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Mein Mörder-Ich

Psychothriller

von Marcus Ehrhardt (Autor:in)
230 Seiten
Reihe: Chicago Crime, Band 2

Zusammenfassung

WENN DU DICH SELBST NICHT MEHR ZU KENNEN GLAUBST ... Die Schriftstellerin Rachel Callaghan kratzt am Existenzminimum. Daher kommt ihr das über einen Mittelsmann an sie herangetragene Angebot sehr gelegen, die Biografie eines Unbekannten zu verfassen. Das großzügige Honorar wischt ihre Bedenken über die seltsamen Bedingungen beiseite: Sie erfährt vorerst weder seinen Namen noch bekommt sie den mysteriösen Mann zu sehen, über den sie schreiben soll. Eigene Recherchen anzustellen ist ihr ebenfalls nicht gestattet. Rachel geht den Deal ein, doch die von Tod und Gewalt geprägte Lebensgeschichte des Unbekannten lässt sie schon bald tief in menschliche Abgründe blicken. Mit der Zeit steigt ein schrecklicher Verdacht in ihr auf: Hat der Mann sie bewusst in sein mörderisches Spiel hineingezogen? Soll ihr eigener Name über dem letzten Kapitel des Buches stehen? ****** Chicago, die Wiege Al Capones, dem größten Mafia-Paten aller Zeiten, ist auch Jahrzehnte später von Gewalt und Kriminalität gezeichnet. Die Reihe "Chicago Crime" erzählt fiktive, spannende Storys, in denen sich Detective Miller vom Chicago Police Department Serienmördern und anderen Gewaltverbrechern mit aller Entschlossenheit in den Weg stellt. Nimmt er in Band 1 noch eine kleine Nebenrolle ein, wächst sein Anteil und der seines Kollegen Rosenthal, bis sie ab Band 3 schließlich zu den dominierenden Protagonisten werden. Später erhalten die beiden Cops Unterstützung von der FBI-Profilerin Amber Raven. Die Titel sind chronologisch geordnet, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein Mörder-Ich

 

 

 

Marcus Ehrhardt

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

Impressum:

 

© 2019 Marcus Ehrhardt

Klemensstraße 26

49377 Vechta

Korrektorat / Lektorat: Tanja Loibl

Covergestaltung: MTEL-Design

unter Verwendung von Motiven

von pixabay

 

Alle Rechte vorbehalten. Jede Weitergabe oder
Vervielfältigung in jeglicher Form ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erlaubt.

Vorwort

 

Liebe Leserinnen und Leser dieses Buches: Nachdem ich für meine beiden letzten Thriller überwiegend positives Feedback erhalten habe, erscheint mit Mein Mörder-Ich der dritte Titel in diesem Genre. Auch bei dieser Story bin ich für mich neue Wege gegangen.

So entwickelte sich die Story in eine Richtung, dass man von einem Psychothriller sprechen könnte, vielleicht sogar muss, wobei die Grenzen zwischen den Subgenres meist fließend verlaufen. Macht euch also ein eigenes Bild.

Zur Nutzung der Ich-Perspektive in einem Erzählstrang und der Erzählerperspektive in den übrigen Strängen wurde ich durch den Thriller Im Namen der Tochter meines geschätzten Kollegen Andrew Holland inspiriert, der es meiner Meinung nach dort nahezu perfekt umgesetzt hat.

Aber keine Sorge, mit Mein Mörder-Ich erwartet euch eine vollkommen andere, neue Story. Es handelt sich dabei, wie bei meinen anderen Thrillern, um einen Einzeltitel, also keinen Teil einer Reihe. Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, einige Crossover-Elemente zu Dein Glück stirbt in 4 Tagen einzubauen, was sich aufdrängte, da die Handlung wieder im düsteren Chicago angesiedelt ist.

Genug der vielen Worte, lehnt euch zurück und habt spannende Lesestunden!

 

Euer Marcus Ehrhardt


 

Kapitel 1

 

 

Was war das wieder für eine Nacht? Rachel hatte das Gefühl, dass ihre Gedanken statt in ihrem Kopf in einem mit Sirup gefüllten, riesigen Plastikball träge umherwanderten. So einen, wie man ihn in Vergnügungsparks fand, in den man ganz hineinschlüpfen und sich wie ein Hamster im Rad fortbewegen konnte. Vorsichtig rollte sie sich auf die Seite. Puh! Zum Glück war die linke Hälfte ihres Bettes verwaist. Demnach hatte Paul – oder hieß er doch Peter? – ihre gestrige Ansage verstanden und war nicht bis zum Frühstück geblieben.

Langsam schob sie die Leinendecke weg, mit der sie ihren nackten Körper bedeckt hatte. Sie glitt lautlos zu Boden, wo sie als Häufchen liegenblieb – ein Häufchen Elend. Das passt ja, schließlich fühlst du dich gerade genau so. Rachel setzte sich auf und sammelte sich. Durch die waagerechten Lamellen ihrer Jalousie erhellten die Strahlen der Morgensonne das unaufgeräumte Schlafzimmer.

»Uah«, sagte sie, als ihr Blick auf das benutzte Kondom neben ihrem Bein fiel. Mit verzogenem Gesicht und spitzen Fingern nahm sie es und warf es fort. Es landete an der Wand unter dem Fenster, an der es erst kleben blieb und dann langsam daran nach unten rutschte, bis es – einen traurigen Anblick abgebend – auf dem Teppich liegenblieb. Genauso traurig wie deine Decke. Mädel, das wird dein Tag heute!

Die Erinnerungsfetzen vom gestrigen Abend im Pub nahmen konkrete Formen an. Sie hatte am Tresen gehockt und sich von Larry, dem Barkeeper, den mittlerweile fünften Whiskey einschenken lassen und ihn hinuntergekippt, als wäre es Limonade. Trotz ihres, Spießer würden sagen, verheerenden Lebenswandels – Rachel trank, rauchte und war hin und wieder einer Line nicht abgeneigt – sah sie immer noch erstaunlich passabel aus, wie Larry ihr schon des Öfteren attestiert hatte, der ihren Verschleiß an Genussmitteln und Männern am besten beurteilen konnte. Mit 26 Jahren sollte das auch durchaus noch so sein, antwortete sie jedes Mal in stoischer Gleichgültigkeit darauf.

Zwei Kerle – einen halbstarken Schnösel und einen übergewichtigen Trucker, dem das Fett nicht nur am Bauch hing, sondern zudem aus den Haaren triefte, hatte sie abgewimmelt. Ihr Anspruch war zwar nicht sehr hoch, doch gänzlich ohne war auch sie nicht. Irgendwann später gesellte sich dann Paul, ja, jetzt war sie sicher, dass er Paul hieß, neben sie und verwickelte sie in ein belangloses Gespräch über die traurigen Gestalten um sie herum und dass sie beide doch gar nicht hier herpassen würden. Was ihn anging, stimmte sie ihm zu. Rachel selbst hingegen fühlte sich in den letzten Monaten, in denen sie mehrmals die Woche in Larrys Bar aufschlug, ganz wohl und am richtigen Ort – an ihren Ansprüchen gemessen. Das musste sie ihm jedoch nicht auf die Nase binden, da er ihrem derzeitigen Beuteschema entsprach und sie nicht vorhatte, allein nach Hause zu gehen.

Ohne großes Geplänkel signalisierte sie ihm, dass er heute zum Schuss kommen würde, falls er sich nicht allzu dämlich anstellen und sich an ihre Vorgaben halten würde.

»Versprochen, was immer du willst«, erwiderte er, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen etwas überrascht davon, wie einfach das lief.

»Ja, ja, fasel nicht rum, sondern lass uns gehen.« Er ließ sich nicht zweimal bitten, sondern warf das Geld für ihre Drinks auf den Tresen und folgte Rachel nach draußen.

Drei Blocks weiter waren sie aus dem Taxi gestiegen, das Rachel freundlicherweise ebenfalls ihn bezahlen ließ, und verschwanden in ihrer Wohnung, wo sie es sich ganz ordentlich von ihm besorgen ließ.

Sie nahm es zumindest an, dass der Abschluss des gestrigen Abends ordentlich gewesen sein musste, da das Kribbeln in ihrem Unterleib verschwunden war. Allerdings würde es nur ein paar Tage dauern, bis es wieder unerträglich anschwellen und sie an den Tresen zu Larry treiben würde. Es lief immer nach demselben Muster ab. Vielleicht nicht immer, aber schon sehr lange. Zu lange.

Das kann so nicht weitergehen. Wann kriegst du dein Leben endlich in den Griff? Kopfschüttelnd kroch sie aus dem Bett und schleppte sich ins Bad. Den desillusionierenden Blick in den Spiegel ersparte sie sich und stieg direkt unter die Dusche. Eiskaltes Wasser spritzte aus dem Brausekopf und prasselte auf ihren erhitzten Körper – sie quiekte auf und wich einen Schritt zur Seite.

»Gottverdammte Scheiße!«, entfuhr es ihr, da die Temperatur auch nach einigen Minuten bestenfalls als lauwarm zu bezeichnen war. »Diese Pisser!«, rief sie, als würden die Leute von den Stadtwerken sie hören können, die ihr mal wieder den Strom und somit das heiße Wasser abgedreht hatten, das durch einen elektrischen Durchlauferhitzer erwärmt wurde. Wenn er denn Strom bekam.

Frustriert begnügte sie sich mit einer Katzenwäsche. Nachdem sie sich ihre Klamotten übergeworfen und ein paar Münzen aus verschiedenen Hosentaschen zusammengekratzt hatte – sie würde sich unterwegs einen Kaffee holen müssen, denn ihre Kaffeemaschine lief analog zum Durchlauferhitzer mit Strom – schlenderte sie zur Wohnungstür. Dort angekommen zog sie die Post aus dem Schlitz. Die ist schon da? Verdammt, wie spät ist es eigentlich?

»Werbung, Werbung, Rechnung, Werbung, Rechnung«, murmelte sie, während sie einen Brief nach dem anderen in einen Karton neben der Tür warf, in dem sich bereits etliche ungeöffnete Umschläge stapelten. Anschließend blickte sie auf ihre Armbanduhr und seufzte. Ihr blieb nur noch eine halbe Stunde.

