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Der Arzt meiner Tochter

von Alina Jipp (Autor:in)
338 Seiten
Reihe: Die Bakers, Band 1

Zusammenfassung

Ein Schicksalsschlag ändert Maddies Leben von einer Minute zur anderen. Auf einmal ist ihre Tochter schwer krank, ihr Mann hat eine Geliebte und die Krankenversicherung ist nicht bezahlt. Alles scheint hoffnungslos, doch Maddie gibt nicht auf und als der attraktive Dr. Baker ihr ein unmoralisches Angebot macht, nimmt sie es an, um ihr Kind zu retten. Aber was ist, wenn auf einmal Gefühle ins Spiel kommen, die nicht geplant waren?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Alina Jipp

 

Der Arzt meiner Tochter

 

Roman

 

Kapitel 1

Ich machte gerade eine kurze Pause, als mein Mann mich rief. »Maddie, kannst du mir kurz helfen?« John war meine geliebte bessere Hälfte und seit fünf Jahren mein Ehemann. Schnell verließ ich den aufgeräumten Schreibtisch in meinem ordentlichen Büro, um in sein Chaos zu gehen. Wir waren Ying und Yang, zwei Seiten einer Medaille oder einfach John und Maddie. Auch äußerlich waren wir das komplette Gegenteil voneinander. Während ich klein, zierlich und dunkelhaarig war, hatte er einen leichten Bauchansatz, der bei seiner Größe nur wenig auffiel, sein blondes Haar war kurz und lockig. Die kleinen Pölsterchen störten mich nicht weiter, denn so hatte ich etwas zum Ankuscheln.

»Was kann ich für dich tun, mein Süßer?«, fragte ich ihn, während ich um seinen Schreibtisch herum ging, um ihn zärtlich in den Nacken zu küssen.

»In spätestens 20 Minuten muss ich los zu Black & Black und ich finde die Akte nicht. Hilfst du mir bitte suchen?«, fragte er mich völlig verzweifelt und durchsuchte hektisch den nächsten Stapel Akten auf seinem Tisch. Manchmal fragte ich mich, warum hier mehr Ordner lagen, als wir Kunden hatten. Ein weiterer Stapel machte sich selbstständig und rutschte vom Tisch hinunter, sodass sich die losen Blätter auf dem Boden verteilten. John stöhnte genervt auf und ließ den Kopf hängen. Ich musste grinsen, es war doch immer dasselbe bei ihm.

 

Schon als wir uns vor sieben Jahren an der Uni in Los Angeles kennenlernten, war er das Chaos in Person. Ich wunderte mich noch heute, dass ich ihn vorher nicht gekannt hatte, obwohl er in unserem letzten Highschool-Jahr nach Aptos gezogen war und wir in einem Jahrgang gewesen waren. Ich hatte ihn zwar einige Male gesehen, mich aber nicht weiter mit ihm beschäftigt. An der Uni waren wir dann einer Arbeitsgruppe zugeteilt worden und ohne mich, hätte er seine Arbeiten nie rechtzeitig abgeben können. Nicht etwa, weil er den Stoff nicht verstand oder er zu faul war, etwas zu tun, sondern weil er seine Sachen nie wiederfand. Aber ich liebte ihn, so wie er war, und wollte ihn auch gar nicht anders haben.

»Mein lieber Chaos-König, die Unterlagen für B&B hast du mir gestern selbst gegeben, damit sie nicht verloren gehen«, erklärte ich ihm, ging dabei zu seinem fast leeren Aktenschrank und zog die gesuchten Unterlagen aus dem richtigen Fach heraus.

»Hier sind sie. Man kann Aktenschränke nämlich wirklich dafür nutzen, um etwas abzulegen«, erklärte ich ihm lächelnd. Nur gut, dass wir mit unserer eigenen kleinen Werbeagentur selbstständig waren. John war wahnsinnig kreativ und schuf wunderbare Kampagnen, aber ohne mich, würde er sie nie wiederfinden. Als Angestellter würde er wahrscheinlich hoffnungslos versagen. Mein Schatz strahlte über das ganze Gesicht, sodass seine Grübchen zu sehen waren. Oh Mann, wie sehr ich die liebte.

»Machst du jetzt Feierabend?«, fragte er mich.

»Ja«, antwortete ich glücklich, »ich muss gleich Paula abholen. Mom hat noch einen Termin beim Friseur.«

Paula war unsere kleine Tochter, unser Sonnenschein und ein süßer Wirbelwind. Sie hatte die hellblonden Haare ihres Vaters geerbt und im Moment standen diese in kurzen Borsten von ihrem Kopf ab. Sie hatte sich selbst die Haare abgeschnitten und von ihren ehemals süßen Locken, die sie von mir geerbt hatte, nur dass meine nicht blond, sondern dunkelbraun waren, war nichts mehr zu sehen. Zum Glück wuchsen Haare ja schnell nach.

Es war ein Risiko gewesen, so früh ein Kind zu bekommen und gleichzeitig eine eigene Firma aufzubauen, aber wir wollten es so. Unser Traum war es, eine große Familie zu haben und wir arbeiteten schon seit einigen Monaten daran, dass Paula ein Geschwisterchen bekam. Leider bisher vergeblich.

John griff nach seiner Jacke und machte sich auf den Weg nach Los Angeles. B&B war ein sehr wichtiger Kunde für uns, auch wenn die fünfeinhalb Stunden Autofahrt dorthin eine Herausforderung waren. Er musste wirklich aufpassen, dass er gut durch kam, um pünktlich dort zu sein. Da wir nicht aus Aptos wegziehen wollten, da hier unsere Familien lebten, die uns sehr wichtig waren, war es manchmal schwierig für uns, neue Aufträge zu bekommen. Obwohl sich fast alles über Internet und Telefon regeln ließ, wollten die Kunden meist keine kleine Werbeagentur, wenn diese nicht sozusagen direkt vor der Haustür lag.

Als er weg war, versuchte ich, sein Büro noch etwas aufzuräumen, allerdings schaffte ich das heute nicht komplett. Wie konnte ein einzelner Mensch nur alles so durcheinanderbringen? Ich fand Unterlagen von sechs verschiedenen Kunden und wer weiß, wie viele Ideen für Kampagnen. So gut es ging, sortierte ich alles, aber dann musste ich los, schließlich wollte ich meine Mutter nicht warten lassen. Deshalb schaltete ich nur noch den Anrufbeantworter an, machte alle Lichter aus und stellte die Alarmanlage an, dann lief ich schnell zu meinem Auto, um das kurze Stück zum Haus meiner Mutter zu fahren.

Sie und mein Vater hatten sich scheiden lassen, als ich vier Jahre alt war, jedoch hatten sie zwei Häuser nebeneinander, sodass ich immer guten Kontakt zu beiden halten konnte. Als Kind konnte ich jederzeit selbst entscheiden, ob ich lieber bei Mom oder Dad war. Heute musste ich zugeben, dass ich das manchmal ausgenutzt hatte. Vor allem in meiner Teenagerzeit, da hatte ich jedem der Beiden erzählt, ich sei jeweils beim Anderen und war in Wirklichkeit auf Partys gegangen.

Allerdings hatte ich es nie zu sehr übertrieben und mein damaliger Freund Andrew, bei dem ich zu der Zeit oft war, war noch heute mein bester Freund. Mittlerweile war mein Dad pensioniert, nachdem er einen Arbeitsunfall gehabt hatte. Früher war er Dachdecker gewesen und vor einigen Jahren von einer Leiter gefallen und hatte sich das Knie zertrümmert. Mittlerweile humpelte er zwar kaum noch, aber arbeiten konnte er nicht mehr mit der Verletzung. Damit ihm nicht die Decke auf den Kopf fiel, fuhr er, seit ich die Highschool abgeschlossen hatte, oft monatelang mit seinem Wohnmobil kreuz und quer über den Kontinent.

Meine Mom war Grundschullehrerin und teilte sich mit Johns Mutter, die Hausfrau war, die Betreuung von Paula. Die beiden Omas waren sich einig, dass so ein kleines Kind nicht in fremde Hände gehörte. Und so konnte ich schon kurz nach der Geburt wieder stundenweise ins Büro und meinen Mann davor retten, im Chaos zu versinken. Selbst die vierzehn Tage nach ihrer Geburt hatten schon gereicht, um eine mittlere Katastrophe auszulösen. Eine seiner Ideen fanden wir erst sechs Monate später wieder, da hatte er längst eine neue Kampagne für den Kunden erstellt. Wer kam denn auch auf die Idee, Unterlagen im Tiefkühlfach des Kühlschrankes zu suchen? Ich nicht! Und wir nutzten das Fach auch nur im Hochsommer, wenn wir mal etwas Eis im Büro brauchten. So dauerte es, bis ich diese Unterlagen irgendwann fand. Ich musste immer noch lachen, wenn ich an sein Gesicht dachte, als ich ihm die tiefgefrorenen Unterlagen grinsend unter die Nase hielt.

Auf dem Weg zu meiner Mutter träumte ich mal wieder davon, bald noch ein zweites Baby zu bekommen. Ein kleiner Junge wäre toll, aber über ein Mädchen würde ich mich genauso freuen. Ich träumte von der Zukunft mit zwei Kindern, als mich plötzlich ein Krankenwagen mit Blaulicht überholte. Mich beschlich ein komisches Gefühl, hoffentlich war bei meinen Lieben alles in Ordnung. ›Mach dich nicht verrückt, Maddie‹, dachte ich noch, als ich in die Straße einbog, in der meine Eltern lebten. Aber jetzt wurde mein schlechtes Gefühl bestätigt, der Krankenwagen stand direkt vor dem Haus meiner Mutter. Mein Herz zog sich schmerzvoll zusammen, hoffentlich ging es meiner Mom gut. Sie war doch erst Anfang sechzig, sportlich und lebte gesund. Vorsichtig parkte ich neben dem Krankenwagen, stieg aus und rannte ins Haus. Wenn ich allerdings geahnt hätte, was mich dort erwartet hatte, wäre ich noch viel schneller gelaufen.

Kapitel 2

Nicht meiner Mutter war etwas passiert, sondern mein kleiner Engel Paula lag auf der Trage der Rettungssanitäter und wurde gerade festgeschnallt, als ich das Wohnzimmer betrat. Entsetzt registrierte ich den Beutel mit Flüssigkeit, den einer der Sanitäter hochhielt und dessen Schlauch in einer Nadel im Arm meines Babys endete. Paula schien bewusstlos zu sein und war leichenblass. Schnell lief ich zu ihr und streichelte ihre Wange. Meine Mutter erklärte den Rettungsassistenten währenddessen, wer ich war. Meine Kleine reagierte nicht und meine Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, sie war nicht bei Bewusstsein. Was war nur los? Ich blickte verzweifelnd meine schluchzende Mutter an und hätte am liebsten einfach mitgeweint.

»Mom, was ist passiert?«, fragte ich völlig geschockt und rechnete damit, dass sie etwas von einem Unfall erzählte, doch dem war aber nicht so.

»Ich weiß es nicht«, schluchzte sie, »Paula hatte schon den ganzen Tag über Kopfschmerzen und dann ist sie plötzlich beim Spielen einfach umgefallen und wurde nicht mehr wach. Ich habe sofort den Rettungsdienst angerufen.«

»Was hat sie?«, verzweifelt sah ich den Rettungssanitäter an, aber der zuckte nur mit den Schultern.

»Kann ich so nicht sagen. Wir bringen sie jetzt ins Krankenhaus, dort kann sie genauer untersucht werden. Wir stabilisieren solange ihren Kreislauf. Wollen sie mitfahren?«, fragte er mit ruhiger Stimme. Was für eine Frage? Natürlich wollte ich mit, ich konnte meine Paula doch nicht alleine lassen. Eine Antwort ersparte ich mir und folgte den Sanitätern einfach in den Krankenwagen.

»Ich packe euch ein paar Sachen zusammen und komme dann nach«, rief meine Mutter uns noch hinterher, aber ich hörte ihr gar nicht wirklich zu, da ich nur Augen für Paula hatte. Sie sah so winzig und zerbrechlich aus, auf dieser großen Trage.

Der eine Sanitäter schwang sich auf den Fahrersitz und der andere deckte meine Kleine noch zu, ehe er sich neben sie setzte. Für mich wurde ebenfalls ein Sitz aufgeklappt. »Schnallen Sie sich bitte an, Mrs. Stone«, forderte er mich auf. Da John und ich schon unsere Werbeagentur »Stone&Stark« führten, als wir geheiratet hatten, hatte ich meinen Mädchennamen behalten und auch Paula trug diesen. Während der Fahrt stellte er mir einige Standardfragen über meine Tochter, die ich, wie ein Roboter, brav beantwortete, ohne groß nachzudenken. Kaum waren wir im Krankenhaus, wurde sie auch schon aus dem Wagen gehoben und schnell in ein Untersuchungszimmer gebracht. Ich lief einfach hinterher. Kurz darauf betrat ein Arzt den Raum und untersuchte meine Kleine wortlos.

»Mrs. Stone?«, sprach er mich dann endlich zum ersten Mal an.

»Warten Sie bitte im Warteraum, wir müssen einige Tests mit Ihrer Tochter machen.« Ich sah ihn entsetzt an.

»Kann ich dabei nicht bei ihr bleiben?«, fragte ich leise, aber er schüttelte den Kopf.

»Wir rufen Sie, sobald wir etwas Neues wissen. Jetzt müssen wir erst einmal heraus finden, was Ihrer Tochter fehlt«, antwortete er, drehte sich um und ging schnell davon. Ich starrte ihm minutenlang hinterher, bis mich eine Krankenschwester aufforderte, nun endlich den Wartebereich aufzusuchen.

Das Wartezimmer war ein trostloser, grau gestrichener Raum mit zwölf gelben Plastikstühlen. Ein abstraktes Bild hing an der Wand neben einem Kaffeeautomaten, ansonsten gab es nur ein kleines weißes Tischchen, auf dem ein paar Zeitschriften lagen. Zum Hinsetzen war ich viel zu aufgewühlt, also lief ich unablässig von der Tür zum Fenster und wieder zurück. In meinem Kopf kreisten die Gedanken unaufhörlich. Was hatte Paula? Hatten wir irgendetwas übersehen? War sie schon krank gewesen, als ich sie heute Morgen bei meiner Mutter gelassen hatte? Sie hatte wie immer gewirkt, aber vielleicht ging es ihr schon schlecht, als ich gefahren bin und ich hatte es einfach nicht bemerkt.

