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Der Tote vom Stoppelmarkt

Kriminalroman

von Marcus Ehrhardt (Autor:in)
145 Seiten
Reihe: Maria Fortmann ermittelt, Band 1

Zusammenfassung

In den frühen Morgenstunden des Stoppelmarktdienstags finden zwei junge Männer den Marktmeister erstochen in einem Maisfeld nahe des Festgeländes. Maria Fortmann von der Kripo Cloppenburg und ihr Kollege Goselüschen übernehmen die Ermittlungen und schnell scheinen sie mit einem langjährigen Rivalen des Opfers den Mörder überführt zu haben. Alles spricht gegen ihn und der Fall steht kurz vor dem Abschluss. Doch es kommt anders ... "Der Tote vom Stoppelmarkt" ist der erste Teil einer Reihe um Kommissarin Maria Fortmann und sehr regional gehalten, was in den Folgebänden immer weiter in den Hintergrund rückt und somit der Story wesentlich mehr Raum gewährt. Bei diesem Buch handelt es sich um einen klassischen, eher unblutigen Ermittlungskrimi. Spannend - authentisch - humorvoll. Bisher wurden folgende Titel des Autors veröffentlicht: Steve-Parker-Reihe (Krimithriller): Band 1: Fremde Angst – Burns Cree Band 2: Fremde Angst – Nemesis Maria-Fortmann-Krimireihe: Band 1: Der Tote vom Stoppelmarkt Band 2: Im Namen des ... Band 3: Die Klaviatur der Gerechtigkeit Band 4: Mordseerauschen Band 5: Mordseeflüstern Band 6: Mordseegrollen Band 7: Mordseegrauen Band 8: Mordseelügen (Band 4-8 erscheinen im November als Epub) Als Einzeltitel (Thriller): Von Hass getrieben Dein Glück stirbt in 4 Tagen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marcus Ehrhardt

 

 

 

Der Tote vom Stoppelmarkt

 

 

 

Maria Fortmann ermittelt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Tote vom Stoppelmarkt

 

Copyright © 2017 Marcus Ehrhardt

 

Alle Rechte vorbehalten. Jede Weitergabe oder
Vervielfältigung in jeglicher Form ist nur mit schriftlicher
Genehmigung des Autors erlaubt.

 

Impressum:

Marcus Ehrhardt
Klemensstraße 26
49377 Vechta
Deutschland

E-Mail: max.ehrhardt55@gmail.com


Korrektorat / Lektorat: Tanja Loibl

Titelgestaltung: MTEL-Design

Bildnachweis: Adam Kontor / pexels.com,

jhagood23.deviantart.comDiese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real
existierenden Personen sind rein zufällig oder erfolgen mit ausdrücklicher Genehmigung.

Kapitel 1

 

 

Entsetzt weiteten sich die Augen des Mannes. Fassungslos starrte er auf seine Hände, die er sich auf den Bauch presste. Das warme Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch und breitete sich unaufhaltsam auf dem weißen Stoff seines T-Shirts aus. Er atmete geräuschvoll und schwer ein, als würde er Luft durch einen Trinkhalm saugen. Es schien sich eine Eisenfaust um seinen Brustkorb gelegt zu haben – und diese drückte erbarmungslos zu.

»Was? ... Warum ... hast du das getan?«, krächzte Johann Müller mit dünner Stimme. Was geschah hier gerade? Er wollte doch nur nach Hause gehen. Passierte es wirklich? Dann sackte er auf die Knie. Halb flehend, halb verwundert schaute er hoch – seinem Gegenüber direkt ins Gesicht. Sein Blick fiel auf das Messer in der Hand der Gestalt: Blut klebte am Metall der Klinge und schimmerte im Licht des Vollmonds. Der Lufthauch, der eben noch die laue Sommernacht unterstrichen hatte, schien Johann Müller jetzt eiskalt unter seine Kleidung zu kriechen. Langsam breitete sich der ziehende Schmerz in seinem Bauch aus und ergriff Besitz von seinem ganzen Körper. Er hielt sich die blutgetränkten Hände vors Gesicht. »Ich will nicht sterben«, sagte er, doch der Wind verschlang seine Worte. Die Gedanken rasten und überschlugen sich in seinem Kopf. Dann verschwammen sie und schließlich verschwanden sie.

Die Gestalt starrte teilnahmslos auf ihr Opfer herab. Lange hatte sie diesen Augenblick herbeigesehnt – endlich müsste Johann Müller für all das bezahlen, was er ihr und anderen angetan hatte. Oft hatte sie sich gefragt, wie es sich anfühlen würde. Würde sie Triumph, Erleichterung, Genugtuung oder Freude verspüren? Jetzt, da der Mann vor ihr kniete, gurgelnd seine letzten Laute von sich gab und das restliche Leben aus seinem Körper entwich, fühlte sie nichts von alledem – sie fühlte gar nichts. Eine endlose Leere dehnte sich in ihr aus, als ob nicht nur dem mittlerweile auf die Seite gefallenen Müller, sondern auch ihr der Stecker gezogen worden wäre, der sie mit Lebensenergie versorgte. Da stimmte etwas nicht. Sie müsste sich gut fühlen, beschwingt von ihrer Tat, jetzt, da das Opfer regungslos vor ihr lag. Lange Zeit hatte sie nur Hass und Verachtung für Müller empfunden, und das Einzige, das sie im Moment für ihn empfand, war Mitleid. Die Gestalt war verwirrt – so sollte es nicht sein, so dürfte es nicht sein.