Kapitel 2

 

 

Etwa vor zwei Wochen

 

Es war so weit. Ich nahm einen letzten Zug und schnippte die Kippe aus dem offenen Seitenfenster meines Wagens. Wie jedes Mal schaute ich auch jetzt fasziniert hinterher, wie sich hunderte kleiner Funken entlang der Flugbahn verteilten, als gehörten sie zu einem Schwarm roter Glühwürmchen, und wie immer summte ich den Refrain des gleichnamigen Titels von Owl City dazu, während ich den letzten Qualm aus den Tiefen meiner Lunge presste und nach draußen blies. Stadt der Eulen, was für ein bescheuerter Bandname! Haben die sich in Hogwarts gegründet? Egal, scheiß drauf, ich habe Anderes zu bedenken. Zum Beispiel, dass mich der Typ nicht im Gedächtnis behalten würde, der mit seinem wirklich geschmacklosen Trainingsanzug aus den 1970ern bekleidet – was schon an eine optische Ohrfeige grenzte – mir gerade in diesem Moment auf dem Bürgersteig entgegengejoggt kommen musste. Warum rennt jemand mitten in der Nacht durch die Gegend?, fragte ich mich, doch die Antwort darauf interessierte mich nicht wirklich. Ich senkte den Kopf und nickte ihm kurz zu, was jedoch weniger meiner Höflichkeit geschuldet war, sondern eher dem Zweck diente, möglichst wenig meines Gesichts zu zeigen. Nicht, dass ich mich nicht sehen lassen konnte, ganz im Gegenteil, aber meist zog ich es vor, für meine Umwelt unsichtbar zu bleiben.

Doch der Mann mit den rasselnden Atemgeräuschen schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen, seine Augen blickten starr an mir vorbei. Umso besser. Ich schaute im Gehen über meine Schulter, bis er um die Ecke verschwunden war. Kurz darauf war er auch außer Hörweite. Es war wieder ruhig. Ich mochte es ruhig.

Der Ruf einer Eule oder eines Kauzes zerriss jedoch die Stille. Eine Eule? Wirklich? Hatten wir das nicht gerade? Ich schlug mir einmal mit den Fingerknöcheln gegen die rechte Kniescheibe. Es bedurfte nur Millisekunden, bis der an der Knochenhaut entstehende, stechende Schmerz ans Gehirn weitergeleitet wurde. Das hatte sich als probates Mittel herausgestellt, meine Konzentration wieder herzustellen, sollte ich mal abdriften, was hin und wieder vorkam. Denn irgendwie war ich ja auch nur ein Mensch.

Der Schmerz machte mich klar. Nach wenigen Schritten hatte ich den Lichtkegel verlassen, den die Straßenlaterne vor dem Grundstück des zweigeschossigen Reihenhauses warf, und verschmolz dank meiner vornehmlich schwarzen Klamotten mit der Dunkelheit. Lediglich der Mond schaffte es, hin und wieder ein wenig Licht zu spenden, wenn er es einen Augenblick lang durch die Wolkendecke schaffte. Ich folgte dem Strahl meiner Taschenlampe, die ich in kurzen Abständen aufleuchten ließ, um nicht gegen eine Schubkarre zu laufen oder in eine umgedrehte Harke zu treten, die nicht weggeräumt worden waren.

Ohne Zwischenfälle schaffte ich es auf die Rückseite des Hauses. Die Nachbarschaft schien sich im Nachtmodus zu befinden, denn weder in dem Haus, zu dem ich mir gerade unter Zuhilfenahme einiger kleiner Werkzeuge und richtiger Kniffs Zugang durch die Hintertür verschaffte, noch in einem der umliegenden Häuser brannte auch nur ein Licht hinter den Fenstern. Es klickte zweimal, dann schob ich die Küchentür auf. Kurz sperrte sie sich, was an einem Stuhl lag, der im Weg stand. Ich langte mit dem Arm durch den Spalt, hob ihn lautlos an und stellte ihn zur Seite. Jetzt konnte ich die Tür komplett öffnen. Ich betrat die Küche und war etwas enttäuscht, dass mir statt des Geruchs von Pizza oder Lasagne frischer Zitrusduft in die Nase stieg. Eigentlich schade, ich hatte auf einen Rest davon gehofft, da mein Magen nach Essen verlangte.

Die leuchtenden Anzeigen der Küchengeräte und des Radioweckers, der neben dem Herd auf einer kleinen Anrichte stand, sorgten dafür, dass ich ausreichend sehen und meine Taschenlampe auslassen konnte. Nicht, dass es mir anders Sorgen bereitet hätte, doch je einfacher es war, desto weniger Risiko barg die Operation. Ich unterdrückte ein Grinsen, das sich unwillkürlich bei dem Gedanken an das Wort Operation auf meinem Gesicht breitmachen wollte. Meine Hände tasteten zur Kontrolle über die Taschen meiner Jacke und meiner Hose. Alles war da, wo es sein sollte. Perfekt. Dennoch musste ich aufpassen, wo ich hintrat, denn überall in der Wohnung lagen Dinge herum. Dinge, mit denen man nicht zwangsläufig rechnen konnte, wie Socken auf dem Küchentisch oder ein Frauenmagazin auf dem Fußboden neben dem Kühlschrank. Sollte etwas an der These dran sein, dass man von der Wohnung eines Menschen auf sein Wesen schließen konnte, war das hier wohnende Wesen verdammt unaufgeräumt – wohlwollend formuliert.

Ein Knarzen einer der Bodendielen im Flur ließ mich verharren. Trotz meines federnden Ganges und der weichen Sohle meiner Sneakers waren diese Art Störgeräusche der Holzdielen und -treppen die größte Unbekannte überhaupt, bezogen auf das unbefugte Betreten fremder Leute Wohnungen. Jedoch wusste ich aus Erfahrung und aufgrund genauer Recherche, dass in der Realität nur in verschwindend wenigen Fällen Bewohner eines Hauses wegen eines einzelnen derartigen Tons wach wurden, zum Baseballschläger griffen und sich dem vermeintlichen Einbrecher in den Weg stellten – der in den meisten Filmen natürlich ein psychopathischer Serienmörder war und die Begegnung zum Anlass nahm, seine Opfer statt in deren Bett halt im Flur zu zerstückeln. Nein, die meisten Menschen nahmen es kaum oder gar nicht wahr. So verhielt es sich auch jetzt. Andernfalls hätte ich etwas aus dem Schlafzimmer meines Opfers hören müssen, vor dessen Tür ich bereits angelangt war. Mit angehaltenem Atem drückte ich die Klinke nach unten und schob die Tür soweit auf, dass ich gerade hindurchpasste.

Die Jalousie war zwar heruntergelassen, die Lamellen jedoch standen fast horizontal. Ich fragte mich, warum in aller Welt man sie so einstellte. Gut, das Schlafzimmer lag nach hinten raus zum Garten und etliche Bäume und Holzzäune sorgten dafür, dass es von einem anderen Haus kaum einsehbar war. Dennoch war ich neugierig und trat ans Fenster, von wo ich einen Blick nach draußen warf. Ich erkannte die Nachbarhäuser lediglich als schemenhafte Umrisse. Okay, falls Nachbar Walton vom ersten Obergeschoss gegenüber hier hereinsehen will, verhindert der Lamellenstand dies. »Wieder etwas gelernt. Das ganze Leben ist doch eine Schule«, flüsterte ich.

Ein Seufzer ließ mich innehalten. Doch nichts passierte, sie atmete ruhig weiter. Ich schob mit Daumen und Zeigefinger zwei Lamellen auseinander und lugte noch einmal in die Nachbarschaft. Alles blieb still und dunkel. Na klar, es war ja auch mitten in der Nacht. Ich ließ die flachen Metallstreben über den Stoff meiner Handschuhe gleiten und nach einem kurzen Rascheln hatte die Jalousie wieder die Form von vorhin angenommen. Jetzt wandte ich mich vom Fenster ab und nahm die Frau in Augenschein, die nur bis zur Hüfte mit einem dünnen Stofflaken zugedeckt auf der Seite lag. Sie schlief in einem ihr viel zu großen T-Shirt, das ihr bis zur Taille hochgerutscht war und dadurch den knappen Slip freilegte. Ihr Gesicht war von mir abgewandt, doch ich konnte die glatte Haut ihres schlanken Halses sehen. Und wie die Halsschlagader langsam pulsierte.

Ich stand jetzt neben dem Bett, nur wenige Zentimeter trennten mich von ihrem Hintern, der fast über die Kante des Bettes hinausragte. Aber nur fast. Ein gut geformter Hintern, nicht zu knöchrig, aber auch nicht zu dick. Ich blickte von oben darauf und wanderte mit meinen Augen ihren Körper entlang bis zu ihrem Gesicht, das unter den wilden Haaren verborgen lag. Mit der rechten Hand glitt ich am Reißverschluss vorbei zur Innentasche meiner Jacke und griff hinein. Der kalte Stahl, auf den meine Fingerkuppen stießen, fühlte sich gut an. Ich konnte mich nicht beherrschen und stöhnte leise auf, während sich meine Hand um den Ebenholzgriff schloss und ich das Messer herauszog. Vorsichtig näherte ich mich ihrem Hals und fuhr ganz langsam mit der Spitze hinter ihrem Ohr in Richtung ihrer Schulter entlang. Ich spürte, wie sich mein Pulsschlag weiter erhöhte. Du hast es in der Hand, sagte ich mir. Du könntest es jetzt sofort beenden. Aber willst du das nach all der Mühe und den Vorbereitungen? Ich zögerte ...

Kapitel 3

 

 

Heute

 

In letzter Minute sprang Rachel in die ›L‹, wie die Einheimischen die städtische U-Bahn nannten, und hielt im Vorbeigehen dem griesgrämig dreinschauenden Fahrkartenkontrolleur ihr Ticket unter die Nase, woraufhin dieser etwas Unverständliches brummte und sie vorbeiließ. Die Türen schlossen sich mit einem Zischen und die Bahn fuhr an. Ihren Wagen hatte sie stehenlassen müssen, da nur noch wenig Sprit im Tank war und ihr die Koffeindosis wichtiger, als den letzten Dollar dafür zu verschwenden, sich durch den miefigen, zähfließenden Straßenverkehr quälen zu müssen.

Sie nahm in der vierten Reihe neben einem schlaksigen Typ mit Nickelbrille Platz, der sofort weiter ans Fenster rückte. Hat der etwa Angst vor dir?

»Danke«, sagte sie knapp und drückte sich an die Rückenlehne, die von einem undefinierbaren Stoff überzogen war. Sollte wahrscheinlich mal blau gewesen sein, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Sitznachbar räusperte sich. Der will doch nicht etwa ...?

»Wohin fährt so eine hübsche Lady um diese Uhrzeit?« Rachel runzelte die Stirn und wandte sich ihm zu.

»Echt jetzt? Das ist dein Anmachspruch? Hat der schon mal funktioniert?« Binnen Sekunden erschien Schweiß auf seiner Stirn. Der junge Mann schien massiv überfordert mit ihrer forschen Art und suchte händeringend nach einer Erwiderung. »Vergiss es, Süßer, ich bin nicht in der Stimmung für sowas«, erlöste sie ihn. Zumindest seinem deutlich vernehmbaren Ausatmen nach war er erleichtert, dieser Situation entkommen zu sein.

