollen Händen wieder auszugeben. Viel lieber würde ich etwas mehr in unsere Anschaffungskasse legen und vielleicht zusätzlich ein bisschen für Unvorhergesehenes zurücklegen. Es konnte ja immer mal irgendetwas kaputtgehen oder ein teures Fachbuch gebraucht werden, das es nicht in der Bibliothek gab. Doch an solche Sachen dachte Dean gar nicht. Am liebsten hätte ich einiges dazu gesagt, aber ich biss mir lieber auf die Zunge und unterließ es. Ich war schließlich nicht seine Mutter und außerdem war es sein Geld.

Dean sagte auch nichts mehr und so schwiegen wir den restlichen Weg nach Hause. Trotz meiner Bedenken wegen des Geldes war es kein unangenehmes Schweigen. Sondern eher eines, das sich gut anfühlte. Zumindest bis wir das Haus betraten und mein Blick auf Laynas Wohnungstür fiel. Sofort überfielen mich wieder die Fragen, ob er etwas mit ihr gehabt haben konnte. Ohne es zu wollen, blieb ich stehen und sah ihn fragend an. Er schien meine innere Unruhe gleich zu spüren, sie allerdings falsch zu interpretieren.

»Bitte sag mir, dass du nicht ernsthaft überlegst, dir diesen Job anzusehen. Für mich hört sich das alles sehr seltsam an.« Er wirkte ehrlich besorgt, trotzdem fragte ich mich, ob er Layna nur von mir fernhalten wollte, um zu verschleiern, was ihn und sie verband. Vielleicht sollte ich ihn mal geradeheraus fragen, nur das brachte ich nicht über mich. Wahrscheinlich auch, weil ich Angst vor der möglichen Antwort hatte. Ich war wirklich ein elender Feigling.

»Nein, irgendwie klingt das alles viel zu verworren. Bei einem normalen Job könnte sie mir einfach sagen, um was es geht. Nachher lande ich noch in einem Bordell oder so.« Allein bei dem Gedanken daran bekam ich eine Gänsehaut.

»Lass uns lieber hochgehen und nicht länger über sie nachdenken.« Dean sah mich erwartungsvoll an und ich tat ihm den Gefallen nur zu gern. In unserer Wohnung fühlte ich mich doch am wohlsten mit ihm. Das war unsere kleine Blase, in der wir einfach nur wir sein konnten, ganz ohne Störungen von außen. Zumindest, solange das Telefon nicht klingelte. Was es natürlich just in diesem Moment tun musste.

»Clark«, meldete ich mich, ohne vorher einen Blick aufs Display zu werfen. Währenddessen erreichten wir den ersten Stock.

»Destiny Arizona? Wo bist du? Das klingt so seltsam hohl im Hintergrund.« Ausgerechnet Mr. Kennedy musste jetzt anrufen, da ich gerade an seinem Sohn zweifelte. Selbstverständlich würde ich ihm nichts davon erzählen, aber dieses Telefonat sorgte dafür, dass das beklemmende Gefühl in meiner Brust sich noch weiter verstärkte.

»Ich bin gerade im Treppenhaus, Mr. Kennedy. Habe ich einen Termin verpasst? Mir ist gar nicht bewusst, dass Sie sich heute melden wollten.« Ich hätte schwören können, dass unser nächster Telefontermin erst am Dienstag war. Warum also rief er jetzt an? Durfte ich nicht einmal mehr ein Privatleben haben?

»Ich kann am Dienstag nicht. Geschäftsreise, aber ich muss mich wirklich nicht vor dir rechtfertigen. Nichtsdestotrotz zahle ich eine Menge Geld für dich und deine Familie und ich hasse es, wenn ich anrufe und wir uns nicht ungestört unterhalten können.« Ich musste zweimal tief Luftholen, um ihm nicht das an den Kopf zu werfen, was ich gern sagen wollte. Egal wie viel er mir zahlte, ich war nicht seine Leibeigene und niemand hatte ihn gezwungen, mir dieses Angebot zu machen.

»Das weiß ich und ich bin Ihnen auch sehr dankbar für alles, was Sie für meine Familie tun. Trotzdem dürfen Sie nicht annehmen, dass ich vierundzwanzig Stunden täglich in meinem Zimmer sitze und auf Ihren Anruf warte. Immerhin muss ich auch noch zur Schule gehen, arbeiten und ein Leben führen. Schließlich ist es das, was Sie von mir erwarten. Wie sollte ich sonst Berichte abliefern.« Hoffentlich ging ich mit dem letzten Satz nicht zu weit. Mr. Kennedy erschien mir oft unberechenbar und ich hatte immer etwas Angst, er könnte meiner Familie schaden, um mich zu bestrafen, wenn ich einen Fehler beging. Zu meinem Glück schien Mr. Kennedy mir meine Ansage nicht übel zu nehmen.

»Okay, da hast du natürlich auch recht. Kannst du jetzt reden oder ist Dean bei dir?« Kurzfristig überlegte ich, ihn zu belügen, um Dean mithören zu lassen, aber nach der Aktion im Park unterließ ich es. Vor Dean musste ich ihn wenigstens nicht anlügen.

»Dean ist direkt vor mir, Mr. Kennedy. Möchten Sie ihn sprechen?« Dean drehte sich im Gehen um und sah mich fragend an. Wahrscheinlich fragte er sich, was ich vorhatte.

»Nein, kein Bedarf. Richte ihm aus, dass ich erst am Sonntag wieder zu Hause bin und er mich in dringenden Notfällen über mein Büro kontaktieren soll. Dasselbe gilt für dich, dieses Handy wird nicht erreichbar sein.« Irgendwie hörte sich das sehr seltsam an. Wo wollte er denn hin, dass er nicht über Mobilfunk zu erreichen sein würde? Selbstverständlich ging mich das nichts an, daher hielt ich lieber meinen Mund.

»In Ordnung, Mr. Kennedy. Ich schicke Ihnen dann den Dienstplan per Mail, damit wir einen Termin für das nächste Telefonat ausmachen können.«

»Wiederhören.« Ohne eine weitere Verabschiedung oder meine Antwort abzuwarten, legte er einfach auf. Das zeigte mal wieder deutlich, mit Geld konnte man sich auch kein gutes Benehmen kaufen.

»Was wollte er denn? Und warum sagst du, dass ich dabei bin, sonst machst du das doch auch nicht.« Dean wirkte sichtlich irritiert auf mich und dem Blick, mit dem er mich bedachte, konnte ich kaum standhalten. Ich merkte ja selbst, dass ich mich seltsam benahm seit der Geschichte im Park, aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut.

»Wir hatten einen Termin für Dienstag, da kann er doch nicht erwarten, dass ich auch heute nur herumsitze und auf seinen Anruf warte. Wenn er mir nicht gleich komisch gekommen wäre, weil ich im Treppenhaus war, dann hätte ich sehr wahrscheinlich irgendwie anders reagiert, bloß so etwas kann ich nicht leiden. Ich darf ja wohl noch ein Leben haben.« Meine Stimme wurde, ohne dass ich es wollte, immer lauter, ein Glück, dass wir inzwischen in der Wohnung waren und die Tür hinter uns geschlossen hatten.

»Das kann ich voll und ganz verstehen. Mich treibt er auch immer auf die Palme mit seinem Verhalten. Nun reg dich nicht mehr auf. Das ist er nicht wert, lass uns den freien Tag lieber genießen. Denn die Überraschungen sind noch nicht vorbei. Aber mehr davon nach der Pizza. Was möchtest du?« Er hielt mir die Speisekarte eines Lieferdienstes hin, während ich überlegte, was er noch geplant haben könnte. Doch mir fiel einfach nichts ein.

Dean
Geheimnisse

Ari blieb während der ganzen Zeit, in der wir auf die Pizza warteten und auch anschließend beim Essen außergewöhnlich ruhig und beinahe abwesend. Erst als ich hinterher die Eintrittskarten aus der Tasche zog und sie ihr vor die Nase hielt, wurde sie wacher. Damit sie nicht gleich wusste, um was es ging, hatte ich Jack gebeten, sie in einen neutralen Umschlag zu stecken.

»Was ist das?« Sie verzog das Gesicht und sah mich forschend an. Warum nur benahm sie sich heute so seltsam?

»Die eigentliche Überraschung. Mach schnell auf, ich habe dich heute Morgen ursprünglich nur in den Park gelotst, um sie abzuholen.« Wenn ich daran dachte, wie gut das alles geklappt hatte, musste ich grinsen.

»Deshalb sind wir in Park gegangen? Nicht wegen der Musik?« Ari schien wirklich keine Ahnung gehabt zu haben, so überrascht, wie sie jetzt klang. Schnell nickte ich.

»Genau. Und jetzt mach schon auf, ich will dein Gesicht sehen.« Unruhig verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein aufs andere. Es war nicht der Basketball an sich, der mich so aufgeregt werden ließ, sondern einfach das Stückchen Heimat, das ich damit verband. Auch für Leute, die keine Sportfans waren, hatten die Miami Heats eine Bedeutung. Doch Ari ließ sich Zeit und das Kuvert zuerst ungeöffnet. Eher sah sie ihn an, als erwartete sie eine Briefbombe darin. Was hatte sie heute nur? »Ari, was ist los? Bitte mach endlich den Umschlag auf. Er beißt dich auch nicht. Im Gegenteil, ich bin mir sicher, du freust dich über den Inhalt.« Endlich riss sie den Briefumschlag auf und holte die Karten heraus. Sie sah sich die Eintrittskarten an und brach fast augenblicklich in Tränen aus. Nun verstand ich die Welt wirklich nicht mehr. Schnell ging ich die zwei Schritte zu ihr und zog sie in meine Arme.

»Was ist los? Magst du Basketball so wenig? Wenn das so ist, musst du doch trotzdem nicht weinen.« Oh man, die Überraschung war mir gründlich misslungen. Etwas ungeschickt strich ich ihr mit der Hand über den Rücken. Was hatte ich bloß verbrochen?

»Sorry, ich bin total bekloppt.« Ari schluchzte es eher, als dass sie es sagte. Sie befreite sich aus meiner Umarmung und holte sich Taschentücher aus der Küchenecke, ehe sie sich aufs Sofa setzte. Da klopfte sie neben sich. »Ich schäme mich so, Dean. Hoffentlich kannst du mir verzeihen.« Okay, ihre Reaktion kam mir etwas übertrieben vor, aber weswegen sollte ich ihr nicht vergeben können? Das musste sie mir näher erklären. Daher setzte ich mich neben sie und sah sie erwartungsvoll an. Doch zunächst schwiegen Ari und ich einfach, zumindest bis ich es irgendwann wirklich nicht mehr aushielt.

»Bitte sag mir, was ich falsch gemacht habe. Ich halte dein Schweigen nicht mehr aus.« Ari schnäuzte sich noch einmal, dann richtete sie sich etwas auf und sah mich an.