Ich brauchte zwanzig Schritte, um von einer Seite zur anderen zu gelangen. Also lief ich immer wieder diese zwanzig Schritte zum Fenster, warf einen Blick auf den grauen, verregneten Parkplatz, drehte mich um und lief wieder zurück, um einen Blick durch das Fenster in der Tür, auf den Gang zu werfen. Die Uhr, die dort hing, musste kaputt sein, die Zeiger bewegten sich kaum, egal, wie lange ich auch darauf starrte. Wie konnte die Zeit nur so langsam vergehen?

Ich versuchte mehrmals, John auf dem Handy zu erreichen, während ich auf und ab lief, aber er ging einfach nicht an sein Telefon. Wahrscheinlich hatte er es während der Fahrt auf lautlos gestellt. Beim wer weiß wievielten Blick durch das Fensterchen der Tür, sah ich meine Mutter den Gang entlang kommen. Schnell öffnete ich diese, um ihr entgegenzugehen. Die Warterei machte mich wahnsinnig, aber nun war ich wenigstens nicht mehr alleine.

»Weißt du schon, was sie hat?«, fragte Mom schluchzend und nahm mich in den Arm. Ich klammerte mich an sie und schüttelte traurig den Kopf.

»Sie untersuchen Paula noch, ich durfte nicht bei ihr bleiben«, flüsterte ich verzweifelt.

»Hast du John schon erreicht?«, fragte sie weiter und wieder konnte ich nur den Kopf schütteln.

»Er ist wahrscheinlich noch auf dem Weg oder er ist gerade bei B&B im Meeting. Es wäre unser erster wirklich großer Auftrag in L.A., wenn es klappen würde. Er wird sein Handy ausgeschaltet haben«, seufzte ich.

Warum musste gerade heute dieser Termin sein? Von Los Angeles hierher würde er Stunden brauchen und noch wusste er ja nicht, dass Paula im Krankenhaus war. Zum Glück hatte er meinen Vorschlag über Nacht in L.A. zu bleiben, abgelehnt und wollte gleich nach dem Termin zurückfahren. Ich schluchzte auf, als ich darüber grübelte, was mein Engel nur haben könnte. Meine Mom zog mich einfach in ihren Arm und führte mich zu einem dieser gelben Stühle. Wir setzten uns und ich lehnte meinen Kopf an ihre Schulter. Uns liefen beiden die Tränen über die Gesichter. Warum kam nur niemand und sagte mir, was los war? Ich hatte das Gefühl, schon mehrere Stunden hier zu warten. Als ich allerdings auf mein Handy sah, bemerkte ich, dass erst fünfundvierzig Minuten vergangen waren. Wie lange mussten wir wohl noch warten?

 

Auch nach zwei weiteren Stunden im Warteraum hatte ich John noch immer nicht erreicht. Nachdem die Krankenschwester an der Rezeption mich zweimal böse angemeckert hatte, traute ich mich auch nicht mehr nachzufragen. Kein Mensch kam, um mir zu sagen, was mit Paula los war.

Zwanzig endlose Minuten später ging endlich die Tür des Warteraumes auf und ein Arzt trat ein.

»Mrs. Stone?«, fragte er.

»Ja. Wie geht es Paula?«, fragte ich aufgeregt. In diesem Moment klingelte mein Handy, doch ohne hinzusehen, drückte ich den Anruf weg und schaltete es aus. Der Arzt räusperte sich.

»Handys sind im Krankenhaus verboten, Mrs. Stone. Aber nun zum Thema. Ich bin Doktor Taylor und habe Ihre Tochter untersucht. Sie ist jetzt wieder bei Bewusstsein, allerdings hat sie große Schmerzen und wir mussten ihr starke Schmerzmittel verabreichen.«

Dr. Tayler blickte mich nun traurig an. Ich ahnte bereits Schlimmes und hielt vorsorglich die Luft an.

»Leider habe ich keine guten Neuigkeiten für Sie, Mrs. Stone. Wir haben gleich einige Untersuchungen gemacht, um eine Kindesmisshandlung auszuschließen, deshalb durften Sie auch nicht dabei sein. Es tut mir leid, aber bei den Symptomen hätte es auch eine Kopfverletzung durch Schütteln sein können. Das konnten wir ausschließen, aber Ihre Tochter hat vielleicht einen Hirntumor. Ob es wirklich einer ist und wenn ja, ob dieser dann gut- oder bösartig ist, können wir ohne weitere Untersuchungen und eine eventuelle Operation nicht feststellen.«

Ich keuchte auf. Mein Baby sollte einen Hirntumor haben? Vielleicht bösartig? Sie ist doch erst drei Jahre alt, fast noch ein Baby. Das durfte einfach nicht sein!

»Mrs. Stone?«, riss der Arzt mich aus meinen Gedanken.

»Ihre Tochter muss so schnell wie möglich weiter untersucht werden. Hier bei uns ist das aber nicht möglich. Ich empfehle Ihnen, Ihre Tochter sofort nach Los Angeles verlegen zu lassen. Besprechen Sie das mit dem Vater und sagen mir oder meinen Kollegen Bescheid. Wenn Sie möchten, dürfen Sie nun zu ihr.« Ob ich möchte? Ich wollte nichts anderes, nur zu meiner Tochter und mich davon überzeugen, dass es ihr gut ging und der Arzt Unrecht hatte. Es durfte einfach nicht wahr sein.

Meine Mutter und ich folgten dem Arzt in das Zimmer, in dem meine Tochter lag. Sie sah so winzig und zerbrechlich aus in diesem riesigen Ungetüm von Bett. An den Seiten waren Gitter angebracht, damit sie nicht herausfallen konnte. Sie war an einen Überwachungsmonitor angeschlossen und hing an einem Tropf. Was war nur passiert? Heute Morgen hatte ich eine süße, gesunde und sehr aufgeweckte kleine Tochter und nun sollte sie vielleicht todkrank sein? Ich konnte und wollte es nicht glauben. So grausam konnte das Schicksal doch nicht sein.

Ich zog mir einen Stuhl ans Bett und setzte mich neben Paula. Immer wieder streichelte ich ihr zärtlich mit dem Zeigefinger über die Nase und die Wangen. Ich merkte gar nicht, dass meine Mutter auch noch da war und auch nicht, wie die Zeit verging.

»Maddie«, sprach meine Mutter mich irgendwann an, »ich gehe raus und versuche, John zu erreichen.«

Ich nickte nur und schämte mich; an ihn hatte ich gar nicht mehr gedacht, seit ich an Paulas Bett saß. Ich wusste nicht einmal, ob er der Anrufer gewesen war, den ich weggedrückt hatte. Paula war im Moment das Einzige, was noch für mich zählte und ich schwor mir, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um sie zu retten.

Nach einiger Zeit, waren es Minuten oder Stunden, ich konnte es nicht mehr sagen, kam meine Mutter zurück.

»Ich habe John auf die Mailbox gesprochen, er geht immer noch nicht an sein Telefon«, erzählte sie mir. Ich seufzte. Wo war er nur? Mittlerweile war es dunkel geworden, er hätte längst auf dem Heimweg sein müssen. Eine Schwester betrat das Zimmer.

»Die Besuchszeit ist vorbei, wollen Sie über Nacht hierbleiben, Mrs. Stone? Ich lasse Ihnen dann eine Pritsche aufstellen.« Sie sah mich mitleidig an, während sie sprach.

»Natürlich bleibe ich hier!«, sagte ich. Nichts und Niemand hätte mich daran hindern können.

»Schatz, ich gehe dann jetzt. Soll ich dir morgen früh ein paar Sachen bringen?«, fragte meine Mutter liebevoll.

»Danke, Mom, das wäre lieb. Und könntest du weiter versuchen, John zu erreichen?«, erwiderte ich.

»Natürlich, Maddie. Bleib stark, Paula braucht dich!«, sagte sie noch, ehe sie ging.

Ein Pfleger brachte die Pritsche für mich herein und stellte sie ans Fußende von Paulas Bett. Zum Glück hatte meine Mutter mir ein Nachthemd und eine Zahnbürste eingepackt. Nun lag ich auf der Liege und wartete darauf, dass John endlich kam, aber die Einzige, die das Zimmer ab und zu betrat, war die Nachtschwester. Sie kam jede Stunde um die Werte zu kontrollieren oder den Tropf zu wechseln. Ich lag ewig wach und konnte nicht einschlafen. Tränen liefen mir lautlos über das Gesicht und ab und zu schluchzte ich doch leise. Die Nachtschwester kam zurück und reichte mir eine Packung Taschentücher.

»Weinen Sie ruhig, das hilft. Sie müssen in nächster Zeit noch oft genug stark sein«, sagte sie leise und verließ das Zimmer. Hier lag ich nun, alleine bei meiner Tochter. Wie viel Zeit blieb mir noch mit ihr? Das waren meine letzten Gedanken, ehe ich erschöpft in einen unruhigen Schlaf fiel.

Kapitel 3

Die Nacht im Krankenhaus war schrecklich für mich und ich hatte kaum geschlafen. Nun war es sieben Uhr morgens und eine Krankenschwester gerade dabei, Paula zu waschen. Scheinbar waren die Medikamente gegen ihre Schmerzen so stark, dass sie selbst dadurch nicht richtig wach wurde. Ich schlich mich schnell hinaus, um John anzurufen, er hatte sich immer noch nicht bei mir gemeldet. Nach dem achten Klingeln nahm er endlich ab.

»Stark«, brummte er ins Telefon, anscheinend hatte ich ihn geweckt.

»John Stark, wo bist du und warum meldest du dich nicht?«, schimpfte ich gleich los, doch im selben Moment tat mir mein Verhalten schon wieder leid. Gerecht war das sicher nicht, das wusste ich auch, aber ich war völlig überfordert mit der Situation.

Die letzte Nacht hatte meine Kräfte aufgezehrt und ich wollte eigentlich nur noch, dass er zu mir kam und mich festhielt.

»Wo ich bin?«, motzte er zurück. »Wo bist du? Und wo ist Paula? Zwölf Anrufe von dir und wenn ich zurückrufe, drückst du mich weg? Ich komme nach Hause, um mit euch zu feiern und ihr seid verschwunden. Das hat mir echt den Abend verdorben.«

Ich holte tief Luft. Wie konnte er behaupten, dass ich ihm den Abend verdorben hätte? Dachte er, dass ich zum Spaß über Nacht weg war? Das hatte ich doch noch nie getan.

»Wir sind im Krankenhaus! Paula ist schwer krank und ich hätte dich gestern hier gebraucht! Ich musste mein Handy ausschalten, aber meine Mutter hat doch versucht, dich zu erreichen«, warf ich ihm vor. Ich hörte ihn schlucken.

»Fuck! Was hat sie? In welchem Krankenhaus? Santa Cruz Medical?«, fragte er kleinlaut. Ich bestätigte es.

»Ich komme sofort.«

Ich erklärte ihm noch, in welchem Zimmer wir waren und was er mir mitbringen sollte, danach legte ich auf. Dann eilte ich wieder zu Paula zurück, ich wollte sie keine Minute länger als nötig allein lassen.

Als ich das Zimmer wieder betrat, war sie endlich etwas wacher.

»Mommy, ich will nach Hause!«, jammerte meine arme Kleine kläglich. Schnell ging ich zu ihr und streichelte ihr über das Haar. Dabei besah ich mir das Bett etwas genauer und versuchte herauszufinden, wie ich die Gitter herunter lassen konnte. Als ich es endlich geschafft hatte, setzte ich mich vorsichtig auf den Rand des Bettes und legte ihren Kopf auf meinen Schoß. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht loszuweinen, aber für Paula musste ich stark sein.

»Soll ich dir etwas vorlesen, Engelchen?«, fragte ich daher. Ihr Lieblingsbuch war in der Tasche gewesen, die meine Mutter am Vortag mitgebracht hatte. An Bücher dachte sie immer. Paula und ich hatten ihre Liebe zum Lesen und zu Büchern geerbt. Aber selbst das wollte sie nicht.

»Mein Kopf tut so weh, Mommy. Hilf mir!«, bettelte sie stattdessen mit schmerzverzerrter Stimme. Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen. Ich klingelte nach einer Krankenschwester, mehr konnte ich leider nicht tun. Meine Hilflosigkeit trieb mir die Tränen in die Augen. Ich beschloss, sie so schnell wie möglich operieren zu lassen, sollte es nötig sein. Mein Baby sollte sich nicht so quälen müssen.

Endlich ging die Tür auf und in der Hoffnung, eine Krankenschwester zu sehen, drehte ich schnell den Kopf zur Tür, doch es war nur John. Oh Gott, was dachte ich da nur? Ich versuchte zu lächeln, um ihm zu zeigen, wie froh ich war, dass er endlich hier war, aber es wurde eher eine Grimasse, als ein Lächeln. Mehr brachte ich jetzt einfach nicht zustande.

»Was ist passiert? Warum seid ihr hier?«, fragte John aufgebracht, noch ehe ich etwas sagen konnte. Warum war er denn nun sauer?

»Paula ist gestern umgekippt und war bewusstlos. Die Ärzte haben sie dann untersucht…«, versuchte ich, die Situation zu erklären.

»Ach, und mich musstest du davon nicht unterrichten?«, schrie er mich an. Ich bebte vor Zorn, versuchte aber, Paula zuliebe, ruhig zu bleiben. Sie war bei Johns Lautstärke schon zusammen gezuckt und weinte nun noch heftiger, als zuvor. Sah er denn gar nicht, was er ihr antat?

»Paula hat Schmerzen. Meinst du, es hilft ihr, wenn wir uns hier anschreien?«, sagte ich betont leise.

»Wenn sie schläft, können wir das vor der Tür klären.« Zum Glück ging jetzt wieder die Tür auf und die Krankenschwester kam endlich.

»Meine Tochter hat starke Kopfschmerzen«, erklärte ich ihr. Sie nickte und warf einen Blick auf das Krankenblatt.

»Ich gebe ihr gleich etwas«, sagte sie und verließ das Zimmer wieder.

John stand noch immer an der Tür, sagte aber nichts mehr im Moment. Ich wusste, wie sehr er Krankenhäuser hasste, aber hier ging es um unsere Tochter.

»Komm doch näher, sie braucht uns nun beide«, forderte ich ihn auf, doch er blieb unbewegt an der Tür stehen.

»John?«, versuchte ich es weiter. Da drehte er sich um und verließ einfach das Zimmer. Paula sah ihm weinend nach und ich war einfach fassungslos.

»Warum geht Daddy wieder? Er hat nicht einmal Hallo gesagt«, fragte sie traurig und ich sah, wie sie mit den Tränen kämpfte. Ich war hoffnungslos überfordert. Was sollte ich ihr darauf nur antworten? Schließlich wusste ich gerade selbst nicht, was in ihm vorging. Normalerweise war er immer so ein liebevoller und aufmerksamer Vater, doch heute hatte er Paula kaum angesehen. Eine Antwort blieb mir aber erspart, da es kurz an der Tür klopfte und ein Arzt eintrat.