Vor der nächsten Haltestelle entschuldigte er sich, ohne sie anzusehen, schob sich an ihr vorbei und verließ schließlich den Waggon. Wenige Stationen später hatte auch Rachel ihr Ziel erreicht und stieg aus. Sie eilte die Treppen hinauf, nutzte eine Lücke im fließenden Verkehr und rannte auf die andere Straßenseite. Drüben angekommen warf sie den mittlerweile leergetrunkenen Kaffeebecher to go in den Mülleimer und lief den Fußweg entlang, bis sie das Gebäude der Chicago Tribune erreichte. Sie hetzte die Treppen zum dritten Stock hoch, bog nach rechts ins Großraumbüro ihrer Redaktion, schlängelte sich durch die engen Gänge zwischen den Arbeitsplätzen, bemüht, keinen Kollegen anzurempeln, und kam völlig außer Atem am Schreibtisch an, den sie sich einschließlich eines Computers mit zwei anderen Aushilfsredakteuren teilen durfte.

»Wieder auf den letzten Drücker, Callaghan?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Und wie sehen Sie überhaupt aus?«

»Ihnen auch einen guten Tag, Mr. Forrester«, erwiderte Rachel und ging auf die Spitze des Chefredakteurs nicht weiter ein, der sie mit seinen kleinen Augen musterte, die unter den dichten, buschigen Augenbrauen kaum zu sehen waren. Warum sollte sie auch, er sah mit seiner fliehenden Stirn und dem Bauchansatz auch nicht gerade aus wie ein Hauptgewinn.

»Sehen Sie zu, dass der Bericht über die geborgenen Ölfässer bis 12 Uhr fertig ist.« Ohne eine Antwort abzuwarten, entfernte er sich.

»Hör auf, Rachel, wenn er das sieht, kannst du deine Sachen packen«, flüsterte Julia ihr mahnend zu, die auf der anderen Seite des Schreibtisches an ihrem Artikel schrieb. Rachel nahm ihren erhobenen Mittelfinger wieder herunter, zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen, sodass sie ihrer Kollegin gegenübersaß.

»Der Wichser kann mich mal«, sagte sie und grinste der aus Deutschland stammenden Julia Becker zu, deren Dad in seiner Funktion als CEO eines weltweit operierenden Sicherheitsunternehmens seine Beziehungen hatte spielen lassen, um seiner Tochter diesen Job zu besorgen. »Woran arbeitest du gerade?«

»Ganz spannend: Die öffentliche Sitzung des Bauausschusses.« Sie hielt sich die Hand vor den offenen Mund, um die Ironie mit einem angedeuteten Gähnen zu unterstreichen.

»Dann hau in die Tasten, ich muss gleich an den Rechner.«

»Ich brauche noch zehn Minuten, dann gehört das Equipment dir allein.«

»Wann kommt Billy?«

»Der kommt heute Nachmittag irgendwann.« Rachel nickte ihr zu und wühlte sich durch ihre Unterlagen. Wenn Billy, der dritte dieses Schreibtischteams, von Nachmittag sprach, schlug er meist gegen 14 Uhr auf. Er war am längsten hier beschäftigt und konnte seine Zeit freier einteilen als seine beiden Kolleginnen, denen noch mehr auf die Finger geschaut wurde. Trotzdem passte es. Bis er eintreffen würde, sollte sie die Vorbereitung für ihren morgigen Artikel soweit fertig haben.

Fünfzehn Minuten später verabschiedete sich Julia und Rachel sah der Deutschen nachdenklich hinterher. Vor einigen Wochen hatte Julia ihr die haarsträubende Geschichte erzählt, wie sie von einem Psychopathen in ihrer damaligen Heimat Frankfurt entführt und von ihrem bis dahin unbekannten Vater befreit worden war. Als sie ihm später zum näheren Kennenlernen nach Chicago gefolgt war, spitzte sich die Situation mit dem Entführer erneut zu. Zum Glück aller konnte die Polizei den Irren stoppen, bevor Schlimmeres passiert war.

»Eine ganz schön abenteuerliche Zeit damals.«

»Du solltest ein Buch darüber schreiben«, hatte sie Julia geraten, denn sie war fest davon überzeugt, dass ihre Story sich für einen Hollywood-Blockbuster eignen würde.

»Stimmt schon, aber das können andere besser«, hatte sie ihr lachend geantwortet. Rachel war damals erstaunt darüber, wie die junge Frau das alles wegsteckte, und das hatte sich nicht geändert.

Das rote Shirt Julias verschwand aus ihrem Blickfeld und Rachel machte sich an die Arbeit. Doch so richtig gelang es ihr nicht, sich zu konzentrieren, sie schweifte wieder ab. Sie hatte sich ihr Leben vor einigen Jahren deutlich anders vorgestellt, als es sich entwickelte. Der Tod ihrer Adoptiveltern innerhalb eines Jahres hatte ihre Karriereplanungen mächtig über den Haufen geworfen und sie monatelang in ein psychisches Loch geworfen, aus dem sie sich nur mühsam und mit Hilfe von Psychopharmaka und Alkohol hatte befreien können. Befreien, wie witzig. Guck dir an, wo du gelandet bist: Statt nach Abschluss des Studiums als Schriftstellerin groß durchzustarten, wie du es dir erträumt hast, schmeißt du die Uni, beziehst ein Loch in der Downtown Chicagos und hangelst dich mit Aushilfsjobs von Woche zu Woche. Ohne wirkliche Aussicht auf den Erfolg, den du dir erhofft hast. Den du mal meintest, verdient zu haben. Genau, die Welt der Literatur verzehrt sich geradezu nach deinen Ergüssen. Sie dachte deprimiert an das bisherige ›Highlight‹ ihrer Karriere: Sie durfte die Biographie eines pensionierten Politikers verfassen, die sich tatsächlich ganz ordentlich verkaufte. Allerdings ging der Vorschuss damals fast komplett für ihre Schulden drauf, und als die ersten Tantiemen kamen, war der Berg an Verbindlichkeiten schon fast wieder so groß wie zuvor.

Wie gern hätte Rachel einen Politthriller verfasst, der Tom Clancy vor Neid erblassen lassen, sehr lange die Bestsellerlisten beherrschen und das Feuilleton begeistern würde. Das Drehbuch dazu schreiben, welches anschließend verfilmt werden würde, und mit einem Oscar ausgezeichnet werden. Doch trotz guter Kritiken für die Biographie hatte bisher keines ihrer eigenen Manuskripte die Lektoren der großen Publikumsverlage überzeugt. So musste sie sich zur Zeit damit zufriedengeben, dass ihr Name – meist als Kürzel – über ein bis zwei kleinen Artikeln stand, die im hinteren Teil der großen Tageszeitung kaum Beachtung fanden.

»Wie sieht es mit deinem Leben aus? Wäre das kein Buch wert?«, hatte Julia damals zurückgefragt und nach sehr kurzem Nachdenken musste Rachel ernüchtert antworten:

»Meine Eltern, an die ich absolut keine Erinnerungen habe, sind in einer Wohnwagensiedlung mitsamt ihrer Behausung abgebrannt, als ich ein Kleinkind war und meine Adoptiveltern habe ich vor einigen Jahren an den Krebs verloren. Seitdem besteht mein Leben aus Gelegenheitsjobs, One-Night-Stands und Alkohol. Ziemlich jämmerlicher Plot, oder?«

»Ach komm, so schlimm kann es doch nicht sein.«

»Und ob, meine Liebe, und ob.« Danach hatte Rachel das Gespräch in eine ihr angenehmere Richtung gelenkt, doch der Gedanke, dass sie nichts anderes tat, als ihr Leben wegzuwerfen, ließ sie seitdem nicht mehr los. Irgendwann würde sie es ändern, neu anfangen, alles zum Besseren wenden. Irgendwann. Sie wartete nur auf den richtigen Moment. Er würde kommen, irgendwann. Bestimmt. Zu schieben war einfach – einfacher, als es anzupacken.

»Schon auf die Uhr geguckt, Callaghan?«, riss die Stimme des Chefredakteurs sie zurück ins Hier und Jetzt. »In fünf Minuten will ich den Bericht haben.«

»Ist so gut wie fertig, ich muss nur noch einmal drübergucken.« Sie blickte zum Monitor und räusperte sich. »Ach, Mr. Forrester, wie sieht es mit der Stelle von Andrews aus? Der geht doch Ende des Monats.«

»Und Sie meinen, dass Sie die Richtige für seinen Job sind, Callaghan?« Forrester musterte sie skeptisch. Andrews schrieb für den Kulturteil der Zeitung und wechselte zur New York Times. Kultur war zwar nicht unbedingt Rachels Paradedisziplin, und sie verzehrte sich nicht gerade nach Vernissagen, Museumsbesuchen und Opernarien, doch sie war flexibel und traute es sich durchaus zu, seriös darüber berichten zu können. Hauptsache, sie käme aus dieser Aushilfsposition heraus. Und damit aus ihrer misslichen finanziellen Situation.

»Ich denke schon, dass ich das hinbekomme«, sagte sie mit fester Stimme. Sie betätigte die Drucktaste und reichte Forrester den Entwurf ihres Berichts, nachdem der Drucker ihn wenige Sekunden später ausgeworfen hatte.

»Mh«, machte er, während er die Zeilen überflog. »Das ist okay so.« Er reichte ihr den Zettel zurück. »Freigegeben.« Hört der Typ dir überhaupt zu?

»Mr. Forrester?«, hakte sie nach, da er sich bereits abgewendet hatte. Er sah sie über seine Schulter hinweg an.

»Was ist denn, Callaghan?« Er stöhnte leise auf. »Ach so, wegen des Jobs. Ich denk drüber nach«, versprach er, doch überzeugend klang es in Rachels Ohren nicht.

»Danke«, sagte sie trotzdem.

 

***

 

Detective Miller vom Chicago Police Department kam gerade aus der Mittagspause zurück.

»Du hast da Blut«, wies ihn sein Kollege Ted auf einen Fleck hin, der sein Hemd in der Bauchregion zierte. Miller schaute hinunter.

»A positiv, Rhesusfaktorkombination kann ich nicht rausschmecken«, erwiderte er, nachdem er das Ketchup mit seinem Finger abgewischt und diesen anschließend abgeleckt hatte. Inständig hoffte er, ein Reservehemd in seinem Büro zu finden und zeitgleich beschloss er, nie wieder einen Hot Dog während des Dienstes aus der Hand zu essen.

»Wohl bekomm´s. Wir haben eine neue Leiche reinbekommen. Männlich, weiß, Mitte 50, wurde von einem Nachbarn gefunden und hat sicher schon ein paar Tage vor sich hin oxidiert. Drüben im Osten in einem Motel.«

»Und was macht die für uns interessant?«, fragte er ihn, während sie nebeneinander den Korridor hinuntergingen.