»Ich habe vorhin gesehen, wie dir jemand den Umschlag zugesteckt hat und völlig falsche Schlüsse gezogen. Ich hatte Angst, du könntest irgendetwas Unrechtes getan haben und jetzt schäme ich mich so furchtbar für meine Gedanken.« Sie schaffte es nicht mehr, meinem Blick standzuhalten, und sah zu Boden. »Es tut mir ehrlich leid.« Erleichtert lachte ich auf. Wenn das der einzige Grund für ihr seltsames Verhalten war, konnte ich gut damit leben. Immerhin trug ich eine gewisse Mitschuld, weil ich so geheimnisvoll tun musste. Obwohl es natürlich schöner wäre, wenn sie mir völlig trauen würde, aber Vertrauen musste langsam wachsen, gerade weil sie bereits so oft enttäuscht wurde. »Wie kannst du darüber lachen, Dean? Ich verstehe dich echt nicht. Reagiert man so auf eine Entschuldigung?« Sie funkelte mich an.

»Nein, es tut mir auch leid. Aber ich bin einfach erleichtert, dass es geklärt ist. Du benimmst dich nämlich schon seit dem Park seltsam und ich konnte mir nicht erklären wieso. In Zukunft lasse ich Überraschungen dieser Art wohl besser bleiben.« Nun lachte sie auch, allerdings nur kurz, dann wurde sie sofort wieder ernst.

»Danke, Dean. Du weißt gar nicht, was mir das bedeutet. Das wird bestimmt ein toller Nachmittag. Deshalb bitte ich dich im Voraus, nicht böse zu sein, falls ich zwischendurch etwas melancholisch werden sollte. Das Spiel wird Erinnerungen in mir wecken.« Nur zu gern wollte ich nachfragen, was sie damit meinte, dennoch ließ ich es lieber bleiben. Wenn sie soweit war, würde sie schon von sich aus damit herausrücken. »Wann müssen wir los?«, wechselte sie das Thema. Okay, dann musste ich auf meine Erklärung wohl noch länger warten.

»Unser Bus fährt in einer Stunde, also kein Grund zur Hektik.« Im Vorfeld hatte ich mir das genau rausgesucht, um keine bösen Überraschungen zu erleben. So ganz konnte ich mich noch immer nicht an den öffentlichen Nahverkehr gewöhnen.

»Okay, genug Zeit also. Ich bin kurz in meinem Zimmer, um etwas zu suchen.« Sie drehte sich um und ging einfach weg. Was zum Teufel wollte sie denn jetzt so dringend suchen? Ich war ehrlich sprachlos und das kam bei mir selten vor. Zumal Ari der ordentlichste Mensch war, den ich kannte. Doch noch bevor ich länger darüber nachgrübeln konnte, kam sie bereits zurück und hielt eine Pappschachtel in der Hand. Was sollte das denn schon wieder? Mein fragendes Gesicht reichte wohl aus, um Ari zum Sprechen zu bringen.

»Das ist meine Erinnerungsbox. Ich habe sie zwar seit Monaten nicht geöffnet, aber trotzdem nicht fertig gebracht, sie in Miami zurückzulassen. Ich möchte dir zeigen und erklären, warum ich heute so seltsam reagiert habe und auch, was mir dieses Spiel bedeutet.« Was um Himmels Willen konnte so Bedeutsames in dieser kleinen Kiste sein? Die Spannung wuchs, während Ari vorsichtig den Deckel öffnete.

»Du kennst ja meine Familie, zumindest alle außer Utah.« Und ihren Vater, allerdings schien dieser keine Rolle in ihrem Leben zu spielen. Doch hatte ich genau das bisher über ihren Bruder ebenfalls gedacht. Ich wusste, dass er im Gefängnis saß, mehr aber auch nicht, denn Ari sprach nie über ihn.

»Ja«, bestätigte ich. Gespannt, was nun kommen würde.

»Du weißt ja, dass Georgia fünf Jahre jünger ist als ich, deswegen hatte ich zu ihr schon immer eher ein mütterliches Verhältnis. Sie wollte ich beschützen und hüten, aber Utah ist nur zwei Jahre älter als ich und er war früher immer mein Held und mein bester Freund.« Sie seufzte leise und holte ein Foto aus ihrer Kiste, das sie mir hinhielt. Das Bild zeigte Ari im Alter von etwa zehn Jahren mit einem etwas älteren Jungen. Sie schauten beide lachend in die Kamera und hatten je einen ihrer Arme um den anderen gelegt. Man konnte auf dem Bild deutlich sehen, wie gut sie sich verstanden und dass sie sozusagen eine Einheit bildeten.

»Mom war zu dieser Zeit mit uns dreien allein und hatte keinen Partner. Wir gegen den Rest der Welt, das war unser Motto und wir haben uns geschworen immer auf Georgi, wie wir sie damals genannt haben, aufzupassen und sie vor allem zu beschützen.« Sie seufzte erneut und strich über das Foto.

»An einem Tag haben wir zu dritt mit dem Ball auf der Straße vor unserem Block gespielt und Utah hat aus Versehen den Ball auf die Straße geworfen. Georgia rannte hinterher und direkt in ein Auto, das nicht mehr rechtzeitig ausweichen oder bremsen konnte. Im Grunde genommen war es ein tragischer Unfall, mit glücklichem Ausgang, denn die Kleine hatte nur ein gebrochenes Bein und ansonsten nur einige blaue Flecken. Der Fahrer war total nett und hilfsbereit, er lud uns sogar zu einem Basketballspiel ein. Miami Heats gegen die Boston Celtics.« Nun holte sie einen Miami Heats Fanschal aus ihrer Box. »Mein erstes und bisher einziges Basketballspiel live. Utah war zu jener Zeit so begeistert, dass er danach selbst angefangen hat zu spielen. Er wollte Profi werden und war auch richtig gut, bis wir im Trailerpark gelandet sind und auf dem Basketballplatz dort hat er diese Gang kennengelernt, in die er dann geraten ist.« Sie wischte sich eine Träne weg und senkte den Kopf. Ich beeilte mich, zu ihr zu kommen und sie in die Arme zu ziehen. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also hielt ich sie einfach, bis sie von sich aus weiter sprach. »Ich bin kein großer Sportfan, nur für ihn habe ich unzählige Basketballspiele angesehen. Wir waren zwar nie wieder bei einer großen Mannschaft, aber das machte nichts. Beim Basketball war Utah immer glücklich. Oh man, Dean. Er fehlt mir so sehr.« Ich schwieg weiterhin, denn ich hatte einfach keine Ahnung, was ich hierauf antworten sollte. Schließlich hatte ich nie einen Bruder gehabt und konnte daher auch nicht nachvollziehen, wie es war, ihn zu verlieren. Irgendwann hielt ich das Schweigen dann jedoch nicht mehr aus.

»Soll ich die Karten weitergeben? Wenn es dir zu nahe geht, dann müssen wir nicht zu dem Spiel. Ich wollte dir ja schließlich eine Freude machen und dich nicht traurig stimmen.« Keine Ahnung, ob das nun die richtige Lösung war, aber zumindest lächelte Ari mich wieder dankbar an.

»Nein, ich möchte zu dem Spiel und ich freue mich sehr darauf, egal wie viele Erinnerungen daran hängen. Wenn Utah meine Post lesen würde, könnte ich ihm davon schreiben, doch er hat mich auf die schwarze Liste setzen lassen und somit kommt jeder Brief an ihn ungeöffnet zurück.« Auf einmal kam mir eine Idee, aber von der würde ich ihr sicher nichts erzählen. Wenigstens nicht, bis ich wusste, ob ich etwas erreichen konnte. Ich würde Utah schreiben, vielleicht hatte ich ja eine Chance, die beiden einander wieder näher zu bringen und falls es nicht funktionierte, musste Ari ja nie davon erfahren.

»Dann mach dich fertig und wir genießen unseren Tag«, forderte ich sie auf.

Destiny Arizona
Gruß aus der Vergangenheit

Nachdem ich Dean einen Teil meiner wertvollsten Erinnerungen gezeigt hatte, machten wir uns auf den Weg. Es hatte gut getan, es mit ihm zu teilen. Zuerst liefen wir bis zur North Station, dort war uns das Glück heute hold, denn kaum standen wir am Bahnsteig, kam schon unsere Bahn. Ein paar Minuten später stiegen wir bereits wieder aus. Der erste Unterschied zum Spiel in Miami, damals mussten Utah und ich durch die halbe Stadt und mit jedem Meter war seine Anspannung gestiegen. Nun ging mir alles fast zu schnell, denn der Gedanke an meinen Bruder, den ich sonst nie zuließ, verfolgte mich jetzt regelrecht. Zum ersten Mal seit Langem waren meine Erinnerungen an ihn nicht negativ behaftet. Ansonsten verliefen sie immer nur in eine Richtung und ich dachte eher über seinen Absturz in die Kriminalität nach. Oder darüber, dass er uns im Stich gelassen hatte, aber heute liefen meine Gedanken in eine ganz andere Richtung. Nämlich zurück zu der Zeit, zu der er noch - neben Mom - mein engster Vertrauter war. Normalerweise gab ich es nicht einmal vor mir selbst zu, bloß heute wurde mir tatsächlich bewusst, wie sehr er mir fehlte. Warum nur blockierte er jeden Kontakt zu uns? Zu gern hätte ich ihm vom heutigen Ausflug erzählt, obwohl ich etwas enttäuscht wurde, als wir an der Halle ankamen, in der die Boston Celtics spielten. Was war das denn für ein hässlicher Betonklotz? So völlig anders als das helle und durch die vielen Fensterflächen auch viel freundlicher wirkende Stadion in Miami.

Allerdings wurde hier ja auch noch Eishockey gespielt, zumindest hatte Dean mir das vorhin erklärt. Von Sport verstand ich ungefähr genauso viel wie von Astrophysik. Aber beim Eishockey wäre zu viel Sonne vielleicht kontraproduktiv, weil das Eis schmelzen könnte. Ob das wirklich der Grund war, wusste ich zwar nicht, immerhin klang es für mich plausibel. Dean danach zu fragen, traute ich mich nicht. Nachher würde er mich noch für ein dummes Blondchen halten.

Als wir dann die Halle betraten, sah es für mich schon besser aus. Die Tribünen rings um das Spielfeld wirkten riesig auf mich und die von der Decke hängenden Meisterbanner der beiden hier spielenden Mannschaften schafften eine ganz eigene Atmosphäre. Obwohl ich natürlich Miami die Daumen drückte und nicht Boston. Ein bisschen Heimatliebe steckte halt doch in mir, außerdem war es Utahs Lieblingsmannschaft. Eigentlich seltsam, wie oft ich heute an ihn dachte und so etwas wie Sport meine positiven Gefühle und Erinnerungen für ihn plötzlich wieder zum Leben erwecken konnten. Hätte mir das letzte Woche jemand gesagt, hätte ich ihm vermutlich einen Vogel gezeigt. Und jetzt gerade wollte ich nichts lieber, als alles aufzusaugen, um meinem Bruder davon erzählen zu können. Obwohl ich das ja gar nicht konnte.