»Mrs. Stone?«, fragte er. »Haben Sie sich schon darüber Gedanken gemacht, ob Sie einer Verlegung zustimmen? Wir würden Ihre Tochter am liebsten sofort nach Los Angeles verlegen lassen. Die Ärzte dort wissen schon Bescheid und haben auch ein Bett für sie frei. Die Untersuchungen könnten dann bereits morgen früh starten und wenn es nötig ist, kann sie dort auch gleich operiert werden. Sie sollten nicht zu lange warten, damit die Kleine sich nicht unnötig quälen muss. Wir brauchen nur noch die Unterschriften von Ihnen und Ihrem Mann.« Ich schluckte, wo war nur John?

»Ich unterschreibe sofort und mein Mann müsste auch gleich kommen«, log ich. Ich hoffte, dass er wenigstens noch vor der Tür war.

»Am besten gehe ich eben kurz raus und rufe ihn an.«

Ich gab Paula noch einen Kuss und legte ihren Kopf dann vorsichtig auf das Kissen.

»Ich bin gleich wieder bei dir, Engelchen. Ich schaue nur schnell, wo Daddy ist«, flüsterte ich ihr zu und streichelte noch einmal sanft über ihr Haar, dann stand ich schnell auf und verließ das Zimmer. John war nicht auf dem Gang und auch nicht im Wartebereich, deshalb eilte ich nach draußen. Ich wollte meine Kleine nicht länger als unbedingt nötig allein lassen und endlich fand ich ihn auf dem Parkplatz an sein Auto gelehnt.

Er hatte den Kopf gesenkt und rauchte. Ich war so sauer auf ihn, dass ich ihn am liebsten geschüttelt hätte.

»John!«, zischte ich ihn regelrecht an. »Was soll der Scheiß? Unsere Tochter liegt da drin und ist schwer krank und du bist erst nicht zu erreichen und meckerst mich dann an, dass ich mich nicht gemeldet hätte? Weißt du eigentlich, wie oft ich gestern versucht habe, dich anzurufen? Und als mir das Telefonieren im Krankenhaus verboten wurde, hat meine Mutter es weiter versucht. Und jetzt kommst du da mit rein und unterschreibst, damit Paula nach Los Angeles verlegt werden kann. Sie soll dort morgen weiter untersucht werden um zu sehen, ob sie operiert werden muss.« Völlig verständnislos starrte er mich an.

»Op…operiert?«, stotterte er.

»Ja, sie hat vielleicht einen Hirntumor«, schluchzte ich. Ich brauchte jetzt alle Kraft für Paula und konnte nicht noch welche in einen Streit mit John stecken.

»Nun komm bitte, Paula braucht uns.«

»Keine Vorwürfe mehr?«, fragte er und meine Wut kochte wieder hoch. Machte er sich das nicht gerade etwas einfach? Aber in seinem Blick sah ich die Angst, um das Leben unserer Tochter, er konnte einfach nicht mit der Situation umgehen. Streiten konnten wir später, jetzt mussten wir schnellstmöglich wieder zu Paula und alles dafür tun, dass unserer Tochter geholfen wurde.

Ich schluckte meine Wut herunter und ging in Richtung der Tür.

»Komm bitte«, forderte ich ihn auf und wünschte mir nichts mehr, als dass er mich einfach in den Arm genommen hätte. Aber das tat er nicht. Fast widerwillig folgte er mir und vermied dabei jeglichen Körperkontakt. In Paulas Zimmer trafen wir die Schwester von vorhin wieder, sie verabreichte Paula gerade ein Schmerzmittel.

»Doktor Taylor ist in seinem Büro und erwartet Sie. Zimmer 402, das ist die zweite Tür rechts im Flur«, teilte sie uns mit. Wir eilten zu besagtem Büro und dann ging alles ganz schnell.

Als die Papiere fertig waren, beschlossen wir, dass ich mit Paula per Krankentransport fahren würde, während John die Sachen für uns einpacken und dann hinterherfahren würde. Er würde uns ein Zimmer in der Nähe der Klinik suchen, da wir nicht beide rund um die Uhr bei ihr bleiben konnten.

Keine zehn Minuten nachdem wir das Arztzimmer verlassen hatten, wurde Paula auf eine Trage geschnallt und zu einem wartenden Krankenwagen gerollt. Mir machte diese Geschwindigkeit Angst, wenn es alle so eilig hatten, war es wahrscheinlich noch schlimmer, als ich befürchtete. Wenigstens bekam sie von dem Transport nicht viel mit. Sie hatte starke Schmerzmittel bekommen, weil sie nur noch vor Kopfschmerzen gewimmert hatte. Die komplette Fahrt im Krankenwagen verschlief sie. Mein Baby tat mir so leid und die Hilflosigkeit machte mich wahnsinnig. Ich konnte nichts tun, außer ihre Hand halten und sie beruhigen, wenn sie weinte, ihre Schmerzen konnte ich ihr nicht nehmen. Während der Fahrt liefen mir immer wieder lautlose Tränen über das Gesicht. Gestern Morgen war sie noch gesund gewesen und jetzt? Ich verstand noch immer nicht, wie das so schnell gehen konnte.

In Los Angeles wurde Paula in ein Zimmer mit drei anderen Kindern gelegt, denen es allen ganz gut zu gehen schien. Das hatte den Nachteil, dass es ziemlich laut in diesem Zimmer war und meine arme Kleine wimmerte immer wieder vor Schmerzen. Ich bat die anderen Kinder mehrmals, doch bitte etwas ruhiger zu sein, aber es hielt immer nur wenige Minuten an, bevor es wieder laut wurde. John kam bald darauf und wir gingen ins Büro des zuständigen Arztes um die letzten Papiere für die Untersuchungen zu unterschreiben.

Die nächsten zwei Tage waren unheimlich nervenaufreibend. Paula musste zu unzähligen Untersuchungen und mir schwirrte der Kopf wenn ich an MRT, CT, EEG und die ganzen anderen Untersuchungen dachte, die bei ihr gemacht wurden. Zum Glück konnte ich wenigstens die meiste Zeit bei Paula bleiben. Darüber war ich wirklich froh, auch wenn es erschreckend war, wie sie aussah. Da sie nicht essen mochte und sich wegen der starken Schmerzen oft übergeben musste, sah man jetzt schon, dass sie abgenommen hatte. Außerdem war sie so blass wie noch nie in ihrem Leben. John ertrug das alles kaum und blieb immer nur kurz bei uns im Krankenhaus. Angeblich hatte er keine Zeit, weil er arbeiten musste, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er in dieser Situation kreativ sein konnte.

Irgendwann stand das schreckliche Ergebnis fest, vor dem wir uns gefürchtet hatten. Paula hatte wirklich einen Tumor und sollte so schnell wie möglich operiert werden. John und ich saßen in einem Büro und der Arzt, seinen Namen hatte ich völlig vergessen, klärte uns zunächst über den Ablauf der morgigen Operation auf. Er rechnete damit, dass diese mindestens vier bis fünf Stunden dauern würde und anschließend müsste Paula noch einige Tage auf der Intensivstation bleiben. Der Arzt verabschiedete sich von uns, nachdem er mir erklärt hatte, dass ich diese Nacht nicht bei Paula bleiben konnte. John kam nur noch kurz mit in Paulas Zimmer, ehe er auch schon wieder aus dem Krankenhaus verschwand.

»Ich kümmere mich um ein größeres Zimmer für uns, meins ist zu klein für uns beide«, sagte er nur noch, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Das Geräusch ließ Paula wieder wimmern und ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht mit zu weinen. Vor ein paar Tagen war unsere Welt noch in Ordnung gewesen und nun saß ich hier; meine Tochter hatte große Schmerzen und mein Mann hatte nichts Besseres zu tun, als ständig zu verschwinden.

Paula schlief dann zum Glück, trotz der anderen Kinder bald ein und eine Schwester betrat das Zimmer, um ihr noch etwas zu spritzen, und die anderen Kinder zum Schlafen aufzufordern, es war schon nach zwanzig Uhr.

»Mrs. Stone«, sagte sie dann. »Am besten gehen Sie jetzt auch und ruhen sich aus, morgen wird ein harter Tag für Sie werden. Die Operation ist um neun Uhr angesetzt, doch Sie können ab sieben Uhr wieder kommen und bei Ihrer Tochter bleiben, bis sie in den OP gefahren wird. Ich habe ihr jetzt ein Beruhigungsmittel gegeben, damit sie in der Nacht gut schläft.« Ihre Worte waren zwar freundlich, aber ihr Ton klang eher nach: ›Nun gehen Sie endlich und lassen uns unsere Arbeit machen, Sie stören hier nur.‹

Ich gab Paula noch einen Kuss und verließ dann leise das Krankenzimmer. Es fiel mir unglaublich schwer, mein Baby hier alleine zu lassen. Als ich vor der Tür angekommen war, rief ich erst einmal John an.

»Stark«, meldete er sich.

»John, könntest du mir sagen, wo du ein Zimmer bekommen hast? Ich wurde mehr oder weniger rausgeschmissen«, erklärte ich ihm.

»Warte vorm Krankenhaus, ich hole dich ab«, antwortete er und hatte schon aufgelegt. Sein Verhalten heute verstand ich absolut nicht, so kannte ich meinen liebevollen Chaoten gar nicht. Ich hatte große Angst, dass er mich am nächsten Tag wieder mit allem alleine lassen würde und beschloss noch an diesem Abend mit ihm zu reden.

 

Kapitel 4

Es dauerte fünfzehn endlose Minuten nach meinem Anruf bei John, bis er endlich kam, dabei hatte er doch gesagt, dass er ein Zimmer gefunden hatte, das nur zwei Minuten von hier entfernt läge. Ich stieg wortlos zu ihm ins Auto, körperlich und vor allem seelisch viel zu kaputt, um jetzt gleich mit ihm zu streiten. Eigentlich wollte ich nur noch, dass er mich einfach festhielt und mir versprach, dass alles wieder gut werden würde. Aber er sagte erst einmal gar nichts, sondern fuhr, ebenfalls schweigend, zu einer Pension ein paar Blocks vom Krankenhaus entfernt.

Immer noch, ohne etwas zu sagen, führte er mich an der Rezeption vorbei und in unser Zimmer. Dort setzte er sich auf das Bett und ließ den Kopf hängen. Sollte es nun so weiter gehen damit, dass wir uns einfach anschwiegen? Sonst redeten wir immer über alles, aber nun, da wir beide mit den Nerven am Ende waren, fiel uns das Reden auf einmal schwer. John war schließlich der Erste, der das Schweigen brach.

»Ich halte das nicht aus, Schatz«, erklärte er mit Tränen in den Augen.

»Paula so zu sehen, dann dieser Geruch im Krankenhaus…«, seine Stimme brach ab und nun weinte er wirklich. Ich hatte John bisher nur ein einziges Mal weinen gesehen und das war, als er vom Tod seiner Oma erfahren hatte, an der er sehr gehangen hatte. Sie war an Krebs erkrankt und hatte sehr leiden müssen, am Ende war ihr Tod nur noch eine Erlösung für sie gewesen. Monatelang hatte sie immer wieder im Krankenhaus gelegen und es war ein Sterben auf Raten gewesen. Seitdem hatte er große Probleme damit, ein Krankenhaus auch nur zu betreten.

»Es tut mir leid, dass ich dich damit die letzten Tage so alleine gelassen habe. Kannst du mir verzeihen? Ich halte es nicht aus, sie so zu sehen.« Flehentlich sah er mich an, seine Augen baten mich um Vergebung und ich warf mich einfach nur noch in seine Arme. Lange Zeit weinten wir beide, aber wenigstens war ich nicht mehr alleine mit meinem Schmerz. Er fühlte sich ebenso hilflos wie ich, wir hatten nur unterschiedliche Arten, damit umzugehen. Zusammen legten wir uns aufs Bett und ich kuschelte mich ganz eng an ihn. Endlich hielt er mich, endlich hatte ich eine Stütze und musste nicht alleine stark sein, sondern konnte schwach sein und mich gehen lassen. Den ganzen Tag hatte ich für Paula stark sein müssen. Jetzt konnte ich nicht mehr.

Langsam wurden unsere Tränen weniger und wir hielten uns einfach ganz fest, ohne etwas zu sagen. Ich sah ihm in die Augen und wischte vorsichtig seine letzten Tränen mit meinem Zeigefinger weg. Ganz sanft küsste ich ihn auf den Mund, ich brauchte jetzt unbedingt seine Nähe und Zuneigung. Auch er küsste mich jetzt und strich mir zärtlich mit der Zunge über die Unterlippe, liebkoste sie und biss kurz darauf leicht zu, ehe er wieder sanft darüber leckte. Mir entwich ein Stöhnen und dabei öffneten sich meine Lippen. Sofort war er mit seiner Zunge in meinem Mund und begann mit meiner Zunge zu spielen.

John wollte mehr, aber das konnte ich jetzt nicht. Ich konnte nicht mit meinem Mann schlafen, während ich in Gedanken bei Paula war, er sollte mich einfach nur festhalten. Damit ich auf andere Gedanken kam, erzählte er mir von dem Deal, den er mit B&B abgeschlossen hatte. Er war so stolz darauf und wollte Pläne mit mir machen, wie wir das angehen konnten.

»John, lass uns darüber reden, wenn Paula die OP überstanden hat. Ich habe den Kopf jetzt einfach nicht frei.«

John war beleidigt, aber das konnte ich nicht ändern. Die Sorge um Paula war zu groß, um mich über den Vertrag, den er abgeschlossen hatte, zu freuen, deshalb würgte ich das Thema ziemlich schnell ab. Solange unsere Tochter so krank war, konnte ich sowieso nicht daran arbeiten. Im Moment war sie das Einzige, das zählte. Obwohl ich wusste, dass er mindestens genauso unter der Situation litt wie ich, konnte ich nicht verhindern, dass ich mich über sein Verhalten ärgerte. Er hatte zwar Probleme mit Krankenhäusern und das respektierte ich, aber hier ging es nun mal um unsere Tochter. Konnte er nicht einmal für sie über seinen Schatten springen?

Ich wollte mich nicht gleich wieder mit ihm streiten, also verschwand ich schnell im Bad, um zu duschen. John folgte mir nicht, wie er es sonst oft tat und darüber war ich froh. Im Moment war einfach alles anders als sonst. Wir befanden uns im Ausnahmezustand. Es fühlte sich so falsch an hier zu sein, während Paula im Krankenhaus lag, aber mir blieb nichts anderes übrig. Jetzt war es erst zweiundzwanzig Uhr, noch neun Stunden ehe ich wieder bei Paula sein durfte und noch elf Stunden bis zur Operation.

