Lade Inhalt...

Fremde Angst: Nemesis (Psychothriller)

von Marcus Ehrhardt (Autor:in)
240 Seiten
Reihe: Fremde Angst, Band 2

Zusammenfassung

Seit drei Jahren hält der Nemesis-Killer den Südwesten der USA in Atem: Mit Helen hat er bereits das sechste Mädchen entführt. Das FBI tappt im Dunkeln, jede Spur verläuft im Sande. Kann Steve Parker, der über die paranormale Fähigkeit verfügt, Gefühle anderer Menschen zu 'orten', die Ermittler davon überzeugen, seine Hilfe anzunehmen? Oder wird Helen das gleiche tödliche Schicksal wie die anderen fünf Mädchen ereilen? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt! LeserInnenstimmen: "Ich bin durch diese Geschichte voller Spannung und Emotionen gesuchtet." "Empfohlen für alle, die gern Thriller-angehauchte Krimis lesen." "Nervenkitzel und der Wahnsinn des Killers sind ebenso vorhanden. Eine gut durchdachte und intensive Geschichte. Gerade die Szenen aus der Sicht des Opfers waren nervenaufreibend. Mitfiebern ist hier garantiert! "Wer wird das nächste Opfer des Nemesis-Killers? Vielleicht du?"

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marcus Ehrhardt

 

 

 

Fremde Angst – Nemesis

Kapitel 1

18. August letzten Jahres
Gillian Andrews fühlte sich wie ein wildes Tier in der Falle. Der strenge Geruch von Desinfektionsmittel dominierte den Raum. Sie erschauderte, als sie das metallische Klicken vernahm. Knarrend öffnete sich die Tür zu ihrem Gefängnis. Ruckartig wandte sie ihren Kopf von der Tür ihres Käfigs ab, in dem sie seit etlichen Tagen hauste. So musste sie nicht sehen, ob er nach ihr schaute oder ob er sie wieder schlagen würde, wie er es bisher bereits mehrfach getan hatte. Ihr nackter Körper erzitterte vor Angst und Kälte. Was hatte sie nur verbrochen? Sie war sich keiner Schuld bewusst. Gillian wollte nicht sterben! Sie liebte ihr Leben und sie hatte so viele Pläne. Warum sie? Warum tat er das? Sie fand nicht den Hauch einer Antwort auf die Fragen, die sie seit ihrer Entführung quälten. Anfangs fürchtete sie sich von Tag zu Tag mehr, seit einiger Zeit wandelte sich die Angst zunehmend in Hoffnungslosigkeit. Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie bereits an diesem grausamen Ort verbracht hatte, aber sie ahnte, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.

Bedrohlich hallten seine Schritte in dem gefliesten Raum, jeder einzelne fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Als Damien grob ihre Fesseln löste und ihr befahl, die Treppe hochzusteigen und sich nach draußen zu bewegen, wehrte sie sich nicht. Ohne Widerstand folgte sie mit hängenden Schultern und gesenktem Haupt der schroffen Anweisung des Mannes mit der randlosen Brille im ovalen Gesicht. Seine grünen Augen spiegelten pure Verachtung für sie wider. Am Wagen angekommen kletterte sie unbeholfen in den Kofferraum seines auf Hochglanz polierten Hondas und legte sich hinein. Sie kauerte sich wie ein Embryo im Mutterleib in die Kunststoffschale, welche sich kalt auf ihrer nackten Haut anfühlte. Einzelne Tränen rannen über ihr Gesicht, als er den Kofferraumdeckel schloss und die Dunkelheit sie umhüllte. Während der langen Fahrt, die sie darin liegen musste, dachte sie an nichts. Damien hatte sie gebrochen. Als er ihr am Ziel der Reise aus dem Kofferraum half, bedankte sie sich sogar bei ihm. Gillian wünschte sich nur, dass es schnell vorbei sein würde. Sie gehorchte dem Befehl des kräftigen Mannes, sich neben das Dornengebüsch mit den kleinen, gelben Blüten auf den Rasen nahe der großen Pappel zu legen. Sie vernahm das Summen der Bienen, die ihrem Bestäubungsauftrag nachkamen. Es roch nach Hyazinthen. Das Letzte, was Gillian auf dieser Welt sah, war die grelle Mittagssonne, die hell am wolkenlosen Himmel stand. Sie schloss ihre Augen und wartete auf das Unvermeidliche. Das Letzte, was sie hörte, war ein weit entferntes Geräusch, das sie an die rotierenden Blätter eines Hubschraubers erinnerte. Das Letzte, was sie spürte, waren Damiens behandschuhte Hände, die sich um ihren Hals legten und langsam zudrückten. Es tat kaum weh, dann war sie frei ...

Kapitel 2

20. August letzten Jahres
Der dunkelblaue Honda bog von der Lamar Street rechts auf die Zufahrt des West Hill Cemetery. Nach wenigen Metern führte der Weg über einen Wendekreis wieder vom Friedhof herunter. Damien parkte seinen Wagen auf dem Scheitelpunkt im Schatten einer hochgewachsenen Kiefer. Vom Beifahrersitz nahm er einen Strauß Veilchen und einen kleinen Beutel und verließ das Fahrzeug mit einer fließenden Bewegung. Die Nachmittagssonne trieb das Thermometer auf fast 30 Grad Celsius. Nur vereinzelte Wolken sorgten für eine kurze Abkühlung. Trotz des regen Verkehrsaufkommens auf den vorbeiführenden Straßen lag eine entspannende Ruhe über dem Friedhof. Der intensive Duft der Veilchen mischte sich mit dem des gemähten Rasens und vieler anderer frischer Sommerblumen, welche die zahllosen Gräber zierten. Damiens blaue Jeans klebte, genau wie sein Poloshirt, an seinem Körper, als er über den Rasen an der Kapelle vorbeischritt. Er folgte dem Weg bis zum achten kleinen Abzweig. Wenige Meter weiter blieb er vor einem einfach gehaltenen, grauen Marmorstein stehen, faltete seine Hände und hielt kurz inne.

»Hi, Dad«, begrüßte er den Verstorbenen. Damien wischte mit einem Taschentuch den Staub vom Stein.

Hier ruht in Frieden unser geliebter Ehemann und Vater – Neil Staanson setzte sich in schwarzen Lettern vom Stein ab. Nach seinem Tod vor vielen Jahren hatte Damiens Vater hier in Sherman, Texas, die letzte Ruhestätte gefunden. In Sherman verbrachte auch Damien seine ersten Lebensjahre.

Nur wenige Besucher des Friedhofs nahmen Kenntnis von dem jungen, durchtrainierten Mann, der seine dunkelblonden Haare nach hinten gegelt trug. Er hielt eine kleine Schaufel in der Hand, die er von der Kapelle mitgenommen hatte. Vorsichtig hockte er sich hin. Nachdem er den Blumenstrauß auf dem Grab abgelegt hatte, hob Damien ein kleines Loch mittig vor dem Grabstein seines Vaters aus.

»Ich habe dir wieder mal etwas mitgebracht. Ich hoffe, es gefällt dir«, flüsterte er, während er den Inhalt des Beutels in das Loch schüttete und anschließend mit Erde bedeckte. »Glaube mir, Dad, du kannst stolz auf mich sein. Ich halte unser Andenken in Ehren und ich bin noch lange nicht fertig.« Damien wischte sich eine einsame Träne aus dem Gesicht. Andächtig verweilte er noch einige Zeit knieend vor der Ruhestätte.

Eine halbe Stunde später sah man die dunkelblaue Limousine das Städtchen Sherman in Richtung Westen verlassen.

 

Kapitel 3

Dienstag, 16. Mai

»Hey, Matt, alles klar bei euch?«, fragte Steve Parker seinen Freund Matthew via Skype. Der dunkle Bass seiner Stimme hallte in dessen Zimmer wider. An der ansonsten kargen Zimmerwand erkannte er Poster von Jimi Hendrix und den Red Hot Chilipeppers, die Musik im Hintergrund konnte er jedoch der Band Pink Floyd zuordnen.

»Hi, Steve, natürlich. Und, wie gefällt dir dein neues Zuhause?«, antwortete Matt, der dem jungen Keanu Reeves immer ähnlicher wurde. Seine dunkelbraunen langen Haare hingen ihm wild über die Stirn. Steve konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber er meinte, die ersten Barthaare im schmalen Gesicht seines Freundes zu entdecken.

»Bisher gefällt es mir ganz gut. In der Hitze kocht zwar manchmal mein Gehirn, aber die Arbeit auf der Farm tut mir gut. Ich bin zuversichtlich, dass ich mich an dieses neue Leben gewöhnen werde.«

»Sounds good.« Matt nickte zustimmend, während er eine der widerspenstigen Strähnen zur Seite schob und damit seine fast schwarzen Augen freilegte. Er kam optisch ganz nach seiner verstorbenen Mutter Isabell, einer Mexikanerin, die Steve nur von Fotos her kannte. Auch hatte Matts Haut diesen typischen lateinamerikanischen Teint.

»Warum in meiner Bude allerdings ein Radio und ein Fernseher rumstehen, verstehe ich nicht. Das Zeug, was da läuft, kann sich doch niemand, der klar denkt, ernsthaft reinziehen«, ergänzte Steve und kratzte sich an seinem hervorstehenden Kinn. Auch er müsste sich mal wieder rasieren.

»Haha, da stimme ich dir zu, das ist teilweise echt gruselig.« Das Abbild Che Guevaras auf seinem roten T-Shirt schien ebenfalls zu lachen.

»Aber Matt … du weißt, dass du mir nichts vormachen kannst. Was ist los? Sheila?« Steve sah ihm ruhig in die Augen, bis der Junge den Blick senkte.