Nach einem scheinbar ewig dauernden Moment schüttelte sie sich und sah sich hektisch nach allen Seiten um, doch niemand war zu sehen. Sie packte, das Messer noch in der Hand haltend, dem Opfer unter die Achseln und zog es keuchend in das angrenzende Maisfeld. Die Gestalt wunderte sich, wie schwer es ihr fiel, den zwar großen aber schlanken Müller zu bewegen. Kurz blieb sie neben dem leblosen Opfer stehen und schaute ihm in die toten Augen:

»Das hast du dir alles selbst zuzuschreiben.« Die Worte kamen flüsternd aus ihrem Mund. Vorsichtig spähte sie abermals die Umgebung ab, dann rannte sie los. Weg vom Johlen der stark angetrunkenen Besucher und der Musik, die aus den letzten geöffneten Festzelten des diesjährigen Stoppelmarktes immer leiser in ihre Ohren drang, bis sie irgendwann verstummte.

Kapitel 2

 

 

Kriminalhauptkommissarin Maria Fortmann aus Cloppenburg und ihr fülliger Kollege, Kriminaloberkommissar Peter Goselüschen, trafen um acht Uhr morgens in Vechta ein.

»Bevor wir uns im Schritttempo über das mit Buden, Zelten und Karussells zugestellte Marktgelände quälen, lass uns besser außenrum fahren, auch wenn es ein kleiner Umweg ist«, schlug Maria vor.

»Jo, lass uns ruhig etwas Staub aufwirbeln bei unserer Ankunft. Das sorgt gleich für den richtigen Eindruck«, erwiderte ihr Partner. Wenig später bogen sie langsam in die schmale Schotterstraße, die zum Kreuzweg führte, und ließen der Ankündigung Goselüschens Taten folgen. Die Staubwolke, die sie verursachten, war ein Resultat der tagelangen Trockenheit. »Eigentlich war das im übertragenen Sinne gemeint«, sagte er grinsend.

»Meinst du, das war Absicht?«, erwiderte Maria und nahm den Fuß vom Gas. Der kurz hinter der Einmündung postierte, uniformierte Polizist erkannte die beiden und winkte sie freundlich grüßend zum Tatort durch. Sie waren vor etwa einer Stunde als Verstärkung angefordert worden. Einsatzwagen sperrten den Tatort weiträumig in alle Richtungen ab.

Am gestrigen Stoppelmarktmontag, dem Tag des Viehmarkts, waren sämtliche ortsansässige Firmen mit ihren Angestellten dort unterwegs gewesen und der Gerstensaft floss an diesem Tag noch etwas mehr als an den anderen Festtagen, obwohl das fast unmöglich schien. Wie üblich hatten auch an diesem Tage etliche Feierwütige bis in die frühen Morgenstunden durchgehalten. Einige Schaulustige versammelten sich hinter der Absperrung. In den Gesichtern der Leute zeigte sich das gesamte Spektrum menschlicher Empfindungen von Entsetzen bis Erheiterung.

»Moin, Harry, was haben wir?« Maria hielt sich die Hand vors Gesicht, die morgendliche Sonne blendete sie und ließ ihre gelben Pumps erstrahlen. Kriminaloberkommissar Harald Scharnweber, ihr Kollege aus Vechta, war bereits von der vor einigen Minuten abgerückten Tatortgruppe unterwiesen worden. Sie hatte die Erstbegutachtung des Tatortes abgeschlossen und alle gewonnenen Erkenntnisse an Scharnweber weitergegeben. Nun lag es am zuständigen Ermittlerteam, die weiteren Recherchen zu übernehmen. Diese Aufgabe fiel Maria Fortmann und Peter Goselüschen zu, die von Harald Scharnweber und einigen anderen Vechtaer Polizisten unterstützt werden würden. Der hochaufgeschossene Scharnweber nickte ihnen zu.

»Moin, ihr beiden.« Er begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck. »Leider ist das kein Anlass, um wie sonst auf dem Stoppelmarkt anzustoßen. Macht euch auf was gefasst, wir haben hier `ne riesengroße Schweinerei.« Er führte die beiden zur Leiche, wobei sie darauf bedacht waren, keine Spuren zu verwischen. Schließlich ließen die Kollegen von der Spurensicherung aus Cloppenburg noch auf sich warten.

»Oh, ja, ziemlich blutige Angelegenheit«, sagte Maria, als sie die auf dem Rücken liegende, blutüberströmte Leiche zwischen den meterhohen Maispflanzen sah. Trotz der angenehm warmen Temperatur überkam sie beim Anblick des Toten ein Frösteln. Sie würde sich wohl nie richtig daran gewöhnen, dachte sie, aber wenigstens wäre das ein Hinweis, dass sie nicht total abgestumpft war.

»Ja, so viel Blut fließt hier sonst nur, wenn unser Wolf sich mal wieder über ein paar Schafe hermacht.«

»Seit wann ist das euer Wolf? Der kümmert sich auch bei uns darum, dass wir keine überschießende Schafpopulation befürchten müssen. Aber vielleicht ist unserer ja auch ein Verwandter von eurem.« Goselüschen lachte kurz auf.

»Ich werde beim nächsten Mal seine Personalien aufnehmen. Dann können wir das ja abgleichen.«

»Vergiss nicht die Pfotenabdrücke – sonst zählt das nicht.« Maria wusste um die seit Jahren steigende Anzahl des Raubtieres, das als ausgerottet galt. Ebenso, dass es den Züchtern von Nutzvieh im norddeutschen Raum, gerade denen von Schafen, zunehmend Probleme bereitete. Besonders in der hiesigen Region häuften sich von Woche zu Woche die Meldungen über Blutbäder, die dem Isegrim zugeschrieben wurden. Doch das war jetzt überhaupt nicht von Belang.

»Könnten sich die Herren bitte um das Wesentliche kümmern?«, sagte Maria. »Oder vermutet einer von euch Experten, dass der Tote von einem Wolf gerissen wurde?« Goselüschen und Scharnweber sahen sich schulterzuckend an. Maria kramte in ihrer Handtasche, die locker an ihrem grellgelben Shirt baumelte, und zog Einweghandschuhe hervor, die sie sich überstreifte. Dann kniete sie sich neben die Leiche und inspizierte diese sowie den Boden drumherum. »Er wurde hier abgelegt und von da wurde er hergeschleift.« Sie deutete auf einen Punkt am Weg ungefähr vier Meter entfernt. Von dort führten deutliche Spuren im Sandboden zum Maisfeld, an deren Rand einige Blutflecken erkennbar waren.