»Dem Kerl wurde geschmeidig sein Gemächt abgeschnitten. Der Rechtsmediziner meldet sich später, ob er daran verblutet ist oder vorher schon dahingeschieden war.«

»Hat er eine Vermutung?« Ted zuckte mit den Schultern und lächelte einer Kollegin zu, die ihnen entgegenkam. Sie erwiderte es, was ihn dazu veranlasste, ihr noch einen Blick hinterherzuwerfen, als sie an ihnen vorbeigegangen war.

»Du weißt doch, wie diese Erbsenzähler sind. Er würde nur Vermutungen anstellen, wenn die Fakten keine Alternativen zuließen. Bis dahin müssten wir uns gedulden. Die Vorschriften und bla bla bla.« Ja, das wusste Miller genau, doch gab er die Hoffnung nicht auf, vielleicht mal von den Pathologen aus der Rechtsmedizin überrascht zu werden. Aber wir werden es schon früh genug erfahren, dachte er sich weiter. Denn trotz des Personalengpasses in seiner Abteilung – immer mehr Cops wurden zur Bekämpfung der Überhand nehmenden Bandenkriminalität in der Stadt aus verschiedenen Dezernaten abgezogen und auch Miller musste seit Monaten auf zwei erfahrene Kollegen verzichten – hatten sie eine überdurchschnittliche Aufklärungsquote aufzuweisen. Seine geliebte Heimatstadt Chicago konnte sich traurigerweise damit rühmen, mit eine der höchsten Verbrechensraten in den Staaten zu beklagen. Es war wie mit dem Kopf der Medusa: Nach jeder aufgeklärten Straftat wurden analog zum abgeschlagenen Schlangenkopf zwei neue gemeldet. Doch aufzugeben und die Metropole kampflos den Banden zu überlassen, war für Miller keine Option. Nicht heute und auch nicht morgen.

»Sei´s drum. Hat die Spurensicherung was für uns?«

»Nein«, antwortete Ted knapp und schob hinterher: »Die sind gerade erst am Tatort fertig.«

»Dann gucken wir uns dort doch mal um.« Miller bewegte sich schon in Richtung des Treppenhauses, da hielt ihn Ted am Oberarm fest und blickte auf das Hemd seines Kollegen.

»Willst du nicht erst deine Wunde verarzten lassen?«

»Ach scheiße, ja.« Den verdammten Ketchupfleck hatte er bereits verdrängt. Er kehrte um und ging in sein Büro. Eine Minute später folgte Ted und warf ihm ein frisches Hemd entgegen.

»Du hast doch eh keines hier, das sollte dir passen«, sagte er grinsend, was Miller mit einem grenzdebilen Lächeln beantwortete. Binnen Sekunden hatte er sich umgezogen und zehn Minuten später verließen sie mit dem Dienstwagen die Tiefgarage des CPD.

 

***

 

Seit Stunden hatte Rachel online in öffentlich zugänglichen, städtischen Archiven recherchiert und auf einschlägigen Internetseiten nach einem passenden Foto gesucht, das ihren morgigen Artikel ein klein wenig aufwerten würde. Vorausgesetzt, Forrester würde ihn durchwinken, was er hin und wieder tat, wenn sie die Zeitung etwas auffüllen mussten. Vielleicht ja auch diesmal. Und selbst, wenn er ihn nicht genehmigen würde, hatte sie außer einer Viertelstunde für die Suche nichts verloren. Sie hörte, wie sich jemand dem Schreibtisch näherte.

»Hi Rachel«, begrüßte sie der aus Dallas stammende Billy mit seinem breiten, texanischen Akzent und setzte dabei sein berühmtes J. R. Ewing-Gedächtnisgrinsen auf. So bezeichnete er es jedenfalls. Doch niemand außer ihm selbst sah eine Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Schauspieler Larry Hagman.

»Hi, Billy, alles frisch?« Sie räumte ihre Arbeitsutensilien zusammen, damit er sich ausbreiten konnte.

»Jo.« Er stieß spielerisch mit seiner Hüfte gegen ihre und bahnte sich so den Weg zum Bürostuhl vor dem Rechner. »Ach, übrigens: Forrester will dich sprechen, bevor du gehst.« Rachels Herz machte einen Hüpfer. Hatte er es sich etwa doch überlegt? Da ihr Chef den letzten Bericht bereits abgenickt und von ihrer derzeitigen Arbeit noch nichts gesehen hatte, konnte es sich eigentlich nur um die Stelle von Andrews drehen. Und wenn er sie zu sich bestellte, dann sicher nicht, um ihr eine Absage zu erteilen. Das würde er im Vorbeigehen erledigen, damit er sich keinem Drama-Gespräch in seinem Büro aussetzen müsste. So jedenfalls lautete die Theorie, die sich innerhalb weniger Sekunden in ihrem Kopf manifestierte.

»Danke. Bis morgen«, sagte sie und klopfte ihm leicht auf die Schulter, bevor sie sich auf den Weg zu Forresters Büro machte.

Das Dienstzimmer des Chefredakteurs war lieblos eingerichtet. Einige Regalschränke teilten sich den Platz an den nackten Wänden mit einem Drucker, einem Kopierer und einem veralteten Wandkalender. Von Billy wusste sie, dass er aus dem Jahr stammte, in dem die Frau Forresters und seine Tochter bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, und er es aus nostalgischen Gründen nicht über das Herz brachte, ihn abzunehmen oder durch einen aktuellen zu ersetzen. Der einzige persönliche Gegenstand im Büro war ein auf dem Schreibtisch aufgestelltes Foto, das die glückliche Familie Forrester zeigte. Und auch der Mr. Forrester von vor vier Jahren sah darauf zwar nicht unbedingt attraktiv, jedoch deutlich schlanker und zufriedener aus als heute. Doch Empathie stand bei Rachel gerade nicht hoch im Kurs: Zu sehr hatte sie mit ihren eigenen Problemen zu tun. Sie brauchte diesen Job unbedingt. Natürlich, sie konnte noch bis zum Wochenende ohne Strom klarkommen. Kalt zu duschen war nicht toll, ließ sich aber ertragen. Doch spätestens zum Wochenende würden die Akkus ihres Handys und des Diktiergerätes den Geist aufgeben und die Wäsche machte sich auch nicht von allein. Neue zu kaufen war angesichts ihrer prekären finanziellen Lage unmöglich. Mit dem Job von Andrews aber, den ihr Mr. Forrester gleich zusagen würde, wäre sie die meisten ihrer Sorgen los. Optimistisch, gut gelaunt und etwas angespannt trat sie ein. Forrester hatte den Kopf über eine Akte gesenkt und folgte mit dem Finger Zeile für Zeile dem Text, während er ihn lautlos las. Da er nicht hochschaute, räusperte sie sich nach einer halben Minute, worauf er abrupt mit dem Lesen aufhörte und sie über den Rand seiner Brille ansah.

»Was gibt´s, Callaghan?« Rachels Lächeln gefror. Will der mich verarschen?

»Billy sagte mir, dass Sie mich sprechen wollten. Geht sicher um die Stelle«, erwiderte sie ernüchtert, denn der Glaube daran war soeben erloschen.

»Die von Andrews? Nein, die bekommt Jones.« Sie hatte ihrem Boss gegenüber nie angemerkt, dass sie chronisch knapp bei Kasse war, und es ging ihn auch nichts an. Dass er sie jedoch einbestellte, nur um ihr einen mitzugeben, sie demonstrativ auflaufen zu lassen, aktivierte das Adrenalin in ihrer Blutbahn. Sie war hin- und hergerissen, ob sie ihm den halbfertigen Bericht auf den Schreibtisch werfen und mit lautem Türknallen einen theatralischen Abgang hinlegen oder ihre Faust inmitten seines teigigen Gesichts parken sollte. Sie entschied sich für einen anderen Weg.

»Und warum sollte ich nun antanzen?«, sagte sie schnippisch und bemühte sich gar nicht darum, ihren Unmut zu verbergen. Forrester schien davon wenig beeindruckt, seine Miene zeigte jedenfalls keine Veränderung. Er schaute von ihr zu seinem Notizblock, der neben einem antiquierten Tischtelefon mit Wählscheibe lag, riss den obersten Zettel ab und hielt ihn ihr entgegen. Was soll das denn jetzt, will der ein Spielchen mit dir treiben? Sie trat auf ihn zu, nahm das Papier und warf einen Blick darauf. Smith & Goldstein hatte er darauf gekritzelt. Der zweite Name war unterstrichen, darunter eine Handynummer notiert.

»Die haben vorhin angerufen und sich nach Ihnen erkundigt. Mr. Goldstein hat nicht genau gesagt, worum es ging, aber er hätte einen lukrativen Auftrag für Sie. Nur für Sie.« Rachel schaute perplex vom Zettel zu Forrester und wieder zurück.

»Wer sind Smith & Goldstein und worum genau geht es? Und warum rufen die nicht mich an, wenn die was von mir wollen?« Der Redakteur seufzte.

»Kann es sein, dass Ihr Smartphone down ist, Callaghan?« Sie zog es aus ihrer Jeans und ihr Blick schien seine Vermutung zu bestätigen. Verdammt, du hattest es doch heute Nacht an den Strom gehängt. Oh, Mann, klar, der war ja schon abgestellt. Verlegen nickte sie, worauf er mit den Augen rollte. »Smith & Goldstein betreiben eine große Anwaltskanzlei und vertreten unter anderem unser Haus.« Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und lehnte sich zurück. »Nur deswegen gebe ich das überhaupt an Sie weiter. Ich bin schließlich kein Jobcenter. Sie sollen sich bei Interesse melden und nach Mr. Edward Goldstein fragen.« Er wanderte mit dem Blick hinunter auf seine Akte und nach einem Moment wieder zu Rachel, die immer noch vor dem Schreibtisch stand und auf den Zettel starrte. »Das war alles, Callaghan, schönen Feierabend.«

 

***

 

Auf dem Heimweg hatte sie einen Stopp bei der Universität eingelegt, um diskret den Akku ihres Handys zumindest soweit zu laden, dass sie damit über den morgigen Vormittag kommen würde. Aus ihrer eigenen Studentenzeit wusste sie, dass sich in der Mensa einige Steckdosen befanden, die man unauffällig nutzen konnte. Am Nachmittag würde sie es irgendwo in der Redaktion anschließen, auch wenn das dort absolut nicht gern gesehen wurde. Eines der nervigen Dinge, die man als Aushilfe erdulden musste – den Festangestellten wurde natürlich ein Diensthandy gestellt, das selbstverständlich rund um die Uhr an der Dose hängen durfte.