»Boah, lass die Hellseherei! … Ja, sie hat Schluss gemacht«, sagte Matt traurig.

»Tut mir leid, in Beziehungsfragen kann ich dir überhaupt nicht weiterhelfen«, erwiderte Steve. »Aber ich musste nachfragen.« Insgeheim hatte er es schon befürchtet. In den letzten Gesprächen erzählte Matt bereits weit weniger enthusiastisch von diesem Thema als am Anfang seiner Beziehung zu ihr.

»Ist schon klar, ich erwarte auch gar nicht, dass du mir da weiterhelfen kannst. Kümmere du dich lieber um dein eigenes Liebesleben.« Matt zwinkerte ihm zu. »Und was sehe ich da? Kriegst du etwa graue Haare?«

»Ja, ein Jahr kenne ich dich und seitdem bin ich um zehn Jahre gealtert«, frotzelte der 42-jährige Steve, dessen lange, leicht gewellte, braune Mähne von den ersten silbernen Strähnen durchzogen wurde. Meist band er sie sich hinten zusammen, heute fielen sie offen auf das karierte Holzfällerhemd, welches seine breiten Schultern betonte.

»Wie geht es deinem Bruder?«, schnitt Steve ein neues Thema an.

»Henry kommt so langsam damit klar, dass er den Entführer damals erschossen hat. Jedenfalls benimmt er sich fast wieder so wie früher«, erzählte der 16-jährige. Sein Bild verschwamm kurz. Nachdem er einige Handgriffe am Monitor erledigt hatte, wurde es wieder scharf.

»Das freut mich. Es ist sowieso ein Drama, dass er darunter leiden muss. Schließlich hat er uns das Leben gerettet.« Häufig erkundigte sich Steve nach Matts ein Jahr älterem Bruder. Dieser hatte mit der Entführung Matts und deren Folgen scheinbar mehr zu kämpfen als der Entführte selbst.

»Da hast du natürlich recht. Aber wir bleiben dran und Onkel Bob gibt wie immer sein Bestes. Wie er es damals auch bei mir tat, als unsere Eltern verunglückt waren.« Matt senkte leicht den Kopf. Steve spürte sofort die aufkeimende Traurigkeit des Jungen.

»Na ja, es kommen wieder bessere Zeiten«, kam pathetisch von Steve.

»Amen«, erwiderte Matt im gleichen Tonfall.

»So, ich würde gern weiter mit dir quatschen, aber ich muss ins Bett. Morgen geht’s früh los auf der Ranch. Lass den Kopf nicht hängen wegen Sheila. Das Leben geht weiter. Wir sehen uns, mein Freund. Grüß Bob und Henry. Bye.« Er winkte in die Kamera.

»Damit hast du wohl recht. Ich muss auch noch etwas für die Schule machen. Aber wenn ich genauer drüber nachdenke, guck ich doch lieber ein paar Folgen Breaking Bad.« Grinsend formte er das Victoryzeichen. »Gute Nacht, Steve.«

Kapitel 4

Sonntag, 9. Juli
Bereits zum fünften Mal in den letzten zwei Wochen nahm Damien den Weg nach Pueblos auf sich. Tagelang hatte er den Stadtplan und die Busverbindungen studiert. Aufgrund seines fast fotografischen Gedächtnisses fiel ihm das leicht. Die Theorie jedoch in die Praxis umzusetzen, stellte auch für den hochintelligenten, 28-jährigen Nachfahren skandinavischer Einwanderer eine gewisse Herausforderung dar. Aber das gehörte zum Krieg dazu. Strategisches Handeln erachtete er als seine Stärke. Genauestens merkte er sich, welche Ampelkreuzungen und Busbahnhöfe von Kameras überwacht wurden, wann er wo sein müsste und wann er wo nicht auftauchen dürfte. Ab übermorgen würde er sein nächstes Opfer finden. Damien folgte immer demselben Muster und die Schlampen lernten es nie. Das Schuljahr über studierte er gewissenhaft die Profile seiner möglichen Beute auf Facebook, Instagram und Twitter. Er profitierte von ihrem unendlichen Mitteilungsdrang: Immer wieder posteten sie, wann und wo sie welche Party oder welches Konzert besuchen würden. Privatsphäreeinstellungen ignorierten die meisten, so konnte er in der Regel mühelos deren Wohnort mit wenigen Mausklicks herausfinden. Wie dumm sie sich doch verhielten! Damien schmunzelte in sich hinein. Er wusste genau, welche Buslinien in die noblen Vororte fuhren, in denen die wohlhabenden Familien residierten. Er kannte alle Haltestellen und hatte eine genaue Vorstellung, wo er ungefährdet zuschlagen können würde. Er müsste einfach nur abwarten. Natürlich klappte es nicht immer. Manche Nächte fuhr er mit leerem Kofferraum nach Hause, ohne ein passendes Mädchen gefunden zu haben. Einige Male musste er abbrechen, weil urplötzlich Passanten auftauchten und sein Vorhaben durchkreuzten. Selbst ein perfekter Plan unterlag einigen Unwägbarkeiten. Aber jemand meinte es gut mit ihm: Spätestens nach sieben oder acht Versuchen fand er immer eine dieser kleinen Schlampen, die glaubten, die Welt würde ihnen gehören und der Rest der Welt ausschließlich existieren, um ihnen Beifall zu klatschen.

»Diese widerlichen Flittchen bringen nur Unglück über die Welt – niemand braucht sie!«, hatte Damiens verstorbene Mutter ihm mit scharfer Stimme in seiner Kindheit immer wieder eingeimpft.

»Ich weiß, Mom, ich weiß«, sagte er, während er seine Brille zurechtrückte.

Er fühlte sich gut. Nein, er fühlte sich mächtig. Und er tat das Richtige. Irgendwann würden die ignoranten Leute von der Presse und der Polizei es verstehen. Nemesis-Killer nannten sie ihn. Er selbst sah sich aber nicht als Killer, er war ein Großmeister der Vergeltung. Trotzdem fühlte er sich jedes Mal geschmeichelt, wenn seine Heldentaten, in welcher Form auch immer, der Öffentlichkeit präsentiert wurden.

Diese kleinen Schlampen und deren Eltern bekämen das, was sie für ihren Hochmut und ihre Arroganz verdienten. Sie würden bezahlen für das Leid, welches er in seiner Kindheit und Jugend hatte ertragen müssen. Damien geriet stets in Rage, wenn er an früher dachte – an die Cheerleaderinnen und Ballköniginnen, die ihn nie auch nur eines Blickes gewürdigt hatten, die ihn auslachten, als er es einmal gewagt hatte, eine von ihnen anzusprechen.

»Warum hast du das auch getan, mein Junge? Du bist viel zu gut für diese Schlampen! Denk doch nur daran, was sie unserer Familie angetan haben!«, tadelte ihn seine Mutter damals.

Natürlich, sie gingen mit dem Quarterback des Footballteams oder den Stars des Basketballteams ihrer Schule, auf keinen Fall mit einem von seinesgleichen.

»Das sind alles verdorbene, nutzlose, kleine Dirnen, jede nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht«, hatte sie früher oft gesagt. Anfangs hatte Damien daran gezweifelt, doch je älter er wurde, desto besser verstand er seine Mutter. Die Nerds, zu denen er zweifelsfrei gehörte, existierten nur dann für sie, wenn sie ihnen bei den Hausaufgaben helfen konnten. Aber wehe, einer der Nerds hatte es gewagt, sie in der Öffentlichkeit anzusprechen! Diese Barbies und deren Eltern, die sich mit ihren bildhübschen Töchtern schmückten. Die herablassend auf alle sahen, die nicht zu deren handverlesenem Zirkel gehörten. Damien hasste sie so sehr. Und er sah ein, dass seine Mutter von Anfang an recht gehabt hatte.

Die Collegezeit hatte ihm als Vorbereitung gedient, um seinen Krieg beginnen zu können. Den Master of Science für Physik und Chemie erwarb er dank der ihm eigenen wahnsinnigen Motivation fast im Vorbeigehen. Er schloss als einer der fünf Besten seines Jahrgangs ab. Die hübschen Kommilitoninnen behandelte er freundlich und half ihnen, wenn er darum gebeten wurde.

»Wähnt euch nur in Sicherheit, ihr werdet alle dafür bezahlen!«, sagte er sich dabei stets.

Kurz darauf glaubte er sich am Ziel: Er bekam eine Anstellung an der Highschool in Hays, wo er Naturwissenschaften unterrichtete. Jetzt konnte er den Feldzug beginnen. Er wollte Rache üben, indem er die Schönheitsköniginnen der einzelnen Jahrgänge in seinen Fächern schlecht benotete, sie vor den normalen Schülern vorführte, sie lächerlich machte. Sie sollten heulend aus der Klasse laufen und ihren Eltern vom bösen Mr. Staanson berichten. Dann würde er diese in den folgenden Gesprächen verhöhnen und sie erniedrigen. Er würde sie leiden lassen und auf ganzer Linie siegreich sein.

Schnell hatte Damien Staanson einsehen müssen, dass sein Plan nicht aufgehen würde. Viel zu sehr schränkten ihn die Formalitäten ein: Er musste Vorgaben der Schulleitung einhalten, Gesetze und Verordnungen befolgen, kurz um – es wurde ein Desaster und Damiens Hass wuchs umso mehr.

