Lade Inhalt...

Mordseeflüstern

Kriminalroman

von Marcus Ehrhardt (Autor:in)
150 Seiten
Reihe: Maria Fortmann ermittelt, Band 5

Zusammenfassung

Wenn ein Date zur tödlichen Falle wird ... Im Zuge von Umstrukturierungsmaßnahmen der niedersächsischen Polizei werden die Kommissare Maria Fortmann und Peter Goselüschen nach Aurich abkommandiert. Als ob die Eingewöhnung nicht schwierig genug wäre, hat es ihr erster Fall gleich in sich: Auf Norderney und in Aurich werden die Leichen zweier Frauen gefunden, die augenscheinlich nach demselben Muster ermordet wurden. Schnell vermuten sie einen Zusammenhang zwischen den Morden und einem Dating-Portal. Maria stimmt dem Vorschlag Goselüschens zu, als Lockvogel zu agieren und ein Profil anzulegen. Nach einigen Fehlschlägen ziehen sie bereits eine Planänderung in Erwägung, doch ein neuer Dating-Interessent erregt die Aufmerksamkeit der Kommissare. Können sie den vermeintlichen Serienmörder schachmatt setzen oder durchschaut er ihren Zug und Maria wird zum Bauernopfer?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mordseeflüstern

 

 

Maria-Fortmann-ermittelt

 

Kapitel 1

 

 

Maria schaute ihren Kollegen Peter Goselüschen mit großen Augen an.

»Was soll das heißen, du gehst zurück nach Ostfriesland?«

»Streng genommen ist das ja deine Schuld«, entgegnete er und sah sie mit einem breiten Grinsen an. Maria stand komplett auf dem Schlauch. Die Fragezeichen in ihren Augen schienen größer zu sein als die Leinwand des ehemaligen Autokinos in Bruchhausen-Vilsen, einem kleinen Ort etwas südlich von Bremen gelegen.

»Hä?«

»Okay, damit du nicht dumm stirbst, kläre ich dich auf: Durch deine Aktion vor eineinhalb Jahren hast du für richtig Bewegung in der Politik und unserer Führungsebene gesorgt.« Langsam fiel bei Maria der Groschen. Klar, sie hatte unter Missachtung einiger Dienstvorschriften – wohlwollend formuliert – dafür gesorgt, dass eine geheime Organisation aufgeflogen war, die Selbstjustiz an deren Meinung nach unzureichend bestraften Vergewaltigern und Mördern verübte. Zu diesem Kreis zählten Polizisten, Politiker und weitere Personen, die hohe Ämter in der Justiz bekleidet hatten. Worauf hingegen Goselüschen genau hinauswollte, erschloss sich ihr nicht.

»Ja, die Sache ist mir leider noch sehr präsent im Schädel. Aber trotzdem: Hä?« Er schlug ihr freundschaftlich auf die Schulter und schüttelte den Kopf.

»Ach, ich vergesse immer, dass du seitdem ja mehr beurlaubt oder verurlaubt warst, als dass du deinen Hintern hier im Büro geparkt hast.«

»Ja, nun komm mal zum Punkt«, forderte Maria und stöhnte auf.

»Entspann dich, Blondie. Also: Unser höchster Dienstherr hat vor ungefähr sechs Monaten erlassen, dass präventiv Beamte aus verschiedenen Kommissariaten für eine gewisse Zeit in andere Dienststellen abgeordnet werden. Das heißt nicht, dass es jeden betreffen wird, aber die Teams sollen immer mal wieder etwas aufgesprengt werden, damit es nicht wieder zu solchen Dingen kommt wie damals.« Nun hatte auch Maria verstanden. Sie meinte, irgendwann so etwas in der Art gelesen zu haben, am Schwarzen Brett oder im Net, konkret wusste sie jedoch nichts darüber.

»Und du hast dich dafür gemeldet? Freiwillig?«

»Klar, Hase«, sagte der aus Emden stammende Goselüschen. »Sylvia leidet in letzter Zeit eh etwas unter Heimweh nach den Dünen und dem Blöken der Deichschafe, und in Aurich gehen zwei Kollegen ebenfalls per Abkommandierung.« Goselüschen hielt kurz inne und kratzte sich am Kinn. »Da habe ich doch glatt eine Idee: Warum kommst du nicht mit?«

»Du spinnst wohl, was soll ich denn da? Wollt ihr mir ein Zimmer untervermieten, in das du dann einziehst, wenn du es das nächste Mal mit deiner Frau verkackst?« Sie bedachte ihn mit einem herausfordernden Lächeln, doch er blieb entspannt und stieg nicht auf das spielerische Scharmützel ein.

»Jetzt mal im Ernst. Darüber habe ich bisher gar nicht nachgedacht, aber du warst doch eh die letzten Monate kaum im Dienst und fängst sozusagen neu an, warum dann nicht gleich ganz woanders?« Maria schüttelte den Kopf. Was für ein Quatsch, darauf konnte auch nur Gose kommen, dachte sie und befasste sich mit den Unterlagen zu ihrem aktuellen Fall.

 

***

 

Am Abend saß Maria gelangweilt vor der x-ten Wiederholung eines Hollywood-Blockbusters aus den späten 1980ern mit Bruce Willis in der Hauptrolle. Das Yippie-Ya-Yeah, Schweinebacke konnte sie langsam nicht mehr ertragen.

Sie streichelte ihren Kater Pinky, der es sich auf ihrem Schoß bequem gemacht hatte, nippte ab und zu an ihrem Tee und musste zum wiederholten Male heute an das kurze Gespräch mit Goselüschen denken.

»Wir sollten es uns einfach mal anschauen, was meinst du?«, richtete sie das Wort an ihr Haustier. Pinky würdigte sie keines Blickes, was sie jedoch nicht als negative Antwort wertete – Herr Pinky war halt manchmal desinteressiert an Dingen, die seine Katzenperson nicht unmittelbar betrafen.

Er versuchte erfolglos, sich mit ausgefahrenen Krallen festzuhalten, als sie ihn vorsichtig von ihren Oberschenkeln schob, um sich ihren Laptop vom Schreibtisch zu holen.

Sie surfte auf der Seite der Polizei Niedersachsen und nach Sichtung erster Informationen forschte sie im gesicherten und nur Polizeibeamten zugänglichen Bereich nach den Details.

Wenn sie es richtig begriff, bestand die Möglichkeit einer Abordnung zwischen 6 und 24 Monaten. »Das ist überschaubar«, sagte sie leise und suchte nach versteckten Fallstricken. Doch es schien sich soweit wirklich um eine reine Vorsichtsmaßnahme zu handeln, die kleinere Mauscheleien und vor allem ausgeprägte Korruption verhindern sollte.