»Ja, das ist offensichtlich«, bestätigte Goselüschen.

»Der Tote wiegt locker 80 kg, da muss man sich schon ganz schön anstrengen, den hierherzuziehen«, bemerkte Scharnweber.

»Ja, ist sicher nicht so leicht – aber wer die Eier hatte, ihn abzustechen, wird wohl auch die Kraft haben, ihn da rüberzuschleifen. Demnach suchen wir eher nach einem männlichen Täter.«

»Damit liegst du wohl richtig, Gose. Aber ich denke, wir sollten eine Täterin nicht von vornherein ausschließen. Gibt es sonst noch was, Harry?«

»Der Notarzt hat vor `ner halben Stunde den Tod des Mannes festgestellt. Mutmaßlich eingetreten in Folge mehrerer Messerstiche in die Bauchgegend. Todeszeitpunkt zwischen vier und sechs Uhr. Näheres muss die Rechtsmedizin aus Oldenburg klären.«

»Ist der Doc noch da?«, fragte Goselüschen. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Diese Hitze bringt mich ins Grab.«

»Nein, er wurde zu einem Notfall gerufen. Ihr wisst ja, Stoppelmarkt ist auch für die Ärzte Hochsaison«, antwortete Scharnweber mit seiner tiefen, rauchigen Stimme.

»Wissen wir schon, wer das Opfer ist?«

»Ja, Maria. Sein Name ist Johann Müller, 49 Jahre, alteingesessener Vechtaer. Er hat bei der Stadtverwaltung gearbeitet. Verheiratet, zwei volljährige Kinder. Seine Geldbörse mit den Papieren und etwas über 100 Euro Bargeld sowie sein Handy hatte er noch.«

»Demnach können wir wohl einen Raubmord ausschließen.«

»Das denke ich auch. Seine teure Armbanduhr ist ebenfalls noch da, demnach ging es nicht darum.« Maria war die exklusive Uhr am Handgelenk der Leiche bereits aufgefallen.

»Vechtaer heißt Vechteraner, oder? Ich vergesse das immer wieder.« Goselüschen kratzte sich am Kopf.

»Ja, Gose. So heißen wir Eingeborenen hier auf Amtsdeutsch«, bestätigte Scharnweber nachsichtig.

»Leute, wir haben hier einen Mordfall«, warf Maria ein. »Gibt es auf Müllers Handy Nachrichten oder Telefonate von den letzten Stunden?«

»Nein, im Moment nicht. Auf dem ganzen Gelände ist der Handyempfang seit jeher sehr schlecht. Möglicherweise trudeln noch Nachrichten darauf ein, die hätte Müller dann jedoch nicht mehr lesen können.«

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Goselüschen und zückte einen Notizblock aus seiner Hosentasche. Er blätterte ein paar Seiten um und hielt einen Stift bereit.

»Zwei junge Männer. Sie sind noch etwas fertig, aber wahrscheinlich eher wegen des Alkohols. Wir halten sie momentan auf der Dienststelle fest. In ihren getrennten Befragungen haben sie sich nicht widersprochen, allerdings auch keine Hinweise erbracht. Sie haben niemanden gesehen, sind nur zufällig auf die Leiche gestoßen, weil einer der beiden zum Pinkeln hier rüberging.« Er zeigte auf eine Stelle etwa drei Meter rechts des Toten. »Hat ihnen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Sie sind dann bis zum BMX-Parcours da vorn gelaufen – dort hatten sie Handyempfang und haben uns angerufen.«

»Gibt es weitere Zeugen?« Maria Fortmann stand wieder bei den beiden Männern auf dem Weg und schaute sich nach allen Seiten um, als würde sie etwas Bestimmtes suchen. Aufmerksam betrachtete sie die Schaulustigen, doch niemand stach ihr ins Auge. Im Zuge ihrer Ausbildung war ihnen immer wieder eingeschärft worden, dass es einen Mörder häufig zum Tatort zurück verschlug. Der Anreiz für sie bestand besonders dann, wenn – wie hier – etliche Neugierige herumstanden, unter die man sich unauffällig mischen und die Arbeit der Polizei beobachten konnte.

»Nein, bisher haben wir keinen gefunden. Aber zwei Kollegen sind noch auf dem Markt unterwegs, um die Beschicker der umgebenden Fahrgeschäfte und Fressbuden zu befragen.«

»Das wird wohl einige Zeit dauern bei den rund 500 aufgebauten Ständen hier«, stellte Maria fest.

»Ja, so Pi mal Daumen müsste das hinkommen«, bestätigte Scharnweber.

»Haben wir das Tatwerkzeug?«, fragte Goselüschen. »Ich tippe auf ein Fleischermesser.«»Nein, bisher nicht. Der Helikopter aus Rastede ist vor ein paar Minuten wieder abgeflogen. Sie konnten auch mit der Wärmebildkamera nichts entdecken. Die Bilder bekommen wir nachher zur Dienststelle geschickt.«

»Ist euer Blutspürhund einsatzbereit?« Seit der Serie Game of Thrones hatte diese Dienstgradbezeichnung für Hunde eine völlig neue Qualität gewonnen, dachte sie belustigt.

»Jo, Maria, der ist unterwegs. Sollte in ein paar Minuten hier sein.«

»Das ist gut, dann hoffen wir mal, dass der Wauwau seinen Job ordentlich macht«, sagte Goselüschen, klappte den Notizblock zu und ließ ihn wieder in seiner Gesäßtasche verschwinden.

