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Die Klaviatur der Gerechtigkeit

Kriminalthriller

von Marcus Ehrhardt (Autor:in)
204 Seiten
Reihe: Maria Fortmann ermittelt, Band 3

Zusammenfassung

Was tust du, wenn du nicht weißt, wem du vertrauen kannst? Diese Frage quält Kommissarin Maria Fortmann, seitdem sie und ihre Familie von einer Selbstjustiz-Organisation mit dem Tode bedroht wurden. Mit ohnmächtiger Verzweiflung zieht sich Maria aus dem Dienst zurück und schottet sich von ihrem sozialen Umfeld ab. Zu mächtig scheint die Vereinigung zu sein, deren Führungsmitglieder hohe juristische und politische Ämter bekleiden. Nach Monaten kehrt sie in den Polizeidienst zurück. Sie verdrängt die latente Gefahr und versucht, der Organisation nicht ins Gehege zu kommen. Bald wird ihr jedoch klar, dass sie so nicht weitermachen kann, ohne ihren Diensteid zu brechen und ihre Ideale zu verraten. Maria trifft eine Entscheidung und ahnt nicht, welche Folgen diese für sie haben wird. Bisher wurden folgende Titel des Autors veröffentlicht: Steve-Parker-Reihe (Krimithriller): Band 1: Fremde Angst – Burns Cree Band 2: Fremde Angst – Nemesis Maria-Fortmann-Krimireihe: Band 1: Der Tote vom Stoppelmarkt Band 2: Im Namen des ... Band 3: Die Klaviatur der Gerechtigkeit Band 4: Mordseerauschen Band 5: Mordseeflüstern Band 6: Mordseegrollen Band 7: Mordseegrauen Band 8: Mordseelügen (Band 4-8 erscheinen im November als Epub) Als Einzeltitel (Thriller): Von Hass getrieben Dein Glück stirbt in 4 Tagen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marcus Ehrhardt

 

 

 

Die Klaviatur der Gerechtigkeit

 

 

 

 

Prolog

 

 

Drei Monate waren vergangen, seit Kommissarin Maria Fortmann der Boden unter den Füßen weggezogen worden war.

In ihrem letzten Fall hatten sie einen Serienmörder, der mit Hilfe einer DNA-Analyse überführt werden konnte, unschädlich gemacht. Doch Maria blieben Zweifel, die von ihren Kollegen beiseite gewischt worden waren, und schließlich hatte die Alltagsroutine auch sie gedanklich immer weiter davon entfernt.

Einige Wochen später jedoch wurde sie auf einem Gala-Abend völlig unvorbereitet damit konfrontiert, dass ihre Zweifel berechtigt waren: Der vermeintliche Mörder war lediglich ein Bauernopfer in einem perfiden Spiel einer konspirativen Vereinigung von hochrangigen Richtern, Staatsanwälten und Polizisten gewesen. Diese hatten sich zur Aufgabe gemacht, vermeintliche Justizirrtümer zu korrigieren und, ihrer Ansicht nach schuldige Täter, die nicht oder nicht ausreichend verurteilt worden waren, durch Selbstjustiz ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

Maria hatte das alles von den führenden Köpfen der Organisation höchstpersönlich erfahren, mit dem primären Ziel, sie für die Mitarbeit bei ihnen zu gewinnen. Als Druckmittel wurde sie mit ihren eigenen Dämonen konfrontiert, die sie seit drei Jahren fast jede Nacht um den Schlaf brachten:

Sie hatte damals während eines Einsatzes, bei dem ihr Partner erschossen wurde, den daraufhin flüchtenden Täter nicht, wie es die Vorschrift verlangte, fluchtunfähig gemacht, sondern ihn durch einen Schuss von hinten in den Rücken getötet. Die ihr wohlgesonnenen und verständnisvollen internen Ermittler redeten ihr ein, sie hätte auf den Oberschenkel des Flüchtenden gezielt, aber er wäre einen Sekundenbruchteil, bevor der Schuss fiel, gestürzt, sodass die Kugel dessen Rücken traf. Da Maria sich damals in einer absoluten Stresssituation befand – der Täter hielt ihr Sekunden zuvor selbst seine Waffe vor das Gesicht – glaubte sie mit der Zeit, dass es sich tatsächlich so abgespielt hatte. Letzten Endes war sie nach wochenlangen Untersuchungen vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen worden und beruflich rehabilitiert. Ihr Unterbewusstsein kannte jedoch die Wahrheit und konfrontierte sie seither fast jede Nacht damit.

So sehr sie die Fakten über die selbsternannte Gerechtigkeitsdivision schockierten, am schlimmsten traf Maria die Tatsache, dass der Oberstaatsanwalt Kurt Stohmann, den sie im Verlauf der Ermittlungen im Serienmörderfall kennen- und lieben gelernt hatte, nicht nur mit der Geheimorganisation verstrickt war – nein, er gehörte sogar zu deren Führungsebene.

Nachdem Maria sich wider Erwarten unkooperativ gezeigt hatte, zögerte die Organisation keine Sekunde, ihr klarzumachen, dass eine erneute Untersuchung ihres damaligen tödlichen Schusses nur eine Folge wäre, mit der sie bei einer Dummheit ihrerseits rechnen müsse. Weiterhin drohten sie, sowohl ihren Vater als auch ihren Bruder mit deren Leben dafür bezahlen zu lassen, falls sie sich an die Öffentlichkeit oder andere Ermittlungsbehörden wenden würde. Dass sie selbst in diesem Fall auf der Abschussliste stehen würde, bräuchte nicht explizit ausgesprochen zu werden. Schließlich wären sie weit größer, als Maria sich vorstellen könnte, und hätten überall ihre Augen und Ohren.

Entnervt, verängstigt und ohnmächtig hatte sich Maria seither vom Dienst zurückgezogen. Sie ließ sich dienstunfähig schreiben und wurde offiziell wegen eines Burnout-Syndroms behandelt. Durch ihre jahrelange Vorgeschichte bezüglich ihrer Schlafstörungen gelang dies, ohne die behandelnde Psychologin mit den tatsächlichen Ursachen vertraut zu machen.

Die einzig positive Folge des alles verändernden Abends bei der Organisation bestand darin, dass Maria seitdem wieder durchschlafen konnte. Möglicherweise hatte ihr Unterbewusstsein durch die erneute Konfrontation die damalige Todesschuss-Situation verarbeiten können und seinen Frieden damit geschlossen.