Maria nahm sich vor, eine Nacht darüber zu schlafen und morgen dann zu entscheiden. Denn Goselüschen hatte recht: Sie startete nach sehr aufreibenden 18 Monaten, in denen sie mehrere Höllen durchleben musste, quasi neu. Und sie war ungebunden. Kurt Stohmann, ihr letzter Freund, verbüßte eine lange Haftstrafe, da er massiv in die üblen Taten der Selbstjustiz-Organisation involviert gewesen war. Und ihr Urlaubsflirt Verena, mit der sie eine schöne und aufregende Zeit auf Langeoog und danach mal bei ihr in Hamburg, mal bei sich in Cloppenburg verbracht hatte, überstand den Alltag und die räumliche Entfernung nur ein paar Wochen. Sie hielten lose Kontakt, doch mehr würde daraus nicht entstehen. »Na gut, Maria, aber nur eine Stunde, dann geht es ins Bett«, ermahnte sie sich und besuchte die Homepage einer Maklerin aus Aurich.

Kapitel 2

 

 

Die nächsten Tage nahm die anfangs völlig absurd erscheinende Idee immer mehr an Kontur an. Nicht zuletzt Goselüschen, der Maria immer wieder darauf ansprach, gab den entscheidenden Ausschlag, ein Gespräch mit ihrem Chef zu führen. Nein, so ganz der Wahrheit entsprach das nicht: Sie musste sich eingestehen, dass sie sich in ihrer Cloppenburger Dienststelle einfach nicht mehr wohl fühlte und der Vorschlag ihres Kollegen genau zur richtigen Zeit kam.

»Nun, ich habe etwas in dieser Richtung bereits befürchtet, Maria«, sagte Dr. Mühlenhardt mit Resignation in der Stimme. »Es ist aber auch sehr viel auf Sie eingeprasselt in den letzten Monaten. Daher kann ich Ihren Schritt verstehen, auch wenn ich ihn nicht begrüße.«

»Danke, Chef, ich habe mir die Entscheidung wirklich nicht einfach gemacht.«

»Das ist ja wohl auch das Mindeste«, erwiderte er mit einem kleinen Lächeln. »Ich vermute, Sie möchten an der Seite von Peter den zweiten Kollegen aus Aurich ablösen?« Maria zögerte mit ihrer Antwort.

»Wenn das klappt, wäre es schön. Aber ehrlich gesagt, würde ich auch woanders eine Stelle annehmen. Ich muss nur mal für eine Zeitlang hier weg. Andere Leute, andere Luft, Sie wissen schon ...«

»Okay, Maria, geben Sie mir den Antrag rein, wenn Sie ihn fertig haben, und ich schaue mal, was ich in Sachen Aurich machen kann.« Maria nickte, stand auf und drehte sich im Türrahmen noch einmal herum.

»Vielen Dank.«

Ein Gefühl der Leichtigkeit durchströmte sie auf dem Weg in ihr Büro. Es fühlte sich an, als ob sie sich gerade aus einer Presse befreit hätte, die sie ganz langsam zu zerquetschen drohte.

Goselüschen blieb der beschwingte Zustand seiner Kollegin nicht verborgen, als sie sich hinter ihren Schreibtisch auf den Stuhl fallen ließ.

»Was grinst du so dämlich?«, neckte er sie. »Hast du im Lotto gewonnen oder wirst vorzeitig pensioniert bei vollen Bezügen?«

»Ach Gose, du bist so ein Herzchen. Nein, ich war gerade beim Chef.«

»Und?«

»Ich bin dabei.«

»Hä?« Maria grinste ihn nur an und langsam schien der Groschen bei ihm zu fallen. »Nein!«

»Doch.« Nun strahlte auch er mit einem breiten Lächeln, das ihn aussehen ließ wie die gelben Smilys auf den Messengern. »Aber der Antrag muss noch abgesegnet werden. Und natürlich muss ich ihn dazu erstmal abgeben.«

»Dann hau in die Tasten, Mädel.« Goselüschen war bereits um den Schreibtisch herumgekommen und saß ihr jetzt schräg gegenüber auf ihrer Schreibtischplatte. »Das freut mich wirklich. Wer weiß, was sie mir sonst für einen trotteligen Partner zur Seite gestellt hätten. Bei dir weiß ich ja schon, mit welchen Marotten ich klar kommen muss.« Er legte seine Hand auf ihre Schulter und drückte leicht zu.

»Nun komm mal wieder runter. Wie gesagt: Der Antrag muss noch durch die Instanzen.«

Kapitel 3

 

 

3 Monate später

 

Der Mann mit der halbmondförmigen Narbe über der rechten Augenbraue nippte an einem Long Island Icetea – dem seiner Meinung nach passenden Getränk für den Inselkurztrip, auf dem er sich befand. Es war das zweite Glas, das er sich in der Disco Lux im Nachtleben Norderneys genehmigte. Der dröhnende Bass der Technomusik nervte ihn und die aufgekratzten, jungen Hühner, die auf der Tanzfläche herumzappelten, machten es nicht besser. Es kam ihm vor, als wären die alle auf Speed oder Ecstasy oder was auch immer die Jugend von heute sich hinein pfiff, um draufzusein. Er grunzte. Dem Anfang 40-Jährigen waren Drogen – abgesehen von Bier, Schnaps, Zigaretten und vielleicht hin und wieder mal etwas Gras – suspekt und er konnte ihnen nie etwas abgewinnen. Aber es half nichts. Außer diesem Schuppen hatte kein anderer bis in die Morgenstunden geöffnet. Jedenfalls hatte er auf die Schnelle keinen finden können. Und irgendwie musste er ja die Zeit bis zum frühen Morgen überbrücken, bis er mit der ersten Fähre aufs Festland zurückkehren würde.

Er schnaubte verächtlich, als er daran dachte, was ihm Friederike Claaßen vorhin an den Kopf geworfen hatte, nachdem sie über eine Stunde lang wie tollwütige Hunde übereinander hergefallen waren und sich gegenseitig zu einigen Höhepunkten trieben. Trotzdem sagte sie danach:

»Warst ganz okay, Kleiner, aber dir ist hoffentlich klar, dass dies eine einmalige Sache war?«

»Natürlich, Baby, wo denkst du hin?«, hatte er erwidert und rau aufgelacht. Was dachte sich die Schlampe, Sex mit ihm ganz okay zu nennen? Und was sollte das, ihn abzuservieren? Dachte sie im Ernst daran, dass sie für ihn mehr sein könnte, als eine weitere Kerbe in seinem Colt? Das Dreckstück hatte ihn an seiner Ehre gepackt, an seinem wunden Punkt. Aber nicht mit ihm! Das hatte sie bitter bereuen müssen.

Er hob sein Glas und dachte mit Genugtuung an ihren Blick, den letzten Gesichtsausdruck, den er von ihr sah, und stieß mit einem imaginären Trinkpartner an.

Zwei Cocktails weiter und drei Stunden später legte die Fähre mit ihm an Bord ab und erreichte nach etwa 45 Minuten den Hafen von Norddeich.