Zu Hause angekommen suchte Rachel als Erstes ein paar Kerzen zusammen, damit sie den Abend nicht im Dunkeln verbringen musste, und legte sie neben der Streichholzschachtel auf dem Wohnzimmertisch parat.

Jetzt schob sie die Teller und Schüsseln auf dem Küchentisch beiseite, die sie in den vergangenen Tagen benutzt und nicht abgeräumt hatte, und aß trockene Cornflakes direkt aus dem Karton. Sie bevorzugte sie normalerweise zusammen mit Milch, doch die war während des Stromausfalls sauer geworden, der natürlich auch den Kühlschrank betroffen hatte. Getreu Murphys Gesetz, dachte sie genervt: Wenn etwas schiefgehen kann, wird es schiefgehen.

Gedankenverloren stopfte sie eine Handvoll Cornflakes nach der anderen in ihren Mund. Als Rachel zur Spüle guckte, auf der sich weiteres Geschirr und Töpfe stapelten, erinnerte sie sich plötzlich an den Zettel. Wie konntest du das vergessen, wo du die Kohle dringend brauchst? Sie zog eine Papierkugel aus der Hosentasche, entknüllte sie, strich den Zettel ein wenig glatt und legte ihn neben die Cornflakesschachtel auf den Tisch.

»Dann wollen wir doch mal recherchieren, was ihr so – ach Scheiße!« Ohne Strom kein Internet, ohne Internet keine Information über Smith & Goldstein. Sie trommelte mit den Fingern auf dem Zettel. Ruf ich da an oder lass ich´s bleiben? »Ach, was soll´s«, sagte sie schließlich und wählte die Nummer.

Nach dem sechsten Klingelton wollte sie den Anruf schon abbrechen, da meldete sich eine dünne Männerstimme mit einem englischen Akzent.

»Edward Goldstein am Apparat.« Rachel stutzte. Warum zum Teufel geht einer der Gesellschafter einer riesigen Firma selbst ans Telefon?

»Rachel Callaghan hier, guten Tag, Mr. Goldstein. Mr. Forrester von der Chicago Tribune sagte, Sie wollten mich sprechen.« Ein helles Fiepen ließ sie erst vermuten, dass etwas mit der Verbindung nicht stimmte. Als sie Mr. Goldstein aber weiter zuhörte, schloss sie darauf, dass er unter schwerem Asthma leiden müsste, da dieses Geräusch in jeder seiner Atempausen auftrat.

»Ms. Callaghan, vielen Dank für Ihren Rückruf. Ich hatte es auf Ihrem Mobilgerät probiert, bin jedoch nicht zu Ihnen durchgedrungen. Daher wählte ich den Weg über Ihren Vorgesetzten. Das ist Ihnen hoffentlich nicht unangenehm?« Unangenehm ist, dass ich mir den Arsch abfriere, nichts Ordentliches zu futtern habe und meinen Akku nicht laden kann, dachte sie. Doch das musste sie dem Anwalt nicht auf die Nase binden.

»Kein Problem«, sagte sie dennoch. Schließlich war es ihre eigene Schuld gewesen, dass der verdammte Akku leergelaufen war. »Was kann ich für Sie tun? Mr. Forrester konnte mir dazu nichts sagen.« Es folgte das Fiepen, unterbrochen von heiserem Gelächter.

»Das, meine Teure, betrifft Mr. Forrester auch nicht und geht ihn dementsprechend nichts an. Nun will ich Sie nicht lange auf die Folter spannen, Sie sind sicher neugierig. Ich wende mich im Auftrag eines Klienten unseres Unternehmens an Sie. Und zwar geht es ihm darum, dass seine Biografie in Buchform verfasst werden soll.« Rachel wurde hellhörig. Biografie? Buch? Sollte jetzt, wo du es am dringendsten brauchst, deine frühere Arbeit, die Politikerbiografie, späte Früchte tragen? Damit hatte sie nicht gerechnet. Tatsächlich hatte sie gar keine konkrete Vorstellung gehabt.

»Und da dachten Sie an mich? Das ist interessant, ich habe doch bislang kaum etwas veröffentlicht. Sehen wir von hunderten langweiligen Regionalreportagen einmal ab.« Sie biss sich auf die Zunge. Warum kannst du deine vorlaute Klappe nicht halten und stellst völlig unnötig dein Licht unter den Scheffel? Sie ohrfeigte sich innerlich dafür.

»Nicht wir, Ms. Callaghan, unser Klient ist überzeugt von Ihrer Arbeit und hat unmissverständlich gesagt, dass er Sie und nur Sie dafür gewinnen möchte.«

»Jetzt haben Sie mich verdammt neugierig gemacht«. Das war keinen Deut übertrieben, sie platzte fast. »Wer ist denn Ihr Klient? Ein Prominenter? Kenne ich ihn? Und über welchen Verlag soll das Buch verlegt werden?« Erneut vernahm sie das Fiepen gepaart mit dem Lachen.

»Gemach, meine Teure, alles zu seiner Zeit. Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag: Sie hören sich in Ruhe an, an welche Bedingungen dieser Auftrag geknüpft ist – und Sie können Gewiss sein, dass es nicht an den finanziellen Konditionen scheitern wird – dann schlafen Sie eine Nacht darüber und falls Sie mit allem einverstanden sind, wovon ich überzeugt bin, geben Sie mir Bescheid und machen sich an die Arbeit. Was sagen Sie dazu?« Rachel war bereits überzeugt, als Mr. Goldstein andeutete, dass die Bezahlung sehr gut sein würde.

»Schießen Sie los. Ich höre.«

»Als Erstes sei gesagt, dass unser Klient anonym bleiben möchte, bis Sie das Manuskript fertiggestellt und mindestens einmal überarbeitet haben.«

»Anonym?« Sie zögerte kurz. »Na ja, mir soll es recht sein, solange ich an alle notwendigen Informationen komme.« Und du deine Kohle bekommst.

»Dazu werden Sie ihn einmal pro Woche in einem Hotelzimmer treffen. Unser Klient sagte, ein Zeitfenster von ein bis zwei Stunden hält er für ausreichend. Sie dürfen zu dem Treffen weder Ihr Handy eingeschaltet haben noch einen Fotoapparat oder ein Diktiergerät mitbringen. Ein paar Stifte und ein Notizzettel sind natürlich erlaubt.« Aha, will er dich filzen? Musst du durch eine Flughafenkontrolle oder was denkt der sich? Handelt es sich etwa um einen hochrangigen Politiker oder um einen paranoiden Whistleblower? Hängt dir am Ende noch das FBI oder Homeland Security am Arsch? Dies und einiges mehr schoss Rachel durch den Kopf, doch die Aussicht auf das Honorar wischte die aufkeimenden Zweifel weg.

»Okay. Und weiter?« Sie erwartete noch einen Haken, einen, der ihr die Entscheidung wirklich schwer machen würde.

»Des Weiteren dürfen Sie, solange Sie an dem Buch arbeiten, mit niemandem über unseren Klienten und diesen Auftrag sprechen. Er wird es Ihnen im Einzelfall genehmigen, sollten gewisse Dinge Ihrerseits recherchiert werden müssen. Falls Sie Fragen an ihn haben, notieren Sie diese auf einen Zettel und bringen sie zum jeweils nächsten Treffen mit.«

»Hm«, machte Rachel, »das hört sich etwas, sagen wir mal, spooky an.« Wobei die Adjektive albern oder kindisch es besser getroffen hätten, doch wollte sie Mr. Goldstein und seinen Klienten nicht vor den Kopf stoßen.

»Unser Klient ist speziell und genauso speziell ist dieser Auftrag. Aber seien Sie Gewiss, es lohnt sich für Sie. Wir haben uns schonmal erlaubt, Ihnen eine Anzahlung auf Ihr Konto zu überwiesen.« Das heisere Kichern erklang. »Bevor Sie sich fragen, wie wir an Ihre Bankverbindung gekommen sind: Wir sind nicht nur für die Rechtsberatung Ihres Arbeitgebers zuständig, wir erledigen auch die Buchhaltung für die Chicago Tribune.«

»Okay«, antwortete sie tonlos. Auf die Idee, das zu hinterfragen, wäre ich zwar nicht gekommen, aber trotzdem danke für die überflüssige Information, fügte sie gedanklich hinzu. Es juckte sie in den Fingern, sich sofort in das Homebanking ihrer Hausbank einzuloggen.

»Darüber können Sie unabhängig vom weiteren Verlauf der Zusammenarbeit verfügen. Unser Klient hat zwei Monate angesetzt, um die Rohfassung abzuschließen. Einen Monat nach dem ersten Treffen erhalten Sie den nächsten Abschlag, ein weiterer erfolgt vier Wochen darauf. Wenn das Manuskript überarbeitet ist, wird die letzte Vorauszahlung überwiesen und bei Veröffentlichung bekommen Sie eine Schlusszahlung obendrauf, sodass sich insgesamt ein Honorar in Höhe von 25.000 US-Dollar ergibt.« FÜNFUNDZWANZIGTAUSEND DOLLAR? Für knapp 3 Monate Arbeit? Kneif dich besser nicht, sonst erwachst du aus diesem Traum. Sie musste sich zwingen, Mr. Goldstein weiter zuzuhören, wollte sie doch jetzt am liebsten laut singend, nein, laut kreischend durch ihre Wohnung tanzen. »Nicht zu vergessen, dass Sie als Autorin auf dem Cover namentlich Erwähnung finden und prozentual am Verkauf des Buches partizipieren werden.« Nach einem langen Fiepen fuhr er fort: »Sind wir im Geschäft, Ms. Callaghan?« Rachel schloss langsam ihren Mund, der seit einigen Sekunden offenstand, und schluckte.

»Wann und wo treffe ich diesen Mann?«

 

***

 

Direkt nach dem Betreten des Fundortes der Leiche, einem versifften Motelzimmer, hielt sich Detective Miller die Hand vor das Gesicht, eilte durch das Zimmer und riss das zweiflüglige Zimmerfenster bis zum Anschlag auf.

»Was für ein erbärmlicher Gestank das ist«, entfuhr es ihm. Er hielt den Kopf weit nach draußen und sog die Luft tief in seine Lunge. Erstaunt blickte er zu seinem Kollegen, der, vom Verwesungsgeruch offenbar unbeeindruckt, im Zimmer umherging und mit seinen behandschuhten Händen diverse Einrichtungsgegenstände unter die Lupe nahm, als würde er in einem Supermarkt die Ware in den Regalen betrachten.

»Du bist auch irgendwie ein Weichei geworden, kann das sein?«

»Gut möglich. Vielleicht habe ich aber auch nur das Falsche gegessen.« Langsam gewöhnte sich seine Nase an den Duft des Todes und er machte sich ebenfalls an die Untersuchung der Wohnung.