Als ich wieder ins Zimmer kam, lag John quer auf dem Bett und schlief. Ich versuchte, ihn etwas zur Seite zu schieben, was mir aber nicht gelang. Deshalb nahm ich mein Handy aus der Handtasche und stellte den Wecker auf fünf Uhr dreißig, nur um nicht zu verschlafen. Danach versuchte ich noch einmal John zur Seite zu schieben, was mir aber wieder nicht gelang. Also zerrte ich die Decke mühsam unter ihm hervor und legte mich, so gut es eben ging, neben ihn und breitete die Decke über uns beiden aus. Viel Platz blieb mir nicht und besonders bequem war es auch nicht, so an der Kante des Bettes zu liegen, aber im Moment war es mir egal. Meine Gedanken kreisten sowieso nur um Paula. Sie musste die Operation einfach gut überstehen und danach wieder unser kleiner Wirbelwind sein. An die Risiken, die der Arzt uns aufgezählt hatte, durfte ich gar nicht erst denken: Tod – Koma – bleibende Hirnschäden, die eine geistige Behinderung, Taubheit oder auch Blindheit zur Folge haben könnten …

Ich setzte mich auf und versuchte, die Gedanken aus meinem Kopf zu bekommen.

»Nein!«, schrie ich fast, um sie zu vertreiben. John grunzte und drehte sich etwas zur Seite. Nun wäre mehr Platz im Bett für mich gewesen, aber ich konnte sowieso nicht schlafen, deshalb setzte ich mich in den Sessel und schaltete den Fernseher an. Was für ein Mist nachts im Fernsehen lief. Ich zappte durch die Programme und konnte nur immer wieder den Kopf schütteln. Bei Krankenhausserien schaltete ich noch etwas schneller um als sonst, die ertrug ich heute gar nicht. Schließlich blieb ich bei einer Naturdokumentation über Pumas hängen. Was für schöne Tiere es doch waren. Mein Blick wanderte zur Uhr. Es war kurz vor Mitternacht, noch sieben Stunden, bis ich wieder zu Paula durfte. John schnarchte mittlerweile leise vor sich hin und eigentlich sollte ich auch schlafen, allerdings wollte mich die Müdigkeit noch immer nicht übermannen, also zappte ich weiter … und blieb irgendwann an der nächsten Dokumentation hängen, diesmal über Braunbären und wie gut die Bärenmutter ihr Junges beschützte. Ich seufzte, schaltete den Fernseher ab und legte mich wieder hin. Noch sechs Stunden …

Irgendwann war ich wohl doch noch eingeschlafen, denn das Klingeln des Weckers riss mich aus furchtbaren Träumen, in denen ich an Paulas Grab stand. Tränen liefen mir über die Wangen.

Nachdem wir kurz geduscht und uns angezogen hatten, fuhren wir viel zu früh ins Krankenhaus.

Während der Fahrt sprachen John und ich mal wieder kein Wort miteinander. Sollte das jetzt etwa zur Gewohnheit werden? Unser ganzes Leben war auf den Kopf gestellt worden und nichts war mehr so, wie es sein sollte. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Meine kreisten nur darum, dass ich Paulas Leben gleich in die Hände der Chirurgen legen musste. War es wirklich die einzige Möglichkeit, die wir hatten, um ihr helfen zu können? Sie war bisher noch nie krank gewesen und jetzt würde sie vielleicht sterben. Nein! Daran durfte ich erst gar nicht denken. Unser Sonnenschein musste einfach wieder gesund werden.

Mein Handy klingelte und riss mich aus meinen Gedanken.

»Stone?«, meldete ich mich.

»Maddie, ich bin es, Mom. Gibt es etwas Neues? John hat gestern angerufen und gesagt, dass Paula heute operiert wird«, sagte meine Mutter. Siedend heiß fiel mir ein, dass ich völlig vergessen hatte, mich bei ihr zu melden. Gut, dass John wenigstens das getan hatte. Dankbar lächelte ich ihn an. Ich erzählte ihr, wann die Operation sein würde und sie versprach mir am Nachmittag, zusammen mit Johns Mutter, nach Los Angeles zu kommen.

»Matthew habe ich auch angerufen, er nimmt den nächstmöglichen Flug und kommt dann direkt ins Krankenhaus«, erzählte sie mir. Krampfhaft versuchte ich, die Tränen zurückzuhalten. Wie hatte ich meine Familie vergessen können? Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, meinen Dad anzurufen. Als ich schluchzte, beruhigte Mom mich.

»Ganz ruhig Schatz, wir verstehen alle, dass du nun nur an Paula denken kannst. Keiner ist dir böse!« Wir beendeten das Gespräch, da John auf dem Parkplatz des Krankenhauses hielt.

Wir gingen gleich in Paulas Zimmer. Eine Schwester war gerade bei ihr und hatte ihr schon ein OP-Hemdchen angezogen.

»Guten Morgen«, begrüßte sie uns und lächelte uns aufmunternd zu.

»Morgen«, antwortete John einsilbig, wahrscheinlich dachte er genau dasselbe wie ich. Dieser Morgen war alles andere als gut! Wir setzten uns rechts und links von Paula auf die Bettkante und hielten sie einfach fest. Am liebsten wäre ich für immer so sitzen geblieben, Arm in Arm mit John und Paula in der Mitte, als könnten wir sie vor allem Bösen beschützen. Aber das konnten wir nicht. Schneller als uns lieb war, kam die Krankenschwester wieder, verabreichte Paula ein Beruhigungsmittel und legte ihr die Zugänge für die Operation.

»Ich lasse Sie noch etwas alleine und komme dann mit einer Kollegin wieder, um Ihre Tochter in den OP zu bringen. Sie wird gleich müde werden und vielleicht sogar einschlafen«, erklärte sie uns ruhig und verließ das Krankenzimmer. Die anderen Kinder waren heute auch ruhiger als gestern und störten uns in den letzten Minuten, die wir vor der Operation mit Paula hatten, nicht. Dass es vielleicht die letzten Minuten mit ihr, in unserem Leben sein könnten … daran versuchte ich nicht zu denken.

Viel zu früh war es so weit und zwei Krankenschwestern kamen, um Paula zu holen. Ich gab ihr noch einen Kuss.

»Wenn du aufwachst, bin ich da, Süße. Alles wird gut. Ich liebe dich«, verabschiedete ich mich von ihr. John gab ihr nur einen Kuss, sagte aber nichts. Wir liefen bis zum Operationssaal hinter dem Bett her.

»Hier können Sie nicht mehr mit rein«, sagte die eine Schwester dann.

»Gehen Sie bitte in das Wartezimmer, Sie werden informiert, sowie Ihre Tochter aus dem OP kommt.« Wir küssten unsere Kleine, die nicht mehr viel mitbekam und fast schon schlief noch ein letztes Mal, dann fiel die schwere Metalltür hallend hinter ihnen ins Schloss. Dieses Geräusch würde ich nie wieder in meinem Leben vergessen können. Am liebsten hätte ich die Tür aufgerissen und Paula dort wieder herausgeholt. Ein beklemmendes Gefühl beschlich mich. Würde ich mein Engelchen je wieder sehen und wenn ja, würde sie dann wieder die Alte sein?

Nachdem ich die Tür wohl einige Minuten lang angestarrt hatte, nahm John meine Hand und führte mich wortlos zum Wartebereich. Hier in Los Angeles war das kein abgeschlossener Raum, sondern einfach eine Ecke am Ende des Flures, von dem der Operationssaal abging. Dort standen drei grüne Bänke und ein Kaffeeautomat, das war alles. Über dem Kaffeeautomaten hing eine überdimensionale Uhr, die laut tickte. Tick Tack, Tick Tack, Tick Tack. Das Geräusch machte mich schon nach wenigen Minuten verrückt. John hielt es jetzt schon nicht mehr aus, aber das kannte ich ja von ihm.

»Ich gehe eine Zigarette rauchen«, murmelte er und verließ den Wartebereich in schnellen Schritten, ohne auf eine Antwort von mir zu warten. Ich sah ihm nach und hoffte, dass er mich nicht lange alleine lassen würde. Ich setzte mich auf eine der Bänke, zog die Füße hoch und umklammerte meine Knie. Dieses Warten war die Hölle, still liefen mir die Tränen über das Gesicht.

Tick Tack, Tick Tack. Quälend langsam schlichen die Minuten dahin und John war immer noch nicht wieder gekommen. Ob ich wohl mal nachsehen sollte, wo er war? Doch er war erwachsen, und würde schon nicht verloren gehen. Aber Paula war hinter der grauen Metalltür auf diesem Flur, ich konnte hier nicht weg. Allerdings konnte ich auch nicht mehr still sitzen und fing deshalb an, den Flur hoch und runter zu wandern. Ein weiteres Bett wurde herangefahren und zwei Schwestern verschwanden mit dem nächsten Patienten, einem älteren Mann, im OP Bereich, dort mussten wohl mehrere Operationssäle sein. Die Schwestern kamen nach einiger Zeit miteinander redend und lachend wieder heraus, für sie war es einfach ein ganz normaler Arbeitstag. Wie gern hätte ich auch einen normalen Arbeitstag gehabt, um dann zu meiner gesunden Tochter zurückkehren zu können. Ich tigerte den Flur weiter auf und ab, um dem Ticken der Uhr zu entkommen, das mich verrückt machte. Weitere Patienten wurden in den OP-Bereich gebracht und Ärzte und Schwestern gingen dort ein und aus. Im Wartebereich war ich nun auch nicht mehr alleine. Auf einer Bank saß eine Frau und las seelenruhig in einem Buch, ab und zu schmunzelte sie sogar beim Lesen. Wie konnte sie hier sitzen und dabei so gelassen sein? Wartete sie nicht auf einen Angehörigen, der auf dem OP-Tisch lag? Ich fühlte mich so alleine, wie noch nie in meinem Leben. Wo blieb John nur?

Nun war Paula schon fast eine Stunde im OP und mein Mann noch immer nicht zurück. Ich lief weiterhin den Flur auf und ab und auf und ab. Ein anderes kleines Mädchen wurde in den OP-Bereich gefahren. Ich beobachtete neidisch, wie liebevoll der Mann sich um seine Frau kümmerte, als diese zu weinen anfing, nachdem die Tür zugefallen war. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Warum war John nicht so? Bisher hatte ich ihn immer für den perfekten Mann gehalten, aber jetzt, da ich ihn brauchte, war er nicht für mich da.

Ich überlegte, wann er je für mich da gewesen war und musste mir eingestehen, dass es in unserer Beziehung eigentlich immer eher andersherum war. Ich war für John da und kümmerte mich um all seine Probleme. Ich selbst brauchte selten Hilfe, da ich schon immer ein sehr selbstständiger Mensch war, doch John hatte nie gelernt, sich alleine durchzuschlagen. Seine Mutter und seine Großmutter hatten immer alles für ihn geregelt, deshalb kam er mit der Krankheit und dem Tod seiner Großmutter auch nicht klar.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er wieder und nahm mich endlich in den Arm. Er sah aus, als würde er jede Sekunde zusammenbrechen.

»Wo warst du solange?«, fragte ich ihn. Er sah mich unsicher an und zögerte lange.

»Maddie, ich habe Scheiße gebaut, große Scheiße!«, flüsterte er fast schon verzweifelt. Unsicher sah ich ihn an. Was hatte er getan und warum musste er es ausgerechnet jetzt erzählen, während Paula operiert wurde? Hatte ich nicht schon genug Sorgen? Ich fragte nicht nach, sondern wartete, bis er von sich aus mit der Sprache rausrückte.

»Maddie, ich … wir … ich. Ach Scheiße, ich kann das nicht«, stotterte er herum und fing dabei fast an zu weinen. Langsam wurde ich wirklich sauer.

»Was ist so wichtig, dass du es mir jetzt sagen musst, während unsere Tochter dort drinnen auf dem OP-Tisch liegt?«, fuhr ich ihn an und zeigte dabei auf die Metalltür. Er schien immer kleiner zu werden.

»Ich … ich habe die Krankenversicherung nicht bezahlt«, schluchzte er schließlich.

Ich war sprachlos und konnte ihn nur entsetzt anstarren. Das konnte doch jetzt nicht sein Ernst sein!

»Aber den Überweisungsbeleg hatte ich dir doch gegeben, als du zur Bank gegangen bist, zusammen mit der Miete und den anderen Sachen, die bezahlt werden mussten. Wie konntest du das vergessen?«, fragte ich verzweifelt. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was das nun für Paula bedeuten konnte. Die Kosten für die Operation und die Nachbehandlung waren unkalkulierbar. Wie sollten wir das alles nur bezahlen können? Und was würde das Krankenhaus machen, wenn sie erfuhren, dass Paula doch nicht versichert war, wie wir angegeben hatten?

John sagte lange nichts, sondern starrte nur auf den Boden.

»Ich brauchte das Geld und dachte, die Versicherung sei nicht so wichtig. Wir waren doch nie krank«, flüsterte er. Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt und geschlagen, doch ich ballte nur meine Hände zu Fäusten und versuchte, mich zusammenzureißen, das hätte jetzt auch nichts mehr gebracht.

»Wofür brauchtest du das Geld?«, fragte ich daher nur eiskalt. John zuckte zusammen.

»Du … ähm… also… Jeany. Du erinnerst dich?«, stotterte er. Natürlich erinnerte ich mich an Jeany Stanson, sie hatte mit uns zusammen studiert und hatte sich immer wieder an John rangeschmissen.

»Jeany? Jeany Stanson?«, mühsam unterdrückte ich meinen Wunsch, ihn anzuschreien. Jeany konnte mich nie leiden und neidete mir nicht nur John, sondern auch meine guten Noten. Sie selbst hatte nur mit Ach und Krach die Prüfungen geschafft und dann herumerzählt, dass ich nur wegen John durch gekommen sei und wahrscheinlich noch mit dem Prüfer geschlafen hätte.

»Warum brauchtest du ausgerechnet für sie unser Geld?« Wieder bekam John zuerst den Mund nicht auf und ich musste mich wirklich zusammenreißen, um nicht loszubrüllen. Er konnte froh sein, dass wir hier im Krankenhaus waren. Ich wollte endlich wissen, was er getan hatte.

Aber gerade in diesem Moment öffnete sich diese bedeutungsvolle Metalltür, und der Arzt, der uns gestern über die Operation aufgeklärt hatte, kam auf uns zu.

»Mrs. Stone, Mr. Stark, würden Sie bitte mit in mein Büro kommen?«, bat er uns höflich. Wieso in sein Büro? Ich wollte zu meinem Kind.

»Wie geht es Paula? Ist alles gut gelaufen?«, fragte ich und ein ganz komisches Gefühl beschlich mich. Mein Baby war doch nicht etwa gestorben?