Kapitel 1

 

 

Am heutigen Montag stieg sie das erste Mal wieder die Stufen hinauf, die zur Polizeidienststelle und zu ihrem Büro führten. Der Ausdruck gemischte Gefühle beschrieb nicht ausreichend den emotionalen Wirbelsturm, der in ihr tobte. Kaum hatte sie den Fuß über die Schwelle gesetzt, änderte sich das jedoch schlagartig. Die ihr auf dem Korridor entgegenkommenden Kolleginnen und Kollegen empfingen sie freundlich, fast so, als ob sie nie weg gewesen wäre.

»Hey, die verlorengeglaubte Tochter der Dienststelle ist wieder da«, begrüßte sie Peter Goselüschen, erhob sich von seinem Stuhl und kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. Sie ließ etwas widerwillig die Umarmung ihres übergewichtigen Partners zu, der einen halben Kopf kleiner war als sie. Sie rang sich ein kleines Lächeln ab:

»Moin, Gose, ich freue mich auch, dich zu sehen – und mal wieder den Mief des Polizeireviers zu schnuppern.«

»Mensch, wie lange warst du jetzt fort? 8 Wochen?«

»Fast auf den Tag genau drei Monate«, antwortete sie, während sie sich ihrem Schreibtisch näherte und ihn inspizierte.

»Da sieht es noch genau so aus, wie an deinem letzten Tag hier – abgesehen von der Staubschicht.«

Maria ließ sich in ihren Stuhl sinken und warf einen Blick aus dem Fenster. Goselüschen ließ sie erstmal ankommen und vertiefte sich wieder in die Akte, die vor ihm aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag. Sie strich mit den Händen über die glatte Oberfläche ihres Arbeitsplatzes. Alles hier fühlte sich so vertraut an – und doch so fremd.

»Gose«, sagte sie und sah ihn an: »Ich habe dich vermisst.«

»Na, das will ich dir auch geraten haben«, erwiderte er lapidar. Bevor Maria reagieren konnte, schwang die breite Bürotür auf und ihr Chef betrat mit einem Lächeln den Raum.

»Guten Morgen, Maria, schön, dass Sie wieder da sind«, begrüßte er sie. »Kommen Sie doch nachher in mein Büro.«

»Alles klar, Chef«, sagte Maria und Dr. Mühlenhardt verschwand.

»Siehst du, wir alle freuen uns über deine Rückkehr«, sagte Peter Goselüschen mit einem breiten Grinsen in seinem runden, wegen hohen Blutdrucks bedenklich roten Gesicht. Eine Folge des Stresses, wie er nicht müde wurde zu betonen. Maria hingegen sah die Ursache viel eher in seinem Übergewicht und der Fast-Food-Ernährung.

»Ja, danke. Gibt es irgendwas Neues? Ich hab ja nichts mitbekommen in der letzten Zeit.«

»Du wolltest schließlich deine Ruhe. Und weißt du was? Ich hätte mich an deiner Stelle gleich für ein paar Monate ins Ausland abgesetzt und richtig Urlaub gemacht.« Du hast nicht die geringste Ahnung, was du an meiner Stelle gemacht hättest, mein lieber Freund, schoss es ihr durch den Kopf. Oder etwa doch? Ob auch Goselüschen etwas mit dieser Organisation zu tun hätte? Sie mochte es sich gar nicht ausmalen. Sie schluckte und antwortete in einem möglichst neutralen Ton:

»Stimmt. Vielen Dank, dass du meinen Wunsch respektiert hast. Aber jetzt geht es mit Elan ans Werk. Woran arbeiten wir?«

»Im Moment ist es relativ ruhig. Wahrscheinlich haben unsere bösen Jungs gewartet, bis du wieder dabei bist.« Maria lächelte höflich, dieser Scherz ließ jedoch kurz ihren Magen zusammenkrampfen. War ich zu voreilig, jetzt schon in den Dienst zurückzukehren? Sie schüttelte leicht den Kopf. Na ja, ich werde es erfahren.

Maria ließ sich von Goselüschen über die Fälle der letzten Wochen aufklären. In der Tat schien es während ihrer Abwesenheit nicht besonders aufregend gewesen zu sein. Die meisten Untersuchungen waren abgeschlossen oder befanden sich auf dem Weg dahin.

»Gut, dann bring ich mal das Gespräch beim Chef hinter mich«, sagte Maria zu Goselüschen und klopfte kurze Zeit später an der Bürotür von Dr. Mühlenhardt. Sie wartete, wie es in ihrer Dienststelle üblich ist, nicht auf ein Herein, sondern öffnete direkt im Anschluss die Tür.

»Alles klar, darum kümmern wir uns, Herr Kühling. Ich muss Schluss machen.« Hastig legte er den Hörer auf, als sie sein Büro betrat. Er sah sie etwas überrascht an. Maria schaute fragend zurück.

»Sie wollten mich sprechen.« Mühlenhardt erwachte aus seiner kurzen Starre und schlug sich mit der Handfläche vor die Stirn.

»Ach ja, natürlich. Setzen Sie sich, Maria.« Er deutete auf den bequemen Sessel in der Sitzecke und nahm auf dem Polsterstuhl ihr gegenüber Platz. »Also, wie geht es Ihnen?« Maria atmete tief durch, bevor sie erwiderte:

»Danke, es geht langsam wieder. Zu Hause fiel mir die Decke auf den Kopf. Rumsitzen ist einfach nichts für mich.«

»Das freut mich zu hören. Wir haben Sie auch schon etwas vermisst. Es fehlte jemand, der Herrn Goselüschen daran hindert, sich beim gemeinsamen Frühstück sämtliche Mettbrötchen einzuverleiben.« Mühlenhardt lachte auf und auch Maria konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Na, dann weiß ich ja, worin hier meine Kompetenz gesehen wird«, erwiderte sie mit gespielter Ironie.