»Sie – unser Bluthund ist eine Sie! Sie heißt Betty«, klärte Scharnweber die beiden auf. Offensichtlich mochte Scharnweber dieselben Serien wie sie selbst, stellte Maria fest, nachdem er diese Bezeichnung für den Hund gewählt hatte.

»Die leidige Frauenquote, die erfüllt werden muss?«

»Ja, Gose, die niedersächsische Polizei scheint da deutlich fortschrittlicher als die Wirtschaft oder die katholische Kirche zu sein.« Um die Aussage zu unterstreichen, deutete er in Richtung Stadt, wo die Spitze vom Kirchturm der katholischen Kirche Maria Frieden gerade noch auszumachen war.

»Dann statten wir doch als Erstes der Familie einen Besuch ab.« Goselüschen stimmte seiner Kollegin nickend zu.

»Er wohnte in der Welper Straße 39, hinten Richtung Golfplatz. Fahrt gleich gegenüber vom evangelischen Friedhof rechts rein, dann seid ihr fast da.«

»Danke, Harry, wir sehen uns später auf der Dienststelle.« Die beiden Cloppenburger Kommissare machten sich in ihrem Dienstwagen auf den Weg.

»Hätte der Täter nicht einen Tag warten können? Dann wäre wenigstens der Stress mit dem Markt vorbei. Sehr unsensibel von ihm.« Goselüschen fuhr sich mit der Hand durch sein lichtes Haar.

»Mensch Gose, etwas Taktgefühl würde nicht schaden«, tadelte sie ihn, konnte sich ein Lächeln jedoch nicht verkneifen. Goselüschen und sie teilten das Schicksal vieler ihrer Kolleginnen und Kollegen, die beruflich mit Gewalt in allen Facetten und tiefsten menschlichen Abgründen zu tun hatten. Sie legten sich einen Schutzpanzer zu, der verhinderte, dass persönliche Schicksale der Opfer zu nah an sie herankamen. Sie warf einen Seitenblick auf ihn. In ihrer mittlerweile fast 15-jährigen Tätigkeit als Polizistin hatte sie mit einigen festen Teampartnern zusammen gearbeitet. Goselüschen gehörte absolut nicht zu den Hinguckern unter den männlichen Kollegen, aber sein derber Humor und sein scharfer Verstand machten ihn zu ihrem bisherigen Favoriten. Auch wenn er oft vor Sarkasmus nur so triefte und schlecht gelaunt war, verging die Arbeitszeit mit ihm doch wie im Fluge.

Kapitel 3

 

 

Der Weg zur Ehefrau des Opfers dauerte lediglich zehn Minuten. Der Verkehr in Vechta kam erst langsam wieder in Gang, diese Zeit hatte immer etwas von einem Ausnahmezustand. Viele Einwohner nahmen für den Stoppelmarkt einen Teil ihres Jahresurlaubs. Selbst schon seit Jahren nicht mehr in der Region lebende Ur-Vechtaer kamen währenddessen zahlreich in ihre alte Heimat. Da seit Jahrzehnten immer dieselben Zelte ihren festen Stammplatz auf dem Marktgelände hatten, wusste man im Vorfeld, in welchem Zelt man mutmaßlich seine Leute treffen würde. Sei es das Goldenstedter, das Visbeker, das Twistringer oder das Pickers Zelt, in welchem sich der Großteil des Vechtaer Nachbarortes Lutten versammelte – für fast jedes größere Dorf oder kleinere Stadt in der Umgebung der Kreisstadt fand sich eine Anlaufstelle.

Die37-jährige, blonde Maria stoppte den Wagen vor der Auffahrt zu einem modernen Einfamilienhaus.

»Typische südoldenburger Spießerhütte«, befand Goselüschen. Eine akkurat geschnittene Koniferenhecke trennte das Grundstück vom Gehweg der vor Kurzem generalsanierten Straße. Der gepflegte Rasen, die frisch beschnittenen Obstbäume im Vorgarten, die sauber eingefassten Beete, in denen Goselüschen nicht einmal den Ansatz eines Unkrautes erkennen konnte, und die weißen Klinker des Hauses mit Friesengiebel rundeten das Bild ab. In der aufgeräumten, offenen Doppelgarage parkten ein roter Ford Fiesta und ein dunkelgrüner SUV mit einem Stern am Kühlergrill. Neben den beiden Fahrzeugen stand jeweils ein Fahrrad zwischen Autotür und Wand. Maria schaute ihren Kollegen kopfschüttelnd an und rollte mit ihren blauen Augen:

»Wenn du deine Frau nicht betrogen hättest, würdest du jetzt auch nicht in einer Zwei-Zimmer-Wohnung hausen, sondern selbst noch in so einem Häuschen wohnen, also bleib mal locker.«

»Touché.« Goselüschen reagierte stets entspannt auf die kleinen Spitzen seiner Kollegin, welcher er so ziemlich alles durchgehen lassen würde, auch wenn er trotz ihrer Attraktivität keine romatischen Gefühle für sie empfand. Er musterte sie unauffällig. Mit den klaren, harmonischen Gesichtszügen und der definierten Wangen- und Kinnregion entsprach sie, vielleicht abgesehen von ihrer etwas schief geratenen Nase, dem modernen Schönheitsideal – ganz im Gegensatz zu ihm selbst, was er nicht erst seit jetzt wusste. Er hatte ein großes, rundes Gesicht, das in einem noch größeren Kopf steckte. Meist erstrahlte es, aufgrund seines chronisch erhöhten Blutdruckes – das behauptete zumindest sein Hausarzt – in einem ungesunden Rot. Aber egal, wie gut seine Kollegin auch aussah, sie war nichts für ihn – viel zu sehr hing sein Herz an seiner Ex-Frau, die ihn vor einem Jahr verlassen hatte. Bis heute hatte sie ihm seinen einmaligen Seitensprung nicht verziehen. Goselüschen selbst wusste gar nicht mehr, wie es damals überhaupt zu diesem gekommen war.