Schließlich kam ihm der perfekte Gedanke und der Schmerz, welchen sein erstes Opfer, Betty Miller, und ihre Eltern erleiden mussten, ließ ihn erstmals triumphieren. Der Fernsehbericht, in welchem seine Tat detailliert geschildert wurde, ließ ihn ekstatisch aufschreien. Alles lief wie geplant. Auch seine nächsten Entführungen gestalteten sich fast problemlos. Von Mal zu Mal fühlte er sich mächtiger und stärker. Damien konnte es am Anfang eines neuen Schuljahres kaum abwarten, bis die nächsten Sommerferien begannen. Bis die Cheerleader sich auf ihren Urlaub und die Partys am Strand freuten, und wieder eine von ihnen für alles bezahlen musste.

»Du machst das gut, mein Junge«, hörte er die stolze Stimme seiner toten Mutter jedes Mal, wenn er wieder eine Schlacht gewonnen hatte. Und jedes Mal stimmte er ihr lächelnd zu.

Kapitel 5

Mittwoch, 12. Juli
Steve hatte heute keine Verabredung via Skype. Nach dem anstrengenden Arbeitstag auf der Farm stand er jetzt unter der erfrischenden Dusche, um sich den Staub vom Körper zu spülen. Der Architekt der Wohnung schien nicht der Längste gewesen zu sein: Mit seinen 1,85 m stieß Steve an den Duschkopf, wenn er sich komplett aufrichtete. Langsam gewöhnte er sich an das alles hier, an das neue Leben.

Vor vielen Jahren hatte er mit seinen Eltern gebrochen und seither keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt. Er wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebten. Manchmal fragte er sich, ob er sich dafür schämen müsste, dass es ihn nicht interessierte. Hin und wieder überkamen ihn die Erinnerungen an früher, als sowohl seine Eltern als auch Nachbarn, Mitschüler und Lehrer ihn sonderlich, ja sogar verrückt nannten. Lange hatte er geglaubt, dass die letzten anderthalb Jahrzehnte, die er in der Einsamkeit der Rocky Mountains gelebt hatte, sein Paradies auf Erden wären.

Je länger er nun hier in der Zivilisation verbrachte und die ersten Freundschaften aufbaute, umso mehr merkte er, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Obwohl er sich an viele Dinge hier gewöhnen musste, stellte er doch fest, dass er jetzt sehr zufrieden, fast glücklich lebte. Er mochte den Umgang mit den Menschen: sei es Matt und dessen Familie, die er ab und zu traf, seine Vorarbeiterin Sally, für die er mehr als reine Sympathie empfand, sein Chef Clay oder sein Nachbar Frank, mit dem er hin und wieder ein Bier zischen ging. Ganz langsam tastete er sich an die Normalität heran, die er bisher nicht gekannt hatte.

»Du bist ein gefühlsduseliger Spinner«, schalt er sich lächelnd. Steve schamponierte seine braunen Haare und begann, unter dem Rauschen des Wassers, das aus dem Duschkopf auf ihn hinunter prasselte, Wonderful world von Sam Cooke zu intonieren – nicht schön, aber laut. Gesungen hatte er bisher eher selten, was nicht ausschließlich an seinem fehlenden Gesangstalent lag.

Kapitel 6

Freitag, 14. Juli
Damien spürte wieder das Raubtier in sich. Jede Faser seines Körpers schien von Neuronensignalen überflutet zu werden. Seit über einer Stunde parkte sein dunkelblauer Honda im Schutze tiefhängender Äste eines Ahornbaumes schräg gegenüber der Bushaltestelle. Von dort konnte er den gesamten Vorplatz beobachten. Langsam sollte sein Opfer auftauchen. Beethovens Klaviersonate Nr. 14 lief nur deshalb auf viertel Lautstärke, damit niemandem ein Auto auffiel, aus dem klassische Musik erklang. Richtig genießen konnte Damien Musik nur, wenn er seine Anlage bis zum Anschlag aufdrehte. Sehr wenige Leute spazierten kurz nach Mitternacht in dieser Gegend umher. Außer einem Fahrradfahrer, der wie von der Tarantel gestochen an ihm vorüber raste, zählte er zehn vorbeifahrende Autos, seit er seinen Posten bezogen hatte. Die Zeit verstrich. Gerade spielte er widerwillig mit dem Gedanken, seine heutige Mission abzubrechen, da betrat Michelle die Bühne. Das 18-jährige, blonde Mädchen stakste auf viel zu hohen Absätzen, die sie älter wirken ließen, zu einer Sitzbank und nahm darauf Platz. Das Massieren ihrer schlanken Waden bestätigte seinen immer gehegten Verdacht, dass diese Schuhe unbequem sein mussten.

»Die Waden werden bald dein geringstes Problem sein, Miststück«, brummelte er mit einem anzüglichen Lächeln vor sich hin. Sie schien nervös zu sein, denn ihr Blick wanderte rastlos von der einen zur anderen Seite. Sie hatte ihre langen Beine überschlagen und wippte unablässig mit dem oberen Fuß. Die Uhr unterhalb seines Tachometers verriet ihm, dass ihr Bus in drei Minuten planmäßig ankommen müsste.

Nachdem sich vier Minuten später das spärlich besetzte Fahrzeug mit Michelle an Bord in Bewegung gesetzt hatte, hängte sich Damien in weitem Abstand hinten dran. Von seinem Opfer trennten ihn nun ungefähr 300 Meter und ein schwarzer Chevrolet Suburban, der dem Bus folgte. Damien bog an der zweiten Straße nach links ab und musste zwei Blocks weiter vor einer roten Ampel warten. Der Bus mit seiner Fracht kreuzte vor ihm, mit etwas Abstand immer noch den Chevrolet im Schlepptau.

»Interessant, sie scheinen langsam dazu zu lernen.« Damien lächelte anerkennend in sich hinein. Diesmal folgte er ihnen nicht, sondern fuhr geradeaus und wartete drei Blocks weiter am Straßenrand. Nach fünf Minuten passierte ihn der Bus und etwas später auch der Chevrolet. Damien erkannte dank der Straßenbeleuchtung zwei Männer in Anzügen, die seiner angedachten Beute hinterherfuhren. »Ach Leute, etwas mehr Mühe dürft ihr euch schon geben.« Er wendete seinen Wagen, drehte die Musik bis zum Anschlag und Beethoven begleitete ihn nach Hause.

Kapitel 7

 

 

Sonntag, 16. Juli

»Und vergiss nicht, um ein Uhr bist du spätestens wieder hier, Helen.« Demonstrativ tippte er mit dem Zeigefinger auf seine Uhr.

»Klar, Dad. Ich nehme den Bus um Viertel nach zwölf.« Sie nickte gespielt ehrfürchtig. Der Duft ihres Lavendel-Parfums erfüllte den Flur, als sie auf ihren Sneakers an ihrem Vater vorbei zur Haustür tippelte.

»Dann viel Spaß und nicht zu viel Alkohol, Schatz!«

»Du weißt doch, dass ich nichts trinke, Dad. Und es ist schließlich keine Poolparty, wir feiern doch nur in unserer Mädelsrunde«, erwiderte Helen zwinkernd. Dann lief sie fröhlich winkend von der Auffahrt in Richtung Bushaltestelle. Ihr Pferdeschwanz wippte im Rhythmus ihrer schnellen Schritte. Helens Vater sah seiner hübschen, blonden Tochter besorgt hinterher. Er ließ sie ungern abends gehen, insbesondere, wenn sie das Haus in ihrem kurzen Jeansrock verließ, so wie heute.

Fünfzehn Minuten später saß die 17-jährige Helen im Bus. Sie wippte unruhig mit dem Fuß und in ihrem Bauch kribbelte es, als pilgerte ein Regiment Ameisen auf dem Jacobsweg. Helen freute sich seit Tagen so sehr auf diesen Abend, allerdings nicht mit der Mädelsrunde.

Als sie acht Haltestellen später aus dem Bus stieg, wartete dort bereits ein junger Mann auf sie. Sie fielen sich sofort verliebt um den Hals und küssten sich innig.

»Endlich habe ich dich wieder!«, hauchte der schlaksige, junge Mann ihr verzehrend ins Ohr, nahm ihre Hand und führte sie an den beiden Buchen vorbei zu einem von unregelmäßigen Schieferplatten gesäumten Weg.

»Ich habe dich auch unheimlich vermisst, Ray. Aber in zwei Monaten ist das Versteckspiel endlich vorbei.«

»Du glaubst immer noch, dass dein Vater mich akzeptieren wird, nur weil du dann volljährig bist? Einen Vorbestraften?« Sie erreichten die Grünfläche des angrenzenden Parks, welche die Ausmaße eines Baseballfeldes hatte. Der warme Juliabend lud dazu ein, ihn romantisch im Park zu verbringen.

»Du hast doch keine Bank überfallen oder jemanden ermordet. Aber stimmt schon, meine Eltern sind da echt intolerant«, sagte sie bedrückt. Der mittlerweile 20-jährige Ray hatte sich drei Jahre zuvor unter Alkoholeinfluss den Wagen seines Vaters für eine Spritztour mit Freunden ausgeliehen, natürlich ohne dessen Zustimmung. Dabei fuhren sie einen Mann an und verletzten ihn schwer. Ray hatte bereits wegen Besitzes von Cannabis, kurz bevor Colorado Ende 2012 den Anbau und Verzehr von Marihuana legalisierte, mehrere Sozialstunden ableisten müssen. Daher hatte ihn der Richter wegen des neuen Deliktes zu sechs Monaten Jugendarrest verurteilt.

»Na ja, egal, in zwei Monaten können sie uns mal«, sagte sie trotzig und fiel ihm abermals um den Hals. Er sog tief ihren Lavendelduft ein, der durch die Temperaturen des schwülen Sommerabends noch intensiver wirkte.