»Kommen Sie bitte mit in mein Büro, dann erkläre ich Ihnen alles«, sagte der Arzt. Das klang nicht gut, absolut nicht gut. Beklommen folgte ich dem Arzt. Als John meine Hand griff, drückte ich sie kurz und hielt sie dann ganz fest. Egal was mit Jeany war, das Einzige, was jetzt in diesem Moment zählte, war Paula! Und ich konnte jeden Halt brauchen, den ich bekommen konnte.

Das Büro des Arztes war nicht weit entfernt. An der Tür hing auch sein Namensschild. Dr. Weber hieß er.

»Setzen Sie sich doch bitte«, forderte er uns auf und zeigte auf zwei mit schwarzem Leder bezogene Stühle vor seinem Schreibtisch. Er selbst setzte sich hinter den Tisch und sah uns ernst an.

»Also die Operation Ihrer Tochter ist eigentlich gut verlaufen«, fing er dann an. Eigentlich? Das klang so, als wäre doch etwas schief gegangen.

»Eigentlich?«, fragte ich daher flüsternd. Ich hatte große Angst vor dem, was nun kommen würde.

»Ja, die Operation ist gut verlaufen, wir konnten den Tumor vollständig entfernen, ohne wichtige Bereiche des Gehirns zu schädigen. Ob er gut- oder bösartig war, können wir natürlich erst nach der genaueren Untersuchung in der Pathologie sagen«, erklärte er ruhig. Das klang doch bisher ganz gut und doch spürte ich, dass es das noch nicht gewesen war.

»Allerdings ist der Druck im Gehirn zu stark gewesen und trotz all unserer Bemühungen ist Paula ins Koma gefallen. Wir sind allerdings zuversichtlich, dass sie bald wieder aufwachen wird.«

Die ganze Welt schien still zu stehen, ich sah alles nur noch wie durch einen Nebel und in meinem Kopf hallte nur noch ein Wort … Koma. Mein Baby lag im Koma. Weinend brach ich zusammen.

 

Kapitel 5

Ich überlegte gerade, wie es weiter gehen sollte, aber ich konnte einfach keine Lösung finden. Meine Mutter, die mich ansprach, ignorierte ich völlig. Die Tage nach der Schreckensnachricht waren wie im Nebel an mir vorbeigegangen, aber dann hatte ich mich aufgerappelt und einfach funktioniert. Die neuen Nachrichten der Ärzte waren eigentlich positiv. Der Tumor war gutartig gewesen und konnte vollständig entfernt werden. Er würde sehr wahrscheinlich nicht wieder kommen und Paulas Hirnströme waren normal. Die Ärzte gingen nicht von bleibenden Schäden aus. Nun musste sie nur noch aufwachen, doch genau das tat sie nicht und keiner konnte uns sagen, warum sie es nicht tat. Fünf lange Wochen lag sie bereits im Koma und schon mehrmals hatten die Ärzte mit mir darüber reden wollen, sie in ein Pflegeheim verlegen zu lassen. Aber das konnte ich nicht, für mich war das gleichbedeutend damit, Paula aufzugeben. Sie war krank und kein Pflegefall, sie musste einfach wieder gesund werden. John und ich sprachen kaum noch miteinander, ich konnte immer noch nicht glauben, was er mir am Abend nach Paula Operation gestanden hatte. Wieder wanderten meine Gedanken an diesen Abend zurück.

Wir hatten gerade unser Pensionszimmer betreten. John hatte mich abgeholt, nachdem ich stundenlang an Paulas Bett gesessen hatte, er selbst war immer nur kurz da gewesen, ehe er wieder geflüchtet war. Sein Geständnis konnte ich immer noch nicht fassen. Wie konnte er ausgerechnet die Krankenversicherung nicht bezahlen und was hatte Jeany damit zu tun? John lief nervös im Zimmer auf und ab.

»Nun erzähl mir schon alles, bevor ich durchdrehe!«, schrie ich ihn an. Sofort ließ er den Kopf hängen.

»Maddie. Schatz. Oh Mann, ist das schwer«, stammelte er vor sich hin. Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt, warum machte er den Mund nicht auf?

»Weißt du noch, am Ende der Studienzeit, als es bei uns gekriselt hat?«, fragte er und ich überlegte, was nun kommen sollte. Kurz vor unserem Examen hatten wir einen riesigen Streit gehabt. Wir waren beide im Lernstress gewesen und wegen einer Kleinigkeit kam es zu dem Streit, der fast unsere Beziehung beendet hätte.

John holte tief Luft.

»Ich hatte damals einen One-Night-Stand mit Jeany und sie wurde schwanger«, sagte er so schnell, dass ich es kaum verstehen konnte. Ich war sprachlos, er hatte mich betrogen? Jeany war schwanger gewesen? Ich fragte mich, ob unsere ganze Ehe eine Lüge gewesen war.

»Sie hat abgetrieben«, fuhr er fort und ich zog zischend die Luft ein. Abtreibung war etwas, was ich gar nicht nachvollziehen konnte.

»Und wir hatten keinerlei Kontakt mehr. Bis ich sie beim ersten Termin bei B&B traf. Sie arbeitet dort als Sekretärin und das mit ihrem Abschluss. Sie hat ihr Leben bis heute nicht auf die Reihe bekommen und ich bin schuld. Sie hat die Abtreibung sehr bereut. Außerdem hatte sie gerade ihre Wohnung verloren und wusste nicht wohin, deshalb habe ich versprochen, ihr bei der Wohnungssuche zu helfen und sie finanziell zu unterstützen. Aus diesem Grund habe ich ihr auch das Geld für die Mietkaution ihrer neuen Wohnung gegeben. Nach dem Termin bei B&B, bei dem wir den Auftrag bekommen haben, war ich mit ihr feiern unseren Auftrag und ihre neue Wohnung.« Nun reichte es mir.

»Und hast du mich da wieder betrogen?«, schrie ich ihn an.

»Während ich mit unserer Tochter im Krankenhaus war und dich gebraucht hätte, warst du bei ihr?« Er hatte es nicht bestätigt und nur den Kopf hängen lassen, aber das sagte mehr als tausend Worte. In mir war in diesem Moment etwas zerbrochen.

Seit dem Gespräch sahen wir uns nur noch ab und zu im Krankenhaus. Mittlerweile war klar, dass die Versicherung nicht zahlen würde und wenn ich nicht an Paulas Bett saß und ihr stundenlang vorlas oder ihr Geschichten erzählte, versuchte ich, Geld zu organisieren. Mein Vater hatte eine Hypothek auf sein Haus aufgenommen, genau wie Johns Eltern. Meine Mutter gab mir all ihre Ersparnisse und selbst Andrew, mein bester Freund, half uns, indem er Spenden für Paula sammelte. John arbeitete wie verrückt und ich hatte auch meinen Laptop überall dabei und arbeitete bis spät in die Nacht an Paulas Krankenbett. In mein Pensionszimmer ging ich nur noch, wenn die Schwestern mich herauswarfen, einige ließen mich jedoch die ganze Nacht an ihrem Bett sitzen.

Auch wenn unsere Ehe wohl gescheitert war, John und ich waren immer noch Eltern und Geschäftspartner und hatten nur ein Ziel – unsere Tochter zu retten. Schlafen konnte ich kaum noch, genau wie essen. Ich bekam einfach kaum noch etwas herunter und könnte mittlerweile wahrscheinlich als Model arbeiten, so dünn war ich geworden. Die Sorgen um Paula und darüber, wie wir das ganze Geld für ihre Behandlung auftreiben sollten, fraßen mich auf. Die Rechnungen waren wahnsinnig hoch und unser Schuldenberg wuchs täglich.

»Maddie!« Meine Mutter riss mich wieder aus meinen Gedanken.

»Du kommst jetzt mit und wir gehen etwas Essen. So geht es nicht weiter, wenn du zusammenbrichst, ist Paula auch nicht geholfen.« Sie nahm einfach meine Hand und zerrte mich von Paulas Bett weg. Ich streichelte ihr noch einmal vorsichtig über die Haarstoppeln, die nun auf ihrem Kopf wuchsen. Für die OP war sie fast vollständig kahl rasiert worden. Wehmütig dachte ich an ihre Stachelhaare zurück. Ich sehnte mich nach der Zeit, als mein Kind gesund, meine Ehe intakt und mein größtes Problem war, dass Paula sich selbst die Haare geschnitten hatte. Diese glückliche Zeit schien Ewigkeiten her zu sein, dabei waren es nur ein paar Wochen, die seitdem vergangen waren.

Als ich den Weg zur Krankenhauskantine einschlagen wollte, schüttelte meine Mutter den Kopf und zog mich in Richtung des Ausgangs.

»Schatz, du musst auch mal wieder etwas Anderes sehen, als immer nur das Krankenhaus. Du gibst dich selbst ja völlig auf.« Ihre Stimme klang tadelnd, als sie das sagte. Was erwartete sie denn von mir? Sollte ich fröhliche Partys feiern, während mein Baby hier im Krankenhaus lag? Ich wollte nicht von ihr weggehen. Was wäre, wenn es ihr schlechter ging oder wenn sie aufwachen würde? Dann wollte ich bei ihr sein.

»Wir gehen zum Italiener um die Ecke. Das wird dir guttun«, bestimmte sie.

»Ich habe der Stationsschwester Bescheid gesagt, dass du eine Zeit lang weg bist. Wenn irgendetwas mit Paula ist, wird sie dich anrufen.«

Wir gingen schweigend zu einem kleinen italienischen Restaurant. Das Bella Italia war wirklich sehr gemütlich eingerichtet, meine Mutter bat um einen ruhigen Tisch und wir wurden zu einer kleinen Nische geführt. Wir saßen schweigend da, bis die Kellnerin unsere Bestellung – eine Pizza für mich und Lasagne für meine Mutter – aufgenommen hatte.

Sie blickte mich ernst an.

»Maddie, wir müssen reden«, fing sie an.

»Dr. Snow hat mit John gesprochen und er dann mit uns. Du weigerst dich ja, mit ihm über ein Pflegeheim für Paula zu sprechen und er hat Recht, Paula kann nicht ewig im Krankenhaus bleiben. Schatz, du musst dich für ein Heim entscheiden und dein Leben weiter leben!« Entsetzt sah ich sie an.

»Mom!«, sagte ich aufgebracht.

»Wie kannst du nur so etwas sagen? Ich kann Paula doch nicht aufgeben, sie ist mein Kind. Ich kann sie nicht einfach in ein Pflegeheim abschieben.«

»Und John ist dein Ehemann, er braucht dich auch«, versuchte meine Mutter, mich zu beruhigen, nur erreichte sie damit genau das Gegenteil.

»Wenn John jemanden braucht, soll er doch zu Jeany gehen! Ich fasse es nicht, dass er es gewagt hat, damit zu dir zu gehen. Und das nach allem, was er getan hat«, schrie ich sie an und wollte nur noch weglaufen. Aber meine Mutter hielt mich fest und ich brach weinend in ihren Armen zusammen. Es war einfach alles zu viel.

Irgendwann stand die Kellnerin mit dem Essen neben uns und sah mich verstört an. Wahrscheinlich hielt sie mich für verrückt, aber was andere von mir hielten, war mir im Moment wirklich völlig egal. Ich richtete mich auf und ging schnell zur Toilette, um mich etwas frisch zu machen. Als ich mein Spiegelbild sah, seufzte ich. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, ging ich zum Tisch zurück, und wir begannen an, zu essen.

»Maddie, ich muss dir etwas erzählen und vielleicht verstehst du dann, warum ich das eben gesagt habe. Du weißt, dass dein Vater und ich geheiratet haben, als ich gerade zwanzig war«, fing sie an zu erzählen und ich nickte. Meine Eltern hatten sehr früh geheiratet, mich aber erst fünfzehn Jahre nach ihrer Hochzeit bekommen, um sich dann vier Jahre später scheiden zu lassen.

»Wir haben geheiratet, weil ich schwanger war.« Ich starrte sie mit offenem Mund an. Davon, dass ich kein Einzelkind war, hatte mir nie jemand etwas erzählt.

»Bitte unterbrich mich nicht, auch wenn es dir schwerfällt«, bat sie mich eindringlich und so sagte ich nichts.

»Mir fällt es auch schwer, darüber zu reden. Ben wurde nur sechs Monate nach der Hochzeit viel zu früh geboren. Er lag monatelang im Krankenhaus und als wir ihn mit nach Hause nehmen durften, war klar, dass er nie ein normales Leben würde führen können.« Sie kämpfte sichtbar mit sich, die richtigen Worte zu finden. »Er war körperlich und geistig schwer behindert und musste dauerhaft beatmet werden. Ich tat alles für ihn und gab mich selbst völlig auf. Ich lebte sechs Jahre lang nur für Ben, bis er starb. Mit ihm starb damals auch ein Teil von mir. Ich konnte gar nichts anderes mehr, als mein krankes Kind zu versorgen. Ich hatte keine Freunde mehr, keinen Job und keine Hobbys …« Sie sah mir tief in die Augen.

»Mach nicht denselben Fehler wie ich, Maddie. Es hat Jahre gedauert, bis ich wieder ein normales Leben führen konnte und dann endlich bekam ich dich. Matthew und ich beschlossen, dir nichts von Ben zu erzählen. Wir wollten dich nicht damit belasten. Allerdings hatte er seine Meinung mit der Zeit geändert, was immer öfter zu Streit führte und als ich die letzten Fotos von Ben vernichtet hatte, trennte er sich von mir. Heute fragte ich mich oft, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er gleich gestorben wäre. Das hätte uns und vor allem ihm viel Leid erspart. Es hätte unser Leben viel einfacher gemacht. Und wir hätten früher eine normale Familie haben können, mit dir und Matthew …« Sie brach ab und blickte traurig auf ihren Teller. Sprachlos starrte ich meine Mutter an. War das ihr Ernst? Wollte sie damit etwa auch sagen, dass es besser wäre, wenn Paula sterben würde? Wie konnte sie das auch nur andeuten?

Einige Minuten saßen wir beide schweigend da und hingen unseren Gedanken nach.

»Sei mir bitte nicht böse, Maddie«, flehte meine Mutter dann.

»Ich bin nicht herzlos, auch wenn es dir vielleicht so erscheint. Ich liebe Paula, aber ich möchte nicht, dass es dir in ein paar Jahren so geht wie mir. Ich nehme bis heute Tabletten, weil ich eine Depression habe.« Auch davon hatte ich keine Ahnung, was hatte meine Mutter mir noch alles verschwiegen?

»Mom, ich brauche Zeit, um das alles zu verarbeiten. Bitte lass mich jetzt alleine wieder zu Paula gehen«, sagte ich und stand auf. Sie drückte mir noch einige Prospekte von Pflegeheimen in die Hand und am liebsten hätte ich diese gleich entsorgt. Meine Mutter schien meine Gedanken zu erraten.