 

***

 

Dr. Mühlenhardt hatte sein Wort gehalten und Marias Abordnung erfolgreich unterstützt. Pünktlich betrat sie an der Seite Goselüschens das Büro ihrer neuen Chefin. Die unscheinbare, brünette Frau im Kostüm begrüßte sie freundlich:

»Moin, Frau Fortmann, moin, Herr Goselüschen. Kommen Sie rein und setzen Sie sich«, forderte sie sie auf und wies auf zwei Stühle ihr gegenüber. Fast mittig auf dem Schreibtisch, der sie von der Dienststellenleiterin trennte, sprang Maria das längliche, dreiseitige Namensschild aus Holz ins Auge, auf dem der Name Marion Dünemann zu lesen war. Das Schild erinnerte Maria an eine Kombination aus einer Toblerone-Schokolade und dem Scrabble-Spielbrettchen, auf dem man seine Buchstabensteine parkte.

»Moin, Frau Dünemann«, erwiderten die beiden fast gleichzeitig. Nachdem sie sich die Hände geschüttelt und Platz genommen hatten, erklärte Marion Dünemann ihnen in groben Zügen, was sie von beiden erwartete.

»Nun, Herr Goselüschen –«

»Peter reicht«, warf er ein. Sie lächelte und begann erneut.

»Nun, Peter, Sie kennen Aurich ja noch von früher. Daher sollten Sie sich hier schnell zurechtfinden. Zwar bin ich die dritte, die seitdem auf diesem Stuhl sitzt, aber es wurden keine revolutionären Neuerungen eingeführt. Und das wird sich auf kurze Sicht auch nicht ändern.«

»Jo, ich habe auf dem Flur einige wiedererkannt.« Die Chefin nickte und wandte sich an Maria.

»Zu Ihnen, Maria, ich darf Maria sagen?«

»Ja, sicher.«

»Gut. Also,hört

Maria, lassen Sie es mich deutlich sagen: Ihnen dürfte klar sein, dass Ihnen ein Ruf vorauseilt, der das Kollegium nicht unbedingt in Jubelarien verfallen lässt.« Die beiden Frauen sahen sich in die Augen, ohne eine Gefühlsregung erkennen zu lassen. Maria hatte damit gerechnet, dass sie nicht mit Pralinen und offenen Armen empfangen werden würde, diese Art der Begrüßung überraschte sie allerdings und ihr wurde etwas mulmig zumute, was noch folgen würde. »Dr. Mühlenhardt sicherte mir zu, dass ich keine Probleme mit Ihnen haben werde.« Sie hielt kurz inne und fixierte Maria. »Wir sind weder eine Therapieeinrichtung noch brauchen wir ein weibliches Pendant zu Dirty Harry. Machen Sie Ihren Job, wie Sie ihn bis vor dieser Geheimbundgeschichte gemacht haben, und wir werden die besten Freundinnen – verfallen Sie nur ansatzweise in die Muster der letzten Monate, sind Sie schneller draußen, als der Knall des Startschusses im Ohr des Hundertmeter-Läufers hallt. Verstehen wir uns?« Maria versuchte krampfhaft, sich ihre Verärgerung nicht anmerken zu lassen, obwohl das Blut in ihren Schläfen pochte.

»Natürlich. Ich gebe mein Bestes«, erwiderte sie knapp. Abrupt schnellte Marion Dünemann von ihrem Stuhl hoch und streckte ihre Hand aus.

»Wunderbar«, sagte sie mit einem Lächeln. »Das wollte ich aus Ihrem Mund hören. Sie beide bekommen das Büro gegenüber von Kommissar Waldner – den kennen Sie ja bereits. Er wird Ihnen auch in der Anfangszeit als Ansprechpartner behilflich sein.«

Ausgerechnet Waldner, dachte Maria und seufzte unmerklich. Aus dem Augenwinkel glaubte sie, bei Goselüschen ebenfalls etwas Unwillen im Gesicht aufblitzen gesehen zu haben, als der Name fiel. Was Anderes hätte mich auch verwundert, dachte sie.

Die beiden verabschiedeten sich und machten sich auf den Weg in ihren neuen Arbeitsbereich. Maria meinte, die Abneigung gegen sich körperlich zu spüren, als sie die Blicke einiger neuer Kolleginnen und Kollegen auf dem Korridor trafen. Ganz anders bei Goselüschen, dem schon zum vierten Mal von einem früheren Kameraden auf die Schulter geklopft wurde. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, versuchte sie, sich aufzumuntern.

Zu ihrer Überraschung wartete Kommissar Waldner in ihrem Büro auf die beiden. Noch erstaunter war Maria, als er sie mit einem freundlichen Lächeln, welches ihr absolut ehrlich erschien, begrüßte.

»Da ist ja endlich unsere Cloppenburger Verstärkung.« Irritiert schaute Goselüschen zu Maria und darauf zu Waldner.

»Moin«, erwiderte er knapp, was Maria ein Schmunzeln entlockte, denn eines hatte sie bei Gose bisher noch nicht erlebt: Sprachlosigkeit.

»Moin, Herr Waldner«, sagte jetzt auch Maria mit der gebotenen Höflichkeit, die man seinem Lebensretter entgegenbringen musste. Schließlich hatte er sie vergangenen Sommer im letzten Moment vor dem Ertrinken bewahrt, als der durchgeknallte Inselpolizist von Langeoog sie umbringen wollte.

»Nun mal nicht so förmlich, schließlich sitzen wir jetzt alle im selben Boot. Nennt mich Karl-Heinz.«

»Das bekommen wir hin«, sagte Goselüschen und schob sich an ihm vorbei auf die linke Seite des doppelten Schreibtisches.

»Kein Problem, Karl-Heinz. Maria.« Sie gab ihm die Hand und besah sich darauf ihre Seite des Büros näher. Waldner ging zur Tür und drehte sich noch einmal herum. Dann schloss er sie, er schien keine zufälligen Zuhörer zu wollen.

»Hört zu, ihr beiden. Mir ist durchaus bekannt, welchen Ruf ich habe. Und ja, ich kann ein ziemliches Arschloch sein – mal zu Recht, und mal zu Unrecht. Das heißt jedoch nicht, dass ich euch nicht respektiere und euch mit allem versorgen werde, was für eine optimale Zusammenarbeit notwendig ist.« Er ließ die Worte kurz wirken. »Und solange ihr mir nicht in meine Arbeit hineingrätscht, werde ich es auch nicht bei euch tun. Und Maria –« Waldner nahm seinen Arm nach vorn und drehte die Handfläche nach oben. »Wir beide haben unsere Differenzen am Telefon damals doch ausgeräumt, oder?« Maria stutzte kurz und nickte dann.

»Ja, das haben wir. Alles okay.« Waldner machte mit Zeigefinger und Daumen die Pistolengeste und drückte in die Richtung der beiden ab.

»Na dann, herzlich willkommen.«

Fast gleichzeitig atmeten Maria und Gose laut aus, als die Tür von außen geschlossen wurde.

»Ehrlich, direkt, Dachschaden – passt schon«, resümierte Goselüschen die kurze Ansprache Waldners und Maria stimmte ihm innerlich zu. Dies war der erste Moment des heutigen Tages, in dem sie sich gut fühlte.