Die flachen Absätze von Marias Pumps klackerten auf der gepflasterten Zufahrt und rissen Goselüschen aus seinen Tagträumen. Er hielt sich etwas hinter ihr.

»Muss ich mal wieder die Nachricht überbringen?« Sie blickte über ihre Schulter. Wie vermutlich die meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen mochte sie diesen Teil ihres Jobs am wenigsten. Im Normalfall wurden sie bei der Übermittlung einer solchen Nachricht von einem Psychologen begleitet, leider war dieser heute nicht sofort verfügbar.

»Du hast einfach mehr Feingefühl als ich, das weißt du doch, Maria.«

»Das zumindest steht außer Frage.« Sie atmete tief durch und drückte auf den goldenen Klingelknopf über dem braunen Schild: Hier wohnt, streitet und verträgt sich Familie Müller. Sie mussten nicht lange warten, bis die Tür geöffnet wurde.

»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?« Die Frau schien gerade erst aufgestanden zu sein. Davon zeugten sowohl die dunklen Ringe unter ihren Augen als auch die zerzausten, langen braunen Haare, die heute noch keine Bürste gesehen zu haben schienen. Der zu große, rotweiß- gestreifte Frotteemorgenmantel ließ keine Rückschlüsse auf ihre Figur zu. Eine leichte Alkoholfahne schwang den Beamten entgegen. Sie zeigten ihre Dienstausweise:

»Mein Name ist Fortmann, dies ist mein Kollege Goselüschen. Sind Sie Frau Müller?« Mit ihren 1,78 m überragte sie ihren Kollegen um einen halben und Birgit Müller um einen ganzen Kopf. Die Frau schaute mit gerunzelter Stirn von Maria zu Goselüschen und wieder zu Maria:

»Ja, Birgit Müller. Polizei? Worum geht´s?« Ihre Stimme klang noch etwas mitgenommen. Sie schien überrascht zu sein und machte keine Anstalten, die beiden ins Haus zu bitten.

»Dürfen wir hereinkommen?«

»Ach ja, natürlich. Kommen Sie.« Sie trat bedächtig einen Schritt zurück. So ganz passte es ihr wohl nicht. Sie drehte sich um und ging voraus. Die Ermittler folgten ihr in ein modern eingerichtetes Wohnzimmer. Dort deutete sie auf die ausladende Sitzecke mit dem dunkelbraunen Wildlederbezug. Auf dem Glastisch stand ein Strauß frischer Sommerblumen, dessen Duft sich mit der Alkoholfahne Birgit Müllers vermischte. Maria wartete, bis Frau Müller sich gesetzt hatte:

»Frau Müller, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihr Mann tot ist.« Sie beobachteten die frische Witwe genau.

»Wie bitte?« In ihrem Gesicht regte sich nichts, ihr Körper jedoch straffte sich kaum sichtbar.

»Er wurde vor etwas über einer Stunde in der Nähe des Stoppelmarktgeländes tot aufgefunden. Wir gehen von einem Gewaltverbrechen aus.« Maria sprach mit ruhiger Stimme.

»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen.« Ihre Stimme zitterte, während sie unruhig ihren Blick durch das Wohnzimmer wandern ließ.

Goselüschen schaltete sich ein:

»Wo waren Sie heute Nacht, Frau Müller?«

»Wie bitte? Verdächtigen Sie mich etwa?«, erwiderte sie mit hoher Stimme. Goselüschen meinte, ein Funkeln in ihren Augen aufblitzen zu sehen.

»Frau Müller, das sind Routinefragen in so einem Fall. Also?«, fragte Maria mit weiterhin ruhiger Stimme.

Birgit Müller schüttelte den Kopf und sah auf ihre leicht zitternden Hände:

»Nun, da, wo wahrscheinlich fast ganz Vechta war, auf dem Viehmarkt natürlich. Gegen 0 Uhr bin ich mit dem Bus nach Hause gefahren.«

»Kann das jemand bestätigen?« Goselüschen hielt wartend seinen Stift über den Notizblock. Sie schien weiterhin ihre blassrosa manikürten Fingernägel zu betrachten, die momentan gut mit ihrer Gesichtsfarbe harmonierten.

»Wohl kaum. Höchstens der Busfahrer, da saßen allerdings viele Leute drin. Meine Söhne wohnen nicht mehr hier und mein Mann wollte unbedingt noch dortbleiben. Er findet nie nach Hause.« Nach einer kurzen Pause schob sie hinterher: »Fand.«

»Hatte ihr Mann Feinde? Oder Streit mit jemandem?«, fragte Goselüschen, den Stift bereit haltend.

Sie überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf und sah Goselüschen in die Augen:

»Naja, er ist ... war ein schwieriger Charakter. Er eckte oft an, vor allem dienstlich. Aber deswegen würde ihn doch wohl niemand umbringen!« Endlich brachen die Dämme und der Frau schossen die Tränen aus den Augen. Maria legte ihr die Hand auf den Unterarm. Birgit Müller unterdrückte ein Schluchzen.

»Wir können Ihnen einen Psychologen schicken, mit dem können Sie sprechen.« Maria wollte gerade beruhigend mit ihrer Hand zudrücken, da zog Birgit Müller ihren Arm zurück, schüttelte vehement den Kopf und stand auf. Sie zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte hinein. Danach bemühte sie sich um einen festen Ton in ihrer Stimme:

»Nein, es geht schon. Kann ich ihn sehen?«

»Er wird gerade vom Bestatter abgeholt und zur Autopsie in die Rechtsmedizin nach Oldenburg gebracht.« Maria blickte zu ihrem Kollegen. »Schreib ihr doch eben die Telefonnummer auf.« Goselüschen schaute kurz zu Maria, kritzelte etwas auf einen Zettel, riss ihn ab und reichte ihn der Hausherrin.