»Sieh sie dir wenigstens in Ruhe an«, bat sie mich. Ihr Blick folgte mir, als ich aus dem Restaurant eilte. Ich wollte nur noch schnell wieder zu meinem Engel zurück.

Wie sollte ich mit der Geschichte meiner Familie umgehen? War nicht nur meine Ehe eine Lüge, sondern mein ganzes Leben? Völlig in Gedanken versunken rannte ich fast durch die Eingangshalle des Krankenhauses und die Treppen hoch zur Neurologie. Die Geduld auf den Aufzug zu warten, hatte ich jetzt nicht und die zwei Etagen konnte ich auch zu Fuß hochgehen. Im Flur der Station rannte ich in einen Arzt. Ich hatte ihn einfach nicht gesehen.

»Hoppla«, lachte er.

»Das hier ist ein Krankenhaus und kein Sportplatz, Miss.« Ich wollte mich eigentlich entschuldigen, aber als ich den Blick hob, konnte ich ihm nur in seine funkelnden grünen Augen blicken und brachte kein Wort mehr heraus. Wie hypnotisiert blieb ich stehen und starrte ihn an. Eigentlich kannte ich alle Ärzte auf dieser Station, aber ihn hatte ich hier noch nie gesehen. Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln und seine Augen funkelten. Ich riss mich aus meiner Starre, murmelte eine Entschuldigung und verschwand schnell in Paulas Zimmer. Beim Tür schließen bemerkte ich noch, dass er mir nachsah.

Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Warum reagierte ich so komisch auf diesen fremden Arzt? Das war doch sonst nicht meine Art. Ich kannte ihn ja gar nicht, aber er hatte irgendetwas in seinem Blick, das mich magisch anzog. Und dann noch dieses schiefe Lächeln … Mit erneutem Kopfschütteln versuchte ich, ihn aus meinen Gedanken zu vertreiben. Was war nur mit mir los? Ich ging zu Paulas Bett und küsste sie vorsichtig auf die Stirn, dabei streichelte ich ganz sanft mit zwei Fingern über ihre Wange.

»Mein Baby, ich gebe dich nicht auf. Ich werde alles tun, Kleines, damit dir geholfen wird. Alles!«, versprach ich ihr zum wiederholten Mal. Ein Pflegeheim kam für mich absolut nicht in Frage. Das hieße ja so viel, wie die Hoffnung auf Paulas Heilung aufzugeben, und das konnte und wollte ich nicht.

Ich griff nach meinen Laptop und loggte mich in mein E-Mail Postfach ein. Schon wieder sechs neue Mails von John, nahm ich seufzend wahr. Er kam alleine im Büro einfach nicht zurecht und nachdem er wieder mal nichts mehr gefunden hatte, scannte er nun alles ein und schickte mir alle möglichen Unterlagen per Mail. Auch wenn wir kaum noch miteinander sprachen, so schafften wir es, immer noch zusammen zu arbeiten. Aber es war sehr kompliziert. John bat mich in seinen Mails ständig, doch wieder nach Aptos zu kommen, um ihm im Büro zu helfen, aber ich konnte und wollte Paula nicht alleine lassen. In der letzten Mail stand, dass er heute wieder vorbeikommen wollte. Das kam auch immer seltener vor, in dieser Woche war er noch gar nicht im Krankenhaus gewesen. Ich nahm ihm das sehr übel. Wie konnte er unsere Tochter nur so im Stich lassen? Früher war sein erster Gang, wenn er nach Hause gekommen war, immer ins Kinderzimmer gewesen. Paula war seine kleine verwöhnte Prinzessin gewesen und ich verstand einfach nicht, wie er sie jetzt so im Stich lassen konnte. Wahrscheinlich wollte auch er mich überreden, sie in ein Pflegeheim zu geben, doch das würde ich nie tun. Selbst wenn sie nie wieder aufwachen sollte, wollte ich sie wenigstens zu Hause pflegen, aber vorher wollte ich alle Behandlungsmöglichkeiten ausschöpfen, egal was es kostete. Dr. Snow hatte mir von einigen Kliniken erzählt, die Stiftungen hatten für Fälle wie unseren und ich war nicht zu stolz, um Almosen zu bitten. Die Möglichkeit war viel besser, als ein Pflegeheim. Alles war besser als das.

Leise klopfte es an der Tür und mein Vater kam herein.

»Hey, Kleines, wie geht es dir und dem Engelchen?«, fragte er vorsichtig.

»Ich weiß, dass deine Mutter mit dir geredet hat.« Ich seufzte.

»Willst du mir nun auch erzählen, dass ich sie aufgeben soll?«, fuhr ich ihn an. Traurig schüttelte er den Kopf, kam auf mich zu und nahm mich einfach fest in den Arm.

»Ich fasse es nicht, dass sie das zu dir gesagt hat. Paula ist nicht Ben und du bist nicht deine Mutter. Lass dir das nie von ihr einreden.« Bei seinen Worten liefen mir die Tränen über das Gesicht. Ich konnte gar nicht sagen, wie froh ich war, dass er mich jetzt nicht alleine ließ.

»Warum hast du mir nie von ihm erzählt?«, schluchzte ich.

»Emma tat es zu weh und erst warst du noch viel zu klein und dann hatten wir einfach schon viel zu lange geschwiegen, um es dir noch zu erzählen. Wir haben so oft darüber gestritten, bis wir irgendwann gar nicht mehr normal miteinander reden konnten«, versuchte er, die Situation zu erklären. Aber ich konnte es nicht verstehen - oder wollte ich es nicht?

»Verzeih mir bitte, Maddie. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.« Er klang wirklich verzweifelt. Dad war kein Mann vieler Worte und ich wusste, dass er es nicht besser erklären konnte. Gegen Mom hatte er rhetorisch keine Chance, das wusste ich. Wahrscheinlich hatte sie solange auf ihn eingeredet, bis er ihr zugestimmt hatte. Ich nahm ihn einfach in den Arm, mir fiel sowieso keine Antwort ein. Lange standen wir Arm in Arm an Paulas Bett.

»Egal was kommt, Maddie, ich bin für euch da und zur Not verkaufen wir mein Haus, um die Kosten zu bezahlen«, versprach er mir.

»Dad, das geht doch nicht«, protestierte ich.

»Doch, Kleines, das geht natürlich«, erwiderte er sofort.

»Für mich reicht auch eine kleine Wohnung, wenn ich in Aptos bin. Die meiste Zeit bin ich doch sowieso unterwegs. Allerdings bleibe ich hier, solange ihr mich braucht! Wir beide geben unsere Kleine nicht auf, egal was kommt.« Bei diesen Worten schluchzte ich auf und warf mich ihm um den Hals. Ich ließ ihn erst wieder los, als es kurz an der Tür klopfte und sich diese dann auch sofort öffnete. Herein kam Dr. Weber, dicht gefolgt von dem fremden Arzt. Schnell wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht.

»Mrs. Stone, darf ich Ihnen einen geschätzten Kollegen aus New York vorstellen, der uns einige Tage unterstützt?«, fragte Dr. Weber und zeigte dabei auf den zweiten Arzt.

»Das ist Dr. Baker. Dr. Baker, das ist Mrs. Stone, die Mutter der kleinen Patientin, von der ich Ihnen erzählt habe. Dr. Baker würde Ihre Tochter gerne untersuchen, wenn Sie nichts dagegen haben. Er ist ein sehr angesehener Neurochirurg.« Natürlich hatte ich nichts dagegen.

»Ich geh dann jetzt, Kleines. Sei Emma nicht zu böse, sie meint es nur gut«, verabschiedete sich mein Vater schnell. Er hatte wohl Angst zu stören. Als er meine Mutter erwähnte, warf ich ihm kurz einen bösen Blick zu.

»Bye, Dad«, erwiderte ich, sagte aber lieber nichts wegen meiner Mutter. Die Ärzte gingen unsere Probleme ja nun wirklich nichts an. Auch Dr. Weber verabschiedete sich wieder und so war ich mit Dr. Baker alleine.

»Ich würde gerne einige Untersuchungen, wie zum Beispiel das EEG, CT und MRT bei Ihrer Tochter wiederholen, wenn Sie nichts dagegen haben. Vielleicht kann ich etwas sehen, was den Kollegen hier bisher entgangen ist«, erklärte Dr. Baker und lächelte mich wieder so schief an, wie nach unserem Zusammenstoß auf dem Flur. Ich nahm es kaum wahr, neue Untersuchungen hießen noch höhere Kosten. Obwohl ich einen riesigen Kloß im Hals spürte, nickte ich. Es musste einfach sein und vielleicht konnte Dr. Baker meiner Tochter helfen.

»Ok, ich leite dann alles in die Wege, damit die Untersuchungen zeitnah erfolgen können. Dr. Weber erwähnte Ihr Versicherungsproblem. Da ich ein paar Gastvorlesungen an der hiesigen Universität gebe, könnte ich diese Untersuchungen kostenlos für Sie machen, wenn ich mit den Studenten den Fall Ihrer Tochter behandeln dürfte«, schlug er mir lächelnd vor. Mein Herz machte einen Satz, damit wäre uns sehr geholfen.

»Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, möchte ich anschließend mit Ihnen über eine eventuelle Verlegung nach New York sprechen. Die Klinik, in der ich eigentlich arbeite, ist auf solche Fälle spezialisiert«, erzählte er weiter. Ich keuchte auf, eine Verlegung nach New York? Wie sollten wir das bezahlen? Nicht nur die Klinik dort würde wahrscheinlich noch mehr kosten als hier, auch Paula dorthin zu transportieren wäre in ihrem Zustand nicht so einfach. Das Ganze würde wahrscheinlich Unsummen verschlingen. Ob John dem zustimmen würde? Alleine konnte ich das nicht entscheiden. Dr. Baker schien meine Gedanken lesen zu können.

»Sprechen Sie in Ruhe mit Ihrem Mann darüber, wenn es soweit ist«, sagte er.

»Unsere Klinik hat eine Stiftung und vielleicht kann ich etwas tun, damit sie zumindest einen Teil der Kosten übernehmen wird. Ich komme wieder, sobald ich weiß, wann die Untersuchungen gemacht werden können«, sagte er und sah mir dabei tief in die Augen. Ich war wie hypnotisiert durch seinen Blick und brachte kein Wort heraus. Ein Nicken war alles, was ich zustande brachte. Was war in Gegenwart dieses Mannes nur mit mir los?

Es war, als würden Funken durch den kleinen Raum sprühen. So etwas hatte ich noch nie erlebt, irgendetwas an Doktor Baker zog mich magisch an und ich war wie erstarrt. Wir mussten uns minutenlang in die Augen gesehen haben, denn ich erwachte erst aus meiner Starre, als sich die Tür öffnete und John das Krankenzimmer betrat. Dr. Baker wandte sich schnell ab.

»Reden Sie mit Ihrem Mann darüber, Mrs. Stone. Auf Wiedersehen«, sagte er, nickte John zu und verließ mit wehendem Kittel das Zimmer.

»Wer war das und was willst du mit mir besprechen?«, fuhr John mich an, noch ehe die Tür ganz zu war. Was hatte er nur? Ob er die seltsame Stimmung im Raum auch wahrgenommen hatte? Nachdem Dr. Baker gegangen war, verflog diese doch auch sofort.

»Das war Dr. Baker, ein Arzt aus New York, der gerade hier zu Gast ist. Er möchte Paula noch einmal, auf Kosten der Universität, untersuchen und sie vielleicht nach New York verlegen lassen. Die Klinik dort hat eine Stiftung«, erklärte ich ihm. John sah mich frustriert an.

»New York?«, fragte er fast entsetzt.

»Du kannst nicht nach New York gehen, ich brauche dich in der Firma. Lass uns Paula in ein Pflegeheim geben, unsere Firma und unsere Ehe retten und noch einmal von vorne beginnen.«

»Unsere Ehe retten?«, fragte ich ungläubig und wenn das Ganze nicht so traurig gewesen wäre, hätte ich am liebsten gelacht.

»John, an unserer Ehe ist nichts mehr zu retten und ich werde Paula niemals aufgeben, ehe ich nicht alles versucht habe!« Was war nur aus meinem liebevollen Mann und Paulas tollem Vater geworden? Mittlerweile war ich sehr froh, dass es auch im letzten Monat nicht mit einem Geschwisterchen für Paula geklappt hatte. In dieser Situation hätte ein zweites Kind alles nur noch schwerer gemacht.

»Nicht mehr zu retten?«, fragte er verdutzt.

»Willst du dich etwa scheiden lassen?«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich kann zur Zeit nur an Paula denken, aber nach allem, was vorgefallen ist, sehe ich keine Zukunft mehr für uns«, sagte ich traurig. Johns Verrat tat mir fast so weh, wie meine Kleine hier im Krankenhaus liegen zu sehen.

»Und was ist mit der Firma? Du weißt doch, wie ich bin, ich schaffe das nicht alleine«, jammerte er.

»Dann musst du eine Aushilfe einstellen, wenn dir meine Arbeit von hier aus nicht reicht. Ich werde sie nicht alleine lassen und sie auch nicht in ein Heim abschieben«, erklärte ich ihm entschlossen.

John sah mich fassungslos an. »Du wirst uns damit finanziell völlig ruinieren«, warf er mir vor. Das hätte er lieber nicht tun sollen.

»Ich ruiniere uns? ICH? Wer von uns hat denn die Krankenversicherung nicht bezahlt und das Geld lieber seiner Geliebten gegeben? Soll Jeany dir doch in der Firma helfen«, schrie ich ihn an.

»Das war es dann Maddie, ich gehe noch heute zum Anwalt und reiche die Scheidung ein und beantrage das medizinische Sorgerecht für Paula. Ich lasse mir nicht von dir das Leben zerstören«, schrie er zurück und rannte aus dem Zimmer. Fassungslos sah ich ihm hinterher, ehe ich weinend zusammenbrach und auf dem Boden liegenblieb. Ich konnte einfach nicht mehr.

 

Kapitel 6

Wie aus weiter Ferne hörte ich ein kurzes Klopfen und schon wurde die Tür geöffnet.

»Mrs. Stone?«, fragte eine sanfte Stimme, wie aus einer anderen Welt. Dann spürte ich weiche, aber kräftige Hände, die mir hoch halfen.

»Kommen Sie, Mrs. Stone, setzen Sie sich hier hin«, sagte die Stimme und ich ließ mich widerstandslos auf einen Stuhl setzen. Dankbar blickte ich nun auf und versank ein weiteres Mal in den leuchtend grünen Augen von Doktor Baker.