»Warum gegessen? Du hast das meiste davon doch auf deinem Hemd geparkt.«

»Ja, du mich auch.«

»Was haben die von der Spusi sichergestellt?«, rief Ted aus dem Eingangsbereich. Miller, der im Wohnbereich suchte, zog einen Zettel aus der Tasche und las vor:

»Eine viertelvolle Flasche Discounterwein, auf der es vor Fingerabdrücken nur so wimmelt, zwei einfache Trinkgläser, Bettbezug und Laken, die auch ohne Schwarzlicht schon deutliche Spermaspuren zeigen, und jede Menge Haare vom Fußboden. Und die Hygieneartikel aus dem Bad. Das ist alles ins Labor unterwegs.« Miller öffnete die Tür zum kleinen Waschraum, in dem ihm nichts Besonderes auffiel. Er sah ein paar Handtücher, Seife und einen unbenutzten Zahnputzbecher, was er auch erwartet hatte. »Mich würde es nicht wundern, wenn wir auf allen Sachen Fingerabdrücke von fünf Leuten finden würden. Und was die Haare angeht – hier wurde doch seit Monaten nicht mehr richtig saubergemacht.«

»Schrei doch nicht so«, sagte Ted grinsend, der jetzt direkt hinter ihm stand. »Eingangs- und Schlafbereich sind abgecheckt, keine weiteren Auffälligkeiten. Und ja, das ist ein Drecksloch hier, wie kann man hier nur pennen?«

»Brian Kruger wird uns dazu leider nichts mehr sagen können«, erwiderte Miller trocken. Sie hatten bei ihrer Ankunft den Namen des Opfers von einem Officer erfahren, der dessen Papiere im unverschlossenen Wagen des Mannes beim Durchsuchen des Handschuhfaches gefunden hatte. Das Kennzeichen war in Kentucky geprägt worden und Brian Kruger selbst war in Louisville, einer Stadt im Norden des Staates, wohnhaft gemeldet. Kruger hatte sein Zimmer im Voraus bar bezahlen und somit anonym einchecken können, daher hatte sich die Identifizierung der Leiche verzögert.

»Also hatte Brian hier ein Rendezvous«, folgerte Ted. »Und entweder war die Dame nicht zufrieden mit ihm und hat ihn deswegen niedergemetzelt oder jemand stattete ihm nach dem Schäferstündchen einen Besuch ab.«

»Oder besagte Dame arbeitet mit jemandem zusammen, der für die Drecksarbeit zuständig ist.«

»Warten wir die Laborergebnisse ab und was unser System ausspuckt. Bis dahin sollten wir uns mit seiner Familie und seinem Chef unterhalten. Sofern vorhanden.«

Miller seufzte. Als ob sie in Chicago nicht schon genug eigene Kriminalität hätten – warum nur mussten irgendwelche Schwachköpfe ihre Konflikte immer wieder hierher verlegen, die doch offensichtlich in anderen Bundesstaaten ihren Ursprung hatten. Dabei dachte er an einen ähnlich gelagerten Fall, der sich vor einigen Monaten hier in der Gegend ereignet hatte. Genaueres darüber wusste er nicht, da das damalige Tötungsdelikt von Kollegen einer anderen Abteilung bearbeitet worden war. Seine hatte zu dem Zeitpunkt keine Kapazitäten dafür. Er würde mit einem der in diesem Fall federführenden Detectives Williams oder Martinez reden, sobald er morgen früh wieder im Department war. Die Akte konnte er zwar bereits einsehen, doch ihm fehlten darin Eindrücke und Bauchgefühle der Ermittler, die von Bedeutung sein konnten und für Miller, der selbst oft intuitiv handelte, nicht zu unterschätzende Hilfsmittel darstellten. Ted, der sich eher auf harte Fakten verließ, hatte seinen Kollegen schon mehrfach deswegen aufgezogen.

 

***

 

Rachel starrte auf die Zeile, deren schwarze Schrift sich am unteren Rand ihres Smartphonedisplays deutlich vom mattgelben Hintergrund abhob. Aktueller Kontostand: 939,34 US-Dollar. Haben! Plus! Sie rieb sich die Augen und aktualisierte den Kontoauszug ihrer Hausbank zum wiederholten Male. Tatsächlich waren ihr heute genau Eintausend Dollar gutgeschrieben worden. Jedoch war nicht ersichtlich, von wo das Geld stammte. In der Betreffzeile unter dem Wort Gutschrift fand sie nur eine scheinbar zufällige Abfolge von Buchstaben, Zahlen und Sonderzeichen. Wen juckt´s? Dich doch nicht. Sie schüttelte den Kopf. Sollte heute etwa tatsächlich ihr Glückstag sein? Der Tag, der ihr Leben endlich zum Guten wenden würde? Der Tag, auf den sie so lange hatte warten und so einige Kröten in dieser Zeit fressen müssen?

Nachdem sie sich noch ein letztes Mal ihres Kontostandes versichert hatte, wies sie per Sofortüberweisung den ausstehenden Betrag an die Stadtwerke an, deren Servicemitarbeiter im anschließenden Telefonat freundlich bestätigte, dass in wenigen Stunden der Strom wieder eingeschaltet sein würde. Sie würden sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen und unnötigerweise klärte der Callcenter-Mitarbeiter sie darüber auf, dass eine ausreichende Kontodeckung ihr solche unangenehmen Situationen ersparen würde.

»Vielen Dank«, hatte Rachel höflich geantwortet und ein ›Fick dich, du verdammter Hurensohn!‹, gedanklich hinterhergeschoben, während sie mit einem Fingertippen das Gespräch beendete. Doch sie war viel zu gut drauf, um sich länger als ein paar Sekunden zu ärgern. Abrupt stand sie auf und tigerte durch die Wohnung, drückte immer wieder auf die Schalter verschiedener elektrischer Geräte. Nichts passierte, nichts sprang an. Sie spielte an den Lichtschaltern, fummelte an der Klimaanlage herum und stöpselte in fast jede Dose ihrer Wohnung den Stecker eines elektrischen Gerätes, obwohl sie natürlich wusste, dass entweder aus allen oder aus keiner Strom kommen würde. Jedoch war sie wegen ihres Kontostandes noch so aus dem Häuschen, dass sich rationale Überlegungen gerade nicht in ihrem Kopf durchsetzen konnten.

Ein kreischender Lärm aus dem Halbdunkel ihrer Küche ließ sie zusammenfahren. Im ersten Moment dachte sie tatsächlich, jemand wäre in ihrer Wohnung. Ein Einbrecher vielleicht. Als sie vom Licht im Flur geblendet wurde und die Stereoanlage im Wohnzimmer einen akustischen Gegenpart zum Krach in der Küche bildete, hatte sie natürlich begriffen, dass lediglich der Strom wieder eingeschaltet worden war. Sie eilte in die Küche und stellte zuerst den Mixer aus, in dessen leerem Glasbehälter die Klingen in einem Höllentempo kreisten. Den zum Test anzustellen gehörte nicht zu deinen cleversten Einfällen.

Rachel vergewisserte sich, dass sie alles ausgestellt hatte, was sie an elektrischen Gerätschaften gerade nicht benötigte. Endlich herrschte wieder Ruhe, was wohl auch der Nachbar von nebenan mitbekommen hatte, jedenfalls hörte sie ihn nicht mehr gegen die Wand klopfen. Nach der Kontrollrunde durch ihre Wohnung fasste sie den Entschluss, sie in diesem Zuge auf Vordermann zu bringen. Wenn du schon einen neuen Lebensabschnitt einschlägst, dann kann der auch in einem aufgeräumten und gut sortierten Haushalt erfolgen. Und wenn wir ehrlich sind, Schätzchen, deine Bude hat es dringend nötig.

Sie ließ heißes Wasser in die Spüle laufen, gab Spülmittel dazu und weichte die besonders verkrusteten Teller und Pfannen ein. Währenddessen suchte sie die in der Wohnung verteilten, schmutzigen Wäschestücke zusammen, stopfte sie in die Waschmaschine und zog sogar ihr Bettzeug ab. »Das war tatsächlich höchste Zeit«, sagte sie und verzog ihr Gesicht dabei ebenso wie heute Morgen, als sie das Kondom aus dem Bett geworfen hatte. »Verdammt, das muss ich ja auch noch –.« So, wie sie es heute früh hinterlassen hatte, lag es auch jetzt noch da. Ein säuerlicher Geschmack breitete sich aus, den Würgereflex konnte Rachel jedoch unterdrücken. Heute musst du nicht kotzen, denn heute ist ein guter Tag! Sie benutzte den Kopfkissenbezug als Handschuh und entsorgte das Verhütungsmittel im Mülleimer unter der Spüle. Sie goss ihre Blumen, die bereits fast mit ihrem Dasein abgeschlossen hatten und dankbar das Wasser aufsogen. Nachdem sie in der Küche klar Schiff gemacht hatte, bezog sie das Bett neu. Jetzt fehlte nur noch das Saugen und Wischen des Fußbodens. Gedacht – getan. Kurz darauf verschwand unter dem monotonen Brummen des Gerätes mehr Dreck darin, als sie sich vorgestellt hatte. Sie musste gar den vollen Beutel ersetzen und das Wasser im Wischeimer war zum Ende hin schwarz wie Teer. Fertig. Sie hatte die komplette Bude von Grund auf gereinigt. Zum ersten Mal überhaupt, seit sie hier wohnte. Was dich nicht zwingend mit Stolz erfüllen sollte. Sie begann, sich ein klein wenig dafür zu schämen, doch dieses Gefühl verschwand so plötzlich, wie es gekommen war, als sie einen Blick unter ihr Bett warf. Was liegt denn da? Sie bückte sich und betrachtete es genauer. Im ersten Moment dachte sie, es wäre eine tote, bereits halb verrottete Maus. Doch je länger sie darauf starrte, umso sicherer war sie, dass es doch eher anorganisch wäre. Mit spitzen Fingern zog sie es hervor und hielt es gegen das Licht. Wenig später entsorgte sie es mit vielen anderen, unnützen Dingen im Müll.

Kapitel 4

 

 

Detective Williams und seine Partnerin kämen erst gegen Mittag rein, würden sich aber sofort mit ihm in Verbindung setzen, sobald sie vom Außeneinsatz zurück wären, sicherte man Miller telefonisch zu.