»Genau«, antwortete er immer noch lachend. »Deswegen brauchen wir Sie, Maria, damit jemand auf Peter aufpasst. Aber im Ernst: Übertreiben Sie es nicht gleich. Und falls irgendetwas ist, mit dem Sie momentan nicht klarkommen, zögern Sie nicht, zu mir zu kommen.« Maria nickte und kehrte etwas verwirrt in ihr eigenes Büro zurück. Hatte sie schon Paranoia? Was hatte Dr. Mühlenhardt gerade mit dem Kühling zu tun? Als dessen Name vorhin gefallen war, hatte sich heute bereits zum zweiten Mal Marias Magen zusammengezogen. Dieser Mann war es, der ihr bei ihrem Todesschuss damals mit größtem Einsatz und Zureden den Erhalt ihrer Marke gesichert und sie dadurch vor einer Gefängnisstrafe bewahrt hatte. Aber es war auch dieser Mann – Herrmann Kühling, Abteilungsleiter der Dienstaufsichtsbehörde – der zum Kopf der Organisation gehörte, die sie und ihre Familie mit dem Tod bedrohte, sollte sie in irgendeiner Form gegen sie vorgehen. Maria zwang sich, nicht weiter daran zu denken. Wie gerufen nahm Goselüschen sie an der Tür in Empfang und forderte sie auf, ihm zu folgen.

»Wir haben zu tun. Komm, ich erklär es dir unterwegs.« Maria überlegte kurz, ob sie ihre Jacke mitnehmen sollte, entschied sich aber dagegen. Obwohl es morgens frisch war, wurde es dieser Tage für Anfang September mittags noch recht warm. Sie folgte ihrem etwa zehn Jahre älteren Kollegen auf den Parkplatz.

»Wow, wir haben einen Neuen?«, sagte sie anerkennend, als auf das Signal der Fernbedienung, die Goselüschen gerade ausgelöst hatte, nicht die Leuchten an ihrem alten, grünen Audi aufblinkten, sondern ein strahlend roter VW Passat reagierte.

»Ich dachte, der passt besser zu deinen Schuhen.« Maria blieb stehen und blickte auf ihre Füße, die heute in knallroten Pumps steckten.

»Du bist ein Schatz, Gose.«

»Das wissen wir doch nicht erst seit heute, oder? Fang!« Er warf ihr die Autoschlüssel zu, die sie spielerisch einhändig fing. Zu Beginn ihrer beruflichen Partnerschaft vor drei Jahren hatte es sich Goselüschen angewöhnt, die Beifahrerposition einzunehmen. Und er sah überhaupt keinen Anlass, das zu ändern. Zumal er so viel besser an ihrem Fahrstil mäkeln konnte.

Kapitel 2

 

 

Maria steuerte den Wagen aus Cloppenburg heraus und bog rechts auf die Cappelner Straße Richtung Süden. Ihr Ziel war das Franziskushospital in Lohne.

»Nun klär mich schon auf.« Sie trommelte mit den Fingern ihrer linken Hand auf dem Lenkrad.

»Es geht um Johanna Wallmann.«

»Und weiter?« Maria sah ihn fragend an.

»Sie ist letzte Woche Donnerstag als vermisst gemeldet worden. Laut Aussage der Eltern kam sie von einem abendlichen Besuch bei ihrer Freundin nicht nach Hause. Ihre Freundin, Sarah Bergmann, und deren Eltern bestätigten, dass sie gegen 20 Uhr die Wohnung verlassen hatte. Es sind lediglich zwanzig Minuten zu Fuß bis zu ihrem Elternhaus.« Er knackte mit den Fingerknöcheln. »Heute Morgen ist sie mit mehreren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Laut Auskunft der Kollegen aus Vechta soll sie übel zugerichtet worden sein.« Maria schluckte, während sie den Ausführungen Goselüschens folgte. »Das Mädchen ist 15 Jahre alt. Sie wurde gegen fünf Uhr ein paar Kilometer westlich von Lohne von einer vorbeifahrenden Frau gesehen und angesprochen. Bevor sie antworten konnte, ist sie zusammengebrochen. Die Frau hat sofort den Notarzt gerufen.«

Obwohl von der Polizei am Wochenende in der Münsterländer Zeitung, der Oldenburger Volkszeitung und im Internet Vermisstenanzeigen geschaltet worden waren, hatte Maria aufgrund ihrer Abschottung davon nichts mitbekommen. Leben wir mittlerweile in einer so kranken Zeit?, fragte sie sich. Sowas passiert selbst hier, im konservativen Oldenburger-Münsterland, in dem – so dachte sie lange Zeit – die Welt noch einigermaßen in Ordnung war? Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Du musst den Scheiß aus deinem Kopf bekommen, mahnte sie sich, sonst wirst du verrückt!

»Ist sie ansprechbar?«, fragte sie schließlich.

»Laut Aussage der Ärzte schon. Finden wir es heraus.«

»Warum sind wir dafür zuständig? Hört sich für mich so an, als ob sie abgehauen und irgendwo im Wald gestürzt wäre. Oder gibt es Anhaltspunkte wie eine Lösegeldforderung?« Goselüschen verneinte und fügte dann hinzu:

»Nein, wir haben weder eine Lösegeldforderung noch ein Erpresserschreiben erhalten, aber was die Ärzte gefunden haben, reicht vollkommen aus: Das Mädchen weist an Hand- und Fußgelenken deutliche Spuren einer Fixation auf und offensichtlich wurde sie missbraucht. Näheres erfahren wir vor Ort.« Maria hielt kurz den Atem an und schaute grimmig auf die Straße.

»Dann wollen wir mal sehen, was das arme Ding zu sagen hat.«

 

***

 

Vor der Tür des Einzelzimmers saß ein uniformierter Polizist der Vechtaer Dienststelle und blätterte in einem Motorradmagazin. Er erhob sich, als Goselüschen und Maria näherkamen.

»Moin, ist sie allein?«, fragte Maria den jungen Kollegen.

»Moin. Nein, Frau Fortmann, die Mutter ist seit ungefähr einer halben Stunde drin, der Vater kam vor etwa zehn Minuten.«

»Danke. Könnten Sie bitte die Stationsschwester fragen, ob wir ein Zimmer bekommen können, um uns in Ruhe mit den Eltern zu unterhalten?«

»Natürlich, ich kümmere mich darum«, sagte der junge Mann und setzte sich in Bewegung.

»Bereit?«, fragte Goselüschen, klopfte auf Marias Nicken hin an und öffnete die weiße Tür.

Der Anblick des Mädchens ließ Maria einen Schauer über den Rücken laufen. Ein Auge war zugeschwollen, Blutergüsse überzogen das halbe Gesicht und ihre Unterlippe zierte mittig eine Platzwunde. Ihr schlanker, rechter Arm, der auf dem weißen Bettlaken ruhte, wies am Handgelenk typische Schürfwunden auf. Aus dem Handrücken ragte die Infusionskanüle.