Der Gedanke, Utah nicht von diesem Tag berichten zu dürfen, gab mir einen Stich und stimmte mich traurig. Jedoch nicht lange, dafür war die Stimmung in der Halle so aufgeladen mit fröhlicher Anspannung, diese wirkte regelrecht ansteckend. Dean führte mich zu unseren Plätzen, die sich in etwa auf halber Höhe hinter dem Korb von Miami befanden. Ich kam nicht drumrum, die mitgebrachten Fanartikel der Leute um mich herum, zu bewundern. Was es da nicht alles gab, neben den fast schon obligatorischen Schals und Trikots, hatten einige riesige Handschuhe, sogar Socken und Schuhe in Grün und mit dem Kleeblatt darauf. Und manche mussten es völlig übertreiben, da gab es Menschen mit riesigen grünen Hüten, Brillen oder auch mit grün gefärbten Haaren und Gesichtern. Bei aller Begeisterung für den Sport, das war mir dennoch eine Spur zu viel des Guten. Dagegen wirkten die Miami Fans mit ihren roten und weißen Trikots fast langweilig, doch die Stimmung im Fanblock stand der im gegnerischen in nichts nach. Aber wen wunderte das? Die Saison ging gerade erst los und es war das erste Aufeinandertreffen der beiden Mannschaften seit Längerem. Boston galt als Favorit, aber als das Spiel begann, schlug Miami sich wahrhaftig gut und war bald mit fünf Punkten in Führung. Dean und ich jubelten, als Boston kurz darauf auch noch an der vierundzwanzig Sekunden Regel scheiterte und den Ballbesitz verlor.

Am Ende gewann Boston zwar ganz knapp das Spiel, aber Dean und ich verließen die Halle trotzdem gut gelaunt. Es war einfach ein schöner Tag voller Emotionen und obwohl ich ja selbst kein großer Sportfan war, hatte mich die Stimmung der anderen Fans mitgerissen.

»Wollen wir draußen noch etwas trinken? Normalerweise bin ich nach den Spielen immer in der Halle an eine der Bars gegangen, bloß vor der Tür ist es bestimmt billiger.« Langsam lernte Dean es tatsächlich, nach unserer Ankunft hätte er vermutlich darüber gemeckert oder gar nicht über den Preisunterschied nachgedacht und gleich die Bar angesteuert.

»Gern. Solange es bei Cola bleibt.« Im Gegensatz zu vielen in meinem Alter, fiel es mir nicht schwer, auf Alkohol zu verzichten. In meiner Klasse, in der ich ja mit Abstand die Älteste war, gab es einen regen Handel mit gefälschten Ausweisen und viele betranken sich jedes Wochenende. Das musste ich wirklich nicht haben, im Trailerpark musste ich oft genug mit ansehen, was Alkohol aus den Menschen machen konnte.

»Klar bleibt es bei Cola. Ich fülle doch keine kleinen Mädchen ab. Nachher heißt es noch, ich müsse dich mit Alkohol gefügig machen.« Dean lachte und küsste mich ganz sanft, ehe er seinen Arm um meine Schulter legte, um mich aus dem Stadion zu führen.

»Das kleine Mädchen nimmst du zurück.« Spielerisch schubste ich seinen Arm von mir, das ließ Dean sich natürlich nicht gefallen und wir kabbelten uns ein wenig. Doch plötzlich wurde aus Spaß Ernst.

Ein dunkel gekleideter Typ mit Sonnenbrille und tief ins Gesicht gezogenem Cappy baute sich vor Dean auf und schubste ihn richtig, sodass dieser fast auf dem Hintern landete.

»Lass deine Pfoten von Ari. Sie will es nicht.« Verwundert starrte ich den Kerl an. Woher kannte er meinen Namen? Mir kam er absolut nicht bekannt vor, auch wenn ich die Stimme schon einmal irgendwo gehört hatte. Als er allerdings weiter bedrohlich auf Dean zuging, war das sowieso egal. Schnell sprang ich dazwischen.

»Hey! Lass Dean in Ruhe«, versuchte ich, ihn zu stoppen. Doch der Typ schob mich einfach zur Seite. Ich hatte keine Chance gegen ihn.

»Nur weil du Kohle hast, denkst du, dir alles erlauben zu können. Aber du bist ein Nichts und deshalb wirst du zukünftig deine Griffel von ihr lassen. Haben wir uns verstanden?« Er stieß Dean schon wieder heftig, sodass dieser diesmal tatsächlich auf dem Asphalt landete.

»Hör auf, du Idiot!«, schrie ich ihn an und wäre am liebsten auf ihn losgegangen. Doch er ignorierte mich weiterhin und körperlich hatte ich gegen ihn einfach gar keine Chance. Zwei weitere Typen traten zu uns, die nicht wirklich freundlicher aussahen als er. Zu zweit gegen ihn hätten wir vielleicht eine Chance gehabt, uns zu wehren, aber gegen drei so Gestalten? Uns blieb wohl nur Deeskalation, damit sie uns nicht völlig fertigmachten. Komischerweise war die Straße ansonsten inzwischen wie leer gefegt. Suchend sah ich mich nach Ordnern oder Passanten um, konnte aber leider keine entdecken. Vorhin standen die doch noch überall herum, warum jetzt nicht mehr? Der erste Kerl hob seine Faust bedrohlich und sofort hatte ich Angst, er könne Dean verprügeln. Wie konnte so ein schöner Tag nur so schnell in einer Katastrophe enden? Verzweifelt griff ich nach dem Arm des Angreifers und wollte ihn festhalten. Der schüttelte mich allerdings ab, wie eine lästige Fliege. Es interessierte ihn auch nicht, dass ich schmerzhaft auf Hüfte und Ellenbogen aufschlug. Einer der Arschlöcher zog mich wieder auf die Beine und ein Stück weg, sodass ich nicht mehr eingreifen konnte. Als Dean das sah, rappelte er sich erneut auf, doch der Arsch schickte ihn mit einem gezielten Schlag auf die Nase ein zweites Mal hinunter. Das Geräusch, als seine Faust Deans Gesicht traf, ging mir durch Mark und Bein. Die Nase war mit Sicherheit gebrochen, trotzdem hinderte das den Typen nicht daran, weiter wie verrückt auf Dean einzuschlagen und auch vor Tritten machten sie nicht Halt. Ich versuchte alles, um ihn aufzuhalten. Ich schrie wie von Sinnen - warum half uns nur keiner? - ich probierte dazwischen zu gehen, nur hielt mich der dritte Kerl eisern fest, damit ich mich kaum zu bewegen vermochte. Erst als ich mit der Gegenwehr aufhörte, lockerte er seinen Griff etwas. Da er weniger mich als seine Kumpels beachtete, testete ich, unauffällig mein Handy herauszuziehen, um die Polizei anzurufen. Genau das musste er aber wieder mitbekommen. Er nahm es mir aus der Hand.

»Das lässt du schön bleiben, kleine Ari. Ich gehe nicht noch einmal in den Knast. Dabei passe ich ja nur für Utah auf dich auf und werde nicht zulassen, dass dieser Schmierlappen dich gegen deinen Willen anfasst.« Er kannte meinen Bruder? Und er dachte, er müsse mich vor Dean beschützen? Was für ein Schwachsinn!

»Was hast du mit Utah zu tun?«, brüllte ich ihn regelrecht an und versuchte gleichzeitig, mich zu befreien. Hatte mein Bruder sich im Gefängnis mit noch schlimmeren Gangstern eingelassen?

»Ich soll dich schön von ihm grüßen.« Er ließ mich plötzlich los. Doch statt Dean sofort zur Hilfe zu eilen, stand ich einen Moment lang einfach nur da und starrte den Kerl an, was sollte ich dazu auch sagen? Ein Gruß von meinem Bruder? Aber warum verprügelten seine Kumpels deshalb meinen Freund? Deans Stöhnen brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Sein Gesicht sah echt fürchterlich aus. Die Nase blutete wie verrückt und sein linkes Auge schwoll bereits jetzt zu. Schnell beugte ich mich zu ihm hinunter und kniete mich neben ihn. Mir liefen die Tränen über das Gesicht, er sah so schlimm aus und ich konnte nicht einmal einen Krankenwagen rufen, damit ihm geholfen wurde. Von den unzähligen Menschen, die vor kurzem noch aus dem Stadion gekommen waren, hatte nicht einer eingegriffen, oder zumindest die Rettungskräfte verständigt. In was für einer grausamen Welt lebten wir hier eigentlich?

»Dean, es tut mir so leid.« Ich schluchzte auf, als ich an seinen Bewegungen und der vor Schmerz verzerrten Mimik sah, wie hart sie ihn erwischt haben mussten. Hoffentlich keine Gehirnerschütterung. Die Typen hauten jetzt einfach ab, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

»Ging mir schon besser, aber Unkraut vergeht nicht.« Wieder stöhnte er leise auf. Ich zog meine Jacke aus und schob sie ihm unter den Kopf. Das war zwar arschkalt, doch er lag auf dem Boden, da war ihm eindeutig noch kälter. Endlich kamen auch ein paar Passanten zu uns und fragten, ob wir Hilfe brauchten. Warum erst jetzt? Die Typen waren bestimmt längst über alle Berge, aber wenigstens rief einer der Passanten schlussendlich einen Krankenwagen.

Dean
Physische und psychische Schmerzen

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Hilfe in Form eines Krankenwagens kam. Mir war so schlecht und schwindelig, sonst hätte ich mich in der Zwischenzeit wirklich allein auf den Weg in die Klinik machen können. Aber mir ging es richtig dreckig. Der Kerl hatte mir nicht nur sehr wahrscheinlich die Nase gebrochen, sondern mir auch in die Seite getreten. An der einen Stelle fühlte ich einen Schmerz, der alles andere um ein Vielfaches übertraf. Das Umbetten auf die Transportliege fachte die Schmerzen noch weiter an. Mir wurde sogar schwarz vor Augen.

»Hey Mister!«, schrie mich der eine Sanitäter an. »Bleiben Sie wach.« Ich versuchte es tatsächlich und riss die Augen, so weit es ging, auf. Bloß tat das auch wieder so weh und die Schwärze um mich herum wurde immer tiefer, bis ich ihr schließlich nichts mehr entgegenzusetzen hatte.

Ein regelmäßig leises Piepen weckte mich irgendwann auf. Wo war ich? Und wieso war es so dunkel um mich herum? Einen Augenblick lang kriegte ich Panik, dann kam die Erinnerung, warum ich mein linkes Auge nicht vollständig auf bekam. Das andere schaffte ich auch nur mühsam zu öffnen. Es dauerte bestimmt eine Minute, bis ich klar sehen konnte. Nun begriff ich endlich, wo das Piepen herkam; ich lag in einem Krankenzimmer und war an irgendein Überwachungsgerät angeschlossen. Neben meinem Bett stand ein Stuhl, auf dem Ari mehr hing, als saß und friedlich schlief. Moment mal, weshalb schlief sie? Wie lange war ich denn bewusstlos, dass sie hier einschläft? Oder hatte sie ebenfalls etwas abbekommen? Besorgt versuchte ich, mich aufzurichten, auch wenn das verdammt wehtat. Das war gar nicht so einfach, doch schließlich schaffte ich es und atmete ein bisschen auf. Ari sah zwar völlig fertig, aber zumindest körperlich unversehrt aus. Eine Schwester betrat das Zimmer und warf Ari einen bösen Blick zu, bevor sie sich mir zuwandte.