»Wow, du hast dir ja richtig Mühe gegeben«, sagte Helen entzückt, als sie die reichhaltig bestückte Picknickdecke hinter den Rhododendronbüschen entdeckte. Ihre himmelblauen Augen strahlten ihn an. Das fröhliche Lachen zweier Mädchen, die ein paar Meter neben ihnen Federball spielten, drang zu ihnen herüber.

Sie hatten sich ungefähr vier Monate zuvor auf einem Rockfestival kennengelernt, als beide vor den Toiletten gewartet hatten und er ihr, ganz Gentleman, den Vortritt auf eine Herrentoilette gelassen hatte. Welch Romantik, scherzten sie immer wieder.

»Wie kann ich mich dafür erkenntlich zeigen?«, hatte sie ihn damals gefragt, nachdem sie buchstäblich in letzter Sekunde das WC erreicht hatte.

»Falls du mir deine Nummer gibst, sind wir quitt«, antwortete er mehr im Spaß, da hatte sie schon angefangen, sie ihm mit ihrem Kajalstift auf seinen Arm zu kritzeln.

Seit diesem Abend nutzten sie jede Möglichkeit, um sich heimlich zu treffen. Bisher hatte Helen weder ihren Eltern überhaupt, noch ihrer besten Freundin Marie näheres von ihrem Schwarm erzählt. Marie wusste lediglich, dass Helen ihren Traumtypen kennengelernt hatte. Das reichte der besten Freundin als Grund, um als Alibi zu fungieren.

Sie alberten herum und verspeisten die Leckereien, die Ray mitgebracht hatte. Immer wieder verlor sich Helen in seinen grauen Augen. Die Zeit verging wie im Flug.

Mittlerweile umhüllte die Dunkelheit den Park. Die Federballspielerinnen hatten ihn bereits vor über einer Stunde verlassen, und auch sonst war keine Menschenseele mehr zu sehen. Die Anlage schien heute Nacht allein ihnen zu gehören – und Helen war bereit. Engumschlungen küssten und streichelten sie sich, langsam zogen sie sich aus. Das Mondlicht ließ Helens makellose, junge Haut schimmern wie Elfenbein. Auf einer weichen, karierten Wolldecke, geschützt von der Dunkelheit und den Rhododendronbüschen, erlebte das blonde, langhaarige Mädchen ihr erstes Mal. Als er in sie eindrang, verspürte sie einen leichten Schmerz, doch die Verliebtheit und das romantische Flair sorgten dafür, dass es zu einem wundervollen Erlebnis für sie wurde. Verschwitzt aber glücklich lagen sie lange Zeit nur so da und fantasierten über ihre Zukunft. Der laue Sommerwind kühlte ihre erhitzten Körper langsam ab. Sie hätten am liebsten die Zeit angehalten.

»Verdammt, ich muss zum Bus!«, rief Helen erschrocken, als sie eher beiläufig auf die Uhr schaute. Die romantische Stimmung wurde jäh unterbrochen.

»Wirklich? Jetzt schon? Komm, lass uns durchbrennen!«, schlug Ray halb im Scherz vor. Er schaute sie mit seinem treusten Hundeblick an.

»Du bist so süß, aber ich muss jetzt leider wirklich los. Mein Vater ruft sonst die Polizei.« Zwinkernd sprang sie auf. Sie packten schnell ihre Sachen zusammen und eilten zum Bus.

»Mir ist nicht wohl dabei, dich allein durch die Nacht fahren zu lassen«, sagte Ray besorgt.

»Oh, noch süßer. Von der Haltestelle hab ich nur gut zehn Minuten nach Hause und der Busfahrer wird mich schon nicht überfallen«, beruhigte sie ihn. Sie küssten sich innig zum Abschied. Widerwillig entließ er sie aus seiner Umarmung, dann verschwand sie in den mittlerweile vorgefahrenen, fast leeren Bus. Der Busfahrer tippte kurz etwas in sein Handy, dann schloss er die Tür und brummend setzte sich das Fahrzeug mit der winkenden Helen in Bewegung.

»Ihre Haltestelle, Miss!« Verträumt hätte Helen sie fast verpasst. Sie sprang auf und stieg aus.

»Danke, ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend«, verabschiedete sie sich. Der Fahrer nickte und winkte ihr kurz zu. Zischend schloss sich die Tür und der Bus fuhr in die Nacht davon.

Mit etwas schlechtem Gewissen aber einem unglaublich schönen Glücksgefühl lief sie den schwach beleuchteten Gehweg entlang, vorbei an den gepflegten Vorgärten, die durch Hecken oder kleine Mauern vom Weg abgegrenzt wurden. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch schienen auf Koks zu sein. Helen summte eine Melodie, deren Titel ihr gerade nicht einfallen wollte, die Grillen sorgten für den passenden Background. Von ihrem Heim trennten sie noch ungefähr 500 Meter. Sie zupfte ihren Rock und ihre weiße Bluse zurecht und hoffte, ihrem Vater würde der kleine Grasfleck am Ärmel nicht auffallen. Völlig in Gedanken merkte Helen nicht, wie sich ihr jemand von hinten näherte. Erst als der Mann sie fast erreicht hatte, registrierte sie etwas, drehte sich erschrocken um und suchte panisch in ihrer Handtasche nach dem Pfefferspray. Dazu, es zu benutzen, kam sie nicht mehr. Zu schnell geschah alles: Der Mann presste ihr grob ein feuchtes Tuch aufs Gesicht und raunte ihr etwas zu, das sie nicht verstand. Er riss sie mit dem Arm zur Seite und zerrte sie hinter eine Zypressenhecke. Als sie schockiert die Luft einsog, spürte Helen ein scharfes Brennen in den Augen. Sie hatte das Gefühl, ihre Lungenflügel würden explodieren. Was passiert hier?, schoss es ihr durch den Kopf. Sie wollte um sich schlagen und treten, ihre Gliedmaßen versagten jedoch ihren Dienst. Sie schienen so schwer, als bestünden sie aus Blei. Der einzelne Stern, den sie durch eine Lücke in der Hecke funkeln sah, verschwamm. Schwach nahm sie den Geruch von Leder wahr, dann wurde es dunkel ...

 

***

 

Das nächste Gefecht stand bevor. Eine weitere Etappe seines Krieges, als dessen sicherer Sieger er sich jetzt schon sah. Der sternenklare Himmel tauchte die schwüle Nacht in ein phosphoreszierendes Licht. Damien Staanson folgte dem Bus bereits seit einigen Stationen mit großem Abstand. Der kleine Misserfolg vor zwei Tagen heizte seine Motivation zusätzlich an. Er hatte sich wie jedes Mal die Route des Busses haarklein eingeprägt und fuhr nicht direkt hinter diesem her, sondern kreuzte zwischen den Haltestellen seine Tour. Die Schlampe stieg gerade aus.

»Wie glücklich du doch aussiehst und wie fröhlich du dem Fahrer zuwinkst«, flüsterte er diabolisch grinsend vor sich hin. Jetzt musste er nur warten, bis der Bus den Ort des baldigen Geschehens verlassen hatte. Die Straßen und Bürgersteige lagen menschenleer vor ihm, die vereinzelten Laternen beleuchteten die Wege dürftig. Es schien wieder so einfach. Damien parkte seinen Honda am Straßenrand, stieg aus, schloss leise die Fahrertür und überbrückte die 30 Meter Distanz zu seinem Opfer binnen Sekunden. Die Herstellung des Betäubungsmittels, mit welchem er das Tuch in seiner Jackentasche getränkt hatte, fiel ihm als Chemielehrer kinderleicht. Kurz bevor er sie erreichte, drehte sie sich um.

»Zu spät, Schlampe, sag goodbye«, zischte er sie an. In einem Bewegungsfluss drückte er ihr das Tuch aufs Gesicht und zog das sich nur schwach wehrende Mädchen hinter die hüfthoch gewachsene Hecke. Ihre verzweifelten Versuche, ihn zu schlagen und zu treten, gingen ins Leere. Innerhalb weniger Sekunden verlor sie das Bewusstsein. Blitzschnell durchsuchte er sie und warf ihr Handy achtlos ein paar Meter weiter in die Büsche. Nachdem sich Damien versichert hatte, ungesehen zu seinem Wagen gelangen zu können, hob er das bewusstlose Mädchen hoch und warf sie über die Schulter wie einen Sack Blumenerde. Am Honda angekommen öffnete er den Kofferraum und ließ das Mädchen unsanft in die Kunststoffschale fallen, die diesen auskleidete. Er spähte abermals in die Runde, ob ihn jemand gesehen hatte. Er konnte nichts Auffälliges entdecken. Damien zog einen Klarsichtbeutel und eine Schere aus der Jackentasche. Mit dieser schnitt er dem Mädchen wahllos eine Strähne aus ihrem blonden Haar und verstaute sie zusammen mit einem Bild im Beutel. Diesen legte er auf den Gehweg und beschwerte ihn mit einem Stein, den er aus dem Kofferraum geholt hatte. Mit einem Schnurren setzte sich das japanische Gefährt in Bewegung. Der Ort des Geschehens hatte sich wieder zum Vorstadtidyll im Sternenlicht gewandelt.

 

***

 

Helens Vater schaute wiederholt sorgenvoll zur Uhr. Ihre Mutter schlief bereits, er wollte sie nicht wecken.