Die Mutter hielt, neben dem Bett sitzend, die linke Hand ihrer Tochter und streichelte sie. Ihr aufgedunsenes Gesicht war gezeichnet von den Sorgen der letzten Tage. Am Fußende des Bettes stand reglos der Vater des Mädchens. Er wirkte gepflegt, war frisch rasiert und trug einen Anzug. Einzig die sandigen Schuhe störten das Bild eines Versicherungsvertreters. Was er beruflich machte, wusste Maria aus der vorliegenden Akte. Die Eltern wirken nicht gerade frisch verliebt und harmonisch, schoss es Maria durch den Kopf.

»Guten Tag«, sagte sie leise. »Ich bin Maria Fortmann und das ist mein Kollege, Oberkommissar Peter Goselüschen. Wir sind von der Kripo Cloppenburg.« Die Mutter reagierte kaum, der Vater gab den beiden die Hand.

»Thorsten Wallmann. Das ist meine Frau, Bettina Wallmann.«

»Wir würden Sie gerne draußen sprechen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Maria. Thorsten Wallmann ging ums Bett herum zu seiner Frau und berührte sie am Ellbogen. Sie zog ihn zurück und warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. Dann streichelte sie ihrer Tochter sanft über die Wange, stand auf und folgte ihrem Mann und Goselüschen auf den Flur. Der uniformierte Kollege führte die drei ein paar Meter weiter und deutete auf die Tür eines anderen Krankenzimmers.

»Danke dir«, sagte Goselüschen. »Ich würde gerne mit Ihnen zuerst sprechen, Frau Wallmann.« Sie ging wortlos an ihm vorbei ins Zimmer.

»Warum allein? Was soll das denn?«, fragte Thorsten Wallmann mit ärgerlicher Stimme.

»Mit Ihnen spreche ich danach, warten Sie bitte solange hier.« Er ließ den verdutzten Vater stehen und verschwand im Zimmer, in dem Bettina Wallmann auf einem Stuhl am Fenster saß und traurig hinausschaute.

 

***

 

Maria trat zu Johanna ans Bett und drückte kurz ihre Hand. Das Mädchen sah die Kommissarin mit einem Auge an. Sie wirkte teilnahmslos – sicher hatten sie ihr Beruhigungsmittel gegeben, dachte Maria.

»Ich möchte mit deinem Arzt sprechen. Es dauert nicht lange, dann komm ich zurück und wir reden. Ist das okay?« Es dauerte gefühlt Minuten, bis das Mädchen ein kaum wahrnehmbares Nicken erwiderte.

Der behandelnde Arzt bestätigte, dass sich jemand mehrfach sexuell an dem Mädchen vergangen hatte, was die Verletzungen im Intimbereich deutlich belegen würden. Abstriche wären bereits auf dem Weg zur Rechtsmedizin nach Oldenburg, von wo sie gegebenenfalls zur weiteren Analyse ins Labor nach Hannover geschickt würden.

»Sie hat außer ihrem Namen bisher kein Wort gesprochen«, meinte der Arzt. »Aber sie ist auch noch sehr schwach und braucht Ruhe. Versuchen Sie also bitte, möglichst schonend mit ihr umzugehen.«

»Das ist selbstverständlich. Unsere Psychologin ist ebenfalls informiert, die wird bald hier sein«, antwortete Maria.

Sie bemerkte, wie der Vater des Mädchens nervös auf dem Flur hin- und hermarschierte, bevor sie kurz ins Zimmer zu Goselüschen schaute, um ihm mit einem Handzeichen die Vergewaltigung Johannas zu bestätigen. Daraufhin kehrte sie zu dem Mädchen zurück.

 

***

 

Bettina Wallmann starrte weiter aus dem Fenster des Zimmers im ersten Stock auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus. Goselüschen zog einen Stuhl vom Tisch und setzte sich. Nachdem Maria reingeschaut hatte, begann er das Gespräch.

»Hat Ihre Tochter etwas zu Ihnen gesagt?« Es dauerte, bis sie reagierte.

»Nein. Nicht ein einziges Wort.«

»Wissen Sie bereits, was mit ihr passiert ist?«

»Nein, der Arzt sagte nur, dass sie Ruhe braucht und wir nicht zu lange bei ihr bleiben sollen.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Haben Sie eine Ahnung, wo Johanna gewesen ist?« Sie schüttelte den Kopf. »Frau Wallmann, Sie müssen jetzt tapfer sein«, begann er langsam, »Ihre Tochter wurde missbraucht.« Bettina Wallmanns Augen füllten sich erneut mit Tränenflüssigkeit, sie hielt sich die Hände vor das Gesicht und schluchzte. Aus ihrer Handtasche griff sie ein Taschentuch. Sie wischte es sich durch ihr aufgeschwemmtes Gesicht und fragte mit zitternder Stimme:

»Wer tut nur sowas?«

»Haben Sie irgendeine Vermutung? Fällt Ihnen jemand ein, dem Sie das zutrauen?«

»Was? Nein, natürlich nicht!« Goselüschen machte ein paar Notizen.

»Okay, danke, Frau Wallmann. Unsere Psychologin wird gleich hier erscheinen. Sie wird sich mit Ihrer Tochter unterhalten. Falls Sie ebenfalls mit ihr reden möchten, zögern Sie nicht, sie anzusprechen.« Er schaute ihr in die Augen. »Wenn Sie mir jetzt bitte Ihren Mann hereinschicken würden.« Nach einem letzten Blick aus dem Fenster stand sie auf und schritt aus dem Zimmer.

 

***

 

Maria hatte sich auf denselben Platz gesetzt, auf dem vor einigen Minuten die Mutter des Mädchens saß. Johanna reagierte kaum, blickte starr an die Decke.

»Kannst du mich verstehen?«, fragte sie mit ruhiger, einfühlsamer Stimme. Das Mädchen nickte schwach. »Der Arzt hat mir erzählt, was man mit dir gemacht hat. Sagst du mir, wer dir das angetan hat?« Die einzige Reaktion des Mädchens war, dass Tränen aus ihrem nicht geschwollenen Auge rannen. »Weißt du, wer das war?« Kaum zu erkennen, schüttelte sie den Kopf. Dann schloss sie das Auge und schien einzuschlafen.

Maria wartete kurz. Als sie sicher war, dass Johanna tatsächlich schlief, verließ sie leise das Zimmer, vor dem bereits ihre Mutter wartete.

»Und?«, fragte diese mit gebrochener Stimme.