»Was machen Sie nur für Sachen?«, fragte er mich lächelnd. »Ich habe jetzt Feierabend und würde Sie gerne nach Hause bringen, es ist auch schon spät. Sie müssen sich ausruhen, sonst brechen Sie uns noch völlig zusammen und damit ist niemandem geholfen. Morgen schon werden die weiteren Untersuchungen bei Ihrer Tochter stattfinden und da wollen Sie doch fit sein.«

Ich nickte und ließ mir von Dr. Baker in die Jacke helfen, dann führte er mich aus dem Krankenhaus und zu seinem Auto. Er hielt mir die Tür auf, damit ich einsteigen konnte. Die ersten Minuten der Fahrt verliefen schweigend. Das Radio lief leise auf einem Klassiksender. Als mein Magen laut knurrte, blickte Dr. Baker zu mir herüber.

»Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?«, fragte er streng.

»Heute Mittag«, antwortete ich wahrheitsgemäß, allerdings verschwieg ich, dass ich durch das Gespräch mit meiner Mutter nur sehr wenig gegessen hatte. Wenn ich den Tag Revue passieren ließ, war es einfach zu viel gewesen. Erst meine Mutter mit ihrer Beichte und den Andeutungen, dass ich Paula aufgeben sollte. Dann mein Vater, der wenigstens zu mir stand, anschließend Dr. Baker, der mir neue Hoffnungen machte und zum Schluss John, der sich nicht nur von mir scheiden lassen, sondern mir auch noch Paula wegnehmen wollte. ›Schlimmer als jede Seifenoper‹, dachte ich ironisch und lachte kurz und fast hysterisch auf.

Dr. Baker sah mich besorgt an.

»Ein harter Tag?«, fragte er dann.

»Das können Sie laut sagen«, antwortete ich seufzend.

»Was halten Sie davon, wenn ich Sie in ihre Pension bringe, Sie machen sich fertig und in einer Stunde hole ich Sie zum Essen ab?«, fragte er. Verwirrt sah ich ihn an. Warum tat er das? Bestimmt nur aus Mitleid, entschied ich und beschloss, deshalb sein Angebot abzulehnen. Ich wollte nicht, dass er mich aus einem Pflichtgefühl heraus einlud. Peinlich genug, dass er mich zusammengebrochen in Paulas Zimmer gefunden hatte.

»Danke, aber ich esse einfach eine Kleinigkeit auf dem Zimmer, dusche und gehe dann zu Bett. Trotzdem noch einmal vielen Dank für die Einladung, Dr. Baker«

Er sah geknickt aus, aber mir fehlte die Kraft, lange darüber nachzudenken, warum das so war.

»Schade, aber wenn Sie nicht möchten … Wir sehen uns dann morgen in der Klinik, nehme ich an?«, fragte er kurz angebunden. Hatte ich ihn mit meiner Ablehnung verärgert? Er hielt den Wagen vor der Pension an und ich nickte kurz. Wahrscheinlich war er froh, wenn er schnell verschwinden konnte.

»Danke fürs Fahren, gute Nacht, Dr. Baker«, verabschiedete ich mich, während ich ausstieg.

»Gute Nacht, Mrs. Stone, und angenehme Träume«, wünschte er mir, warf mir noch einen verletzten Blick zu und fuhr davon. Ich fühlte mich schlecht, weil ich ihn scheinbar mit meiner Ablehnung verletzt hatte, dabei wollte ich das gar nicht.

Ich lief schnell zu dem kleinen Fast-Food-Lokal auf der anderen Straßenseite und holte mir einen Hamburger, Pommes und einen Milchshake. Nachdem ich das Essen in meinem Zimmer verschlungen hatte, duschte ich noch schnell, dann fiel ich todmüde ins Bett und schlief auch fast augenblicklich ein.

Erholsam war mein Schlaf aber leider nicht wirklich. Immer wieder wachte ich aus wirren Träumen auf, in denen John und meine Mutter an Paulas einen Arm zogen und ich an ihrem anderen. Dabei schaffte ich es kaum, sie festzuhalten, so sehr zerrten die beiden an ihr. Um fünf Uhr morgens wachte ich schweißgebadet auf und gab den Versuch etwas Erholung zu finden, endgültig auf.

Ich sprang kurz unter die Dusche und verließ gleich darauf schon wieder die Pension. Lange würde ich mir die auch nicht mehr leisten können, meine Ersparnisse waren schon restlos aufgebraucht. Ich ging in Richtung Krankenhaus, wagte es aber noch nicht, hineinzugehen. So früh sahen die Nachtschwestern das nicht gerne, deshalb ging ich in den Krankenhauspark und setzte mich dort auf eine Bank. Ich überlegte kurz, ob ich Andrew schon stören konnte, und entschied mich dann dafür. Er war schon immer ein Frühaufsteher gewesen.

Ich zückte mein Handy und wählte Andys Nummer. Schon nach dem zweiten Klingeln nahm er ab.

»Guten Morgen, Maddie, du rufst früh an. Ist alles in Ordnung bei euch?«, meldete er sich. Fast musste ich lachen, wie konnte ein Mensch nur so schnell reden?

»Guten Morgen, ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt«, antwortete ich.

»Mich doch nicht. Jimmy ist schon vor zwei Stunden zum Angeln gefahren und ich wollte noch kurz bei Vanessa reinschauen, ehe ich zur Werkstatt fahre«, erklärte er. Vanessa war seit einigen Wochen seine große Liebe und arbeitete im Postamt in Aptos.

»Also spuck es schon aus, was beschäftigt dich, dass du dich so früh meldest?«, fragte er. Er kannte mich einfach zu gut.

Kurz überlegte ich noch, was ich ihm sagen konnte und dann sprudelte einfach alles aus mir heraus. Von meiner Mutter, John und der Hoffnung, die Dr. Baker mir gemacht hatte und auch von meinen Ängsten, wie ich das Ganze finanzieren sollte. Nur die komischen Gefühle, die ich in Dr. Bakers Gegenwart hatte, ließ ich lieber aus.

»Wenn dieser Doktor Paula helfen kann, dann kriegen wir euch schon nach New York. Mach dir darüber mal keine Sorgen. Lieber sollte dein untreuer Arsch von Ehemann sich Sorgen machen, dass ich ihm dafür, was er gestern getan hat, nicht eine reinhaue«, drohte er. Dann erzählte er, dass er mit Vanessa und ein paar anderen schon ein Stadtfest zugunsten von Paula plante.

Auf meinen besten Freund konnte ich mich wenigstens noch verlassen.

»Andy, du bist ein Schatz. Ich könnte dich küssen, aber da hätte Vanessa wohl etwas dagegen«, freute ich mich und hob den Kopf etwas. Als mein Blick nach oben ging, sah ich direkt in die mir mittlerweile schon bekannten grünen Augen von Dr. Baker, der mich durchdringend ansah, aber kein Wort sagte.

Schnell sagte ich Andy noch Tschüss und legte auf. Er musterte mich eingehend, sagte aber noch immer nichts.

»Guten Morgen«, begrüßte ich ihn deshalb.

»Sollten Sie sich nicht besser ausschlafen Mrs. Stone?«, fragte er, meinen Gruß ignorierend.

»Ich konnte nicht mehr …«, wollte ich mich rechtfertigen, aber er unterbrach mich mit der Frage, ob ich wenigstens gefrühstückt hätte. Ich lief rot an und damit war eine Lüge wohl zwecklos.

»Dann kommen Sie jetzt mit, ich lade Sie ein«, forderte er mich auf und griff nach meiner Hand, um mich hochzuziehen.

Kurze Zeit später saßen wir uns in einem Starbucks in der Nähe des Krankenhauses, der schon so früh geöffnet hatte, gegenüber. Vor mir stand ein Vanille Latte Macciato und ein Teller mit Rührei. Dr. Baker hatte nur Kaffee und einen Muffin.

»Warum konnten Sie nicht schlafen?«, fragte er. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, denn von meinen wirren Träumen wollte ich ihm nichts erzählen, schließlich kannten wir uns kaum.

»Es ging einfach nicht mehr«, antwortete ich deshalb einsilbig. Er seufzte.

»So wird das nichts. Tun wir doch einfach so, als würden wir uns schon lange kennen. Ich bin Sebastian und du?«, fragte er doch tatsächlich.

»Maddie, also eigentlich Madison, aber Maddie ist mir lieber«, stellte ich mich vor.

»Maddie, der Name passt zu dir«, lächelte er mich schief an und mein Herz schlug schneller. Ich war nur froh, dass er das nicht hören konnte.

»Ich nehme an, dass du nicht aus Los Angeles kommst, da du in einer Pension wohnst. Also, wo kommst du her und was machst du sonst so?«, fragte er und ich erzählte ihm von Aptos, meiner Jugend dort, meinem Studium und meiner Arbeit. John erwähnte ich dabei so wenig wie möglich.

Zum Ausgleich erzählte er mir von New York, seinen Eltern, seiner Schwester und von seinem Sohn Alexander, den er, wie er selber sagte, leider kaum kannte, da dieser bei seinen Eltern und seiner Schwester lebte. Mir drängte sich die Frage auf, ob John das auch eines Tages sagen würde.

»Was ist los?«, fragte Sebastian, »du wirkst betrübt.« Wie sollte ich ihm gerade das erklären? Er war ja selbst ein Vater, der sich wenig um sein Kind kümmerte. Wie sollte er da meine Sorgen verstehen? Ich verstand ihn ja auch nicht, als Elternteil sollte man sein eigenes Kind doch kennen. Und dieses arme Kind hatte gar keine richtigen Eltern, die Mutter war weg und der Vater überließ den Jungen den Großeltern.

»Ich möchte jetzt zu Paula«, antwortete ich deshalb ausweichend. Das stimmte aber auch wirklich, denn mittlerweile war es sieben Uhr dreißig und damit konnte ich wieder zu ihr.

Sebastian zahlte und weigerte sich, mein Geld zu nehmen, als ich mein Frühstück selbst bezahlen wollte.

»Ich hatte dich eingeladen, also zahle ich auch«, sagte er und ließ sich auch nicht umstimmen. Dann gingen wir zu Fuß zurück zum Krankenhaus. Sebastian verabschiedete sich am Eingang von mir, mit dem Versprechen, bald wegen der Untersuchungen zu Paula zu kommen und kurz darauf saß ich wieder allein an ihrem Bett. Ihr Zustand hatte sich über Nacht nicht verändert.

Kurz vor neun Uhr kam Sebastian mit einer Schwester ins Zimmer.

»Guten Morgen, Mrs. Stone, dann wollen wir Ihre Tochter noch einmal untersuchen«, sagte er und zwinkerte mir hinter dem Rücken der Schwester zu. Scheinbar duzten wir uns nur, wenn wir alleine waren. Aber mir sollte es Recht sein, Hauptsache Paula wurde geholfen. Ich durfte nicht mit und setzte mich solange an den Laptop, um zu arbeiten. Allerdings war dort ausnahmsweise mal keine Mail von John und ich konnte nicht auf dem Firmenserver zugreifen. Was sollte das denn jetzt?

Vergeblich versuchte ich, ihn zu erreichen, aber er ging nicht ans Telefon und auch in der Agentur lief nur das Band. Eigentlich müsste John um diese Zeit dort sein, gestern stand noch kein Kundentermin für heute fest. Ich hoffte nur, dass er keinen Mist baute, auch wenn ich mir sicher war, dass wir über kurz oder lang unsere Ehe endgültig beenden würden. Die Firma war sozusagen unser erstes Baby gewesen, aber dann kam Paula. Wenn ich mich allerdings zwischen Paula und der Firma entscheiden musste, wusste ich, was für mich an erster Stelle stand. Bei John fiel die Wahl da wohl anders aus, daher wunderte ich mich noch mehr, dass er nicht im Büro war.

Um mir die Wartezeit zu verkürzen, nahm ich ein Buch aus der Tasche und las etwas, dazu kam ich in letzter Zeit auch nicht oft. Allerdings fiel es mir unheimlich schwer, mich darauf zu konzentrieren. Ständig wanderten meine Gedanken zu Paula. Ob Sebastian eine Möglichkeit fand, um ihr zu helfen? Und warum hatte ich das Gefühl, dass er es wirklich konnte? Hier im Krankenhaus gab es viele gute Ärzte und die konnten ihr auch alle nicht helfen.

Zwanzig Minuten später öffnete sich endlich die Tür und die Schwester brachte sie zurück.

»Doktor Baker wertet noch die Bilder aus, dann kommt er zu Ihnen«, teilte sie mir mit.

Ich seufzte. Schon wieder warten, aber wenigstens konnte ich nun dabei Paulas Hand halten.

 

Kapitel 7

Fast eine Stunde dauerte es, bis sich endlich die Tür wieder öffnete und Sebastian erschien. Ihm folgte eine Gruppe von zwölf jungen Leuten, sowie zwei ältere Ärzte. Vermutlich waren das die Studenten, von denen er gesprochen hatte. Besorgt blickte ich ihn an. Was hatte dieser Menschenauflauf zu bedeuten? Ich verkrampfte mich innerlich total. Sebastian lächelte mich aufmunternd an und sofort fiel ein Teil der Anspannung von mir ab. Er sah nicht so aus, als wollte er schlechte Nachrichten überbringen.

Er kam zu mir und die anderen Personen hielten sich etwas zurück.

»Mrs. Stone, wir haben eine mögliche Ursache gefunden, warum Ihre Tochter nicht aufwacht …« Er erklärte mir etwas von einem kleinen Blutgerinnsel, das auf einen Hirnteil drückte und von einer weiteren Operation, die er aber lieber in New York durchführen wollte. Das Meiste, was er sagte, verstand ich gar nicht, nur, dass es endlich neue Hoffnung gab.

»Ich komme nachher noch einmal, um die Einzelheiten mit Ihnen zu klären. Sie sollten dann schon einmal den Vater des Kindes informieren, wir brauchen sein Einverständnis für die erneute Operation«, sagte er noch, ehe er sich verabschiedete und ging. Die anderen folgten ihm wortlos.

John informieren! Eigentlich sollte ich das jetzt wirklich tun, aber ich konnte ihn wieder mal nicht erreichen. Deshalb rief ich meinen Vater an und bat ihn, bei seinem Schwiegersohn vorbei zu fahren. Zudem schrieb ich ihm per SMS und E-Mail, dass er sich bei mir melden sollte. Mehr konnte ich zurzeit einfach nicht tun.

Diesmal dauerte es nicht lange, bis Sebastian wieder erschien.

»So unter vier Augen lässt sich das doch alles viel besser besprechen. Hast du mit dem Vater geredet?«, fragte er. Ich wunderte mich, dass er immer von dem Vater sprach und nicht von meinem Mann. Für ihn schien schon klar zu sein, dass wir kein Paar mehr waren.