»Wo bleibst du nur, Mädchen? Es ist gleich halb zwei.« Mehrfach hatte er versucht, sie anzurufen, doch jedes Mal meldete sich nur die Mailbox. Er konnte es nicht aushalten und machte sich auf den Weg zur Haltestelle. Zwischendurch wählte er immer wieder ihre Handynummer. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinen Eingeweiden aus. Bisher hatte er sich stets auf Helen verlassen können. Er zuckte zusammen, als er schließlich ihren Klingelton vernahm. Chaine To The Rhythm plärrte Katy Perry links von ihm aus dem Gebüsch. Sofort fand er das Handy und erkannte es als das seiner Tochter. Kalter Schweiß überzog seine Stirn, sein Magen krampfte. Er schrie verzweifelt ihren Namen in den Nachthimmel, doch außer den Rufen einer Eule antwortete niemand auf sein Flehen. Er lief panisch hin und her und rief abermals mit zittriger Stimme ihren Namen:

»Helen, wo bist du?« Nach einigen Versuchen verlor er die Hoffnung, dass er eine Antwort bekäme, egal, wie lange, wie laut und wie oft er noch nach ihr rufen würde. Die ersten Nachbarn schalteten, geweckt von seinen Rufen, vereinzelt die Beleuchtungen an.

»Oh mein Gott, das darf doch nicht wahr sein!«, schluchzte er resignierend, während er kraftlos auf die Knie sackte. Wie ferngesteuert wählte er unter Tränen die Nummer der Polizei.

 

***

 

Keine Stunde später hatten Einsatzkräfte der örtlichen Polizei das Gebiet weiträumig abgesperrt. Gelbes Trassierband bildete einen krassen Kontrast zu den erdigen Tönen der Umgebung und dem Grau des Asphaltes der Straße. Dutzende uniformierte Beamte riegelten den Tatort vor den mittlerweile zahlreichen, vom Aufruhr geweckten Nachbarn ab. Das regelmäßige Aufblinken des Signallichts der unzähligen Streifenwagen untermalte dieses Schauspiel. Es dauerte keine weitere Stunde, bis Jessica Smith und Mark Jones am Tatort erschienen. Ihre dunklen Anzüge ließen bereits von Weitem erahnen, dass es sich bei ihnen um FBI-Agents handelte.

»Agent Smith und Jones? Euer Ernst? Ich hatte ja immer den Verdacht, dass dieser Typ ein Außerirdischer ist«, scherzte der dienstälteste Officer und brachte die beiden umgehend auf den aktuellen Kenntnisstand. Der 32-jährige, dunkelhaarige Mark Jones und die drei Jahre ältere Jessica Smith bedachten ihn wegen des flachen Witzes mit einem müden Lächeln. Sie hatten ihn in den letzten Jahren zu oft gehört, seit sie ein Team bildeten.

»Der Vater des Mädchens sitzt drüben im Einsatzwagen. Er meint, sie hätte den Abend bei ihrer Freundin verbracht, einer gewissen Marie Steward. Der Doc hat ihm etwas zur Beruhigung gegeben, er steht unter Schock. Wir haben bisher nur abgesperrt, die Schaulustigen im Zaum gehalten und damit begonnen, die Anwohner zu befragen. Nachdem wir das hier gefunden haben, war uns klar, dass ihr das übernehmen werdet«, berichtete er, während er mit einem Bleistift die Tüte mit den Haaren des Opfers hochhielt. Die Agents betrachteten den Inhalt.

»Verdammt, es besteht kein Zweifel«, stellte Mark fest und schüttelte angewidert den Kopf.

»Es wird langsam Zeit, dass wir diesen kranken Hurensohn aus dem Verkehr ziehen«, erwiderte die blonde Jessica, während sie ihre Fingerknöchel knacken ließ.

»Das ist jetzt das sechste Mädchen innerhalb der letzten drei Jahre«, fügte Agent Mark Jones grimmig hinzu.

»Officer, ich will, dass Sie jeden einzelnen Bewohner zwischen der Haltestelle und dem Haus des Mädchens aufwecken und befragen! Finden Sie heraus, wer den Bus gefahren hat und ob noch andere Fahrgäste drin saßen.« Sie beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis in der Luft. Ihre sportliche Figur bei einer Größe von 1,79 m unterstrich ihre dominante Ausstrahlung. »Ich will alle Bilder der Verkehrsüberwachung im Umkreis von drei Meilen, seit der Bus hier durchgefahren ist und von den zwei Stunden davor«, befahl Jessica Smith, während der Polizist nickte und eifrig Notizen machte.

»Die Befragungen laufen ja bereits, seit wir vor Ort sind«, fügte er hinzu.

»Danke, Officer, die Spurensicherung kommt jeden Moment. Ihre Leute haben gute Arbeit geleistet, endlich mal kein plattgetretener Tatort. Haben Sie die Freundin des Opfers erreicht?«, fragte Agent Mark Jones. Er stand neben seiner gleichgroßen Kollegin, wirkte durch seine breiten Schultern und den durchtrainierten Körper jedoch größer.

»Ja, negativ. Sie meinte, Helen wäre nicht bei ihr gewesen, sondern hätte eine Verabredung mit ihrem heimlichen Freund gehabt. Seinen Namen würde sie nicht kennen und der Vater wüsste nichts davon.«

»Wo ist das Handy des Mädchens?«, wollte Jessica wissen. Ihre graublauen Augen schweiften über den Tatort.

»Drüben beim Einsatzwagen.« Er führte die beiden dorthin und übergab Jessica das vom Vater gefundene Smartphone. Da glücklicherweise keine Sperrfunktion den Zugriff verhinderte, gelang es ihr in kürzester Zeit, an die Informationen zu kommen, die sie sich erhoffte.

»Ray dürfte unser Mann sein. Am besten besuchen wir ihn direkt«, schlug Jessica vor, nachdem sie in einem Messenger das Liebesgesäusel eines frisch verliebten Teeniepaares gefunden hatte. Es bedurfte nur eines Anrufes, um an dessen Adresse zu kommen.

Mark drückte dem Officer eine Visitenkarte in die Hand:

»Hier können Sie uns erreichen. Wir brauchen alles, was Sie gefunden haben. Ansonsten sehen wir uns morgen im Departement.« Dann machten sie sich auf den Weg.

Keine 30 Minuten später öffnete den beiden Agents ein offensichtlich schlaftrunkener, junger Mann die Tür zu seinem Appartement.

»Sind Sie Ray Stetson?«, fragte Jessica Smith den schlaksigen Kerl. Seine Augen standen eng über der großen Nase, er erinnerte sie etwas an den jungen Richard Gere.

»Ja, aber wer zur Hölle seid ihr und was wollt ihr mitten in der Nacht von mir?«, fragte Ray etwas unsicher, da er es offensichtlich mit zwei Cops zu tun hatte. Er rieb sich die Augen. Das übergroße Miami Dolphins Shirt hing schlabberig an seinem schmalen Körper herunter.

»Das ist Agent Jessica Smith und ich bin Agent Mark Jones. Wir sind vom FBI und haben ein paar Fragen an Sie. Wir können das in Ruhe hier erledigen oder Sie kommen mit aufs Revier, Ihre Entscheidung.« Beide zeigten ihm ihre Dienstmarken.

Widerwillig trat er zur Seite und bat die beiden hinein. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihn wegen des Grases aufsuchten, welches er vor ein paar Tagen gekauft hatte, schon gar nicht um diese Uhrzeit. Außerdem gehörte das nicht zum Aufgabengebiet des FBI, so meinte er jedenfalls.

»Wo waren Sie heute gegen ein Uhr?«, fragte die Beamtin. Mit steigender Nervosität bemerkte er, dass der weibliche Cop die Nase mehrfach rümpfte. Sie musste etwas riechen.

»Da lag ich im Bett, ich muss morgen früh raus«, log er, denn zum fraglichen Zeitpunkt befand er sich auf dem Rückweg vom Park. Er hatte noch eine halbe Stunde dort im Auto gesessen und den schönen Abend Revue passieren lassen. Er zupfte an seinem Shirt.

»Kennen Sie eine Helen Burke?«, fragte ihr Kollege und musterte ihn mit einem durchdringenden Blick.

»Ja, natürlich. Was ist mit ihr?«, antwortete Ray mit unruhiger Stimme. Es konnte nichts Gutes heißen, wenn das FBI mitten in der Nacht vor der Tür stand und einen nach seiner Freundin fragte.

»Also, Sie und Miss Burke ...«, redete der Agent ruhig weiter, wurde jedoch von Ray unterbrochen:

»Ihr ist doch nichts passiert, oder? Sagen Sie mir, dass ihr nichts passiert ist!«, schrie er fast. Seine Augen wechselten im Sekundentakt zwischen den Agents hin und her. Schweiß schoss aus allen Poren.

Die beiden Cops sahen sich an. Sie waren sich einig, ohne es ausgesprochen zu haben: Er hatte nichts damit zu tun.

»In welcher Beziehung stehen Sie zu Miss Burke?«, setzte Jessica die Befragung ungerührt fort.

»Sagen Sie mir doch erstmal, was überhaupt los ist, gute Frau!«, presste er gequält hervor.

»Beantworten Sie meine Frage, Mr. Stetson«, beharrte Jessica. Ray atmete tief durch und senkte den Kopf:

»Helen ist meine Freundin. Allerdings noch nicht offiziell. Ihre Eltern ...«

»Möchten nicht, dass ihre Tochter mit einem Kriminellen liiert ist?«, fiel sie ihm ins Wort. Natürlich hatten sie sich auf der Fahrt das Register ihres Gegenübers durchgeben lassen. Sie wussten, dass seine Delikte nicht in das Profil eines Serienkillers passten. Dennoch setzten sie ihm gleich die Pistole auf die Brust, jede Minute zählte.

»Krimineller, na toll! Ja, deswegen. Aber jetzt sagen Sie mir endlich, was los ist!«, forderte er mit bebender Stimme.