»Nichts, sie schläft jetzt. Unsere Kollegin wird gleich hier sein. Solange können Sie ruhig zu ihr hineingehen.« Maria, die Bettina Wallmann mit ihren 1,78 m um einen Kopf überragte, nahm die offensichtlich verstörte Frau kurz in den Arm und schob sie dann in Richtung ihrer Tochter.

 

***

 

Mit schnellen Schritten kam Thorsten Wallmann ins Zimmer.

»Was soll das alles hier? Sagen Sie mir mal, was los ist mit meiner Tochter?«

»Beruhigen Sie sich erstmal und setzen Sie sich da hin«, erwiderte Goselüschen entspannt und deutete auf den freien Stuhl am Fenster. Die Holzbeine erzeugten ein markerschütterndes Geräusch, als Wallmann den Stuhl mit einer rüden Bewegung vom Tisch wegzog und sich darauf fallen ließ.

»Besser?«, fragte er schnippisch.

»Viel besser. Also, Herr Wallmann, Ihre Tochter ist sexuell missbraucht worden«, fiel er mit der Tür ins Haus. Augenblicklich verschwand die Aggression aus Wallmanns Gesicht und wich Fassungslosigkeit.

»Wie bitte?« Er schüttelte energisch den Kopf. »Das kann nicht sein! Welches Schwein war das?«, platzte es aus ihm heraus. Goselüschen konnte sich durchaus vorstellen, was gerade in seinem Gegenüber vorgehen mochte, blieb aber trotzdem ruhig.

»Um das herauszufinden, sind meine Kollegin und ich hier. Können Sie mir irgendetwas sagen, was uns da weiterhelfen könnte?«

»Ist das Ihr Ernst? Wie soll ich denn dabei helfen? Sie meinen doch nicht, ich hätte was damit zu tun!« Das Gesicht Wallmanns hatte eine tiefrote Farbe angenommen, die sogar Goselüschen blassrosa erscheinen ließ.

»Hören Sie, wir wissen im Moment gar nichts und solange Ihre Tochter uns nichts dazu sagt, müssen wir natürlich in alle Richtungen ermitteln. Das sollten Sie nicht persönlich nehmen. Es geht schließlich um Ihre Tochter – und nicht um Ihr Ego.« Das schien gereicht zu haben, denn Thorsten Wallmann beruhigte sich langsam.

»Tut mir leid. Sie müssen verstehen –«

»Natürlich verstehe ich, dass Sie aufgebracht sind. Das wäre ich auch«, unterbrach ihn Goselüschen. »Nur hilft das gerade niemandem. Also, was können Sie mir sagen?« Thorsten Wallmann beäugte die Handflächen, die auf seinem Schoß lagen. Nach einer Weile begann er:

»Ich dachte, Johanna wäre durchgebrannt. Wissen Sie, es steht nicht besonders gut um meine Ehe. Wir streiten uns seit Ewigkeiten wegen jeder Kleinigkeit. Deswegen haben wir uns vor einem Vierteljahr räumlich getrennt. Zum Nachdenken, Sie verstehen? Ich hab `ne kleine Wohnung.« Ich auch, sinnierte Goselüschen und dachte wehmütig an seine Ex-Frau, die sich wegen eines Seitensprungs vor einigen Jahren von ihm getrennt hatte. Zum Glück hat Gose den Kontakt aber nie abbrechen lassen und seit wenigen Monaten näherten sie sich wieder an.

Er musste sich zwingen, seine Konzentration weiter auf Wallmann zu richten. »Johanna leidet sehr darunter. Ein paar Mal hat sie bereits damit gedroht, dass sie abhauen würde, falls wir unsere Probleme nicht in den Griff bekämen. Meine Frau dachte gleich an das Schlimmste – und leider hatte sie damit wohl recht.« Er vergrub das Gesicht in seinen manikürten Händen. Das Gleiche hatte er kurz nach dem Verschwinden des Mädchens bei den Kollegen in Vechta zu Protokoll gegeben, mit der Folge, dass keine Suchaktion gestartet worden war, sondern lediglich eine Vermisstenanzeige aufgenommen wurde. Eine schwere Fehleinschätzung, wie sich jetzt herausstellte.

»Nun, Gott sei Dank lebt sie noch«, versuchte Goselüschen erfolglos, ihn zu trösten.

»Nein!«, sagte er plötzlich, »Ich kann Ihnen nicht helfen. Aber wenn ich das Schwein in die Finger bekomme –«

»Lassen Sie uns unsere Arbeit machen, dann werden wir das schnell aufklären«, unterbrach ihn Goselüschen. Er bot auch dem Vater an, dass er sich bei Bedarf später mit der Psychologin unterhalten könnte. Die vehemente Ablehnung dieses Vorschlages durch Thorsten Wallmann überraschte Goselüschen nicht.

 

***

 

Während das Ehepaar Wallmann mehrere Meter voneinander getrennt auf dem Flur wartete, bis die eben erschienene Psychologin ihr Gespräch mit Johanna beendet haben würde, informierten sich Goselüschen und Maria in ihrem temporären Besprechungszimmer gegenseitig über die gewonnen Erkenntnisse.

»Was meinst du?«, fragte Maria.

»Die Ehe der beiden ist wohl im Arsch. Und jetzt macht natürlich die Frau ihrem Mann noch die Hölle heiß, weil er den Ernst der Lage nicht erkannt hat«, resümierte Goselüschen.

»Ich kann sie zum Teil verstehen. Andererseits hauen ständig irgendwelche Kids für ein paar Tage ab und spätestens, wenn der Hunger zu groß wird, schlagen sie kleinlaut wieder zu Hause auf.«

»Jop. Und wir können auch nicht jedes Mal eine Großfahndung mit Hundestaffel und Helikoptern anleiern, wenn das passiert. Erst recht nicht mit unserer dünnen Personaldecke. Ihre Freundin sagte letzte Woche ja auch, dass Johanna öfter davon gesprochen hätte, sich vom Acker zu machen.«

»Nun, bevor das Mädchen uns nichts erzählt, ist das eh alles nur Theorie. Hoffen wir, Claudia bekommt etwas heraus.«

»Normalerweise versteht sie ihren Job, das soll wohl klappen«, nährte er Marias Hoffnung, dass die Psychologin Claudia Schmidt Erfolg haben würde. »Lass uns einen Kaffee trinken gehen.« Schulterzuckend folgte sie ihrem Kollegen, der sich in Richtung des Fahrstuhls aufgemacht hatte. Ihn darauf aufmerksam zu machen, doch lieber die Treppe zu benutzen – allein seiner untrainierten körperlichen Verfassung wegen – sparte sie sich. Zwar hatte sich in den Jahren ihrer beruflichen Partnerschaft eine Vertrautheit aufgebaut, aber die Erlebnisse der jüngeren Vergangenheit nagten zu sehr an ihr. Tief in ihrem Inneren konnte sich Maria nicht vorstellen, dass Goselüschen korrupt sein könnte und mit der Organisation im Bunde wäre – aber Restzweifel klebten weiterhin an ihr wie Harz an einer frischen Baumwunde.