 

***

 

Mit zwei Fingern rieb er sich über die Narbe auf seiner Stirn. Es schien sich ein Wetterwechsel anzukündigen, dessen war er sicher. Schließlich machte sie ihn seit über zwanzig Jahren zuverlässig mit unaufhörlichem Jucken und Piksen darauf aufmerksam, sodass er auch als Wetterfrosch hätte fungieren können. Auf die Frau, die sich ihm von hinten näherte, achtete er nicht.

»Na, wie war dein Wochenende?«, fragte sie und ließ sich auf den Stuhl seitlich seines Schreibtisches fallen.

»Nichts Besonderes, Swantje«, antwortete er knapp. Doch damit wollte sich seine Kollegin hier im Büro nicht abspeisen lassen. Vor langer Zeit hatte er eine kurze Affäre mit der falschen Blondine, wie ihr dunkler Haaransatz alle paar Wochen verriet. Doch nach drei heimlichen Treffen mit durchschnittlichem Sex hatte er das Interesse an ihr verloren und sich darüber geärgert, mit einer Kollegin etwas angefangen zu haben. Zum Glück hatte sie es schnell akzeptiert, dass er es beendete und auch nichts mehr daraus werden würde, und seitdem pflegten sie ein freundschaftliches Verhältnis zueinander.

»Ach komm schon, du hast doch bestimmt wieder was flachgelegt«, sagte sie und sah ihn schelmisch an. »Oder musstest du zuhause einen auf braver Familienvater machen?« Sie hielt die Hand vor den offenen Mund.

»Das geht dich nichts an. Hast du nichts zu tun?« Sie lachte ihn an. Er hasste es, wenn sie ihn auf dieses Thema ansprach, wobei er nicht genau wusste, ob es an ihr lag, oder daran, dass sie nicht Unrecht damit hatte. Seine Ehe war nur noch eine Farce. Seit die drei Kinder größtenteils ihrer eigenen Wege gingen, stellte er fest, wie wenig er und seine Frau sich noch zu sagen hatten. Erschwerend kam hinzu, dass seine Frau niemals in der Lage war, seinen sexuellen Ansprüchen zu genügen.

»Dann lass ich dich mal lieber in Ruhe«, riss sie ihn aus seinen Gedanken und marschierte in Richtung ihres eigenen Büros, ohne es sich nehmen zu lassen, ihm über ihre Schulter noch ein verschmitztes Lächeln zuzuwerfen.

»Das ist auch besser«, sagte er, ohne dass sie es hören konnte. Er ärgerte sich immer noch ein wenig über das unwürdige Ende vorgestern auf Norderney. Aber was soll´s, dachte er im nächsten Moment. Es gab noch so viele, um die er sich kümmern könnte.

 

 

Kapitel 4

 

 

Langsam gewöhnte sich Maria an das distanzierte Verhalten ihrer Kollegen, zumindest versuchte sie es. Schließlich waren erst einige Tage vergangen, seitdem sie und Goselüschen ihren Dienst in Aurich angetreten hatten, und mit der Zeit würde es bestimmt besser werden. Sie konzentrierte sich vorerst auf ihre Arbeit und blendete die schlechten Schwingungen weitestmöglich aus. Hin und wieder ertappte sie gar den einen oder anderen, wie er ihr zu lächelte, bevor sofort wieder der geschäftsmäßige Blick aufgesetzt wurde. Ich koche euch schon noch weich, dachte sie sich.

»Wir Ostfriesen sind ein stures Volk«, hatte er sie anfangs vorgewarnt, »aber wenn wir erstmal jemanden ins Herz geschlossen haben, lassen wir ihn nicht mehr hinaus.«

»Ich hab dich auch lieb, Gose«, erwiderte sie zwinkernd.

»Nun ja, mich nicht zu mögen, bedarf schon einiger Anstrengung.«

»So schlimm wird es dort schon nicht werden«, vermutete sie und musste mittlerweile zugeben, sich mächtig geirrt zu haben. Es gab durchaus so manchen Moment, in dem sie ihre Entscheidung für die Abkommandierung bereute. Aber Maria war eine Kämpfernatur und würde sich durchbeißen.

Selbst Goselüschen war mit der augenblicklichen Situation leicht unzufrieden, da sie bisher nicht richtig eingebunden wurden und er das Gefühl hatte, dass sie mit den Aufgaben bedacht wurden, zu denen die Kollegen im Fachkommissariat keine Lust hatten.

»Ich gebe denen noch zwei Wochen. Wenn wir bis dahin nichts Vernünftiges auf den Tisch bekommen, tanz ich mit der Dünemann Tango, das sag ich dir!«

»Ach komm, das wird schon.« Wie auf Kommando wurde die Tür geöffnet und ein junger Kollege trat ein.

»Auf geht´s, ihr beiden. Wir haben eine Frauenleiche auf Norderney. Möglicherweise ermordet.« Goselüschen sah zu Maria.

»Siehst du: Man muss es nur einmal aussprechen.«

»Ja, genau. Als Nächstes schlag bitte eine Gehaltserhöhung für uns heraus.« Sie griffen nach ihren Jacken und folgten dem Kollegen, der ihnen am Eingangsbereich einen Ordner mit den bisherigen dürftigen Informationen übergab. Wenig später bestiegen sie im Hafen von Norddeich die nächste Fähre zur Insel.

Norderney also, schoss es Maria durch den Kopf, als sie der Insel mit dem zwischen den Dünen herausragenden Leuchtturm näherkamen. Na ja, immer noch besser als Langeoog.

 

***

 

Amüsiert beobachteten sie beim Verlassen der Fähre, wie eine übermotivierte Möwe versuchte, einer anderen ihren Fang streitig zu machen. Im nächsten Moment waren die Vögel schon wieder ad acta gelegt, da am Anleger bereits der Streifenwagen wartete, der sie zu einem einsam gelegenen, von Hecken umgebenen Bungalow brachte. Zum Meer, das hinter dem Deich lag, konnte man vom Haus aus fast hinspucken. Schöne Lage, träumte Maria vor sich hin.

Die Kollegen von der Tatortgruppe schienen mit dem Helikopter eingeflogen worden zu sein, denn es war alles abgesperrt und es herrschte reges Treiben.

Sie stiegen über das Absperrband, als ihnen ein Mann in weißem Schutzanzug entgegenkam.

»Moin. Thomas Husmann, Leiter der Tatortgruppe.«

»Maria Fortmann und das ist Peter Goselüschen«, erwiderte sie.

»Moin«, sagte Goselüschen, »was habt ihr für uns?« Sie folgten ihm ins Haus und zogen ihre Handschuhe über, während Husmann sie auf den aktuellen Stand brachte.

»Friederike Claaßen, 35 Jahre alt, geschieden, Steuerberaterin mit eigener Kanzlei in Emden. Das hier ist ihr Ferienhaus. Lag sicher schon ne Weile da, nicht erschrecken – sie müffelt bereits etwas.«

»Danke für die Warnung«, sagte Goselüschen und zog vorsichtshalber ein Taschentuch hervor.