»Ich würde jetzt gern hinfahren, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Das geht leider nicht: Zivilisten haben da keinen Zutritt. Allerdings können Sie unter dieser Telefonnummer fragen, wann die Leiche Ihres Mannes freigegeben wird. Das entscheiden die Kollegen vor Ort.« Birgit Müller schien verstanden zu haben, denn sie nickte. »Wir melden uns wieder bei Ihnen.« Maria Fortmann stand auf und gemeinsam gingen die drei zur Tür. Auf dem Tritt drehte sie sich noch einmal zu Birgit Müller:

»Und Sie sind sich ganz sicher, dass wir Ihnen niemanden zum Reden schicken sollen?« Die Angesprochene nickte entschieden:

»Nein, danke. Das brauchen Sie nicht. Ich komme damit auch so klar.« Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, schloss sie die Haustür.

»Was sagst du dazu?«, fragte Maria ihren Kollegen, als sie wieder im Wagen saßen. Sie stellte den Rückspiegel ein, um eine Wimper aus ihrem rechten Auge zu entfernen, die sie schon seit Minuten störte.

»Meiner Meinung nach stimmt da einiges nicht. Es schien sie absolut kalt zu lassen. Gruselig.« Goselüschen beobachtete amüsiert seine Kollegin bei ihrem autochirurgischen Eingriff an ihrem Auge.

»Ja, das kam mir auch komisch vor. Sie musste sich ja quasi zum Weinen zwingen. Hören wir uns doch mal an, was unsere Kollegen für uns haben.« Endlich hatte sie das lästige Haar entfernt und startete den Motor. Maria erschauderte beim Anblick des Hauses, als sie daran vorbeifuhren. Solch eine Gefühlskälte erlebte man nicht allzu oft. Wie konnte jemand jahrelang mit einem Menschen unter einem Dach wohnen und dann den plötzlichen Tod so wegstecken? Klar schickte jeder Mal seinen Partner gedanklich dorthin, wo der sprichwörtliche Pfeffer wuchs, aber das hier war reell.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, während sie den Wagen gefühlt im Schritttempo durch die enge Münster Straße navigierte, um bloß keinen Spiegel abzufahren.

»Die Stadt hat so viel Kohle, warum können die nicht einen ordentlichen Stadtring und ein paar vernünftige Parkplätze bauen, damit man ohne Nervenzusammenbruch durch die Innenstadt kommt und nicht alles zugeparkt ist?«

»Das war nicht immer so, früher war Vechta bettelarm – erst mit der verstärkten Tierzucht kam langsam aber gewaltig der Wohlstand über die Stadt.«

»Tierzucht – Vechta stinkt.«

»Mensch Gose, du hast ja heute wieder eine wunderbare Laune.« Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.

»Warum heute?« Demonstrativ schaute er aus dem Seitenfenster und grummelte etwas vor sich hin, das Maria nicht verstand.

»Früher war das Aroma wohl tatsächlich ein Wahrzeichen Vechtas, mittlerweile hat sich aber so eine vielfältige Wirtschaft angesiedelt, dass das lediglich Geschichte ist. Allerdings wird hier natürlich immer noch viel zu viel Fleisch produziert.«

»Ach, die Kampfveganerin kommt wieder durch.«

»Egal, lass uns eben etwas frühstücken, dann bist du vielleicht etwas genießbarer.«

»Das könnte tatsächlich funktionieren.« Mit schlechtem Gewissen nahm Maria die Probsteikirche wahr, an der sie gerade vorbeifuhren. Der große, rotgeklinkerte Kirchturm schien sie zu ermahnen – schon lange hatte Maria keinen Gottesdienst mehr besucht.

In der Nähe der Buchhandlung, die seit Jahrzehnten die Menschen zuverlässig mit neuen Werken und alten Klassikern versorgte, fanden sie einen Parkplatz. Die Kommissare setzten sich an einen Bistrotisch vor einem kleinen Café. Schräg gegenüber stand ein besonderer Blickfang. Es handelte sich dabei um ein lebensgroßes, bronzenes Modell eines Hannoveraner-Wallachs.

»Mit dem hat Alwin Schockemöhle in den 70ern olympisches Gold im Springreiten gewonnen«, klärte Maria ihren Kollegen auf. »Springreiten, was ist das? Ich kenn nur Teebeutelweitwurf.« Von ihrem Platz aus blickten sie auf das Karree vor der Sport-Bar, das sich langsam mit Menschen füllte. Gemeinsam hatten dort das ansässige italienische Restaurant, das Eiscafé und eben die Bar zahlreiche Tische und Sitzgelegenheiten für ihre Gäste aufgestellt, die das sommerliche Wetter genießen wollten. Einige Kinder spielten geräuschvoll am Brunnen neben dem Pferd. Nichts erinnerte Maria daran, dass vor ein paar Stunden nur wenige Kilometer entfernt von hier ein Mann erstochen worden war. In einer Kleinstadt sollte so etwas doch wenigstens für ein wenig Aufregung sorgen. Wobei das sicher auch an den heutigen, schnelllebigen Zeiten lag, in denen nichts älter war, als der letzte Facebook- oder Instagrampost. Hilft ja nichts, dachte sie bei sich und ließ zusammen mit ihrem Partner bei belegten Brötchen und Milchkaffee die bisherigen Ereignisse des Tages Revue passieren.