Gerade hatte Maria ihren Platz am Fenster eingenommen – sie wählte grundsätzlich einen Fensterplatz, es musste eine Polizistenangewohnheit sein, dachte sie immer wieder, alles im Blick haben zu wollen – da fiel ihr der Vater des Mädchens auf dem Gehweg vor dem Café auf, der wild gestikulierend und mit verzerrter Mimik auf sein Smartphone einredete.

»Schau mal«, sagte sie mit dem Kopf nach draußen deutend zu Goselüschen, der sich mit zwei dampfenden Kaffeetassen in den Händen dem Tisch genähert hatte und sich gerade niederließ. Er folgte Marias Blick und sah den telefonierenden Vater des Mädchens. Dieser versuchte, sich gleichzeitig eine Lucky Strike aus der Schachtel zu angeln und sie anzuzünden, ohne, dass ihm das Telefon herunterfiel, welches er nun zwischen der linken Schulter und seinem Kinn eingeklemmt hatte.

»Hm, sollte der jetzt nicht bei seiner Tochter sein?«

»Das sowieso«, antwortete Maria. »Er scheint noch andere Probleme zu haben, wie es aussieht.« Goselüschen grunzte kurz und biss in sein Mettbrötchen, welches seiner Bestellung völlig unerwartet beigelegt wurde, schwor er grinsend mit gekreuzten Fingern.

Die Befragung des Mädchens dauerte über eine Stunde.

»Hey Claudia, was hast du für uns?«, fragte Maria die kleine, rundliche Psychologin, die mit kurzen Schritten auf ihren Tisch zukam.

»Tut mir leid, aber ich bin noch nicht richtig an sie herangekommen. Sie hat fast nichts gesagt«, erklärte die rothaarige Claudia Schmidt.

»Dann nehmen wir erstmal das Fast«, sagte Goselüschen. Claudia Schmidt atmete tief durch, bevor sie antwortete.

»Nun, meiner ersten Einschätzung nach hat sie noch immer fürchterliche Angst. Obwohl sie unter Beruhigungsmitteln steht, wich sie meinem Blick ständig aus und reagierte sehr nervös.« Maria schaute die Therapeutin ernst an.

»Bei dem, was dem Mädchen widerfahren ist, überrascht mich das nicht.« Claudia Schmidt nickte heftig.

»Ja, ganz genau. Das ist völlig normal. Ich werde später nochmal zu ihr gehen. Hab bereits in meiner Praxis Bescheid gesagt, dass sie meine letzten Termine heute abbestellen sollen.«

»Okay, dann ruf uns an, sobald du irgendetwas weißt, ja? Das Schwein, das sie verschleppt hat, muss ja nicht länger frei herumlaufen als nötig.« Wieder nickte Claudia.

»Natürlich. Ich melde mich sofort.« Goselüschen und Maria verabschiedeten sich von ihr und gingen zum Wagen.

»Hoffentlich bringt sie die Kleine bald zum Reden«, sagte Maria, während sie die Fahrertür öffnete.

»Wir finden den Kerl schon, Maria. Der wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen.« Da war es wieder! Gerechte Strafe. Klar, dachte Maria, wenn wir ihn nicht finden, macht ihr mit eurer Organisation kurzen Prozess mit ihm. Ihr schwirrte der Kopf. Diese Paranoia machte sie fertig.

»Ja, das werden wir«, zwang sie sich zu sagen. Zum Glück war Goselüschen während der Fahrt zur Dienststelle nicht nach Smalltalk zu Mute. Als sie ankamen und er ausgestiegen war, blickte er fragend in den Wagen, dessen Motor immer noch lief.

»Was ist los?«

»Nichts«, log Maria und schüttelte den Kopf. »Mir ist eingefallen, dass ich noch etwas zu erledigen habe. Ich bin in zwei Stunden wieder hier. Du kannst mich auf dem Handy erreichen.« Goselüschen kratzte sich am Kopf, warf die Tür ins Schloss und watschelte in Richtung Eingang.

Kapitel 3

 

 

Der große, schlanke, glatzköpfige Mann um die 60 hob überrascht den Kopf, als Marias roter VW auf die Einfahrt des Resthofes rollte. Bis vor wenigen Jahren hatte er ihn noch allein betrieben, dann zwangen ihn seine körperliche Verfassung und seine Lust auf das Reisen zur Aufgabe des Hofbetriebes.

»Hallo, mein Schatz, schön, dass du dich mal wieder sehen lässt.« Er ging mit ausgebreiteten Armen auf Maria zu, die gerade aus dem Auto gestiegen war. Sie kam ihm entgegen und ließ sich kräftig von ihm drücken.

»Tut mir leid, Papa. Aber mir ging es nicht so gut.« Er fasste sie an den Schultern und hielt sie eine Armlänge auf Abstand, um sie genauer betrachten zu können.

»So, wie du aussiehst, geht es dir immer noch nicht besonders gut. Was ist denn los?«, fragte er. Da Maria nur mit einem tiefen Seufzer reagierte, ließ er die Frage offen im Raum stehen. »Ach komm, lass uns einen Kaffee trinken.« Er drehte sich um und zog kurz an ihrem Ellbogen.

Fast drei Monate war es her, dass sie ihren Vater besucht hatte. In ihrer ersten Krankheitswoche war sie das letzte Mal hier in ihrem Elternhaus, das ein paar Kilometer vor Visbek lag und sich seit mehreren Generationen im Besitz ihrer Familie befand. Genau wie ihren Kollegen hatte sie damals auch ihren Vater und ihren Bruder gebeten, sie eine Zeit lang nicht anzurufen oder gar zu besuchen. Natürlich hatte ihr Vater gemerkt, dass etwas mit seiner Tochter nicht stimmte, als sie ihm seinerzeit kurz und knapp mitteilte, dass sie sich von dem sympathischen Staatsanwalt getrennt hatte und wegen ihrer Schlafstörungen bis auf Weiteres arbeitsunfähig geschrieben war. Keine Sekunde hatte er geglaubt, dass es ausschließlich darum ging, dafür kannte er seine Tochter gut genug. Aber er kannte sie ebenfalls gut genug, um zu wissen, dass es aussichtslos war, etwas aus ihr herauszubekommen, was sie nicht erzählen wollte. Ganz wie ihre verstorbene Mutter, Gott hab sie selig, die musste auch immer mit dem Dickkopf durch die Wand, dachte er damals schmunzelnd und nicht zum ersten Mal.