»Sie wurde von der Putzkraft, einer Helena Kurz, heute Morgen tot aufgefunden. Sie wohnt dort hinten.« Er wies auf eine entfernte Häuserreihe. »Wir haben ihr gesagt, sie soll sich zur Verfügung halten für eure Befragung.«

»Gut, da schauen wir gleich mal vorbei«, sagte Goselüschen.

»Der Rettungsarzt wollte sich nicht festlegen, ob sie eines natürlichen Todes gestorben ist. Aber der Rechtsmediziner ist auf dem Weg.«

»Gibt es Anhaltspunkte für ein Gewaltverbrechen?«, wollte Maria wissen.

»Nein, nicht auf den ersten Blick.«

»Da bin ich gespannt.«

Als sie das Schlafzimmer betraten und die auf dem Rücken liegende Frauenleiche im Bett erblickten, die bis unter die Brust von einer Decke verhüllt war, sah es tatsächlich so aus, als ob sie ruhig eingeschlafen und dahingeschieden wäre. Auch der Geruch hielt sich in Grenzen, obwohl der Verwesungsprozess in vollem Gange war. Es gab keine Hinweise, die auf einen Kampf schließen ließen, und weder an den Türen noch an den Fenstern fanden sich Einbruchspuren.

Da die Tote jedoch verhältnismäßig jung war und keine herumliegenden Medikamente auf eine schwere Krankheit hindeuteten, hatte sich der Rettungsarzt sicherheitshalber dazu entschieden, bei Todesursache das Feld unklar anzukreuzen. In einem solchen Fall wird stets die Polizei hinzugezogen, die je nach Beurteilung der Staatsanwaltschaft die Leiche beschlagnahmt und zur Autopsie ins Institut für Rechtsmedizin schaffen lässt oder sie zur Bestattung freigibt.

So schauten sich Maria und Goselüschen, bedacht darauf, keine Spuren zu beeinträchtigen, im Haus um.

»Na, was haben wir denn da?«, sagte Maria, die neben dem Kopfteil des Bettes kniete und eine Hand in Richtung ihres Kollegen ausstreckte. »Gib mal deinen Stift, Gose.« Er reichte ihr seinen Kugelschreiber, den sie ergriff und damit in der Ritze zwischen dem Bettgestell und dem Nachttisch herumstocherte. »Nun komm schon!« Sie zog den Stift vorsichtig aus dem Spalt heraus. An ihm hing ein benutztes, ziemlich gut befülltes Kondom.

»Sauber«, sagte Goselüschen und stupste einen Kollegen der Spurensicherung an, der eine Klarsichtfolie hervorzog und sie so hielt, dass Maria ihren Fund hineinfallen lassen konnte. »Das scheint eine gute Qualität zu haben, wenn es nach so langer Zeit noch nicht verdunstet ist. Oder es wurde –«

»Gose, du bist widerlich«, unterbrach ihn Maria kopfschüttelnd und erhob sich.

»Man kann nie wissen«, verteidigte er sich mit erhobenem Zeigefinger. Maria seufzte.

»Du hast natürlich recht. Wir können deine kranke Idee verfolgen, sollten wir keine ernsthafte Ermittlungsarbeit mehr betreiben wollen.»

»Krank, aber möglich. Aber hier, schau dir mal das zweite Kopfkissen an.« Maria kam der Aufforderung nach und sah erst auf den zweiten Blick, was er meinte. Es lag irgendwie so, als ob es da nicht hingehören würde. Sie drehte es vorsichtig um.

»Bingo«, sagte sie und Gose nickte. Auf der Rückseite fanden sie etwa in der Mitte einen verschmierten Fleck, der farblich zu dem Lippenstift passte, den man auf dem Mund des ansonsten unappetitlichen Gesichts der Toten noch gut erkennen konnte.

»Moin, die Damen und Herren!«, schallte es in den Raum. Überrascht von der Dynamik in der Stimme drehten sich die beiden Kommissare zu dem großen, schlanken Mann herum, der mit einer Tasche in der Hand lächelnd auf sie zukam. »Professor Doktor Hans Hallig, ich bin der neue Leiter der Rechtsmedizin«, stellte er sich vor. »Sie müssen Frau Fortmann und Herr Goselüschen sein, richtig?« Die beiden gaben ihm die Hand und teilten ihm ihre Erkenntnisse mit.

»Wie kommt es, dass Sie hier persönlich auftauchen? Normalerweise bekommen Sie unsere Leichen doch erst zu Gesicht, wenn Sie Ihnen in Oldenburg auf den Seziertisch gelegt werden.«

»Zufall, Herr Goselüschen, purer Zufall. Ich verbringe zur Zeit meinen Urlaub hier und da hielt es meine Assistentin wohl für eine gute Idee, mich zu benachrichtigen.«

»Oh«, sagte Maria, »tut mir leid, dass Sie in Ihrem Urlaub damit belästigt werden.« Hallig lachte herzhaft auf.

»Glauben Sie mir, Frau Fortmann, nach zwei Wochen mit endlos langweiligen Spaziergängen am Strand mit meiner Frau war ich heilfroh darüber, etwas Abwechslung zu bekommen.«

Während er sich an die Untersuchung machte, schauten Maria und Goselüschen sich weiter um. Nach wenigen Minuten rief er die beiden zu sich und der Leiche.

»Was meinen Sie, Professor?« Wenig überraschend reagierte er:

»Doc reicht. Ihre Mutmaßung bezüglich eines gewaltsamen Erstickens muss ich natürlich noch verifizieren, es sieht aber ganz danach aus. Was den Todeszeitpunkt angeht, liegen wir zwischen sechs und acht Tagen, genaueres dazu teile ich Ihnen im Laufe des Abends mit, wenn ich mit der Auswertung fertig bin.«

»Danke, Doc«, sagte Goselüschen. Der Mediziner sprach kurz mit zwei weiteren Kollegen, die sofort damit begannen, den Leichnam transportfähig zu machen.

»Wir brauchen alles aus dem Schlafzimmer, dem Wohnzimmer, der Küche und dem Bad. Jeden Fingerabdruck, jedes Haar, jede Schuppe und was ihr sonst noch findet«, wies Maria die Spurensicherung an.

 

***

 

Die kleine, etwas pummelige Helena Kurz schien offensichtlich noch ziemlich mitgenommen zu sein, als sie Maria und Goselüschen die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, welche gerade mal 800 Meter vom Tatort entfernt in einer Zeile aus Reihenmietshäusern lag.

»Ich kann das immer noch nicht glauben. Die Frau Claaßen war noch so jung und vital.« Sie schüttelte fortwährend den Kopf, während sie vor den Beamten in Richtung der Küche vorausging. »Aber Sie sagten, Sie wären von der Kriminalpolizei? War es etwa Mord?« Helena Kurz hielt sich beide Hände vor das Gesicht.

»Wir gehen von einem gewaltsamen Tod aus, richtig. Wann haben Sie sie das letzte Mal lebendig gesehen?«, wollte Goselüschen wissen, der bereits seinen Notizblock und den Stift gezückt hatte.