»Oh, Mr. Kennedy, Sie sind wach. Wie geht es Ihnen? Haben Sie große Schmerzen? Schwindelgefühl? Sehstörungen?« Schmerzen hatte ich komischerweise keine, aber schwindelig war mir tatsächlich und sehen konnte ich auch nur eingeschränkt mit dem einen Auge. Doch das musste ich ihr ja nicht auf die Nase binden. Ich wollte so schnell wie möglich hier raus und herausfinden, was Aris Bruder mit den Kerlen zu tun hatte. Denn den Typ, der sie festgehalten hatte, den kannte ich von früher. Er ging mit mir zur Highschool, von ihm hatte ich meine ersten Drogen gekauft und kurz vor unserem Abschluss war er verhaftet worden.

»Geht schon.« Ich versuchte, die Verletzungen herunterzuspielen, leider glaubte mir die Schwester nicht wirklich. Sie lachte sogar leise.

»Guter Versuch, Mr. Kennedy. Sie werden trotzdem mindestens zwei Tage hierbleiben und brauchen mich nicht belügen, um eher gehen zu dürfen. Sie haben eine Nierenquetschung durch die Tritte in die Seite und wir müssen beobachten, ob die sich von allein erholt, oder doch eine Operation nötig wird. Außerdem kommt eine leichte Gehirnerschütterung dazu, folglich legen sie sich jetzt auch lieber wieder hin. Ich bringe Ihnen gleich, wenn ich hier fertig bin, neue Kühlkissen.« Na das waren ja tolle Aussichten. Vielleicht sollte ich froh sein, dass sie nicht noch weiter gemacht hatten. Die hätten mich umbringen können. Lieber gar nicht erst daran denken.

»Sollen wir irgendjemanden für Sie anrufen? Leider fehlen Ihre Geldbörse und Ihr Handy, genauso wie das Ihrer Freundin. Deshalb wollte sie Ihnen die Entscheidung überlassen, ob wir Ihre Familie kontaktieren sollen oder nicht, statt uns einfach die Daten zu geben.« Sie warf Ari, die noch immer schlief einen bösen Blick zu. Warum hatte sie das getan? Um ihren Bruder zu schützen?

»Wenn ich ein Telefon benutzen kann, würde ich meinen Vater gern selbst anrufen. Wenn Sie das tun, erschreckt er sich viel zu sehr.« Dass ich echt keinen Bock hatte, dass er hier auftauchte, brauchte sie ja nicht zu wissen. Fraglos musste ich ihn informieren, er würde sonst Ari garantiert Schwierigkeiten machen. So gut kannte ich ihn schließlich. Schon komisch, wie sich das Leben so schnell ändern konnte. Noch vor Kurzem hätte ich den Überfall auf mich dazu benutzt, hier wegzukommen. Doch jetzt wollte ich das gar nicht mehr, weil ich Ari dann wohl verlieren würde. Außerdem konnte sie nicht mitten im Abschlussjahr erneut die Schule wechseln und ohne sie, ging ich erst recht nicht von hier weg.

»Wenn Sie nicht im voraus bezahlen, funktionieren nur R-Gespräche.« Na hoffentlich nahm mein Vater das überhaupt an. Aber einen Versuch war es allemal wert, also entschied ich mich dafür. Die Nummern von zu Hause und vom Büro hatte ich zum Glück im Kopf. Zuerst versuchte ich es in der Firma, weil er das ja eigentlich wollte. Wobei ich mir nicht sicher war, ob das nicht erst ab Montag früh galt, allerdings ohne Erfolg. Es klingelte und klingelte und nicht einmal eine Sekretärin meldete sich.

»Wie spät ist es ungefähr?«, fragte ich die Schwester, die abwartend neben mir stand.

»Drei Uhr nachts.« Oh. Das erklärte natürlich, weshalb im Büro niemand abhob und warum Ari schlief. Im Zimmer war es so hell, dass ich automatisch davon ausging, dass es Tag war.

»Dann sollte ich es wohl besser zu Hause probieren.« Hoffentlich schlief mein Vater auch dort und war nicht, wie von ihm angekündigt, unterwegs. Bei ihm wusste man ja nie, vielleicht traf er sich bei uns mit seiner Geliebten und wollte dabei nicht gestört werden. Eigentlich könnten wir ihn also einfach in Ruhe lassen, nur würde er sich darüber aufregen, vor allem weil wir ja im Moment für ihn nicht erreichbar waren. Also musste ich alles versuchen, um ihn zu erreichen. Ausnahmsweise sollte ich sogar mal Glück haben. Nicht nur, dass sich mein Vater zu Hause aufhielt, er nahm sogar mitten in der Nacht das Telefonat an.

»Dean? Was soll der Quatsch mit dem R-Gespräch. Du besitzt ein Handy und hast du mal auf die Uhr gesehen? Außerdem war abgesprochen, dass du mich in den nächsten Tagen nur über das Büro kontaktierst«, polterte er gleich los und ließ mich erst gar nicht zu Wort kommen. »Bist du so betrunken, dass du nicht mehr weißt, wo du bist? Du solltest es doch inzwischen besser wissen.« Ich seufzte, allerdings so leise, dass er es nicht hören konnte, und versuchte dabei, seine weiteren Beschuldigungen auszublenden. Warum gab er mir nicht einmal die Chance auszusprechen? Endlich machte er eine Pause und gab mir die Gelegenheit für eine Erklärung.

»Dad, ich bin nicht betrunken, sondern im Krankenhaus, nachdem ich zusammengeschlagen wurde. Mein Mobiltelefon ist schrott oder weg, was weiß ich, Aris wurde jedenfalls geklaut. Wir sind also nicht erreichbar im Moment.« Eigentlich hoffte ich, dass er wenigstens nachfragen würde, wie es mir ging. Jedoch sah mein Vater da gar keinen Grund für.

»Ich vertraue darauf, dass ihr schnellstmöglich wieder zu erreichen seid. Ansonsten werde ich andere Seiten aufziehen. Du bildest dir doch nicht etwa ein, dass ich euch jetzt neue Telefone bezahle.« Er schrie so laut, dass die Schwester neben mir zusammenzuckte. Und er hörte nicht auf, schließlich nahm die Krankenschwester mir resolut den Hörer aus der Hand.

»Mr. Kennedy! Ich möchte doch sehr bitten. Ihr Sohn ist verletzt und braucht Ruhe und Schonung.« Hier unterbrach er sie wohl, doch sie ließ sich nicht einschüchtern. »Mir ist völlig egal, wer Sie sind. Ich habe die Verantwortung für meine Patienten und Ihr Sohn ist erst kürzlich aus einer Bewusstlosigkeit erwacht. Mir ist dabei völlig egal, wie es dazu kam, denn hier geht es darum, dass er wieder gesund wird. Was genau passiert ist, wird die Polizei später klären.« Wieder lauschte sie einen Moment, bevor sie weitersprach. »Das können Sie gern tun, mein Name ist Mandy Baumgardner. Ich bin Schwester der Unfallchirurgie. Melden Sie sich am besten Morgen früh bei Ihrem Sohn, sobald Sie sich ein bisschen beruhigt haben, für heute Nacht werde ich das Telefon im Zimmer stummschalten. Auf Wiederhören.« Sie legte wahrhaftig einfach auf, obwohl ich die Stimme meines Vaters am anderen Ende noch schimpfen hören konnte. Unglücklicherweise verstand ich nicht, was er sagte, hoffentlich würde das kein Nachspiel geben.

»Gucken Sie mich nicht so an, Mr. Kennedy. Ihr Vater wird sich garantiert wieder beruhigen, bis er morgen hier eintrifft und falls nicht, verweise ich ihn des Zimmers. Ich kann mit solchen Menschen umgehen, glauben Sie mir. Nicht alles auf der Welt ist käuflich.« Irgendwie hatte ich nur die Befürchtung, dass die Klinikleitung dies anders sehen könnte. Doch im Moment machte ich mir mehr Sorgen, was passieren würde, sobald mein Vater hier auftauchte und irgendetwas von meiner Beziehung zu Ari bemerkte.

»Er kommt also her?«, fragte ich vorsichtshalber nach. Vielleicht war das ja auch nur eine Annahme von ihr, leider bestätigte sie es.

»Ja, er will sich persönlich davon überzeugen, was hier passiert ist. Die Polizei übrigens ebenso, aber auch die habe ich auf morgen vertröstet. Nur das sture Fräulein hier, ließ sich einfach nicht wegschicken. Dabei schliefe sie zu Hause sicher besser.« Kopfschüttelnd blickte sie zu Ari hinüber, die noch immer im Land der Träume weilte. »Entweder ist sie total verliebt in Sie, oder sie hat Angst, die Kerle, die Sie verprügelt haben, könnten ihr etwas antun.« Oh Gott, daran hatte ich bisher gar nicht gedacht. Einer der Typen behauptete doch, für ihren Bruder auf sie aufzupassen. Sollten wir das glauben? Wenn ja, wären wir hier in Gefahr und dann würde mein Vater uns ganz bestimmt keinen Personenschutz stellen. Eher beorderte er mich nach Miami zurück und das wollte ich im Moment gar nicht mehr. Ich musste also dafür sorgen, dass er nichts von den Hintergründen erfuhr und gleichzeitig auf Ari aufpassen. Wer konnte schon wissen, was diesen Pennern beim nächsten Mal einfallen würde. Aris Bruder saß im Knast und von daher schienen sie ihn zu kennen.

»Ich hoffe mal Ersteres«, antwortete ich gähnend. »Aber trotzdem wäre sie in einem Bett besser aufgehoben, hoffentlich fällt sie nicht vom Stuhl.« Die Krankenschwester, ich hatte ihren Namen schon wieder vergessen, versprach mir eine Liege für Ari zu holen.

»Eigentlich ist das ja verboten, es muss ja niemand erfahren.« Sie zwinkerte mir zu und kam wirklich wenig später mit einer schmalen Liege zurück. »Ein Bett würde auffallen, doch das geht.« Vorsichtig weckte sie Ari, allerdings konnte sie damit nicht verhindern, dass Ari erschrocken hochfuhr.

»Keine Angst, Mädchen. Dein Freund hatte nur die Befürchtung, du könntest vom Stuhl fallen, leg dich auf die Liege, ich stelle sie direkt neben das Bett.«

Destiny Arizona
Ungewollter Besuch

Die Krankenschwester ließ mir keine Gelegenheit, mit Dean zu sprechen, oder genauer nachzusehen, wie es ihm ging, bis ich brav auf der Liege lag. Allerdings musste ich zugeben, dass diese zwar sehr schmal war, aber tausendmal bequemer als der Stuhl. Mir tat jeder Knochen weh, von den Stunden, die ich darauf gesessen und wohl tatsächlich auch geschlafen hatte. Jedenfalls konnte ich nicht sagen, wie lange er schon wach war.

»Endlich ist sie weg.« Dean sprach genau das aus, was ich dachte, als sich die Zimmertür zu guter Letzt hinter der Schwester schloss. Er griff nach meiner Hand und drückte sie leicht. »Ich bin so froh, dass du hier bist und dir nichts passiert ist. Wie geht es dir?«

»Das muss eher ich dich fragen, mein Lieber. Immerhin bist du derjenige, der verprügelt wurde. Hast du große Schmerzen?« Oh man, mein schlechtes Gewissen fraß mich fast auf. Bisher hatte ich keine Idee, wer diese zwielichtigen Gestalten sein könnten, obwohl mir der eine irgendwie bekannt vorkam, dennoch hatten sie Dean meinetwegen angegriffen und damit musste ich nun fertig werden. Unter Umständen wäre alles anders gekommen, wenn wir uns nicht gekabbelt hätten. Als ich das jedoch aussprach, lachte Dean mich nur aus.