»Ausgeflogen?«, wollte Ted wissen, der an der Türzarge zu Millers unaufgeräumtem Büro lehnte, in dem einfach keine Grünpflanze länger als ein paar Monate überlebte. Was möglicherweise am viel zu kleinen Fenster lag oder daran, dass er sie, wenn überhaupt, nur selten mit Wasser goss. Meist bekamen sie abgestandenen Kaffee oder die Reste aus einer Coladose. So einfach gab Miller, der sich für einen Pflanzenliebhaber hielt, jedoch nicht auf und nur Tage, nachdem eine Pflanze eingegangen war, holte er sich die nächste. Er dachte gar nicht daran, sich zu informieren, welche Sorte bei ihm tatsächlich eine reelle Chance haben würde. Schließlich hatte er den grünen Daumen. Und offensichtliche Wahrnehmungsstörungen, die ihm Ted auf seine gärtnerischen Fähigkeiten bezogen mehrfach attestiert hatte.

»Jop, bis Mittag unterwegs. Aber ich denke, bevor wir unsere Zeit mit den trockenen Akten verschwenden, schauen wir doch, was das Umfeld Krugers so hergibt.« Ted trat an den Schreibtisch und nahm den Zettel entgegen, den Miller ihm hinhielt. »Unten steht die Nummer seiner Vermieterin, oben die seines Arbeitgebers. Wen nimmst du?« Ted hob die Augenbrauen. Er schaute auf den Zettel, faltete ihn horizontal in der Mitte, zog mit dem Daumennagel entlang der Falz und teilte ihn anschließend so sauber entzwei, als hätte er dafür eine Schere benutzt. Daraufhin mischte er die beiden Hälften wie Spielkarten, stimmte die dramatische Filmmusik vom Weißen Hai an und gab Miller schließlich den Teil mit der Nummer des Arbeitgebers.

»Demnach ruf ich wohl seine Vermieterin an.« Miller hielt sich die Hand an die Stirn. Seit drei Jahren war Ted jetzt in seinem Team und er konnte sich immer auf ihn verlassen, aber an manche seiner Eigenheiten würde er sich wohl nie gewöhnen.

»Das hättest du auch weniger theatralisch haben können.«

»Nimm mir nicht meine Momente«, sagte er, während er demonstrativ das Gesicht nach oben reckte und abwendete. Als er merkte, dass Miller nicht mitspielen wollte, drehte er sich achselzuckend um und ging aus dem Büro. »Spaßbremse«, warf er ihm auf der Türschwelle noch zu, dann war Miller wieder allein. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer des Arbeitgebers.

Nachdem er sich dem Herrn in der Firmenzentrale vorgestellt und gesagt hatte, worum es ging und mit wem er verbunden werden wollte, stellte man ihn zügig durch.

»Guten Morgen, Detective Miller, mein Name ist Gina Baker, ich bin die Vorgesetzte von Mr. Kruger. Mir wurde bereits gesagt, worum es geht. Das ist ja schrecklich! Ermordet sagen Sie? Kein Wunder, dass er auf unsere Anrufe nicht mehr reagiert hat. Was genau ist denn passiert?«, plapperte sie auf ihn ein. Und er hatte bisher nur einen Kaffee intus. Wie sollte er das nur aushalten?

»Hi, Ms. Baker, zu den Einzelheiten darf ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Angaben machen. Laufende Ermittlungen und so, Sie verstehen?« Sie kicherte, worauf er leise aufstöhnte und die Augen verdrehte.

»Ja, selbstverständlich, entschuldigen Sie meine Neugierde.« Erneutes Kichern. Sie räusperte sich und fuhr in geschäftsmäßigem Ton fort. »Was also kann ich für Sie tun, Detective?« Geht doch, warum nicht gleich so?, dachte Miller.

»Nun, laut unseren Informationen ist, oder besser war Mr. Kruger mehrere Jahre als Außendienstmitarbeiter für Ihr Unternehmen tätig?«

»Richtig. Er fährt unsere Kunden an, informiert diese über unsere neuesten Produkte und nimmt die ein oder andere Bestellung vor Ort auf. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Farmen, Werkstätten und kleine Drugstores.«

»Gemäß unserer Rechtsmedizin ist Mr. Kruger vor drei Tagen zwischen 18 und 24 Uhr gestorben«, gab er die Information über den Todeszeitpunkt an Gina Baker weiter, den er und sein Kollege am Morgen erfahren hatten. »Sind Sie über seine Termine im Bilde? Können Sie uns etwas über diesen Tag und vor allem den Abend sagen? Wir konnten sein Smartphone bisher nicht knacken, tappen also noch im Dunkeln.« Er hörte das typische Klackern, das entsteht, wenn man mit Hilfe des 10-Finger-Systems über die Tastatur fliegt.

»Ja, natürlich, hier haben wir seinen Terminplan schon. Vor drei Tagen, also am Dienstag. Nun, er hatte ... das ist ja seltsam.«

»Was ist seltsam?«

»Hm, anscheinend hatte er sich Dienstag einen Tag frei genommen. Montag um 16 Uhr war der letzte Termin in der Nähe von Springfield und der nächste wäre Mittwoch um 10 Uhr gewesen. Allerdings nicht in Chicago.«

»Sondern?«

»In Bloomington.«

»Das sind ja hundert Extrameilen hin und am nächsten Tag nochmal zurück. Heißt das, er war eher nicht dienstlich in der Stadt? Hatte er vielleicht einen neuen Kunden an der Angel?« Nach einem kurzen Zögern antwortete die Chefin Krugers.

»Nach meinen Unterlagen definitiv nicht, nein. Und Neukundenakquise gehört nicht zum Aufgabengebiet unserer Außendienstmitarbeiter. Jedenfalls keine Verhandlungen, die über das bloße Anbahnen als solches hinausgehen.«

Was immer das auch heißen mag, dachte Miller und erfuhr im weiteren Gespräch, dass Kruger eher ruhig und eigenbrötlerisch war, kaum Kontakt zu anderen in der Firma pflegte, seinen Job jedoch ohne Beanstandung machte und überzeugend im Kundenkontakt auftreten konnte, solange es dienstlich blieb. Trotz seines Stotterproblems, das ihm laut seiner Chefin nur auf privater Ebene zu schaffen machte. »Er selbst hat es damit erklärt, dass er nur stottern würde, wenn er mit irgendeiner Emotion ins Gespräch ging, war mir aber auch gleichgültig, solange er es während seiner Arbeitszeit im Griff hatte«, erklärte Gina Baker und bestätigte nach Rückfrage in der Personalabteilung und bei einigen Kollegen, dass Brian Kruger nie verheiratet gewesen war und seine Zwei-Zimmer-Wohnung im Norden Kentuckys nur selten nutzte, häufig in Motels in der Nähe seiner Kundentermine übernachtete.

Zum Ende des Gesprächs erschien Ted mit einer angedeuteten Stepptanzeinlage in der Tür.

»Wer, meinst du, hat seinen Anruf schon hinter sich?«, fragte er breit grinsend.

»Ich«, erwiderte Miller trocken und gab seinem verdutzten Kollegen den Inhalt des Gesprächs wieder. »Was hast du erreicht?«

»Wenn ich es richtig verstanden habe, hat mich seine Vermieterin zu einem Date eingeladen«, erklärte Ted lachend und fügte hinzu, dass sie ihrer Stimme nach um die 80 Jahre alt sein müsste. »Er war wohl selten zu Hause, hat bislang seine Miete pünktlich gezahlt und wenn er Besuch hatte, so sagte sie mir im Vertrauen, dann kam dieser sehr spät, jedenfalls wenn es dunkel war. Sie tippte auf Prostituierte. Aber ich kann dir nicht genau sagen, ob sie überhaupt gerafft hat, dass sie sich einen neuen Mieter suchen muss.«

»Hilft ja alles nichts, aber passt mit der Aussage seiner Chefin überein.« Er legte beide Hände flach auf die Tischplatte, klopfte ein paar mal und verzog den Mund. »Dann fragen wir die Kollegen aus Louisville mal, ob die sich seine Wohnung genauer anschauen wollen.« Ted klatschte einmal die Hände zusammen und wandte sich wieder zum Gehen.

»Ich kümmere mich darum.«

 

***

 

Rachel hatte unruhig geschlafen, mehrmals wachte sie auf und wanderte durch ihre Wohnung. Nachdem sie um 4 Uhr das letzte Mal aufgestanden und eine Viertelstunde später wieder ins Bett gegangen und eingeschlafen war, kitzelte sie jetzt ein Sonnenstrahl an der Nase. Sie rieb mit der Hand darüber, streckte sich und gähnte. Kaum zu glauben, dass man sich innerhalb von 24 Stunden so komplett anders beim Aufwachen fühlen konnte. Kam sie sich gestern noch vor wie durchgekaut und ausgespuckt, fühlte sie sich nun fit, frisch, munter und voller Energie. Sie schaute zum Wecker und atmete beruhigt durch, da sie noch ein paar Stunden Zeit hatte, bis sie bei der Tribune sein müsste. Musst du da überhaupt noch hin? Jetzt, wo du auf dem Weg zu Wohlstand und Ruhm bist? Sie lachte laut auf, was sich in ihren Ohren ein wenig unheimlich anhörte. So klingst du, wenn du irrewirst, sagte sie sich und begnügte sich nun mit einem stummen Grinsen. Mehrfach hatte sie gestern am Küchentisch eine 25 mit drei Nullen dahinter aufgemalt oder ausgeschrieben, in Schreibschrift und in Blockbuchstaben. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, sie würde einen ordentlichen Sack voll Kohle mit einer simplen Biografie abgreifen. Einfacher, als die Lebensgeschichte eines Menschen aufzuschreiben, der sie einem praktisch diktiert, konnte man ihrer Meinung nach sein Geld nicht verdienen. Klar, die Story müsste etwas aufgehübscht, sauber und spannend artikuliert werden, sodass sie auch für Dritte interessant zu lesen sein würde. Doch gerade das lag Rachel im Blut: Für den Witz und die liebenswerten Spitzen in ihrem letzten Werk wurde sie vielfach gelobt. Rachel lachte auf, hätte sie den Job doch auch für einen Bruchteil des Honorars angenommen. Du bist ab sofort eine Gewinnerin!, gab sie als Marschplan aus und war überrascht davon, dass sich ihre gute Laune noch steigern konnte. Nichts wird deinem Erfolg jetzt noch im Wege stehen. Sie schmunzelte über sich selbst. Doch so ganz unrecht hatte sie nicht, denn selbst wenn sich das fertige Buch hinterher kaum verkaufen würde, hätte sie mit der fix zugesagten Knete für bestimmt ein Jahr ausgesorgt.

Nach einer Dusche holte sie sich ein Croissant aus Joe´s Diner, der in der Nähe ihrer Wohnung lag, rund um die Uhr geöffnet hatte und dessen Stammkundin Rachel seit langem war. Zusammen mit einem frisch gekochten Kaffee genoss sie ihr kleines Frühstück in ihrer aufgeräumten Küche. In sauberen Klamotten aus einer abgewaschenen Tasse. Im Anschluss wählte sie dieselbe Nummer wie am Abend zuvor und teilte dem giemenden Mr. Goldstein mit, den Auftrag anzunehmen.