»Oh Gott, oh Gott.« Sie kramte auf der Ablage herum und drehte sich einen Moment später mit einem Inhalator um, den sie an ihren Mund setzte und tief das Medikament einsog. »Asthma«, erklärte sie, »trotz der fantatischen Nordseeluft brauche ich es hin und wieder.« Sie deutete auf das kleine Gerät in ihrer Hand.

»Kein Problem. Beruhigen Sie sich erstmal«, sagte Maria freundlich und zog sich einen der Küchenstühle vor, um sich darauf zu setzen.

»Danke, es geht schon. Also, ich bin alle 14 Tage bei Frau Claaßen. Demnach ist es jetzt genau zwei Wochen her. Allerdings habe ich sie nicht gesehen, sie ist ja immer nur für ein oder zwei Wochen hier. Da laufen wir uns nicht so oft über den Weg. Aber sie bezahlt immer pünktlich.«

»Das ist die Hauptsache«, sagte Goselüschen. »Haben Sie sie in den letzten Tagen gesehen? In ihrem Garten oder auf der Straße? Sie leben ja schließlich ziemlich nah bei ihrem Haus.« Helena Kurz schien nachzudenken.

»Hm, also nein. Nicht, dass ich wüsste.«

»Wissen Sie, womit sich Frau Claaßen hier üblicherweise beschäftigte? Ging sie in irgendwelche Restaurants, Cafés oder zu einem bestimmten Supermarkt?«

»Nein, Frau Kommissar. Wenn sie abreiste, hinterlegte sie mir immer einen Zettel mit Sachen, die ich für sie einkaufen sollte, damit sie bei ihrem nächsten Aufenthalt versorgt wäre. Das habe ich natürlich gemacht.«

»Natürlich«, sagte Goselüschen.

»Bitte was?«, reagierte die Haushaltshilfe verwirrt, während Maria ihm einen strengen Blick zuwarf.

»Nichts, fahren Sie bitte fort«, bat er.

»Also wie gesagt: Die Einkäufe habe ich für sie erledigt. Ansonsten blieb sie meist im Haus. Sie haben die große, sichtgeschützte Terrasse mit dem kleinen Planschbecken – keine Ahnung, wie das richtig heißt, gesehen, oder?«

»Jacuzzi.«

»Bitte?«

»Das nennt man Jacuzzi. Oder Whirlpool«, klärte Goselüschen sie auf.

»Ach so. Na gut. Nun, sie erzählte mir vor einigen Jahren, dass sie hier nicht gestört werden wollte, weder von mir noch von anderen Leuten. Sie ginge auch erst zum Strand, wenn es dämmerte, damit ihr niemand über den Weg laufen könnte. Sie meinte, das hier wäre ihre Oase der Ruhe.«

»So wie Sie Frau Claaßen schildern, war sie wohl etwas menschenscheu. OK, ich denke, das war es schon. Vielen Dank für Ihre Auskunft, Frau Kurz.« Maria erhob sich und wenig später befanden sie sich auf dem Weg zurück zum Tatort.

»Oase der Ruhe«, wiederholte Maria, »das ist vielleicht der Grund, warum wir weder ein Handy noch einen Computer im Haus gefunden haben.«

»Hätte sie mal vorher bei dir nachgefragt, dann wüsste sie, dass ein Urlaub ohne Handy lebensgefährlich sein kann.« Damit spielte er auf Marias Entschluss an, ohne Smartphone in den Urlaub nach Langeoog zu fahren, der fast mit ihrer Ermordung geendet hatte.

»Klappe, Gose«, sagte sie und stieß ihm einen Ellbogen in die Seite. »Aber ausschließen können wir das nicht.«

»Nein, das behalten wir mal im Hinterkopf.«

Die folgenden Stunden verbrachten sie mit Befragungen der Nachbarn und der Betreiber verschiedener Geschäfte in der Umgebung, doch niemand konnte sich daran erinnern, wann genau er oder sie Frau Claaßen das letzte Mal gesehen hatte.

Kapitel 5

 

 

Es war mittlerweile ruhig auf der Polizeidienstelle Aurich am Fischteichweg. Die meisten Beamten hatten Feierabend oder waren im Außeneinsatz, als Maria und Goselüschen am frühen Abend ihr Büro erreichten.

»Erstmal einen Kaffee. Willst du auch einen, Blondie?« Er werkelte an seiner eigens mitgebrachten Maschine, bis sie zischend ihre Arbeit aufnahm.

»Danke, lass mal. Aber was mir gerade einfällt: Jahrelang textest du mich damit zu, dass nur ihr hier ordentlichen Tee zubereiten könnt und der Ostfriesentee sowieso der beste von der ganzen Welt ist. Warum säufst du dann in einer Tour Kaffee?«

»Das verstehst du nicht«, nuschelte er. Maria neigte leicht den Kopf.

»Hä?«

»Das verstehst du nicht, Bohnenstange!« Maria zog ihre Augenbrauen hoch und begann zu grinsen.

»Langsam fällt der Groschen. Du magst überhaupt keinen Tee.«

»Boah, lass mich in Ruhe. Hast du nichts Dringendes zu erledigen? Lidstrich nachziehen oder Nägel feilen?« Sie prustete los.

»Ich fasse es nicht. Seit über drei Jahren arbeite ich mit dem selbsternannten Vorzeigeostfriesen aus Emden zusammen und jetzt stellt sich heraus, dass er sein Nationalgetränk nicht mag.« Goselüschen grummelte etwas Unverständliches vor sich hin, bis das Telefon läutete.

»Oberkommissar Goselüschen, Kriminalpolizei Aurich.« Maria bemühte sich, das Telefonat nicht zu stören, da sie immer noch amüsiert über die Aufdeckung von Goses Geheimnis war und jede Sekunde befürchtete, laut loszuprusten. Glücklicherweise stellte ihr Kollege den Lautsprecher an und holte sie so aus der üblen Situation. »So, meine Kollegin hört mit.«

»Moin, Frau Fortmann, Dr. Hallig hier«, begrüßte er sie. Er wartete ihre Erwiderung ab und fuhr fort. »Sie haben mit Ihrer Vermutung richtig gelegen. Frau Claaßen wurde zweifelsfrei erstickt, mutmaßlich durch Burking unter Zuhilfenahme des Kopfkissens, jedenfalls haben wir Fasern im Mundraum gefunden, die dazu passen könnten. Die haben wir mit den Abstrichen und den Spuren unter den Fingernägeln bereits ins Labor geschickt.«

»Burking?«, hakte Goselüschen nach. »Sie meinen, der Täter hat auf dem Brustkorb des Opfers gesessen, während er ihm das Kissen auf das Gesicht gedrückt hat?« Hallig bestätigte.

»Gesessen oder gekniet.«

Maria erschauderte. Burking ging auf den Serienmörder William Burke zurück, der Anfang des 19. Jahrhunderts in Edinburgh seine Opfer auf diese Art ermordet hatte, da sie nur schwierig zu identifizierbare Zeichen eines gewaltsamen Todes hinterließ. Und Burke, so wusste Maria aus Vorlesungen während ihrer Ausbildung, verkaufte die Leichen an anatomische Institute. Dem Opfer erging es demnach ähnlich wie der Beute einer Würgeschlange.