»Ari, hör auf, dir die Schuld zu geben.« Er drückte meine Hand ein klein wenig fester. »Hast du die Kerle beauftragt, mich zu verprügeln?«

»Nein!« Wie konnte er das nur fragen? So etwas würde ich natürlich niemals tun.

»Siehst du, also trifft dich keine Schuld. Du hast doch sogar noch verrückterweise versucht, ihn aufzuhalten. Ich hoffe nur, die Typen waren nur für das Spiel hier und sind nun wieder Richtung Miami unterwegs.« Allein der Gedanke, sie könnten noch hier in der Gegend sein und vielleicht nur darauf warten, uns erneut zu treffen, bereitete mir ein mulmiges Gefühl. Wie sollte ich je wieder unbefangen auf die Straße gehen, während ich jeden Moment damit rechnen musste, dass sie nochmals auftauchen würden? Ich wusste ja noch nicht einmal, warum sie auf Dean losgegangen waren, trotzdem schaffte ich es nicht, die Schuldgefühle abzustellen. Wenn ich doch nur mit Utah sprechen könnte, um ihn deswegen zur Rede zu stellen. Bloß das ließ er ja nicht zu.

»Ich habe Angst vor dem, was noch passieren kann.« Es fiel mir nicht leicht, das auszusprechen. Doch Dean musste wissen, wie es in mir aussah, damit unsere Beziehung eine Zukunft haben konnte. Vorhin, als er schlief, hatte ich sogar darüber nachgedacht, unsere Romanze zu beenden, um ihn nicht weiter in Gefahr zu bringen. Doch ich brachte es einfach nicht fertig. So lange hatte ich mit mir gerungen, ob ich mich auf ihn einlassen durfte und gerade jetzt, wo wir uns gefunden hatten, sollte ich ihn schon wieder verlieren? Nein, das durfte einfach nicht passieren.

»Zusammen schaffen wir das. Vielleicht sollten wir eine Zeit lang auch hier in Boston darauf achten, unsere Verbindung nicht zu sehr zu zeigen. Obwohl ich es am liebsten in die Welt hinausschreien würde.« Deans Worte machten mir Mut. Vorsichtig kuschelte ich mich mit meinem Kopf an seinen Arm, lieber hätte ich mich richtig an ihn geschmiegt, aber ich wollte ihm nicht wehtun. »Lass uns noch ein bisschen schlafen. Die Schwester weckt uns bestimmt früh.« Damit mussten wir rechnen. Wahrscheinlich musste ich vor ihrem Schichtende die Liege räumen, sodass sie keinen Ärger bekam. Trotzdem dauerte es noch einige Zeit, bis ich endlich einschlief.

Eine laut zeternde Stimme riss mich gefühlt nur wenige Minuten später wieder aus dem Schlaf. Im ersten Moment konnte ich sie gar nicht einordnen und sah mich suchend um. Daraufhin gefror mir allerdings das Blut in den Adern. Mr. Kennedy - Deans Vater - stand in der Tür und regte sich lautstark über unsere Schlafsituation auf.

»Scheiße!« Dean murmelte es zwar nur, aber die Verzweiflung in seiner Stimme war unüberhörbar. Unser ganzer schöner Plan mit der Geheimhaltung starb in diesem Atemzug. Ich beeilte mich, auf die Beine zu kommen, dabei half das auch nicht mehr.

»Dad. Was machst du denn hier?«, fragte Dean. »Nach unserem Telefonat habe ich wirklich nicht so schnell mit dir gerechnet.« Telefonat? Davon wusste ich gar nichts. Erstaunt sah ich ihn an, erwartete aber eigentlich gar keine Erklärung, solange sein Vater hier war. Doch Dean überraschte mich. »Da hast du auf dem Stuhl geschlafen. Du warst völlig fertig, deshalb hat die Krankenschwester dann ja auch die Liege hereingebracht.«

»Warum war sie überhaupt mitten in der Nacht hier und dann eure Schlafposition. Sag mir nicht, dass du sie so sehr um den Finger gewickelt hast, dass sie nun für dich lügt.« Er lachte falsch auf und sah dann mich an. »Du hast kein Recht, hier in seinem Krankenzimmer zu sein, Destiny Arizona. Fahr nach Hause und warte dort auf mich. Ich komme später dort vorbei.« Obwohl die Anweisung klar war, blieb ich zögernd stehen und sah kurz zu Dean. Was Mr. Kennedy beabsichtigte, war mir sofort bewusst. Er wollte uns getrennt voneinander befragen. Dean nickte ergeben.

»Geh besser, Ari. Ich spreche mit Dad und wenn die Ärzte mich entlassen, komme ich nachher mit.« Da er auch dafür war, verabschiedete ich mich brav und ging hinaus. Dabei grübelte ich darüber nach, was nun aus unserem Plan werden könnte. Ursprünglich hatten wir vorgehabt, unsere Beziehung geheim zu halten, aber ob ich das schaffen konnte, wenn Mr. Kennedy mich direkt fragte? Und selbst wenn, ich hatte ja keine Ahnung, was Dean ihm erzählen würde. Noch nie hatte ich mich so weit weg gewünscht, wie in diesem Augenblick. Mir tat jeder Knochen weh von der Nacht auf dem Stuhl und der engen Liege und eigentlich würde mir Bewegung jetzt tatsächlich helfen, die Verspannungen zu lösen. Allerdings fürchtete ich mich gleichzeitig davor, auf der Straße noch einmal auf diese Kerle zu treffen. Glücklicherweise kam ich bis nach Hause, ohne einen von ihnen auch nur von Weitem zu sehen. Trotzdem sah ich zuerst vorsichtig ins Bad und in unsere Schlafzimmer, aus Angst, jemand könnte eingebrochen sein und sich hier irgendwo verstecken. Oh man, wenn das so weiterging, würde ich noch früher oder später paranoid.

»Krieg dich ein, Ari«, sagte ich zu mir selbst und setzte mich auf unser Sofa. Was sollte ich jetzt nur tun? Meine Sachen aus Deans Zimmer räumen, wäre wahrscheinlich sinnvoll. Oder doch sinnlos, wenn Dean bereits alles gebeichtet hatte? Mein Magen knurrte und unterbrach damit meine Überlegungen. Erst in diesem Moment bemerkte ich, wie hungrig ich wirklich war. Aber eigentlich logisch, schließlich hatte ich seit gestern Mittag nichts zu mir genommen. Zuerst musste ich im Krankenhaus ewig auf dem Gang warten, bis ich endlich zu Dean durfte. Und danach hatte ich an seinem Bett gesessen, bis ich irgendwann eingeschlafen war und erst als die Schwester mit der Liege kam, wieder wach wurde. Und heute Morgen hatte Mr. Kennedy mich ja rausgeworfen. Im Schrank fand ich zum Glück noch ein paar Bagel, die ich kurz in den Toaster warf und mit Frischkäse bestrich.

Kaum saß ich am Esstisch, klingelte es auch bereits an der Tür. Das war es wohl mit meinem Frühstück, so schnell hatte ich mit Mr. Kennedy wahrhaftig nicht gerechnet, schnell räumte ich die Bagel, die ich kalt nicht mochte, weg. Bevor ich den Türöffner drückte und die Tür öffnete, legte ich aber vorsichtshalber die Kette vor. Nicht, dass es statt Mr. Kennedy, die Typen von gestern waren, die zu mir wollten. Als ich im Treppenhaus allerdings die Person sah, die sich selbst vorsichtig umsah, erstarrte ich zuerst. Mit vielem hatte ich ja gerechnet, jedoch garantiert nicht mit ihm. Einen Moment überlegte ich, ob ich die Tür zuschlagen sollte, doch dann nahm ich die Sicherheitskette weg und öffnete trotzdem ganz.

»Was willst du hier? Mein Freund liegt schon im Krankenhaus, du musst ihn nicht noch einmal verprügeln lassen.« Ich war so wütend. Wie konnte er es nur wagen, nach all der Zeit, in der er mich ignoriert hatte, einfach hier aufzutauchen?

»Ari, das wollte ich nicht. Darf ich bitte reinkommen?« Das sollte ich glauben? Statt einer Antwort trat ich einen Schritt vor, anstelle von zurück und verschränkte demonstrativ meine Arme vor der Brust.

»Sag, was du hier bezweckst, vielleicht überlege ich es mir noch einmal.« Immer noch dachte ich darüber nach, die Tür zu schließen. Allerdings schaffte ich es einfach nicht. Fast zwei Jahre hatte ich Utah nicht gesehen und er sah so anders aus als früher. Obwohl ich ihn sofort erkannt hatte, die Veränderung war extrem. Er sah viel breiter aus als dereinst, damals war er sportlich schlank gewesen, doch jetzt sah er eher aus wie ein Bodybuilder.

»Ich möchte mich entschuldigen.« Nun musste ich wirklich lachen, wenngleich es vermutlich sehr abfällig klang. Wer sollte ihm das glauben? Ich im Leben nicht. Eine Erklärung kam von ihm nicht, stattdessen stand er mit hängenden Armen vor mir und sah mich bittend an.

»Dann tu es auch, aber bitte ehrlich und nicht nur, weil du irgendetwas von mir willst, Utah. Die Zeiten, in denen ich dir blind vertraut habe, sind vorbei. Und das Treffen mit deinen Freunden gestern, hat nicht gerade geholfen, meine Freude, dich zu sehen, zu steigern.« Am liebsten hätte ich nach ihm geschlagen, aber bei den Muskelbergen, täte mir das wahrscheinlich mehr weh als ihm. »Woher hast du überhaupt meine Adresse? Und was machst du hier in Boston? Solltest du nicht noch im Knast in Miami sitzen?« Seine Strafe hatte doch keine Chance auf Bewährung. Zumindest nach Aussage seines damaligen Anwalts, weil er mit seiner Sozialprognose keine Chance auf Bewährung hätte.

»Lass mich bitte rein, Ari. Dann erkläre ich dir alles in Ruhe. Die Nachbarn interessiert das Ganze hier scheinbar ebenfalls.« Er deutete auf Angelas Tür, die einen Spalt geöffnet war. Bisher hatte ich das gar nicht bemerkt.

»Alles in Ordnung bei dir, Ari? Oder soll ich die Polizei rufen?« Mutig trat sie einen Schritt nach draußen, das Handy schon in der Hand.

»Brauchst du nicht, das ist mein Bruder. Doch kommst du mit rüber? Ich möchte nicht mit ihm allein sein.« Utah sah gekränkt aus, sagte aber erst mal kein Wort dazu. Das war auch besser so. Nach der Erfahrung gestern, wollte ich kein Risiko eingehen und ein eigenes Telefon besaß ich ja nicht mehr.

Dean
Seltsame Gespräche

Nachdem Ari mehr oder weniger freiwillig gegangen war, setzte mein Vater sich auf den Stuhl, auf dem sie vorhin noch geschlafen hatte. Zuerst sagte er nichts, bis ich irgendwann ganz unruhig davon wurde. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte den Raum fluchtartig verlassen, nur um nicht mit ihm allein zu sein. Doch das konnte ich natürlich nicht. Mal abgesehen von meiner Verletzung, wo sollte ich auch hin? In meiner Wohnung würde er mich sofort finden und sonst gab es keinen Ort, an den ich mich zurückziehen könnte. Also blieb mir keine andere Wahl, als hier zu warten, bis er mit seiner Standpauke begann.