 

***

 

Als der letzte Bissen den Weg in Goselüschens Schlund gefunden hatte, begaben sich die beiden Cloppenburger Polizisten zur Dienststelle. Harald Scharnweber wartete bereits im lichtdurchfluteten Konferenzzimmer. Auf der weißen Kunststoffplatte des länglichen Tisches lagen einige Papierstapel mit den bisher gesammelten Informationen im Mordfall Müller verteilt. In der Ecke blubberte die Kaffeemaschine vor sich hin und der Dampf des schwarzen Getränkes erfüllte den Raum mit dem typischen Polizeirevieraroma. Maria fuhr sich mit der Hand durch die Haare, setzte sich und zog einen der Papierstapel zu sich heran. Gedankenverloren wanderten ihre Blicke durch den Raum und blieben an der gegenüberliegenden Wand hängen. Die vergilbten Tapeten könnten auch mal wieder etwas Farbe vertragen, dachte Maria noch, da polterte ihr Kollege herum.

»Boah, was ist das für `ne Brühe?« Angewidert verzog Goselüschen das Gesicht, nachdem er an seiner Tasse genippt hatte. Scharnweber musterte seinen Kollegen:

»So rot wie dein Kopf ist, solltest du eh etwas kürzer treten mit deinem Kaffeekonsum, sonst platzt er dir noch.« Er knuffte Goselüschen leicht mit dem Ellbogen in die Seite.

»Bevor mir der Kopf platzt, explodiert euer Pferd am Markt.« Mit der freien Hand täuschte er einen Boxhieb in Scharnwebers Nierengegend an, der sich in die Seite griff und theatralisch das Gesicht verzog.

»Können die Herren sich mal bitte mit dem Dienstlichen befassen?« Einerseits boten die beiden Kasperköpfe ja meist eine gute Unterhaltung, aber ihnen fehlte Marias Empfinden nach einfach das Gefühl für das richtige Timing. Andererseits, vielleicht entsprach sie auch nicht der Zielgruppe – schließlich war sie eine Frau. Egal, sie hätten zu tun. Maria blätterte aufmerksam in den Unterlagen. »Die Ehefrau war überraschend kühl, als wir mit ihr gesprochen haben. Entweder hat sie sich so unter Kontrolle oder der Tod ihres Mannes trifft sie nicht sonderlich«, weihte sie Scharnweber von ihrem Besuch bei Birgit Müller ein.

»Von der Autopsie haben wir noch keine Information, die Spurensicherung hat auch abgewunken. Die letzten Tage sind da Tausende von Menschen langgelaufen. Da findest du nichts. Etliche Kippen und Fußabdrücke, die können unmöglich alle im Labor untersucht werden. Abgesehen davon, dass die da schon ewig rumgelegen haben können«, sagte Scharnweber und zerstörte damit Marias Hoffnung auf eine schnelle Lösung des Falles.

»Das habe ich mir bereits gedacht. Haben die Kollegen auf dem Markt noch was herausgefunden?«

»Negativ. Entweder haben die Leute zur Tatzeit geschlafen oder sie waren besoffen.« Scharnweber lehnte mit dem Rücken an der Wand zwischen Tür und Kaffeemaschine.

»Befragt ihr die Söhne der Müllers? Dann hören Gose und ich uns mal bei der Stadt um. Seine Frau meinte, ihr verstorbener Mann wäre recht streitbar gewesen.«

»Machen wir«, erwiderte Scharnweber. Plötzlich läutete das Telefon. Er trat an den Tisch und griff zum Hörer: »Scharnweber hier.« Während des kurzen Telefonats kritzelte er eifrig Notizen. »Ich danke Ihnen. Ja ... Sie haben was gut bei uns ... alles klar. Tschüss.« Maria und Goselüchen sahen ihn fragend an:

»Oldenburg?«

»Jo, die haben sich richtig rangehalten. Also ...« Er schnappte sich seinen Block, rückte seine randlose Brille zurecht und las vor: »Todeszeitpunkt zwischen 4 und 6 Uhr, wie der Arzt bereits sagte. Todesursache ist Verbluten durch vierfachen Einstich im Bauchraum, wobei zweimal die Bauchaorta getroffen wurde. Der Tod muss wenige Minuten nach der Tat eingetreten sein. Gleichmäßige Einstiche, glatte Ränder, alle mittig um den Bauchnabel herum. Es muss sehr schnell gegangen sein. Das Tatwerkzeug ist mutmaßlich ein Fleischermesser mit stehender und mindestens 8 cm langer, einschneidiger Klinge. Saubere Einstiche – kein Herumdrehen der Klinge oder sonstige Spielereien. Zum Todeszeitpunkt lag sein Blutalkoholgehalt ungefähr bei 1,1 Promille.«

»Also war er noch einigermaßen fit. Und da nichts auf einen Kampf schließen lässt, muss er den Täter oder die Täterin gekannt haben, oder zumindest nicht argwöhnisch gewesen sein«, folgerte Maria und bewegte sich langsam in Richtung Korridor.

»Exakt. Auf die DNA-Ergebnisse und die vom LKA müssen wir natürlich noch ein paar Tage warten. Aber vielleicht können wir es ja vorher eintüten.«

»Dann man los.« Maria blieb in der Tür stehen und warf einen fragenden Blick auf den zehn Jahre älteren Goselüschen.

»Was? Darf ich nicht mal in Ruhe meinen Kaffee austrinken?« Marias Miene ließ kein Zögern zu. Er kippte murrend den Rest ins Waschbecken, welches neben dem kleinen Tisch montiert war, stellte die Tasse ab und setzte seinen massigen Körper in Bewegung.

 

***

 

Gegen den Widerstand ihres Kollegen setzte sich Maria durch, die etwa fünfhundert Meter zur Stadtverwaltung zu Fuß zu gehen.

»Du weißt schon, dass die eine Parkgarage DIREKT unter dem Gebäude haben?« Goselüschen stand der Schweiß auf der hohen Stirn.

»Ein wenig Bewegung wird dir nicht schaden.« Sie grinste ihn an und beschleunigte unmerklich ihren Gang.