»Können Sie uns etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Natürlich, Frau Fortmann. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trat der Tod am letzten Sonntag gegen 18 Uhr ein – plus minus 8 Stunden.«

»Damit können wir schonmal arbeiten«, sagte Goselüschen.

»Wir haben am Hals Würgemale gefunden und an Armen und Rumpf einige Hämatome festgestellt, die ihr durch stumpfe Gewalteinwirkung vor ihrem Tod zugefügt wurden. Ansonsten kann ich Ihnen leider nicht viel anbieten. In den Organen und den verbliebenen Körperflüssigkeiten konnten wir keine Auffälligkeiten feststellen. Sie schien kerngesund zu sein.«

»Vielen Dank, Doc und einen schönen Abend«, sagte Maria und Goselüschen legte den Hörer zurück, nachdem sich der Rechtsmediziner verabschiedet hatte.

»Somit wäre das geklärt. Was haben wir?« Goselüschen zog seinen Notizblock hervor und blätterte darin.

»Nicht viel im Moment«, begann er. »Ich schlage vor, dass wir uns mal bei ihr zuhause umschauen, die Spurensicherung sollte dort fertig sein. In ihrem Büro werden wir jetzt wohl niemanden mehr erreichen.«

»Dann lass uns losfahren. Aus dem Labor werden wir heute wahrscheinlich eh nichts mehr hören.« Kurz bevor sie aufbrechen wollten, schrillte erneut das Telefon. Maria wartete gespannt darauf, was Goselüschen, der sich eifrig Notizen machte, ihr gleich über das Gespräch mitteilen würde.

»Alles klar, vielen Dank«, verabschiedete er sich und drehte sich zu Maria um. »Das waren die Kollegen aus Hannover. Sie waren bei den Eltern der Claaßen und haben ihnen die Mitteilung über den Tod ihrer Tochter überbracht. Sie hätten sie das letzte Mal vor etwa zwei Monaten gesehen.« Maria nickte und war zufrieden über das Zusammenspiel der verschiedenen Polizeidienststellen. Ohne viel Bürokratie konnten sie die Kollegen in der Landeshauptstadt von dieser Amtshilfe mit nur einem Anruf überzeugen, den Eltern des Opfers, die dort lebten, einen Besuch abzustatten. »Die Mutter meinte, wir sollten uns an eine Susanne Klar wenden. Das sei die beste und einzige Freundin ihrer Tochter, von der sie wüsste. Die Telefonnummer und Adresse hab ich hier.« Er winkte mit seinem Notizblock.

»Wo finden wir sie?«

»Sie wohnt ebenfalls in der schönsten Stadt der Welt, nur zehn Minuten von der Wohnung Claaßens entfernt.«

»Dein Ernst?«

»Ja, es sind nur zehn Minuten«, antwortete er, als ob er nicht genau wüsste, dass sie auf Emden anspielte. »Und nun los, sonst wird das nie etwas mit Feierabend heute.« Bevor sie zum Wagen gingen, machten sie einen kleinen Umweg und ließen sich eine Aufstellung der sichergestellten Spuren aus der Wohnung von Friederike Claaßen geben.

 

***

 

Sie fanden Claaßens Bleibe in einem aufgeräumten und gereinigten Zustand vor.

»So gehört sich das, wenn man in den Urlaub fährt«, merkte Maria an.

»Wenn du meinst«, erwiderte Goselüschen lapidar und nahm die Liste der Spurensicherung zur Hand. »Sie haben auch hier weder ein Smartphone noch einen Computer gefunden. Das ist doch ziemlich merkwürdig, oder?« Maria prüfte derweil die Fußböden und Wände auf einen versteckten Tresor oder verborgene Fächer.

»Hm, allerdings. Gerade in ihrem Job erwartet der Normalbürger, dass sie technisch up to date ist.«

»Solange mein Steuerberater die neuesten Gesetze und Verordnungen bezüglich des Steuerrechts kennt, ist es mir zumindest völlig Latte, ob er das neueste Smartphone nutzt oder noch mit Wählscheibe telefoniert.« Maria prustete laut auf.

»Gose, ich rede von Normalbürgern – da bist du raus. Hm, hier ist nichts. Jetzt noch das Schlafzimmer, dann können wir weiter.« Doch auch dort wurde Maria nicht fündig, daher verließen sie die Wohnung und machten sich auf den Weg nach Uphusen, wo die Freundin der Ermordeten gemeldet war. Sie bogen nach der Autobahnabfahrt links ab und passierten im nächsten Moment bereits das Ortsschild.

»Da vorne rechts«, sagte Goselüschen und zeigte auf das Straßenschild, auf dem Brückhörn zu lesen war. Maria folgte den Weisungen und sogleich wurden sie auf der unebenen, schmalen Straße durchgeschüttelt.

»Mann, das ist ja schlimmer als die Oyther Straße in Vechta«, schimpfte Maria und Goselüschen stimmte ihr schweigend zu.

»Hier ist es, Nummer 4. Dort kannst du parken.« Sie lenkte den Wagen auf die freie Fläche gegenüber der zugewucherten Auffahrt.

»Das ist ja ein niedliches Häuschen. Warum hab ich so eines nicht gefunden?«

»Weil du nicht richtig gesucht hast, nehme ich an.«

»Wollen Sie zur Susanne?«, schallte eine weibliche Stimme vom Garten des Nachbargrundstückes, bevor die beiden die Haustür erreicht hatten.

»Ja, ist sie nicht da?«, wollte Maria wissen.

»Nee, die is im Urlaub. Thailand oder Tahiti, irgendwas mit T jedenfalls. Keine Ahnung, warum die jungen Dinger immer soweit wech müssen, wo wir doch alles hier haben, was man braucht.« Jetzt erst konnte Maria die vielleicht 70-jährige Frau erkennen, die mit einem Kopftuch bekleidet zwischen zwei Koniferen Unkraut jätete.

»Oh, und wissen Sie, seit wann sie schon im Urlaub ist?«

»Na klar, schließlich muss ich mich ja um ihre Blumen kümmern. Sie ist seit etwa einem Monat fort und kommt in drei Wochen wieder. Die hat ein Leben, was?« Goselüschen und Maria warfen sich einen kurzen Blick zu.

»Danke und schönen Tag noch«, sagte Maria und auch dieser Ausflug war schnell beendet.

»Die wird uns wohl nicht weiterhelfen können. Bleibt jetzt nur noch ihre Mitarbeiterin.« Er kramte in seinen Notizen. »Hier hab ich sie, wohnt in Constantia. Du kannst erstmal wieder auf die Autobahn Richtung Emden, ich sag dir, wann wir abfahren müssen.«

»Hoffentlich ist sie nicht ebenfalls im Urlaub, dann würde es dünn werden mit irgendwelchen Spuren«, sagte Maria, während sie den Wagen über die Buckelpiste in Richtung der Durchgangsstraße bugsierte.