»Du siehst echt scheiße aus, Dean. Wie geht es dir?« Hiermit überraschte er mich wirklich, eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er sogleich mit seiner Strafpredigt von letzter Nacht fortfahren wollte. Solche Worte aus seinem Mund war ich auch nicht gewohnt. Normalerweise fluchte er nie.

»Tja, ich fühl mich auch so. Mich von zwei Typen zusammenschlagen lassen, wird sicher nicht zu meinem neuen Hobby.« Mein Tonfall klang wahrhaftig nicht besonders freundlich, aber das juckte mich im Moment nicht. Was erwartete er denn, wie ich aussah? Ich legte mich ja nicht aus Langeweile ins Krankenhaus. Dad sah mich seltsam an. Manchmal fragte ich mich, ob er ebenfalls irgendetwas einnahm, das würde zumindest seine Stimmungsschwankungen erklären. Wo blieben die weiteren Vorwürfe? Er war doch sicher noch nicht fertig mit seiner Standpauke. Indes saß er geraume Zeit nur da und sah mich nachdenklich an. Sollte ich vielleicht zuerst das Wort ergreifen? Tatsächlich hatte ich dazu so gar keine Lust, was sollte ich ihm auch sagen?

»Du und Destiny also? Das überrascht mich ehrlich gesagt sehr.« Endlich brach er das Schweigen. »Eigentlich hatte ich eher erwartet, dass du ihr das Leben zur Hölle machst. Oder ist das eine Vorbereitung darauf? Ihr eine Beziehung vorspielen, damit sie danach völlig fertig ist?« In mir kochte die Wut hoch. Wie konnte er mir so etwas unterstellen? Okay, mein ursprünglicher Plan hatte wirklich so ähnlich ausgesehen, allerdings war der seit Langem gestorben.

»Das mit Ari und mir hat sich einfach so ergeben. Weder habe ich das geplant, als auch nur im Entferntesten damit gerechnet. Sie ist einfach ein ganz besonderer Mensch, wenn man sie erst kennt. Bitte dreh ihr keinen Strick daraus, das hat sie nicht verdient.« Mein Vater sah mich an, als hätte ich ihn darum gebeten, mir den Mond vom Himmel zu holen. »Bitte, Dad. Sie hat ohnehin genug um die Ohren. Von mir aus bestraf mich und zieh mir das Geld für ihre Familie vom Erbe ab, nur maßregele sie nicht dafür, dass wir Gefühle füreinander entwickelt haben. Sie hat sich lange genug dagegen gewehrt.« Oh man, warum sagte er kein Wort, sondern starrte mich nur an? Das machte mich ganz verrückt. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, um auf und ab zu laufen, mit den Überwachungsgeräten, an denen ich hing, ging das natürlich nicht. »Nun sag schon, was für ein Trottel ich bin und dass sie nicht für unsere Welt geeignet ist. Das weiß ich selbst, allerdings habe ich sie mir auch nicht ausgesucht und ich kann ja mit ihr hierbleiben statt in Miami.« Darüber hatte ich bisher zwar nie nachgedacht, aber wenn ich es mir recht überlegte, wäre eine Zukunft außerhalb und ohne seine Firma wahrscheinlich der beste Ausweg für mich. So wirklich interessierte ich mich sowieso nicht dafür. Okay, Pläne für die Zukunft hatte ich ebenfalls keine, aber das konnte ich ja in den nächsten Wochen und Monaten ändern. Es wurde tatsächlich Zeit für mich, endlich erwachsen zu werden und Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, vor allem jetzt mit Ari an meiner Seite.

»Wow, dir scheint es wahrhaftig ernst zu sein.« Endlich sagte er wieder was.

»Ja, so ernst wie noch nie.«

»Das ist ja auch keine Kunst.« Obwohl er damit recht hatte, verletzte mich diese Antwort. Konnte er nicht einmal etwas Positives sagen, ohne es gleich wieder zunichtezumachen? »Ich kann dich sogar verstehen, sie ist wahrlich ein süßes Mädchen und ihr lebt so eng zusammen, da kommt leicht eins zum anderen. Pass nur auf, dass sie dir kein Baby anhängt, denn eine Frau fürs Leben an deiner Seite ist sie nicht und wahrscheinlich sieht sie das selbst ebenfalls so. Nicht, dass du irgendwann erfährst, dass du ein erwachsenes Kind hast, das du nicht kennst.« Verwundert sah ich meinen Vater an, wovon zum Teufel sprach er? Für einen Moment überkam mich die Angst, er könnte eine Affäre mit Aris Mutter gehabt haben und sie war das Ergebnis eines seiner Seitensprünge. Einerseits traute ich ihm das tatsächlich zu, aber andererseits würde er mir doch in dem Fall kein vorläufiges Okay für eine Beziehung mit ihr geben, oder? So krank konnte er doch nicht sein.

»Was meinst du damit?« Ich musste einfach nachfragen. Doch er winkte nur ab.

»Gar nichts, ich hab nur vor mich hingeredet. Aber bitte mach mich nicht zum Großvater. Das fehlte noch in unserem jetzigen Chaos.« Als hätte ich vor, jetzt Kinder in die Welt zu setzen. Vielleicht wäre ich nie bereit dazu, obwohl Ari sicher eine gute Mutter sein würde, aber ich als Vater? Diese Katastrophe konnte ich wirklich niemandem antun. Erst einmal musste ich lernen, Verantwortung für mich selbst zu tragen und nicht für andere. Außerdem fand ich Kinder extrem nervig, wenn ich ehrlich war. Ich stand einfach nicht auf laute, dreckige Rotzgören, die versuchten, mich in den Wahnsinn zu treiben. Und wenn meine Kinder auch nur etwas von mir hätten, würden sie das mit Sicherheit tun.

»Keine Angst, weder Ari noch ich würden das der Welt oder uns zumuten wollen. Sie trägt schon für so viele Menschen die Verantwortung, da braucht sie nicht noch mehr und ich eigne mich nicht als Vater.« Genauso wenig wie du, wollte ich am liebsten hinzufügen, ließ es dann allerdings doch lieber. Ich musste ihn ja nicht gleich wieder zum Lospoltern bringen. Zumal die Schmerzen langsam immer stärker wurden und ich mich dadurch nicht verteidigen konnte. Verdammt! Warum musste mir das passieren? Ich hatte den Typen doch gar nichts getan. Obwohl ich es wirklich nicht wollte, entwich mir ein gequältes Stöhnen.

»Tut dir irgendetwas weh?« Zu meiner Verwunderung klang er echt alarmiert. Keine Vorhaltungen wie: ›Indianer kennen keinen Schmerz.‹ Das hatte ich mir früher immer von ihm anhören müssen. »Ich klingel nach einer Schwester, damit du etwas bekommst.« Na das könnte ich eigentlich auch noch selbst, aber sollte er ruhig machen. Kaum zwei Sekunden, nachdem er den Knopf gedrückt hatte, stand er bereits auf und fing an zu schimpfen, wo die Schwester bliebe.

»Fliegen kann sie wahrscheinlich nicht und ich bin ja auch nicht der einzige Patient hier auf der Station.« Okay, meine Absicht, friedlich zu bleiben, hielt nicht lange an. Vielleicht hatte ich das ja von ihm. Er litt heute schließlich ebenfalls unter Stimmungsschwankungen. Noch bevor er darauf antworten konnte, ging die Tür auf und eine andere Krankenschwester als letzte Nacht betrat das Zimmer. Sie war jung - sehr jung - und hatte eine Modelfigur. Noch vor Kurzem hätte ich sicher mit ihr geflirtet, aber jetzt hinderten mich nicht nur die Schmerzen daran, sondern auch der Gedanke an Ari. Das schlechte Gewissen, wegen meiner kurzen Affäre mit Layna reichte aus. Dabei waren wir uns da noch gar nicht näher gekommen.

»Oh, Mr. Kennedy, ich bin Schwester Nancy, womit darf ich Ihnen helfen? Haben Sie Durst oder Hunger oder Schmerzen?«

»Letzteres.«

»Ich bringe Ihnen gleich was. Frühstück kommt auch bald.« Hunger hatte ich eigentlich gar nicht, mir war eher übel, aber das sagte ich nicht laut. Sonst würde mein Vater mich nur für einen Schlappschwanz halten. Im Grunde genommen interessierte mich seine Meinung bereits seit Jahren nicht mehr wirklich, doch heute war irgendwie alles anders. Sein Telefon klingelte und er ging nach einem Blick aufs Display sofort dran. Ich fragte mich, ob er das bei meiner Nummer auch machte, wahrscheinlich eher nicht. Wenn ich versuchte, ihn zu erreichen, brauchte ich meistens mehrere Versuche.

»Ja … Mhhh … Okay, allerdings dauert es einige Zeit. Ich kann jetzt hier nicht weg … Mein Sohn liegt im Krankenhaus.« Wow, er verschob tatsächlich ein Treffen wegen mir? Das hatte ich nicht erwartet, aber faktisch wollte ich das auch gar nicht. Er sollte ruhig etwas Geld hierlassen und dann konnte er sich von mir aus gern verabschieden und wieder nach Miami fliegen. »… Darüber reden wir später … Okay. Bye.«

»Wenn du weg musst, geh. Ich komme schon klar. Die Firma wartet bestimmt bereits.« Das tat sie eigentlich immer und bisher war sie für ihn immer vor der Familie gekommen. Doch dieses Mal dachte er gar nicht daran zu gehen.

»Wir haben noch einiges zu besprechen. Außerdem brauchst du ein neues Handy, das muss ich auch noch besorgen. Sobald ich mit deinem Arzt gesprochen habe, werde ich mich darum kümmern.« Er musste das besorgen? Normalerweise beauftragte er jemanden mit solchen Sachen. Ich konnte mir echt nicht vorstellen, wie mein Vater in ein Geschäft ging, um irgendetwas zu kaufen. Solange ich auf der Welt war, konnte ich mich nicht daran erinnern, dass er so etwas Normales getan hatte. Aber heute schien ja sowieso allerhand anders als normal zu sein.

Destiny Arizona
Besuch aus der Vergangenheit

Utah betrat unsere Wohnung und sah sich interessiert um, während Angela und ich, Schulter an Schulter, neben der Tür stehen blieben. Verdammt! Er war immer noch mein Bruder, warum fühlte es sich dann so falsch an, ihn hier zu haben? Es gab Zeiten, da war er mein engster Vertrauter. Allerdings lagen die jetzt weit hinter uns und nach seinem Kontaktabbruch hatte ich wirklich nicht damit gerechnet, ihn noch einmal wiederzusehen, und garantiert nicht hier, so weit weg von Miami.