»Und vielen Dank noch für den Vorschuss«, fügte sie höflich hinzu, nachdem sie das weitere Prozedere besprochen hatten. Rachel fühlte sich großartig, voller Tatendrang und hätte am liebsten sofort losgelegt. Die verstörende Entdeckung unter ihrem Bett gestern hatte sie bereits völlig verdrängt.

 

***

 

Die Tür zu Millers Büro schwang auf und eine Kollegin mit unübersehbaren lateinamerikanischen Wurzeln trat ein.

»Williams kommt heute nicht mehr rein, kann ich dir helfen?« Miller musterte sie und blieb für eine Sekunde zu lange an ihrem Ausschnitt hängen. Dem sehr tiefen Ausschnitt. Sie hielt ihre Hand davor und deutete mit dem Zeigefinger in Richtung ihres Gesichts. »Hier spielt die Musik, Kollege.«

»Ja, äh, klar«, stammelte er, fing sich jedoch schnell. »Hallo erstmal, Colina. Hat man dir ausgerichtet, worum es geht?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, während sie einen Stuhl heranzog und sich verkehrt herum daraufsetzte, um sich mit den Unterarmen auf der Rückenlehne abzustützen. »Nur, dass ihr einen Fall habt, der mit einem von uns zusammenhängen könnte.«

»Richtig«, bestätigte er und drehte den Monitor so, dass beide darauf schauen konnten. Nacheinander klickte er über zehn Fotos an, die die verstümmelte Leiche und den Ablageort zeigten. Miller beobachtete Detective Colina Martinez. Die hartgesottene Polizistin verzog keine Miene.

»Okay, ein Motel am Stadtrand, zwei Gläser und eine Pulle Billigwein auf dem Tisch. Und ziemlich üble Verletzungen. Einen zwingenden Zusammenhang mit einem unserer Fälle kann ich dabei nicht erkennen.«

»Und wenn ich dir sage, dass im Getränkerest Spuren von GHB gefunden wurden?«, schob er die jüngsten Erkenntnisse des Labors hinterher.

»K.-o.-Tropfen?« Sie verzog das Gesicht. »Die fanden wir auch. Aber die Verletzungen unterscheiden sich doch deutlich: Eurem Mann wurde das Gehänge abgeschnitten, woran er wahrscheinlich verblutet ist?« Miller nickte zur Bestätigung. Laut Autopsie verstarb Kruger, während er bewusstlos gewesen war. Sonst hätten sie zumindest Spuren seines Blutes an seinen Händen finden müssen, die er mit Sicherheit panisch auf die Wunde gedrückt hätte. Da an den Handgelenken keinerlei Quetschungen, Schnitt- oder Schürfwunden gefunden wurden, gingen sie nicht davon aus, dass er gefesselt worden war. Was wiederum das Ergebnis des Pathologen stützte. »Bei unserem Opfer sah das doch ganz anders aus.«

Sie glichen sämtliche bekannte Details beider Fälle miteinander ab und Miller bot seiner Kollegin an, ihren Fall zu übernehmen – unabhängig davon, ob sie eine Verbindung zu ihrem Mordopfer finden würden oder nicht.

»Alles klar, er gehört euch. Das verschafft uns etwas Luft. Danke.« Sie sprang vom Stuhl, der quietschend nach vorn rutschte, und verabschiedete sich knapp.

»Ich habe zu danken«, erwiderte Miller.

Ted verpasste sie nur um eine halbe Minute, was er persönlich bedauerte, denn auch ihm war der attraktive Ausblick bekannt, den Colina Martinez meist bot.

»Miller, du musst mir doch Bescheid geben, wenn so eine hier aufschlägt.«

»So eine ist unsere Kollegin. Punkt.«

»Ach, Miller, du verpasst dein ganzes Leben«. Er schüttelte mitleidig den Kopf. »Okay, also trotz Zweifeln von Colina gehen wir der Sache mit Verdacht auf einen Serienmörder nach«, stellte er kurz darauf fest, nachdem Miller ihn über das Gespräch mit Martinez informiert hatte. »Das verspricht, spannend zu werden.«

»Weil es bei uns ja auch immer so langweilig ist«, erwiderte Miller ironisch.

»Komm schon, Miller, du weißt doch, dass meine Reizschwelle deutlich über der von euch Hobbybullen liegt.«

»Das einzige, das ich weiß, ist, dass du nicht ganz dicht bist.«

»Aus deinem Mund fasse ich das mal als Kompliment auf.«

Kapitel 5

 

 

Julia hob den Kopf, als sie Rachel auf sich zukommen sah, spitzte ihren Mund und stieß einen Pfiff aus.

»Was ist mit meiner Kollegin geschehen und wer sind Sie?«, fragte Julia lachend und ergänzte: »Wow, du siehst ja wie ausgewechselt aus. Was ist passiert? Raus damit.« Die Angesprochene schaute leicht verwirrt zu ihrer Kollegin hinunter. Okay, also hat der Spiegel dich vorhin nicht getäuscht. Kein Wunder, du fühlst dich ja auch wesentlich besser als sonst.

»Hi, Julia. Danke, du siehst natürlich auch blendend aus«, gab sie das nicht übertriebene Kompliment zurück, denn die um ein paar Jahre jüngere Deutsche hatte trotz ihrer Drogenvergangenheit eine schöne und reine Haut, die ihre femininen Gesichtszüge angemessen zur Geltung brachte. Über Julias tadellose Figur wollte Rachel gar nicht weiter nachdenken, der jeder Doughnut sofort auf der Hüfte hängenblieb. Aber jetzt beruhig dich und pass auf, was du sagst. Denk an den Deal: Zu niemandem ein Wort davon! »Ich bin gestern abend zu Hause geblieben und habe einfach ausgeschlafen«, erklärte sie mit unschuldigem Blick.

»Ausschlafen wird überschätzt, aber das solltest du öfter machen. Zuhause bleiben, meine ich natürlich.« Sie lehnte sich zurück, musterte ihre Kollegin von oben bis unten und schnalzte mit der Zunge. »Jedenfalls dann, wenn DAS das Ergebnis ist.«

»Ja, du kannst jetzt mit dem Geschleime aufhören, du bekommst kein Date mit mir.«

»Schaaaade«, sagte Julia grinsend. Sie wandte sich zur Tastatur, speicherte ihre Arbeit und stieß sich vom Schreibtisch ab. Sie rollte einen Meter auf dem Bürostuhl zurück und erhob sich. »Okay, ich bin fertig, der Tisch gehört jetzt dir.« Rachel stellte ihre Handtasche neben den Monitor und schob sich an Julia vorbei zum Stuhl. Aus der jetzt getauschten Perspektive verabschiedete sich die Deutsche.

»Wir sehen uns dann übermorgen«, entgegnete Rachel. Natürlich, Billy würde morgen die Mittelschicht übernehmen, wodurch sich die beiden Frauen nicht begegnen würden. Julia legte salutierend zwei Finger an die Stirn und schlenderte davon, während Rachel einen USB-Stick in den Rechner steckte und einige Dateien aufrief, die sie zur Fertigstellung ihrer Story gestern angelegt und gespeichert hatte.

Auf dem Bildschirm war noch die Google-Startseite zu sehen, die Julia offenbar zuletzt genutzt hatte. Rachels Hand bewegte die Maus, sodass der Cursor mit gleichmäßiger Geschwindigkeit diagonal über den ganzen Bildschirm wanderte. Nein, Rachel, du darfst nicht recherchieren. Setz nicht wegen deiner Neugier die ganze Kohle auf´s Spiel. Mit einem Lächeln verkleinerte sie das Fenster und zog ihren Bericht auf Bildschirmgröße. Im Moment hatte sie eh keinen Anhaltspunkt, wonach sie hätte suchen sollen. Das würde heute Abend vielleicht schon ganz anders aussehen, denn um 21 Uhr stand ihr erstes Treffen mit ihrem Auftraggeber in ihrem Kalender. Und nicht nur wegen der vielen Kohle, auch wegen der Geheimniskrämerei, die der Mann um sein Projekt veranstaltete, war sie um ein Vielfaches neugieriger auf diesen Job, als sie es damals bei der verhältnismäßig trockenen Story über den pensionierten Politiker gewesen war. Kein Wunder! Dessen größter Skandal war das Schummeln auf der High School und dass er mal mit einer Freundin seiner langjährigen Ehefrau geknutscht hatte. Sicher hätte Rachel noch ein paar weitere Leichen aus dem Keller des Mannes holen können, aber der Mehrwert wäre den Aufwand nicht wert gewesen. Dazu war der Typ einfach zu langweilig und wenig charismatisch.

An Mr. None hingegen, wie sie ihren Auftraggeber getauft hatte, damit sie einen Arbeitsnamen nutzen konnte, hatte Rachel deutlich höhere Erwartungen. Insgeheim hoffte sie, der Mann wäre ein Wirtschaftsboss, der es durch Intrigen und halbseidene Geschäfte an die Spitze eines multinationalen Imperiums geschafft hatte und nun Offenbarungen machte, die die ganzen USA in ihren wirtschaftlichen Grundfesten erschüttern würden. Mr. None und sie selbst würden im Wechsel oder zusammen von Talkshow zu Talkshow tingeln, Interviews in den größten TV-Sendern und überregionalen Zeitungen geben. Kurzum: Ihr Leben wäre nach der Veröffentlichung nicht mehr annähernd mit ihrem jetzigen zu vergleichen. Monatelang würde die Biografie über Mr. None die Bestsellerlisten anführen, vielleicht sogar die in Europa und Asien. Natürlich. Weltweit. Klotzen statt kleckern. Think big! Und sie als Autorin würde für ein fürstliches Honorar und fette Spesen nach Berlin, Paris, London, Madrid und Moskau reisen, um über ihr Buch und Mr. None zu sprechen. Die in Massen eintreffenden Folgeaufträge, die ihren Ruhm weiter steigern würden, hatte sie noch gar nicht einkalkuliert, stellte sie frohlockend fest.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739498799
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Rache Psychothriller Schizophrenie Entführung Krimi Thriller Spannung Noir Ermittler

Autor

  • Marcus Ehrhardt (Autor:in)

Der Autor, 1970 geboren, lebt im niedersächsischen Vechta. Er ist Vater zweier erwachsener Kinder. Die Idee, Geschichten zu erzählen und Bücher daraus entstehen zu lassen, kam quasi über Nacht. Seinen großen Sympathien den USA gegenüber in all ihren Vielfalten und endlosen Weiten ist es geschuldet, dass einige seiner Titel eben dort verankert sind. Demgegenüber erscheinen immer wieder Titel, die vorrangig in seiner norddeutschen Heimat angesiedelt sind.