»Miss Burke wurde entführt. Wir gehen stark davon aus, dass es sich bei dem Täter um den Nemesis-Killer handelt. Deswegen brauchen wir jede noch so kleine oder unwichtig erscheinende Information von Ihnen«, sagte Agent Jessica Smith. Ray schossen die Tränen in die Augen:

»Was? Entführt?« Er taumelte vom kleinen Flur in das Einraum-Appartement und sank auf das zerknautschte Bettsofa. Die Agents folgten ihm in das Zimmer, welches nur von einer Nachttischlampe beleuchtet wurde. Ohne Aufforderung nahmen sie auf zwei Klappstühlen Platz, die neben einem kleinen Tisch gegenüber des Bettsofas standen. »Der Nemesis-Killer? Oh mein Gott! Nein! Sie müssen sie finden! Oh mein Gott, oh mein Gott!«, stammelte er und zitterte am ganzen Körper. »Ich hatte gleich so ein scheiß Gefühl, sie mitten in der Nacht alleine fahren zu lassen. Hätte ich bloß nicht auf sie gehört und sie nach Hause begleitet. Diese scheiß Vorurteile!«

»Beruhigen Sie sich erstmal«, fiel ihm Agent Jessica Smith ins Wort. »Selbstvorwürfe helfen jetzt nicht, wir brauchen Fakten. Wann und wo haben Sie Ihre Freundin zum letzten Mal gesehen?«

Nachdem Ray sich beruhigt hatte, erzählte er den Cops von dem Picknick im Park und dass er Helen um Viertel nach zwölf in den Bus gesetzt hatte.

»Wie viele Fahrgäste saßen noch im Bus? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Ein Auto, das dem Bus folgte, oder jemand, der mit Miss Burke in den Bus stieg?« Jessica rechnete nicht damit, dass viel bei dieser Befragung herauskommen würde. Ray schien nachzudenken:

»Nein, außer ihr stieg niemand ein. Da haben vielleicht drei oder vier Leute drin gesessen. Ein anderes Auto ist mir nicht aufgefallen, aber darauf habe ich auch nicht geachtet«, antwortete Ray. Langsam festigte sich seine Stimme.

»Sonst noch irgendetwas? Haben Sie dem Bus hinterhergesehen? Ist Ihnen im Park irgendjemand aufgefallen?« Jessica durchdrang seine grauen Augen, Ray wich ihrem Blick aus und schaute zu Boden.

»Nein, tut mir leid. Sie werden den Kerl doch erwischen, oder?«, fragte er fast flehend.

»Wir tun unser Bestes«, erwiderte Mark.

»Gut, wir erwarten Sie morgen auf dem Revier, dort wird Ihre Aussage zu Protokoll genommen«, sagte Jessica. Während die Agents aufstanden, drückte Mark dem jungen Mann seine Visitenkarte in die Hand.

»Zögern Sie keinen Moment, uns anzurufen, falls Ihnen zwischenzeitlich etwas einfallen sollte.« Darauf ließen sie den verstörten Mann alleine zurück. Schlaf fand Ray in dieser Nacht nicht mehr, seine Gedanken drehten sich nur um Helen.

»Was haben wir, Jessica?« Mark startete gerade den Motor des dunkelgrünen Chevrolets und fuhr los in Richtung ihres Hotels.

»Nichts! Ein verdammtes Nichts! Und keine 14 Tage mehr, das haben wir.« Frustriert schlug sie mit der Faust gegen die Scheibe der Beifahrertür, die unter dem Schlag erbebte. Der Gefühlsausbruch seiner Vorgesetzten ließ Mark Jones zusammenzucken.

»Vielleicht haben wir Glück und einer der Nachbarn hat etwas gesehen. Irgendwann müssen wir das Schwein doch kriegen«, sagte er ohne große Zuversicht.

»Um 10 Uhr wissen wir hoffentlich mehr.« Sie hatte ein wirklich mieses Gefühl wegen der angesetzten Dienstbesprechung. Bei den vorangegangenen fünf Entführungen des Nemesis-Killers saßen sie bereits ohne jeglichen brauchbaren Anhaltspunkt mit den jeweils zuständigen örtlichen Kollegen zusammen. Falls weder die Nachbarn noch die Spurensicherung etwas beisteuern würden, sah es düster aus für Helen. Ohne es jemals ausgesprochen zu haben, wussten beide, dass langsam auch ihre Karrieren auf der Kippe standen. Schließlich ermittelten die beiden Agents unter Jessica Smiths Leitung seit der ersten Entführung im Nemesis-Fall. Fünf Entführungen innerhalb von drei Jahren, bei denen alle Opfer ermordet aufgefunden wurden – eine bittere Bilanz. Und jeder festgenommene Verdächtige war innerhalb weniger Stunden entlastet und auf freien Fuß gesetzt worden.

Kapitel 8

 

 

Montag, 17. Juli
Durch drei bodentiefe Fenster fiel das Tageslicht in den Konferenzraum im ersten Stock des Pueblo City Police Departments. Der Geruch von Kaffee erfüllte den Raum, der sonst für Besprechungen mit über 25 Beamten genutzt wurde. Um den langen Tisch herum saßen vier Polizisten verteilt. Agent Jessica Smith stand vor dem Kopfende.

»Was wissen wir, meine Herren?« Sie fühlte sich wie gerädert, der vierte Kaffee sorgte aber langsam für etwas Leben in ihr. Jessica hatte gerade mal vier Stunden Schlaf gefunden, dunkle Augenränder bezeugten dies.

»Wir konnten außer dem Beutel lediglich ein paar Fußabdrücke sichern. Den kurzen Schleifspuren nach zu urteilen, wurde das Mädchen etwa 30 Meter von der Stelle entfernt überwältigt, an der sie die Karte gefunden haben. Keine Fasern, keine Kampfspuren, wie bei den anderen Fällen auch diesmal saubere Arbeit«, fasste der 55-jährige Dan White die Ergebnisse der Spurensicherung zusammen. »Der Beutel selbst ist sauber, nicht mal der Ansatz eines Fingerabdruckes. Wie jedes Mal wurde ein handelsüblicher Frischhaltebeutel benutzt.« Entschuldigend hob der kleine, untersetzte Mann mit der Stirnglatze die Hände.

»Die Nachbarn waren wohl alle in der Tiefschlafphase. Niemand, der zufällig aus dem Fenster gesehen oder draußen eine geraucht hat«, fügte Detective Wellington von der städtischen Polizei Pueblos hinzu. »Aber zehn Minuten nach dem Eintreffen der Kollegen strömten sie in Scharen zum Tatort. So viel zum Thema: Vorsicht, wachsamer Nachbar.« Der schmächtige Polizist rückte seine Brille zurecht und sah seine Kollegen an.

»Das Handy des Mädchens haben wir bereits am Tatort gecheckt«, ergänzte Mark. »Den Freund des Opfers, Ray Stetson, haben wir heute Nacht noch befragt. Er brachte sie nach ihrer Verabredung zu ihrem Bus. Ihm ist nichts aufgefallen. Bringt uns nicht weiter.«

»Der Busfahrer wurde heute Morgen vernommen. Ein gewisser Fred Hagman, saubere Akte. Das Mädchen stieg als letzter Fahrgast aus, danach beendete er seine Tour«, führte Detective Wellington aus. »Den Bus hat er ungefähr eine halbe Stunde später pünktlich auf dem Firmengelände abgestellt und ist dann mit dem Fahrrad nach Hause gefahren. Seine Chefin bestätigt die Aussage, sie hielt sich zu der Zeit noch im Büro auf.«

Mark saß bereits seit sechs Uhr früh im provisorischen Büro und hatte die Videos der Verkehrskameras gesichtet:

»Die Auswertung der Verkehrsüberwachung brachte nicht viel. Der Bus taucht sechs Blocks nördlich einmal auf, die nächsten vier Minuten folgt ihm kein anderer Wagen. Ansonsten Fehlanzeige.«

Nachdem niemand der Kollegen mehr etwas beizutragen hatte, straffte sich Jessica und schritt zur großen Tafel, die heute Nacht noch von Colorado Springs nach Pueblo ins Police Department gebracht worden war. Ab sofort würde alles von hier koordiniert werden. Die Tafel teilte sich in sechs Spalten. In jeder hing ein Foto des jeweiligen Opfers und darunter fanden sich alle Hinweise aufgelistet, inklusive der Daten und Verdächtigen. In der letzten Spalte rechts hing nur das relativ aktuelle Foto von Helen.

»Das haben wir vor zwei Wochen aufgenommen, als es Zeugnisse gab«, hatte Helens Mutter unter Tränen erzählt.

»Meine Herren, wir haben es höchstwahrscheinlich mit Opfer Nummer sechs des Nemesis-Killers zu tun.« Sie begann an der linken Seite:

 

»Betty Miller, damals 16, aus Phoenix / Arizona. Entführt am 29. Juni 2014, erdrosselt aufgefunden am 13. Juli 2014.

 

Deborah Greenwood, 17, Albuquerque / New Mexiko, 1. Juli 2015 / 14. Juli 2015

 

Laura Ingrim, 18, St. George / Utah, 31. Juli 2015 / 13. August 2015

 

Carrie-Ann Freewick, 16, Henderson / Nevada, 3. Juli 2016 / 16. Juli 2016

 

Gillian Andrews, 19, Denver / Colorado, 5. August 2016 / 18. August

 

Helen Burke, 17, Pueblo / Colorado, entführt am 17. Juli 2017!«

 

Bei jedem Mädchen ihrer Aufzählung trat sie neben die zugehörige Spalte.