»Also Utah, was willst du hier?«, platzte es aus mir heraus. Höflich klang das sicher nicht, bloß das war mir im Moment egal. Sollte er doch merken, wie sauer ich auf ihn war. Vor allem nach dem, was gestern passiert war. »Deine Entschuldigung nehme ich dir nämlich echt nicht ab. Du bist viel zu selbstsüchtig, um nur deswegen her zu kommen.« Die ganze Wut der letzten Jahre brodelte in mir. Er hatte mich im Stich gelassen! Den Rest der Familie genauso, aber mich ganz besonders, denn ich musste die gesamte Verantwortung übernehmen, und hatte keinerlei Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten. Utah senkte leicht den Kopf, blieb dennoch weiterhin stumm. »Nun rede schon, sonst kannst du auch gleich wieder gehen. Ich habe eine beschissene Nacht hinter mir und der Tag geht bisher so weiter, mir reicht es also tatsächlich.« Mein Magen knurrte laut und vernehmlich, was in der Situation zwar absolut unangebracht war, bloß was sollte ich tun? Mein Hunger wuchs sekündlich und das verbesserte meine Laune nicht wirklich.

»Vielleicht sollten wir uns erst einmal alle hinsetzen, ich koche uns einen Kaffee und du isst etwas, Ari. So wird das mit dem Gespräch doch nichts. Du bist viel zu müde und hungrig, um jetzt vernünftig zu reden.« Warum mischte Angela sich da eigentlich ein? Ich hatte sie dazu gebeten, damit sie mir gegen meinen Bruder beistand und nicht, um mir in den Rücken zu fallen. »Ich bin übrigens Angela, Aris Nachbarin und Freundin.« Nun hielt sie ihm auch noch die Hand hin, die er brav ergriff und kurz drückte. Diese Verräterin! Da sie nun allerdings Kaffee machte, sagte ich zunächst kein Wort dazu, sondern begann lieber, den Frühstückstisch zu decken.

»Willst du ebenfalls was essen, Utah?« Offen gesagt hatte ich zwar keine Lust, ihm etwas anzubieten, aber ich war schließlich im Gegensatz zu ihm gut erzogen. Angie fragte ich gar nicht erst und deckte gleich für sie mit. Sie war ohnehin viel zu dünn und aß meiner Meinung nach auch zu wenig.

»Wenn es keine Umstände macht, gern. Kann ich dir helfen?« Schnell winkte ich ab. Ich wollte nicht positiv über ihn denken und erst recht keine Hilfe von ihm. Außerdem war sowieso kaum etwas im Haus, daher deckte ich einfach drei Müslischalen, die Packung Müsli, ein bisschen Obst und Milch. Ursprünglich war es mein Plan gewesen, heute Morgen einkaufen zu gehen, doch erstens kam es anders und zweitens, als man denkt. Also hieß es improvisieren und da musste das reichen, was wir im Haus hatten. Wenig später saßen wir zu dritt am Tisch und schwiegen uns zunächst an. Ich löffelte mein Müsli in mich hinein und trank ab und zu einen Schluck Kaffee dazwischen, allerdings ohne ihn wie sonst zu genießen. Im Moment half er mir einfach nur, nicht sofort einzuschlafen. Dabei wünschte ich mich ganz weit weg. An einen Ort, wo mich nichts an Utah oder Mr. Kennedy erinnerte, der ja heute auch noch irgendwann hier auftauchen wollte. Im Moment wurde mir einfach alles zu viel. Die Sorge um Dean, die um die Reaktionen seines Vaters auf unsere Beziehung und nun auch noch mein Bruder. Dazu kamen die Müdigkeit und mein Hunger, gerade musste ich wirklich mit mir ringen, um nicht einfach loszuheulen. Wann war ich nur so wenig belastbar geworden? In Miami hatte ich oft mit viel mehr Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt.

»Wo warst du überhaupt heute Nacht? Und wo ist Dean?« Angela hob ihren Kopf und sah mich neugierig an. Sie hatte doch vorhin das Gespräch zwischen Utah und mir mitbekommen, oder? Bloß dann bräuchte sie im Grunde genommen nicht so zu fragen. Aber warum sollte ich es eigentlich nicht erzählen? Sie hatte mich ja dazu überredet, mit meinem Bruder zu sprechen, so konnte sie auch sehen, was für ein Typ er war.

»Dean hat mich gestern mit Basketball-Karten für das Spiel gegen Miami überrascht …« Ich erzählte ihr grob, was alles passiert war. Als ich an dem Punkt ankam, wo die Kerle auf Utah zu sprechen kamen, sah ich ihn böse an. »Und ausgerechnet heute tauchst du hier auf. Dass ich darüber nicht gerade erfreut bin, ist doch wohl verständlich, oder?«

»Ich habe echt nichts mit der Aktion zu tun, Ari. Ich schwöre es.« Utah sah mich durchdringend an, trotzdem fiel es mir schwer, ihm zu glauben.

»Woher kannten sie mich sonst? Und wie haben sie mich hier gefunden, genau einen Tag, bevor du hier auftauchst? Das ist garantiert kein Zufall gewesen.« Ich atmete tief durch, ehe ich weiter sprach. »Erst baust du Mist und dann bestrafst du uns, indem du den Kontakt zu uns grundlos abbrichst. Kannst du dir vorstellen, wie wir darunter gelitten haben?« Denn das hatten wir wahrhaftig.

»Ja, das kann ich. Meinst du etwa, für mich war das einfach? Aber mir blieb leider keine andere Wahl.« Er klang leicht verzweifelt, warum überhaupt? Wir hatten ihn schließlich nicht verstoßen.

»Das war doch deine Entscheidung. Uns hast du damit völlig vor den Kopf gestoßen. Vor allem, als Mom einen Stammzellenspender brauchte und wir dich nicht erreichen konnten.« Die ganze Wut über diese Hilflosigkeit, kochte jetzt richtig in mir hoch und ich musste mich wirklich zusammenreißen, um nicht aufzuspringen und ihn zu schlagen. Dabei war ich sonst gar kein gewalttätiger Mensch. »Du hast mich in diesem Chaos der Gefühle im Stich gelassen. Ich musste das alles allein schaffen. Weißt du, wie schwer das für mich war?« Irgendwie begrüßte ich die Wut, denn sie war besser als die Trauer und Bedürftigkeit, die ich dahinter versteckte. Auf keinen Fall wollte ich vor Utah heulen und ihm damit zeigen, wie schwach ich doch eigentlich war. Die Zeit, in der wir uns gegenseitig gestützt haben in solchen Situationen, war lange vorbei. Meine Aufmerksamkeit lenkte ich im Augenblick lieber auf Angela, die rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Wahrscheinlich wünschte sie sich gerade ganz weit weg und bereute bereits, mir ihren Beistand angeboten zu haben. »Angie, du musst nicht bleiben, wenn es dir unangenehm ist. Ich kann das auch allein mit ihm klären.«

»Du kannst aber auch ruhig bleiben und dir meine Seite der Geschichte anhören. So schrecklich, wie Ari tut, bin ich nämlich gar nicht.« Mein Bruder besaß tatsächlich die Frechheit, ihr zuzuzwinkern, ehe er aufstand und sich neben mich stellte.

»Ari, es tut mir wahnsinnig leid, dass ich dich verletzt habe. Das war das Letzte, was ich wollte, bloß blieb mir keine andere Wahl.« Beinahe hätte ich laut losgelacht. Keine Wahl? Ja, klar. Das konnte er jemand anderem auftischen, allerdings nicht mir. »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, nur bitte hör mir zu, bevor du mich endgültig verurteilst.« Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er sich sein Schmierentheater in die Haare schmieren sollte, aber irgendwas in seinem Blick hinderte mich daran.

»Dann erzähl«, forderte ich ihn nicht gerade freundlich auf. Eigentlich hatte ich ja keine Lust, mir seine dämlichen Ausreden anzuhören, doch ein winziger Teil in mir hoffte wohl noch immer, dass es wirklich einen triftigen Grund für sein Handeln gab. Und ich meinen Bruder dadurch wiederbekommen könnte.

»Du weißt ja, dass ich mich mit den falschen Leuten eingelassen habe.« Ich nickte gelangweilt. Er sollte mir was Neues verraten und nicht die alten Kamellen. »Mit zwei anderen aus der Gang bin ich ja auch verhaftet und verurteilt worden. Niklas ist in einen anderen Knast gekommen, nur Tyson und ich wurden zusammen in eine JVA geschickt. Das war eines meiner größten Probleme.« Auf einmal machte es Klick bei mir. Tyson war einige Jahre älter als wir und wohnte früher ebenfalls im Trailerpark. Mir war er schon immer etwas unheimlich, deswegen ging ich ihm vom ersten Tag, an dem wir dort lebten, möglichst aus dem Weg. Doch manchmal hatte er mich regelrecht verfolgt. Er war es auch gestern gewesen, der Dean zusammengeschlagen hatte. Die Zeit im Gefängnis hatte ihn ebenso wie Utah äußerlich sehr verändert. Innerlich schien er jedoch noch schlimmer als früher geworden zu sein.

»Und wieso schickst du uns Tyson jetzt auf den Hals? Er hätte Dean umbringen können. Ist dir das eigentlich klar?« Utah wurde blass.

»Ich hatte befürchtet, dass er dich suchen könnte, bloß nicht damit, dass er dich so schnell findet. Kapierst du es nicht, Ari? Der Kerl ist besessen von dir und hat mich nur in die Gang geholt, um über mich an dich heranzukommen.« Das sollte ich glauben? Warum hatte er mir nicht schon viel eher davon erzählt? Und den Kontaktabbruch erklärte das ja ebenfalls nicht. Und mein Bruder machte keine Anstalten, mehr zu sagen. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihn kräftig geschüttelt.

»Ich begreife einfach nicht, worauf du hinaus willst, Utah.« Er senkte beschämt den Kopf, sagte aber kein Wort, was mich wahnsinnig machte. Daher sprang ich auf und wollte gerade auf den Tisch hauen, als es an der Tür klingelte. Das hatte mir im Moment echt noch gefehlt.

Destiny Arizona
Seltsames Verhalten

Einen Moment blieb ich einfach stehen, doch ein zweites Klingeln brachte mich dazu, mich in Bewegung zu setzen.

»Leg die Kette vor, falls es dieser Tyson ist.« Angela klang ehrlich besorgt und auch mein Bruder stand sofort auf und stellte sich neben mich an die Tür. Obwohl ich im Grunde genommen immer noch stinksauer auf ihn war, rührte mich diese Geste. Irgendwie schien er sich ja tatsächlich tief im Inneren um mich zu sorgen. Allerdings war das jetzt gar nicht nötig, denn statt Tyson tauchte kurz darauf ein leicht keuchender Mr. Kennedy vor unserer Wohnungstür auf. Tja, Treppensteigen gehörte sonst wohl nicht zu seiner Alltagsbeschäftigung. Okay, der Gedanke war etwas gehässig, aber wen wunderte das nach den letzten vierundzwanzig Stunden? Eigentlich wollte ich nur noch in Deans Bett kriechen, am besten mit ihm und mir die Decke über die Ohren ziehen. Um nichts mehr sehen oder hören zu müssen. Stattdessen entfernte ich die Kette und bat ihn freundlich herein, um ihn nicht noch mehr zu verärgern. Er trat ein und sah sich erst einmal um. Dabei wirkte seine Miene so abfällig, dass ich mich richtig zusammenreißen musste, um nichts zu sagen. Dann ging sein Blick zwischen mir, Angela und Utah hin und her, als wollte er abschätzen, in welcher Beziehung wir zueinanderstanden.