»Ich konnte ihn den ganzen Tag schon nicht erreichen«, teilte ich ihm mit.

»Und ich dachte, ich wäre ein mieser Vater«, brummelte er so leise, dass ich ihn kaum verstand. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, daher verkniff ich mir einen Kommentar.

»Also ich würde deine Tochter gern so schnell wie möglich nach New York verlegen und sie dort selber operieren. Ich bin sehr zuversichtlich, dass sie bald wach wird, wenn die OP erfolgreich verläuft. Das Problem wird sein, die Kosten zu decken. Ich behandle Paula kostenlos, aber die anderen Ärzte und Schwestern und das Krankenhaus werden das nicht umsonst machen. Ich werde meinen Vater bitten, bei der Stiftung des Krankenhauses ein gutes Wort für euch einzulegen, aber ich befürchte, dass diese, wenn überhaupt, nur einen Teil der Kosten übernimmt. Und den Transport von hier nach New York wird sie auch nicht übernehmen. Du wirst aber darlegen müssen, warum ihr nicht versichert seid. Kannst du das Geld irgendwie aufbringen?«, fragte er mich.

»Dafür musst du wegen der medizinischen Ausstattung des Flugzeugs und der Personalkosten mit mindestens 5000 Dollar rechnen.«

»Ich werde es versuchen«, sagte ich unsicher und musste dabei schlucken. Unsere Ersparnisse waren nicht nur aufgebraucht, sondern wir hatten durch Paulas Krankheit schon Schulden angehäuft. Wann würde das Stadtfest zu ihren Gunsten sein, von dem Andy gesprochen hatte und würde das Geld reichen? Ansonsten würde mein Vater sicher sofort versuchen, sein Haus zu veräußern, aber keiner konnte sagen, wie lange es dauern würde einen Käufer dafür zu finden.

Ich grübelte und grübelte, aber mir fiel keine Lösung ein, wie ich in dieser kurzen Zeit so viel Geld auftreiben sollte. Dass Sebastian sich von mir verabschiedete, nahm ich nur am Rande wahr und nickte mechanisch. 5000 Dollar, alleine für den Transport! Wie sollte ich das zusammen bekommen? Die ganze Sache erschien mir nach und nach immer hoffnungsloser. Selbst wenn er sie kostenlos behandeln würde, kämen tausende von Dollar an weiteren Kosten auf uns zu. Ich bezweifelte, dass John mir noch großartig dabei helfen würde, das Geld zusammen zu bekommen. Und was wäre, wenn er die Behandlung in New York ganz ablehnen würde?

Ich entschied mich, erst einmal John ausfindig zu machen, um mit ihm zu reden, aber er ging immer noch nicht an sein Telefon. Nach zehn erfolglosen Versuchen gab ich es schließlich auf. Der Kerl trieb mich heute wirklich in den Wahnsinn!

Ungefähr zehn Minuten später klingelte mein Handy. War es endlich John? Scheinbar nicht, denn die angezeigte Nummer war mir völlig unbekannt.

»Stone«, meldete ich mich höflich.

»Amy Dickens, von Dickens und Partner Rechtsanwälte hier, Mrs. Stone. Ich bin von Ihrem Mann beauftragt worden, mich um Ihre Scheidung und die Übertragung des medizinischen Sorgerechts für Ihre Tochter Paula Stone zu kümmern. Sind Sie mit den Forderungen meines Mandanten einverstanden?«, ratterte eine kalte Frauenstimme herunter. Das konnte doch nicht Johns Ernst sein.

»Ich möchte erst einmal wissen, was mein Mann genau will und dann suche ich mir einen eigenen Anwalt. Schicken Sie mir bitte alles schriftlich zu«, forderte ich sie auf und nannte ihr meine Emailadresse und die Adresse der Pension.

Ich würde garantiert nicht irgendwelchen Forderungen am Telefon zustimmen. Ich brauchte dringend einen Anwalt und mir fiel nur einer ein, der in Frage kam. Ein alter Kumpel von mir und Andy aus der Highschool, Landon Scott. Wir hatten zwar in letzter Zeit wenig Kontakt gehabt, weil er und John sich gestritten hatten, aber gerade das machte ihn vielleicht jetzt zum richtigen Ansprechpartner.

Nach kurzer Suche im Internet fand ich seine Kanzlei. Er war gar nicht mehr in Los Angeles, wie ich erwartet hatte, sondern in New York. Kurz überlegte ich, ob er mir von dort aus überhaupt helfen konnte, aber andererseits konnte er mich zumindest beraten und ich wollte ja selbst mit meiner Kleinen schnellstmöglich dorthin.

»Platt und Partner, Mr. Scotts Büro, Lindsey Saundrey am Apparat, was kann ich für Sie tun?«, leierte eine junge Stimme herunter. Ich musste grinsen, was für ein Satz, den sie da aufsagen musste.

»Madison Stone, ich würde gern mit Mr. Scott persönlich sprechen, wenn er Zeit hat«, erklärte ich.

»Einen Moment bitte, ich sehe nach, ob er frei ist«, sagte sie noch und dann hörte ich nur noch die blecherne Warteschleifenmusik. Warum gab es eigentlich immer nur furchtbare Musik in Warteschleifen?

Nach fünf weiteren Minuten Gedudel und immer wieder der Ansage ›Bitte warten‹, klingelte es endlich und nach nur einem Signalton meldete sich Landon.

»Maddie? Maddie Stone? Bist du es wirklich?«, fragte er.

»Ja, ich bin es! Hi, Landon«, antwortete ich.

»Was kann ich für dich tun, Kleine? Und wie geht es der Prinzessin?«, fragte er weiter.

»Oh, Landon, das ist eine lange Geschichte …«, sagte ich und dann sprudelte alles aus mir heraus. Paulas Krankheit, Johns Reaktionen, die fehlende Krankenversicherung, die Hoffnung, die Sebastian mir machte und dem Anruf der Anwältin.

»Unterschreib ja nichts, Maddie. Ich kenne die Dickens, mit denen ist nicht zu spaßen. Schick mir alle Unterlagen per Mail zu und ich kümmere mich um alles. Auch darum, dass John aufgefordert wird zu unterschreiben, damit du mit Paula nach New York kommen kannst«, erklärte Landon und klang dabei hochprofessionell.

»Ich bin für euch da, Maddie!«, versprach er noch und wir klärten noch einige Einzelheiten, dann musste ich ihm ein Abendessen versprechen, wenn ich in New York sein würde.

Nachdem wir das Gespräch beendet hatten, versuchte ich noch einmal, John anzurufen, und endlich ging er an sein Telefon.

»Was willst du?«, fragte er nicht gerade freundlich. Ich seufzte, was war nur mit ihm los? Irgendwie war der Mann am Telefon mir völlig fremd und das nach sieben Jahren Beziehung.

»John, was soll das alles? Ich komme nicht mehr auf den Firmenserver, du bist nicht zu erreichen und dann der Anruf deiner Anwältin«, verlangte ich eine Erklärung von ihm.

»Du musst dich entscheiden, Maddie, entweder retten wir unsere Ehe und unsere Firma, oder es ist alles aus. Ich kann und will nicht mehr. Komm nach Hause und wir können über alles reden«, forderte er.

»Ich lasse Paula nicht im Stich! Sie braucht mich. Was bist du überhaupt für ein Vater, dem die Firma wichtiger ist, als das Leben seines einzigen Kindes?«, fragte ich ihn. Ich erkannte John wirklich nicht wieder. Er war immer so ein liebevoller Vater gewesen. Hatte er das immer nur gespielt? Wie konnte sie ihm plötzlich so egal sein?

»Einer, der sein Leben nicht wegwerfen will. Wir haben so viele Jahre Arbeit in die Firma gesteckt, die lasse ich mir nicht kaputt machen. Klar tut Paula mir leid, aber ich kann nicht ändern, was passiert ist. So wie sie da liegt, ist es doch kein Leben. Aber unsere Firma, die ist mein Leben …«

Ich versuchte, noch länger mit ihm über alles zu reden, aber es hatte keinen Sinn. Er wollte nicht, dass sie verlegt wird, außer in ein Pflegeheim. Nach fast einer Stunde Diskussion kam er mit einer Idee daher, die ich kaum noch ablehnen konnte. Er bekam die Scheidung und die Firma und ich das alleinige Sorgerecht für Paula. Er würde Unterhalt zahlen, sich aber darüber hinaus nicht an den Krankenhauskosten beteiligen. Die Alternative wäre, dass er um das medizinische Sorgerecht kämpfen würde. Die zweite Variante hätte zumindest alle Chancen, Paula nach New York zu bekommen, verzögert. Deshalb stimmte ich zu, obwohl ich jetzt schon ahnte, dass Landon mir dafür den Kopf abreißen würde.

Bereits zwanzig Minuten später, hatte ich die Papiere in meinem E-Mail Postfach und schickte sie an Landon weiter mit der Anmerkung, dass ich damit einverstanden war. Kurz nachdem ich die E-Mail abgeschickt hatte, klingelte auch schon mein Handy.

»Stone?«, meldete ich mich.

»Bist du wahnsinnig geworden Maddie?«, schrie Landon mich durchs Telefon an.

»Das unterschreibst du auf keinen Fall! Er ist doch derjenige, der die Krankenversicherung nicht bezahlt hat. Lass mich das mal machen, dann zahlt er auch, verlass dich darauf!« Ich wusste, dass Landon es nur gut meinte, aber ich konnte keine Zeit verlieren.

»Und wie lange würde das dauern, Landon?«, fragte ich deshalb nur.

»Im Schnellverfahren nur ein paar Wochen«, antwortete er und damit war es für mich erledigt.

»Landon, ich habe keine Wochen. Paula liegt seit fünf Wochen im Koma und ich kann da nicht noch länger zusehen. Schau einfach, ob das alles rechtmäßig ist und dann unterschreibe ich. Ich brauche das medizinische Sorgerecht, damit ich sie verlegen lassen kann!«

Er versuchte weiter mich zu überzeugen, gab dann aber seufzend auf und versprach, sich um alles zu kümmern. Außerdem wollte er versuchen, wenigstens noch eine Abfindung herauszuschlagen, um wenigstens einen Teil der zukünftigen Krankenhausrechnungen abzudecken.

Ich saß gerade da und versuchte, mich von dem Gespräch zu erholen, als es kurz klopfte und Sebastian ins Zimmer kam und sah, wie ich böse auf den Monitor starrte.

»Hallo, alles in Ordnung bei dir?«, fragte er.

»Hallo, kann ich hier im Krankenhaus irgendwo etwas ausdrucken?«, antwortete ich ihm mit einer Gegenfrage. Ich wollte mir die Papiere noch einmal genau durchlesen und mir Notizen machen, das ging auf Papier besser, als auf dem Laptop.

Er zögerte kurz.

»Hier im Krankenhaus ist das schlecht, aber ich muss nachher noch zur Uni und könnte dir dort etwas ausdrucken, wenn du möchtest«, bot er mir dann an. Ich überlegte kurz, ob ich ihm die Papiere wirklich zeigen wollte, dachte dann aber, dass das nun auch keinen Unterschied mehr machen würde. Ich stimmte schließlich zu und zog die Daten auf einen Stick.

»Danke, das ist sehr lieb von dir«, sagte ich.

»Dafür gehst du heute Abend aber mit mir essen«, forderte er und ich stimmte zu.

Einige Stunden später saßen wir in einer ruhigen Nische in einem Restaurant. Bis unser Essen kam, unterhielten wir uns über alles Mögliche aus unseren doch sehr unterschiedlichen Leben und Sebastian erklärte mir, wie es zu seiner Vortragsreise gekommen war. Er beschönigte nichts, er wäre suspendiert worden wegen diverser Frauengeschichten am Arbeitsplatz, erklärte aber auch, dass er zwar die Frauen oft wechselte, aber nie einer von ihnen falsche Versprechungen gemacht hatte.

Dann kam das Thema auf die Papiere, die er für mich ausgedruckt hatte. Ich erzählte ihm wirklich alles, auch dass ich nicht wusste, wie ich das Geld für Paulas Transport nach New York zusammen kriegen sollte, von den anderen Kosten mal ganz abgesehen.

»Maddie, ich hätte eine Lösung für all deine Probleme. Denk bitte darüber nach, ehe du gleich ablehnst, auch wenn du vielleicht erst einmal schockiert sein wirst«, sagte Sebastian und sah mich lächelnd an. Warum hatte ich auf einmal das Gefühl, dass er ein Raubtier war und ich seine Beute?

»Ok, ich höre mir alles an«, versprach ich.

»Du weißt nicht, wie du das alles finanzieren sollst und ich hätte eine Lösung dafür. Ich übernehme sämtlich Kosten für den Transport und die, die im Krankenhaus anfallen, dafür ziehst du für diese Zeit zu mir und spielst meine Freundin…«, erklärte er und ich wollte ihm gerade ins Wort fallen, als ein Blick von ihm mich zum Schweigen brachte.

»Maddie, lass mich bitte ausreden. Ich mag dich, sonst würde ich dir dieses Angebot nicht machen. Ich habe keinerlei Interesse daran, wirklich eine Beziehung zu führen, aber ich brauche eine Freundin in der Öffentlichkeit und in diesem Fall heißt Öffentlichkeit auch vor meiner Familie. Ich habe den Ärger im Krankenhaus leid und muss nun sozusagen sesshaft werden, damit sie Ruhe geben.« Ich wurde immer ungläubiger, meinte er das ernst? Ich sollte seine Freundin spielen? Vor seiner Familie und in der Öffentlichkeit? Warum das Ganze? Jemand wie er konnte doch leicht wirklich eine Freundin finden. Aber das Warum war eigentlich auch egal, was er genau erwartete, war viel wichtiger.

»Was beinhaltet es, deine Freundin zu spielen?«, fragte ich unsicher nach.

Genau in diesem Moment kam aber unser Essen. Die Kellnerin knallte es mir fast vor die Nase, warf ihm eindeutige Blicke zu und beugte sich tief herunter, um seinen Teller vor ihm abzustellen. Dabei fielen ihre Brüste fast aus ihrem Kleid, aber er ignorierte das völlig.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752115499
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Arzt Krankheit Vertrag Romance Familie Liebe

Autor

  • Alina Jipp (Autor:in)

Alina Jipp wurde 1981 in einem kleinen Ort im Harz geboren und lebt, nach einigen Jahren an der Nordsee, nun mit ihren Kindern wieder dort. Sie liebt beides, die See und die Berge und würde am liebsten ständig pendeln. Das Schreiben ist ihr Ausgleich vom oft sehr stressigen Alltag, auch wenn sie erst 2013 damit angefangen hat, nun kann sie nicht mehr damit aufhören.
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Titel: Der Arzt meiner Tochter