»Bei allen Opfern handelte es sich um bildhübsche, langhaarige Blondinen. Jede trug bei ihrer Entführung figurbetonte, knappe Kleidung. Tathergang bei allen Fällen identisch: Die Opfer wurden auf den letzten Metern vor ihren Elternhäusern überfallen, nachdem sie aus einem Bus gestiegen waren. Niemals Kampfspuren. Jedes Mal ein Beutel mit einem Haarbüschel des Opfers und dem immer gleichen Bild der Nemesis, mit einem Stein beschwert am Straßenrand nahe des Tatortes platziert. Tatzeit jeweils zwischen 0 und 3 Uhr morgens. Immer während der Sommerferien.«

Mark Jones übernahm:

»Ausgehend davon, dass die Entführungsnacht als Tag 1 zählt, wurden die Opfer genau dreizehneinhalbtage später in der Mittagszeit ermordet. Der Täter hat sie so platziert, dass sie immer an diesem 14. Tag nachmittags gefunden wurden – erdrosselt und mit geschorenem Kopf nackt an einem scheinbar genau ausgesuchten, verlassenen Ort. Die Fundstellen lagen zwischen 190 und 210 Meilen vom jeweiligen Entführungsort entfernt. Die Opfer wiesen neben den Würgemalen am Hals deutliche Spuren von Fixationen an den Hand- und Fußgelenken auf. Zusätzlich fanden sich bei allen Blutergüsse sowohl im Gesicht als auch am Körper, die mutmaßlich von stumpfen Schlägen stammen.« Jessica ergänzte:

»Keines der Opfer wurde vergewaltigt. Bei keinem der Opfer fanden sich Spuren des Entführers, weder Haare oder Hautschuppen noch Bekleidungsfasern. Die Opfer wirkten gepflegt, als ob sie am Todestag noch gewaschen wurden. Die letzte feste Nahrung bekamen sie laut Autopsie zwei bis drei Tage vor ihrem Tod.« Agent Jessica Smith war in ihrem Element.

»Laut dem Profiler aus Denver suchen wir nach einem kräftigen Mann zwischen 30 und 40 Jahren, 1,75 m bis 1,85 m groß, Linkshänder, alleinstehend, höherer Bildungsgrad – möglicherweise Lehrer, Dozent, Mediziner oder Erzieher. Höchstwahrscheinlich Einzeltäter. Offenbar geringes Schuldempfinden, falls überhaupt vorhanden. Gute bis sehr gute naturwissenschaftliche Kenntnisse. Darauf deuten die absolut sauberen Tatorte und das wohl dosierte Betäubungsmittel hin, mit denen die Mädchen kampfunfähig gemacht wurden. Die Taten waren sorgfältig organisiert und mit gewisser Risikobereitschaft ausgeführt. Die Opfer standen mutmaßlich in keiner persönlichen Beziehung zum Täter. Keine körperlich sexuelle Motivation«, fügte Dan White hinzu.

Das fünfte anwesende Mitglied des aktuellen Nemesis-Teams, Detective Anderson, schwieg die ganze Zeit über. Man konnte ihm seinen Unmut ansehen. Es ging dem übergewichtigen Polizisten der Colorado State Patrol gegen den Strich, dass das FBI hier das Zepter schwang. Das jedoch ließ Agent Jessica Smith vollkommen kalt, hier ging es um das Leben des Mädchens – und um ihren eigenen Arsch.

»Meine Herren, uns bleiben dreizehn Tage, um uns diesen kranken Hurensohn zu schnappen. Falls uns das nicht gelingt, werden wir das sechste tote Mädchen finden.« Sie ließ die Worte kurz wirken. »Detective Anderson, Detective Wellington, Sie kümmern sich bitte um die Colleges und Highschools. Dan, Sie lassen abermals alles durch den Computer laufen und checken die Krankenhäuser ab. Mark, wir schauen uns die Busroute und den Tatort an und unterhalten uns nochmal mit dem Freund des Mädchens.« Sie wandte sich Mark zu, der seiner attraktiven Kollegin gebannt an den Lippen hing. »Ich brauche Kaffee – einen Liter!«

 

***

 

Helen überkam quälende Übelkeit als sie erwachte. Sie drehte benommen den Kopf nach links und rechts. Der scharfe Geruch von Desinfektionsmittel stieg ihr in die Nase, ein bitterer Geschmack wie von einer Grapefruit breitete sich aus. Ihr schoss ein durchdringender Schmerz in den Kopf, als bohrten sich hinter ihren Schläfen zwei glühende Stecknadeln von innen in ihre Augäpfel. Sie öffnete langsam die Lider und schloss sie sogleich wieder, weil ihr das grelle Licht einer Neonröhre in den Augen brannte. Panik brandete in ihr auf, als würde Löschwasser aus einem Hydranten schießen. Wo zum Henker war sie hier? Was war passiert? Oh Gott! Nein! Helen erinnerte sich schemenhaft an den gestrigen Abend. Sie hatte den Bus verlassen und lief den Gehweg entlang nach Hause, als sie plötzlich die bedrohlichen Schritte hörte, die sich ihr schnell näherten. An mehr konnte sie sich nicht erinnern. Oh Gott, jemand hatte sie entführt. Nein! Das kann doch nicht sein! Sie wollte aufspringen, da schoss ein stechender Schmerz in ihre Arme. Sie konnte sich kaum bewegen. Ihr stockte der Atem, als sie ihre mit Handschellen ans stählerne Bettgestell gefesselten Hände sah. Sie rüttelte heftig an ihren Fesseln, mit der einzigen Folge, dass die Schmerzen unerträglich wurden. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen, die sich unmittelbar mit Tränen füllten. Helen kniff sie mehrfach zusammen, damit sie etwas erkennen konnte und sah an sich hinunter. Tiefe Scham überkam sie, als sie feststellen musste, dass sie nackt auf dem Bett lag. Ebenso wie die Hände hatte man ihr auch die Füße am massiven Bettgestell fixiert. Sie lag auf dem Rücken, die Arme nach oben gebunden und die Beine leicht gespreizt.

»Was? Warum? Das kann doch nicht sein!«, krächzte sie schockiert. Sie übergab sich, ihr Mageninhalt verteilte sich auf der Folie, die als Bettlaken diente. Beim Drehen ihres Kopfes spürte sie, dass etwas mit ihren Haaren nicht stimmte. Sie waren ihr abgeschnitten worden! Sie sah sich in dem fensterlosen, deckenhoch gefliesten Raum um: Links von ihr führte eine Treppe nach oben zu einer geschlossenen Tür, rechts von ihr ragte ein Duschkopf aus der Wand. Daneben stand eine einfache Toilette, eine Rolle Papier lag auf dem Toilettendeckel. Wenn sie den Kopf hob und zwischen ihren Füßen durchsah, erblickte sie eine vielleicht zwei Meter breite und einen Meter hohe Kommode. Darauf lagen ein paar zusammengelegte Handtücher. Helen schluchzte erstickt. Das musste ein Albtraum sein! Sie fühlte sich absolut ausgeliefert und erniedrigt. Die Angst ergriff unaufhaltsam von ihr Besitz.

Sie zuckte zusammen, als die Tür oben knarrend geöffnet wurde. Sie traute sich nicht, ihrem Peiniger ins Gesicht zu sehen. Helen schloss die Augen und wandte ihren Kopf nach rechts. Damien kam lässig die vierzehn Stufen der Betontreppe zu ihr herunter. Seine Schritte hallten bedrohlich laut von den Wänden wider. Mit einem überlegenen Grinsen baute er sich neben ihrem Bett auf und betrachtete sie von oben bis unten. Sexuelle Erregung wegen ihres makellosen, nackten Körpers mit den perfekten Rundungen verspürte er nicht. Er fühlte sich eher wie ein Feldherr, der nach gewonnener Schlacht seine Kriegsbeute begutachtete. Damien ergötzte sich an der Hilflosigkeit und der Angst, die aus jeder ihrer Poren zu schreien schien. Zaghaft wagte Helen es, ihre Augen wieder zu öffnen und ihn anzusehen.

»Warum tun Sie mir da-« Bevor sie die Frage beenden konnte, versetzte Damien ihr eine schallende Ohrfeige mit der linken Hand. Sie schrie entsetzt auf. Die gefliesten Wände verstärkten das schrille Geräusch. Ihr Kopf flog nach rechts und blieb in ihrem Erbrochenen liegen. Der säuerliche Geruch löste fast einen erneuten Würgereiz aus.

»Merk dir eines, Miststück: Du redest ausschließlich, wenn ich es dir erlaube! Hast du das verstanden?«, spie er hinaus. Speicheltropfen trafen ihr Gesicht und ihren Oberkörper. Helen zitterte am ganzen Leib. Sie nickte vorsichtig, in Erwartung des nächsten Schlages, während ihr die Tränen über die Wangen rannen. Dad, mach, dass das aufhört! Daddy, hol mich hier raus! »Du wirst mir jetzt aufmerksam zuhören: Du redest, wenn ich es dir sage, du isst, wenn ich es dir sage und du gehst auf die Toilette, wenn ich es dir sage. Hast du das verstanden, Schlampe?«

Angeekelt nickte sie. Schlampe? Miststück? Was passierte hier? Wer war dieser kranke Typ? Sie hatte ihn noch nie gesehen. Sie schätzte ihn auf höchstens dreißig. Er sah äußerlich so friedlich und harmlos aus mit seiner randlosen Brille und den gegelten Haaren. In den zwei Sekunden Augenkontakt, den sie wagte, traf sie der blanke Hass aus seinen grünen Augen wie ein Peitschenhieb.

»Hör gut zu: Ich werde jetzt deine Fesseln lösen, dann wirst du duschen und auf die Toilette gehen. Ist ja eine widerliche Sauerei, die du hier angerichtet hast.« Er zeigte neben ihren Kopf. »Falls du auch nur versuchen solltest, dich in welcher Form auch immer meinen Weisungen zu widersetzen, wirst du höllische Schmerzen erleiden! Hast du das begriffen?« Seine herrische Stimme duldete keinen Widerspruch.