Maria betrat die große Diele und sofort überkam sie das heimelige Gefühl, das man nur kennt, wenn man nach Hause kommt. Sie strich sanft mit dem Zeigefinger über den auf Hochglanz polierten, dunkelbraunen Westernreitsattel, der zur Dekoration auf einem Holzbock drapiert war. Sie selbst konnte mit Pferden und dem Reiten nicht viel anfangen, ihre große Leidenschaft war von Kindheit an die Leichtathletik. Der Rest ihrer Familie hingegen sah das Glück der Erde auf dem Rücken der Pferde. Sie folgte den raumgreifenden Schritten ihres Vaters und ließ sich auf das Polster der massiven Eichenrundecke im Essbereich fallen. Mein Platz, dachte sie, das ist mein Platz. Sie beobachtete ihren Vater, wie er die Kaffeemaschine mit Pulver und Wasser befüllte. Nachdem sie unter Blubbern und Zischen ihre Arbeit aufgenommen hatte, holte Marias Vater zwei große Tassen aus der Anrichte, gab einen Schuss Milch hinein und brachte sie mit einem Handmixer zum Aufschäumen. Anschließend füllte er die Tassen mit dem schwarzen Getränk und streute eine Prise dunklen Kakao auf den Milchschaum.

Maria nahm ihm lächelnd eine Tasse ab. Er setzte sich zu ihr, trank einen Schluck und sah sie an.

»Also, was ist los? Und keine Ausflüchte!« Maria seufzte.

»Ach, Papa, das ist alles eine riesengroße Scheiße.« Ihr Vater hörte aufmerksam zu und vermied es, sie zu unterbrechen, auch wenn es ihm zwischendurch schwerfiel. Maria offenbarte sich das erste Mal jemandem, seitdem sie auf der als Cocktailparty getarnten, heimlichen Sitzung der Selbstjustiz-Organisation zufällig hinter deren Machenschaften gekommen war. Nur, weil sie zu neugierig gewesen war und in dem Anwesen ihres damaligen Gastgebers, dem pensionierten Richter Hansen, die Zimmer eines abgelegenen Flügels inspiziert hatte. »Die Damen auf dem Ball gingen mir auf die Nerven, daher bin ich etwas herumgestreunt«, erklärte sie mit einem unsicheren Lachen. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Sie erzählte, wie sie gut gelaunt durch den Gang geschlichen war und einige Zimmer beäugt hatte, die sie an die alten Sissi-Filme mit Romy Schneider in der Hauptrolle erinnerten. Den ganzen Abend über hatte sie sich wie eine Prinzessin gefühlt mit einem Prinzen an ihrer Seite – ihrem unheimlich attraktiven, neuen Freund, Staatsanwalt Kurt Stohmann. Dafür hielt sie ihn zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als sie Stimmen hinter einer verschlossenen Tür gehört hatte, gerade als sie wieder zu den Damen der Party zurückkehren wollte. Neugierig hatte sie ihr Ohr gegen die Massivholztür gedrückt und war sehr überrascht, als ihr Name fiel. Ohne weiter zu überlegen, war sie in die Besprechung hineingeplatzt und was sie dort sah und erfuhr, hatte ihr das Blut in den Adern gefrieren lassen. Auf einem Monitor konnte sie das Foto eines Opfers aus einem abgeschlossenen Fall erkennen. Die Mitglieder dieser Besprechung waren neben ihrem Freund Kurt und seinem Neffen Michael Höhne, der als ihr Kollege mit ihr gemeinsam in diesem Fall ermittelt hatte, einige Richter, Staatsanwälte und Polizisten.

Marias Vater stand der Mund offen bei diesen erschütternden Informationen, die seine Tochter ihm offenbarte. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und ermunterte sie, weiterzureden. Das tat sie.

»Diese feinen Herren stecken alle unter einer Decke und waren über jeden unserer Ermittlungsschritte informiert. Wahrscheinlich durch Michael – aber möglicherweise sind noch andere aus dem Team darin verwickelt. Mein Chef zum Beispiel, der benimmt sich auch sehr merkwürdig. Er hatte damals gedrängt, die Akte schnell zu schließen, nachdem wir den vermeintlichen Serienkiller überführt hatten.« Sie lachte kurz spöttisch auf. »Überführt ist gut – Michael hat ihn kaltblütig abgeknallt!« Marias Vater traute seinen Ohren nicht.

»Aber in der Oldenburger Volkszeitung stand doch, dass der Schuss deines Kollegen Notwehr war und dass es eindeutig der Täter gewesen ist?«

»Ja, so wurde es offiziell verkündet. Die DNA passte ja auch. Goselüschen hatte bezeugt, dass es sich um Notwehr handelte, aber ich bin mir nicht sicher, ob das der Wahrheit entspricht.«

»Heißt das, du vertraust deinem Partner nicht?« Er zog die Augenbrauen hoch.

»Ach, Papa, ich habe keine Ahnung, wem ich überhaupt noch trauen kann außer dir.« Tränen rannen über ihre Wangen. Ihr Vater schob sich mit seinem Stuhl zu ihr und nahm sie in den Arm.

»Okay, erzähl weiter.« Und Maria berichtete weiter. Davon, dass ihr Kurt Stohmann auf der Heimfahrt alles gestanden hatte, beispielsweise wie die Organisation die Dinge selbst in die Hand nahm. Mit den Taten wurde ein inhaftierter Mörder beauftragt, der während seiner regelmäßigen Hafturlaube die perfiden Pläne der Organisation ausführte. Ein Privatermittler bereitete alles für ihn vor, recherchierte Aufenthalt und Gewohnheiten der zukünftigen Opfer, sodass der Killer nur noch zuschlagen musste.

»Oh mein Gott, dann muss ja von diesem Gefängnis auch jemand mit drinstecken.«

»Ja, da kannst du dir sicher sein. Und nicht nur da, ich habe keine Ahnung – absolut keine Ahnung – wer noch alles mit denen unter einer Decke steckt.«

»Ach, Schatz.« Er strich ihr liebevoll über die Wange. Sie erzählte weiter, dass Kurt ihr jedes Detail gesagt und dabei noch stolz geklungen hatte. Damals war sie fassungslos, heute überwog die Traurigkeit beim Gedanken an den Mann, mit dem sie sich den Rest ihres Lebens hätte vorstellen können.