»Ohne die Ergebnisse aus dem Computer und denen des Labors werden wir eh nicht sehr weit kommen. Aber warum sollten wir zweimal Pech haben?«

 

***

 

Vanessa Voigt hielt sich die Hand vor den offenen Mund:

»Was sagen Sie, Frau Claaßen ist tot? Oh, mein Gott.« Sie erzitterte am ganzen Körper, nachdem ihr die Kommissare das Schicksal ihrer Chefin mitgeteilt hatten.

»Ja, sie wurde vor einer Woche ermordet«, sagte Goselüschen.

»Ich muss mich hinsetzen«, erwiderte sie und ließ sich auf den breiten Sessel neben der Couch fallen, auf der Maria Platz genommen hatte. »Das erklärt natürlich, warum ich sie nicht auf dem Handy erreichen konnte«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort.

»Wann haben Sie Frau Claaßen zuletzt gesehen?«

»Vor zwei Wochen ungefähr. Warten Sie, Frau Kommissarin, ich sehe schnell nach.« Sie erhob sich, verschwand mit schnellen Schritten aus dem Wohnzimmer und kehrte nach wenigen Sekunden mit ihrem Smartphone zurück. Mit nervösen Fingern wischte sie über das Display. »Hier. Am vorletzten Freitag. Da war mein letzter Arbeitstag vor dem Urlaub. Sie blieb etwas länger als ich. Gegen 17 Uhr hatte ich Feierabend.«

»Sie sagten, Sie haben Frau Claaßen versucht, anzurufen? Hatte sie denn ein Smartphone?«

»Natürlich, wo denken Sie hin!«

»Mh, merkwürdig. Egal, kommen wir zur Sache: Warum wollten Sie Frau Claaßen erreichen? Standen Sie sich privat näher?«

»Nein, überhaupt nicht«, antwortete sie schnell, »aber ich mache meist während unseres Urlaubs einmal in der Woche den Briefkasten leer und höre den Anrufbeantworter ab, wenn ich nicht gerade verreist bin. Und darauf hatte ein wichtiger Klient mehrfach eine Nachricht hinterlassen. Er hätte es schon vergeblich über ihre Mobilnummer versucht. Jetzt ist mir natürlich klar, warum wir beide sie nicht erreichen konnten.«

»Okay«, sagte Goselüschen und machte Notizen. »Wissen Sie etwas über Frau Claaßens privaten Umgang? Kennen Sie Freunde von ihr? Hatte sie einen festen Freund?«

»Nein, wie gesagt, ich hatte mit ihr privat überhaupt nichts zu tun. Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass sie einen Partner hatte. Sie müssen wissen, wenn Frau Claaßen nicht einen ihrer wenigen Urlaube hatte, verbrachte sie meist 14 bis 15 Stunden in der Kanzlei.«

»Das Leid der Selbstständigen«, seufzte Goselüschen.

»Ist Ihnen bekannt, ob Frau Claaßen Feinde hatte?«, wollte Maria wissen.

»Hm, Feinde ... keine Ahnung. Sie war sehr straight, das heißt, sie nahm nie ein Blatt vor den Mund und eckte sicher hier und da an. Aber sie war nicht bösartig oder so.«

»Wir haben weder in ihrer Ferienwohnung noch bei ihr zuhause ein Smartphone oder einen Computer finden können. Hat sie eventuell Arbeit und Privatleben streng getrennt und außerhalb ihres Berufslebens auf sämtliche Erreichbarkeit verzichtet?« Vanessa kräuselte die Stirn.

»Was? Nein, das denke ich nicht. Frau Claaßen hatte ihr Handy immer dabei und für unterwegs nutzte sie einen kleinen Laptop, so einen, bei dem man die Tastatur einklicken kann. Sie musste immer alles im Blick behalten mit der Firma.«

»Gut, Frau Voigt, es wäre nett, wenn Sie uns jetzt zur Kanzlei begleiten und die Tür aufschließen. Die Spurensicherung wird sich die Räume genau ansehen. Sie haben doch einen Schlüssel?« Vanessa nickte.

»Klar, wie sollte ich sonst an den Anrufbeantworter kommen?«

»Stimmt auch wieder«, sagte Maria, worauf sie sich erhob, während Goselüschen die Kollegen benachrichtigte.

 

***

 

Sie trafen gleichzeitig mit der Spurensicherung am Bürokomplex ein, in dessen dritter Etage Friederike Claaßen die Räume für ihre Steuerberatungskanzlei gemietet hatte. Der uniformierte Sicherheitsangestellte erkannte Vanessa sofort und öffnete ihr und den Polizisten die breite, verglaste Haupteingangstür.

»Guten Abend, Vanessa, ist Ihr Urlaub schon beendet?« Er lächelte breit und hielt die Tür auf.

»Hi, Max, nein, die Herrschaften –«

»Hauptkommissarin Fortmann von der Kriminalpolizei Aurich«, unterbrach Maria, stellte auch Goselüschen vor und bedeutete Vanessa und den Leuten der Spurensicherung, vorzugehen. Goselüschen blieb neben ihr stehen. Der Mann von der Security zeigte einen erstaunten Gesichtsausdruck.

»Polizei? Was kann ich für Sie tun?«

»Sie scheinen ein gutes Personengedächtnis zu haben. Kennen beziehungsweise erkennen Sie alle Beschäftigten in diesem Haus? Das müssen doch etwa hundert sein.« Max lächelte und ging langsam mit den beiden Kommissaren in Richtung seines Arbeitsplatzes, einer Anmelde-Theke, auf der mehrere Monitore und Telefone installiert waren.

»Ich bemühe mich. Ich denke, dass ich zumindest die erkenne, die länger als ein paar Monate einen Job in einer der Firmen behalten.«

»Dürfen wir uns die Überwachungsbänder vom Freitag vor zwei Wochen einmal ansehen?«

»Herr Goselüschen, ich darf Ihnen doch nicht einfach die Aufnahmen zeigen. Das wissen Sie doch selbst«, antwortete er freundlich. »Worum geht es überhaupt?«

»Friederike Claaßen wurde ermordet und wir wollen herausfinden, wann und wer sie zum letzten Mal lebend gesehen hat.« Dem überraschten Blick nach zu urteilen ging Maria nicht davon aus, dass Max es bereits wusste.

»Was? Warum? Wieso?«, stotterte er und setzte sich wie in Zeitlupe auf seinen Arbeitssessel.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739467429
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Inselkommissarin Nordseekrimi Krimi Suspense Ostfrieslandkrimi Cosy Crime Whodunnit Thriller Spannung

Autor

  • Marcus Ehrhardt (Autor:in)

Der Autor, 1970 geboren, lebt im niedersächsischen Vechta. Er ist Vater zweier erwachsener Kinder. Die Idee, Geschichten zu erzählen und Bücher daraus entstehen zu lassen, kam quasi über Nacht. Seinen großen Sympathien den USA gegenüber in all ihren Vielfalten und endlosen Weiten ist es geschuldet, dass einige seiner Titel eben dort verankert sind. Demgegenüber erscheinen immer wieder Titel, die vorrangig in seiner norddeutschen Heimat angesiedelt sind.