»Ja«, kam fast tonlos. Damien nickte zufrieden, befreite ihren linken Arm und den linken Fuß.

»Auf den Bauch drehen!«, befahl er. Sie zuckte zusammen.

»Was? Warum?« Wieder schnellte seine Hand krachend durch ihr Gesicht. Sie schluckte einen weiteren Schrei herunter und drehte sich umständlich auf ihren Bauch. Sie kam sich so unendlich erniedrigt vor, die Tränen schossen ihr aus den Augen. Er löste die beiden anderen Fesseln.

»Los!« Helen stöhnte auf vor Schmerz, trotzdem versuchte sie, möglichst schnell zu der Duschecke zu gelangen. Kurz gaben ihre Beine nach, sie konnte einen Sturz gerade noch vermeiden. Ohne nachzudenken, welche Temperatur das Wasser haben könnte, stellte sie sich unter die Brause und drehte den Hahn auf. Für einen Augenblick erschauderte sie wegen des kühlen Wassers, nach einigen Sekunden wurde es jedoch warm und fühlte sich gut an auf ihrer verklebten Haut. Schnell wusch sie sich das Erbrochene aus dem Gesicht. Sie zwang sich, den Mann möglichst nicht anzusehen, vernahm aus den Augenwinkeln jedoch, wie er die Folie auf der Matratze durch eine neue ersetzte, die er aus der Kommode geholt hatte. Darauf griff er nach dem Handtuch, welches er ebenfalls von der Ablage mitgenommen hatte, und warf es Helen achtlos vor die nassen Füße. Das war wohl ihr Zeichen.

Sie schien in einem Albtraum gefangen zu sein! Sie wollte nach Hause! Warum ich? Ihre Gedanken kreisten und der stechende Schmerz in ihrem Kopf verschlimmerte sich wieder. Helen drehte das Wasser ab, hob das weiße Handtuch auf und trocknete sich schnell ab. Wie befohlen setzte sie sich danach gedemütigt auf die Toilette. Sie zwang sich, ihre Blase zu entleeren und spülte, darauf sah sie Damien fragend an. Er überragte sie deutlich und sein kräftiger Körper verriet, dass er häufig trainierte. Auf einen Kampf bräuchte sie es nicht ankommen zu lassen.

»Leg dich auf den Bauch!« Mit Sicherheit würde er sie jetzt vergewaltigen, befürchtete sie panisch. Ihr Herz schlug bis zum Hals, trotzdem legte sie sich bäuchlings auf das Bett. Die Folie fühlte sich im ersten Moment kalt auf ihrer Haut an. Er fixierte ihren rechten Fuß und ihren rechten Arm. Der Stahl drückte in ihr Fleisch. »Umdrehen!« Sie folgte schnell seiner Anweisung, erleichtert darüber, dass er sie wohl nicht sexuell missbrauchen würde. Unter metallischem Klicken schlossen sich auch die anderen beiden Handschellen wieder. Er hängte das nasse Handtuch auf, nahm die abgezogene Folie, bewegte sich zur Treppe und verschwand binnen Sekunden oben zur Tür hinaus. Sie hörte noch, wie sie abgeschlossen wurde. Helen fühlte sich einsam und verlassen. Sie begann hemmungslos zu schluchzen.

 

***

 

Der gesamte Ermittlungsapparat des Pueblo Police Departements arbeitete auf Hochtouren. Jeder verfügbare Polizist befragte abermals die Anwohner rund um den Tatort. Einer der letzten Fahrgäste, die vor Helen den Bus verlassen hatten, konnte mit Hilfe einer Beschreibung des Busfahrers befragt werden – ebenfalls ergebnislos. Des Weiteren wurden alle gespeicherten Aufnahmen der Überwachungskameras an den passierten Bushaltestellen, sofern vorhanden, mehrfach gründlich überprüft. Die Fußabdrücke am Tatort konnten einem Nike Basketball Schuh, Größe 9, zugeordnet werden.

»Ein tausendfach verkauftes Modell mit der Schuhgröße des männlichen Durchschnittsamerikaners«, gab Dan White gewohnt nüchtern bekannt. Ebenso wie Mark und Jessica gehörte der scharfsinnige Beamte von Beginn an zum Nemesis-Team.

»Es ist doch zum Kotzen! Verdammte Scheiße! Diese Drecksau führt uns schon wieder vor!«, polterte Jessica. Ihr Gesicht färbte sich tiefrot.

»Wir müssen es an die Presse geben. Verlieren können wir nichts. Er wird trotzdem an seinem Plan festhalten, die letzten Male hatte ihn das öffentliche Echo auch nicht beeindruckt. Und wenn von tausend Sackgassen auch nur ein brauchbarer Hinweis kommt, haben wir mehr als jetzt.«

»Du hast recht, Mark. Dann bleiben wir wenigstens in Bewegung«, stimmte Jessica ihrem jüngeren Kollegen zu.

»Das ist also Ihre Strategie? Herumsitzen und warten, bis ein Nachbar ihn ans Messer liefert oder Nemesis einen Fehler macht?« Detective Anderson lehnte am Türrahmen und schaute die beiden Agents herablassend an. Sein Uniformhemd spannte gefährlich über seinem Bauch.

»Haben Sie eine bessere Idee, Sie Klugscheißer? Dann raus mit der Sprache!«, fauchte Jessica ihn dünnhäutig an.

»Warum? Ihr seid doch die Experten«, provozierte er weiter. Eine realistisch bessere Idee hatte er allerdings ebenfalls nicht. Mark Jones baute sich vor dem Polizisten auf:

»Hören Sie, Anderson, niemand lässt sich gerne jemanden vor die Nase setzen, aber so läuft das nun mal. Das haben weder Sie noch wir uns ausgesucht, also sollten wir schleunigst die Schwanzlängenvergleiche beenden. In dreizehn Tagen wird das Mädchen tot sein, falls wir sie nicht vorher finden.« Er deutete auf seine Kollegin, sich und den Angesprochenen. »Also: entweder bringen Sie sich konstruktiv ein oder Sie halten Ihre Fresse und gehen Falschparker aufschreiben!« Normalerweise mimte Agent Jones den Good-Cop der beiden, aber in diesem Fall musste er seiner Kollegin zur Seite springen. Dieses Affentheater half niemandem. Detective Anderson schnaufte kurz und verschwand im Korridor.

Wenig später zeigten alle regionalen und überregionalen TV-Sender und Onlinezeitungen ein Foto der Vermissten, verbunden mit der Bitte um sachdienliche Hinweise. Am nächsten Morgen würden es die Printausgaben der Zeitungen ebenfalls gedruckt haben. Dann würde es wieder heißen, hunderte von nutzlosen Spuren zu verfolgen. Aber was blieb ihnen anderes übrig?

Kapitel 9

 

 

Mittwoch, 26. Juli
Helen wusste nicht genau, wie lange sie schon gefangen gehalten wurde. Sie hatte aufgehört, darüber nachzudenken. Die Zeit schien still zu stehen. Für jede Minute Schlaf, die Helen fand, war sie dankbar, denn so konnte sie für kurze Zeit dem Grauen entkommen. Schnell hatte sie gelernt, dass Damien absolut kompromisslos und konsequent handelte. Zwei weitere Male hatte sie es gewagt, ihn anzusprechen, worauf er sie schlug, jedes Mal stärker als das Mal zuvor. Sie fühlte ihre Gliedmaßen kaum noch und jede Bewegung schmerzte. Sie fror in dem unbeheizten Kellerraum, der als ihr Gefängnis diente.

Der Tagesablauf blieb stets derselbe: Irgendwann, wahrscheinlich morgens, stellte Damien das Deckenlicht an. Einige Stunden später brachte er ihr einen Teller Konservensuppe mit einem Plastiklöffel und eine Kunststoffflasche Wasser. Zum Essen befreite er ihre Hände, damit sie sich aufsetzen konnte. Er wartete ungefähr fünf Minuten, bevor er ihr alles wegnahm und ihre Hände wieder fixierte. Sie hatte sich daran gewöhnt, sehr schnell zu essen und zu trinken. Ein paar weitere Stunden später, mutmaßlich abends, stand ihr Dusch- und Toilettengang an, während er die Folie auf der Matratze wechselte.

Helen hatte bereits am zweiten Tag ihrer Gefangenschaft begonnen, heimlich die Schrauben des Toilettendeckels zu lockern, mit denen er am WC befestigt war. Sie kam jeden Tag nur ein Stück vorwärts, da sie nicht lange Zeit hatte. Nach Beendigung des Toilettenganges fesselte er sie wieder an ihr Bett und kurz darauf hüllte sich der Kellerraum in Dunkelheit.

Er sprach so gut wie nie mit ihr, abgesehen von den knappen Befehlen, die er ihr zuraunte. Helen hatte immer noch keine Ahnung, warum sie entführt worden war oder was er vorhatte. So sehr sie auch darüber nachdachte, es gab nichts, was diese Qual in irgendeiner Weise erkären würde.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739413839
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (März)
Schlagworte
USA Serienkiller Roadmovie Freundschaft Thriller Entführung Krimi Psychopath FBI Folter Historisch Ermittler Roman Abenteuer Spannung

Autor

  • Marcus Ehrhardt (Autor:in)

Der Autor, 1970 geboren, lebt im niedersächsischen Vechta. Er ist Vater zweier erwachsener Kinder. Die Idee, Geschichten zu erzählen und Bücher daraus entstehen zu lassen, kam quasi über Nacht. Bestellen Sie den Newsletter auf der Homepage marcus-ehrhardt-autor und verpassen so keine Neuerscheinung.