»Bist du meine Mutter? Oder mein Arzt?« Er keuchte bei dem Versuch, mit seiner schlanken Kollegin Schritt zu halten. Dass er auf die Ratschläge dieser ebenfalls nicht hörte, verschwieg er sicherheitshalber.

»Zu deinem Glück bin ich weder das eine noch das andere«, erwiderte sie lachend. Erleichtert stellte er fest, dass sich der Verkehr wieder normalisiert hatte. So mussten sie beim Überqueren der Straße in der Nähe ihres Frühstückscafés warten, bis sie eine Lücke fanden. Zeit zum Luft holen.

Beim Betreten des Verwaltungsgebäudes ahnten sie bereits, dass sich der Tod von Johann Müller bis hierhin herumgesprochen hatte. In solchen Fällen ähnelte Vechta eher einem Dorf als einer Stadt – Sensationsnachrichten wie diese verbreiteten sich in Windeseile. Umso verwunderlicher, dass auch hier alles normal wirkte. So erweckte die Dame an der Informationstheke gegenüber des Haupteinganges nicht den Anschein von Überraschung, als die beiden die Dienstausweise zückten und sich nach Johann Müller erkundigten.

»Das ist ja so unglaublich. Der Herr Müller war so ein freundlicher Mann. Ich kann das gar nicht fassen. Was genau ist denn passiert?« Die stämmige Frau mittleren Alters versuchte erst gar nicht, ihre Neugierde zu verstecken. Sie reckte das Kinn nach oben und beugte sich soweit nach vorn, wie es der Tresen zuließ.

»Dazu dürfen wir nichts sagen, ansonsten müssten wir Sie hinterher töten.« Goselüschen sah ihr zwinkernd in die haselnussbraunen Augen und lächelte verschwörerisch. »In welcher Abteilung hat Herr Müller gearbeitet und wo ist sein Büro?« Die Dame kicherte, bevor sie antwortete:

»Ach Sie ... Herr Müller war Marktmeister. Sein Büro finden Sie dort den Gang runter, auf der rechten Seite, Zimmernummer 15.« Sie deutete auf den Flur zu ihrer Linken.

»Du hast echt `nen Knall«, sagte Maria auf dem Weg zum Büro Müllers.

»Jetzt bin ich mal freundlich und es ist auch nicht richtig. Was willst du eigentlich?« Das Arbeitszimmer war verschlossen. Vom Rütteln an der Tür aufmerksam geworden kam ein schlanker, großer Mann Anfang 50 aus dem Nachbarbüro:

»Kann ich Ihnen helfen?« Er schob seine dunkelbraune Hornbrille auf dem Nasenrücken hoch. Unverhohlen musterte er Maria von unten bis oben, Goselüschen streifte er lediglich mit einem kurzen Blick.

»Das können Sie. Wir sind von der Kripo, es geht um Herrn Müller.« Er besah sich flüchtig ihre Ausweise und bat sie in sein Büro. Neben der Tür las Maria den Namen Paul Richter auf dem obligatorischen Schild.

»Das ist ja wirklich schrecklich, was da passiert ist. Wie kann ich Ihnen helfen?« Er bot den Polizisten Sitzplätze an und ließ sich anschließend auf seinen schwarzen Drehstuhl hinter dem mausgrauen Schreibtisch fallen.

»Herr Richter, richtig?« Der Angesprochene nickte. »Sie haben offensichtlich mit Herrn Müller zusammengearbeitet. Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Ja, wir arbeiteten zusammen im Marktausschuss. Und das kann ich Ihnen ganz genau sagen, Frau Kommissar. Ich bin heute Nacht um Punkt ein Uhr mit meiner Frau nach Hause gefahren. Vorher saßen wir zusammen mit Johann und einigen Kolleginnen und Kollegen im Weinzelt.« Er lehnte sich zurück und faltete seine Hände vor dem Bauch.

»Hielt sich seine Frau zu der Zeit noch dort auf?« Goselüschen hob den Kopf nicht, sondern starrte auf seinen Notizblock.

»Nein, die ist bestimmt ein oder zwei Stunden vorher gegangen. Wird sie verdächtigt?« Er beugte sich nach vorn, stützte sich auf die Ellenbogen und lächelte Maria an. »Das sind Routinefragen, Herr Richter. Welche Kollegen waren noch mit dabei?« Will der jetzt mit mir flirten oder was?, dachte Maria. Das sollte er fein unterlassen – er war so gar nicht ihr Typ. Dennoch lächelte sie zurück. Um an gewünschte Antworten zu kommen, müsste man halt manchmal über seinen Schatten springen.

»Auch das kann ich Ihnen sagen, allerdings ist von denen heute niemand im Dienst.« Er zählte einige Leute auf, die Goselüschen notierte.

»Hatte Herr Müller irgendwelche Feinde?« Paul Richter zögerte kurz, dann erklärte er:

»Nun, Feinde ist wohl übertrieben. Aber er hat es schon verstanden, einigen Leuten auf die Füße zu treten.« Er lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück und verschränkte lässig die Hände hinter seinem Kopf. Maria spielte das Spielchen mit und blickte ihn, eine Erklärung erwartend, an. Ihrem Kollegen hingegen ging es nicht schnell genug.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739420509
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
Mord Regiokrimi Nordsee Thriller Krimi Norddeutschland Vechta Cosy Crime Whodunnit Spannung Noir

Autor

  • Marcus Ehrhardt (Autor:in)

Der Autor, 1970 geboren, lebt im niedersächsischen Vechta und ist Vater zweier erwachsener Kinder. Die Idee, Geschichten zu erzählen und Bücher daraus entstehen zu lassen, kam quasi über Nacht. Seinen großen Sympathien den USA gegenüber in all ihren Vielfalten und endlosen Weiten ist es geschuldet, dass einige seiner Titel eben dort verankert sind. Demgegenüber erscheinen immer wieder Titel, die vorrangig in seiner norddeutschen Heimat angesiedelt sind.