»Das ist mein Bruder, Utah. Er kam heute Morgen überraschend und das ist Angela, unsere Nachbarin und Freundin«, stellte ich ihm die beiden schnell vor. »Und das ist Deans Vater, Mr. Kennedy.« Angela streckte ihm höflich die Hand entgegen, nur dachte er gar nicht daran, sie zu ergreifen.

»Könntet ihr Destiny Arizona und mich bitte entschuldigen? Ich muss mit ihr unter vier Augen sprechen. Angela, nimm Utah doch für eine halbe Stunde mit zu dir hinüber. Danke.« Er duzte sie einfach und erwartete, dass sie machten, was er wollte und obwohl ich am liebsten schreien würde wegen dieses Gehabes, war ich eigentlich ganz froh, dass sie wirklich gingen.

»Bis später«, murmelte Utah noch leise, »ich warte, bis du Zeit hast. Zur Not auch vor der Tür, wenn sie mich nicht in ihrer Wohnung haben möchte.« Schnell nickte ich. Angela würde ihn garantiert nicht im Treppenhaus stehen lassen. Da war ich mir sicher. Allerdings wusste ich im Moment nicht, ob ich es gut fand, dass er bei ihr war. Konnte man meinem Bruder überhaupt vertrauen? Nicht, dass er sie hinterher noch ausrauben würde. Wenngleich Angela natürlich ebenfalls keine Reichtümer in ihrer Studentenbude hatte. Doch nun fehlte mir die Zeit, weiter darüber nachzudenken. Mr. Kennedy räusperte sich und verlangte meine Aufmerksamkeit für sich. Noch immer standen wir mitten im Raum, womit ich mich unwohl fühlte. Ich bat ihn, sich zu setzen, doch das ignorierte er zunächst völlig.

»Wie lange läuft das schon zwischen dir und meinem Sohn? Und was hast du mir außerdem verschwiegen oder zu seinen Gunsten geschönt bei deinen Berichten?« Diese Anschuldigung hatte ich fast erwartet, aber eigentlich eher etwas indirekter. Dass er es mir gleich so an den Kopf knallte, kam unerwartet.

»Mr. Kennedy, ich weiß, dass ich nicht in Ihre Kreise passe, aber das mit Dean und mir war wirklich nicht geplant, sondern ist einfach passiert. Ich habe mich wahrhaftig in ihn verliebt und hoffe, dass Sie ihm und meiner Familie deshalb keine Probleme machen. Belogen habe ich Sie nie, alles was ich Ihnen über Dean berichtet habe, entspricht der Wahrheit. Er hat sich tatsächlich gut eingelebt auf der Arbeit und sogar letzte Woche einige Überstunden gemacht, nur um an die Basketball-Karten zu kommen, mit denen er mich gestern überrascht hat.« Mr. Kennedy sah immer noch skeptisch aus, nickte aber und setzte sich endlich, was die Situation ein kleines bisschen auflockerte. »Darf ich Ihnen erst mal etwas zu trinken anbieten, ehe wir uns weiter unterhalten?«

»Nein, danke. Ich glaube nicht, dass du hier vernünftigen Kaffee zubereiten kannst und irgendeine Plörre trinke ich nicht.« Er klang so herablassend, dass ich erst zweimal tief ein- und ausatmen musste, bevor ich ihm antworten konnte.

»Tja, für einen Vollautomaten, wie Sie ihn gewöhnt sind, fehlt uns leider das Geld. So viel verdienen wir im Kino auch nicht. Sie können Dean ja einen zu Weihnachten schenken.« Ich wollte gar nicht daran denken, dass wir dann vielleicht gar nicht mehr hier wären, falls Mr. Kennedy unsere WG beenden würde. Er durfte einfach nicht alles über den Haufen werfen, nur weil wir Gefühle füreinander entwickelt hatten.

»Werd nicht frech, Destiny Arizona.« Ich verzog den Mund, weil er so abfällig klang und mich abkanzelte wie ein kleines Mädchen, sagte allerdings kein Wort dazu. Ich wusste nämlich nicht, ob ich mich beherrschen könnte, wenn ich darauf antwortete. »Im Augenblick weiß ich wirklich nicht, wie ich reagieren soll. Glücklich bin ich über diese Liaison jedenfalls nicht, aber im Moment lasse ich euch gewähren, solange Deans Noten nicht darunter leiden. Doch sei dir gewiss, dass sich meine Toleranz nur auf Boston bezieht. In Miami wirst du Abstand zu ihm halten.« Er sah mich böse an, dennoch hielt ich seinem Blick stand. »Haben wir uns verstanden, Destiny Arizona?«

»Natürlich, Mr. Kennedy.« Arschloch! Als hätte ich im Augenblick eine andere Wahl als zuzustimmen. Um meine Wut nicht offen zu zeigen, konzentrierte ich mich lieber auf eine Haarsträhne, die mir ins Gesicht hing und wickelte diese um meinen Finger. So musste ich ihm nicht mehr in die Augen sehen.

»Ich weiß, dass du jetzt sauer bist, aber du überspielst es gut. Vielleicht passt du doch besser zu Dean, als ich denke. Jedoch ist mir das im Moment egal, denn ich habe genug andere Probleme, um die ich mich kümmern muss.« Beinahe hätte ich abfällig geschnauft, konnte es allerdings gerade noch unterdrücken. Was gingen mich seine Probleme an? »Seit wann ist dein Bruder hier und was hat er dir erzählt?« Ich riss die Augen auf. Diese Frage klang irgendwie komisch. Was sollte Utah mir denn erzählen?

»Er stand vorhin vor der Tür, als ich aus dem Krankenhaus kam.« Ich beobachtete ihn genau, aber er zeigte keine Reaktion auf diese Aussage. »Verraten hat er nicht wirklich viel. Die meiste Zeit hat er herumgedruckst. Immerhin weiß ich inzwischen zumindest, wer Dean gestern zusammengeschlagen hat. Der Typ heißt Tyson und kommt ebenfalls aus Miami.« Bloß das schien ihn weniger zu interessieren.

»Und sonst hat er nichts gesagt?«, bohrte er noch einmal nach.

»Nein.« Er atmete so deutlich aus, dass ich misstrauisch wurde. Irgendetwas musste Utah mit Mr. Kennedy zu tun haben. Ich konnte mir nur absolut keine Sache vorstellen, die das sein könnte.

»Wird er länger hierbleiben?«

»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Wir haben tatsächlich kaum geredet. Erst wollte ich ihn auch gar nicht hereinlassen. Weil ich immer noch so wütend auf ihn bin.« Das ging ihn zwar streng genommen nichts an, aber wenn ich mehr erzählte, dann tat er das vielleicht auch.

»Okay, dann hält er sich wohl wirklich an die Abmachung.« In einem Comic könnte man jetzt wahrscheinlich die Fragezeichen in meinen Augen sehen. Wovon - zum Teufel - sprach er da?

»Was für eine Abmachung?« Mr. Kennedy seufzte.

»Ursprünglich wollte ich nicht, dass ihr jetzt schon davon erfahrt, aber es lässt sich wohl nicht mehr verhindern«, druckste nun er herum. Mich machte das wahnsinnig. Was war nur heute mit den Leuten los? Warum erzählte er nicht endlich, was Sache war?

»Soll ich Utah wieder herüberrufen?« Eigentlich rechnete ich fest damit, dass er diesen Vorschlag ablehnen würde. Doch zu meiner Verwunderung stimmte er sofort zu. Also ging ich die wenigen Schritte hinüber zu Angela und klopfte dort an. Zu meiner Überraschung dauerte es ein paar Minuten, bis sich die Tür öffnete. »Alles in Ordnung?«, fragte ich Angela, die mich mit hochrotem Kopf hineinließ. Hatte Utah ihr etwa etwas getan? Tatsächlich saß er allerdings mit Unschuldsmiene auf dem Sofa. Aber ich kannte ihn besser. Irgendetwas war hier vorgefallen.

»Ja, alles bestens.« Irgendwie kam ihre Antwort zu schnell, doch jetzt blieb mir keine Zeit, weiter darauf einzugehen. Mr. Kennedy wartete auf uns.

»Utah, du musst mit rüber kommen. Mr. Kennedy möchte irgendwas mit uns besprechen.« Sofort erhob mein Bruder sich und kam zu mir.

»Dann wollen wir ihn nicht warten lassen. Das kann er nicht leiden.« Irgendwie verwirrte dieser Satz mich völlig. Woher wusste Utah, was Mr. Kennedy mochte oder nicht? »Bis später, Angel. Ich hoffe, wir sehen uns noch einmal.« Auch seine Verabschiedung von Angela war seltsam, aber ich hielt lieber meinen Mund. Möglicherweise hatte ich später etwas Zeit, um unter vier Augen mit meiner Freundin zu sprechen. Jetzt mussten wir hinüber, ich wollte auch endlich erfahren, was Deans Vater zu sagen hatte.

Als wir wieder drüben waren und ich die Tür hinter uns geschlossen hatte, stand Mr. Kennedy wieder auf, und begann, nervös im Raum auf und ab zu laufen. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Wo war der knallharte Geschäftsmann hin?

»Also, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Er blieb stehen und hielt sich mit den Händen an einem der Stühle fest. »Vielleicht sollten wir uns doch setzen.« Ich ärgerte mich zwar, dass er sich benahm, als wäre es seine Wohnung. Aber im Grunde war sie das ja wirklich. Außerdem wollte ich jetzt endlich wissen, was er von mir und meinem Bruder wollte. Der saß schon, kaum, dass Mr. Kennedy es ausgesprochen hatte. Seit wann ordnete er sich so schnell unter? Irgendwie lief heute nichts so, wie ich es kannte. Aber ich nahm brav Platz und wartete auf die Bombe, die wohl gleich platzen würde.

Destiny Arizona
Geständnisse

Zuerst kam gar kein Wort, Mr. Kennedy raufte sich nur die Haare. Doch dann sah er Utah plötzlich in die Augen und nickte ihm zu.

»Erzähl ihr die ganze Geschichte. Anders funktioniert es nicht.« Er seufzte schwer.

»Vor ein paar Monaten hat Mr. Kennedy mir einen Brief geschrieben und mich darin gebeten, mich als Stammzellenspender testen zu lassen. Für Mom. Du kannst dir vorstellen, wie entsetzt ich war.« Ich schnaufte laut und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Für uns war das garantiert nicht leichter gewesen. Trotzdem sprach er unbeirrt weiter. »Ari, versteh bitte, ich habe den Kontakt zu euch nur abgebrochen, weil ihr mir so viel bedeutet.« Nun gelang es mir nicht mehr, still zu bleiben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739497723
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Liebesroman Drama Krankheit Romance Liebe New Adult

Autor

  • Alina Jipp (Autor:in)

Alina Jipp wurde 1981 in einem kleinen Ort im Harz geboren und lebt, nach einigen Jahren an der Nordsee, nun mit ihren Kindern wieder dort. Sie liebt beides, die See und die Berge und würde am liebsten ständig pendeln. Das Schreiben ist ihr Ausgleich vom oft sehr stressigen Alltag, auch wenn sie erst 2013 damit angefangen hat, nun kann sie nicht mehr damit aufhören.