Maria führte weiter aus, dass die Organisation sie für sich hatte gewinnen wollen. Deshalb wurden ihr im damaligen Fall Beweise und Indizien persönlich zugespielt, die auf den vermeintlichen Killer schließen ließen. Bei diesem handelte es sich jedoch nur um ein Bauernopfer, wie Kurt ihr später erklärt hatte.

Marias Vater schlug das Herz bis zum Hals. Er hatte mit vielem gerechnet, weswegen es seiner Tochter schlecht gehen könnte, aber an so etwas hätte er im Traum nicht gedacht. Sie schien mit ihrer Erzählung am Ende zu sein. Und als er glaubte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, sagte sie:

»Und falls ich irgendetwas gegen sie unternehme, werden sie euch, meine Familie, töten.«

Sie saßen minutenlang schweigend zusammen, bis ihr Vater fragte:

»Was wirst du unternehmen?« Maria sah ihn mit Tränen in den Augen an.

»Ich weiß es nicht, Papa.«

»Soll ich es deinem Bruder sagen?« Maria schüttelte den Kopf.

»Nein, das würde ihn nur belasten. Ich habe sowieso nicht vor, etwas zu tun, was diese Arschlöcher stören würde, und solange seid ihr sicher.« Marias Vater streckte seinen Rücken durch, stand auf und wanderte in der Küche umher.

»Und du glaubst wirklich, dass dein Chef oder Gose darin verwickelt sein könnten?«

»Ich weiß es doch auch nicht. Bei Gose kann ich es mir absolut nicht vorstellen. Aber das konnte ich bei Kurt oder Michael auch nicht.« Maria sackte in sich zusammen. »Ich werde einfach versuchen, meinen Job zu erledigen. Und wenn ich das nicht hinbekomme, muss ich mir halt etwas anderes suchen.« Ihr Vater blieb vor ihr stehen und blickte zu ihr hinunter.

»Wem machst du gerade etwas vor? Du wolltest nie etwas anderes als ein Cop werden. Und dass du deinen Job nur mit halber Kraft machst, brauchst du mir nicht zu erzählen.«

»Ach, Papa, ich muss da jetzt durch. Die Zeit wird es wohl richten.« Sie warf einen Blick auf ihre knallrote Swatch-Uhr. »Ich muss los, wir haben einen dringenden Fall auf dem Schreibtisch.« Sie umarmte ihn und ging zum Wagen. Ihr Vater blieb im Türrahmen stehen und sah seiner davonfahrenden Tochter wehmütig hinterher.

»Das arme Kind.«

 

***

 

Dem unauffälligen, schwarzen Kleinwagen, der in der Nähe des Resthofes ihres Vaters im Schutze einer majestätischen Eiche parkte, schenkte Maria keine Aufmerksamkeit. Sie bog etwa fünfzig Meter, bevor sie ihn passiert hätte, in die Straße ein, aus der sie vorhin gekommen war. So entging ihr auch, dass der Fahrer des Wagens ein paar Tasten des Laptops, der auf dem Beifahrersitz stand, bediente, daraufhin zu seinem Smartphone griff und die Schnellwahltaste 1 drückte.

»Was gibt es?«, kam kurz darauf schneidend aus dem Lautsprecher.

»Sie verlässt gerade ihre Homebase. Hat ausgepackt.«

»Hm, gut. Müssen wir eingreifen?«

»Ich glaube nicht. Sie hat nicht vor, etwas zu unternehmen und ihr Gesprächspartner hat sie auch nicht gerade zum Handeln aufgefordert. Meiner Vermutung nach musste sie einfach mal mit jemandem reden. Ich schicke Ihnen gleich das Gespräch als verschlüsselte Datei – dann können Sie sich ein eigenes Bild machen.«

»Gut. Weitermachen wie gehabt«, kam befehlsartig, dann folgte ein Klicken – aufgelegt. Der Anrufer, ein mittelgroßer, leicht übergewichtiger Mann um die 50 mit einem Allerweltsgesicht, formatierte die Gesprächsdatei und verschob sie in den Postausgang. Sie würde automatisch an seinen Auftraggeber versendet, sobald der Laptop ein WLAN-Signal bekäme.

»Weitermachen wie gehabt«, wiederholte der Mann, der sich selbst Igor nannte. Den Decknamen trug er seit der Zeit des Kalten Krieges, der mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der 90er beendet war. »So soll es sein.« Mit Wehmut dachte er an seine Dienstzeit als Offizier beim Bundesnachrichtendienst zurück. Damals hatte er noch die wirklich schlimmen Kerle im In- und Ausland überwacht. Seit seinem eher unrühmlichen Ausscheiden aus dem Dienst verbrachte er den Großteil der Zeit damit, von der Organisation als Problemfälle eingestufte Personen zu überwachen und sie mit Abhöranlagen auszustatten. Meist waren es einfache, eher langweilige Aufträge. Die Zielpersonen waren ahnungslos und absolut nicht mit den Spielregeln – seinen Spielregeln – vertraut. Insgeheim hatte er die Hoffnung, dass irgendwann ein Auftrag käme, der ihn etwas herausfordern würde. Aber bei seiner aktuellen Aufgabe würde nichts Spannendes mehr passieren. Diese Kommissarin schien gebrochen zu sein und seiner Einschätzung nach war es nur eine Frage der Zeit, bis sie entweder den Dienst quittieren oder sich das Leben nehmen würde. Igor klappte den Laptop zusammen, verstaute ihn auf dem Rücksitz und startete den Wagen.

 

***

 

Das hättest du viel eher tun sollen, dachte Maria. Sie konnte deutlich die Erleichterung spüren. Es war, als wäre ein Felsbrocken von ihren Schultern genommen worden. Inständig hoffte sie, dass ihr Vater keine Dummheiten machen und irgendwem von ihrem Gespräch erzählen würde. Ach, komm schon, Maria, es ist dein Vater – so dumm ist er nicht, sagte sie tonlos.

Sie durchfuhr ihre alte Heimat in Richtung Cloppenburg und seit Monaten fühlte sie sich einmal wieder annähernd frei. Maria drehte das Radio auf und passend zu ihrer Stimmung erklang Don´t worry – be happy von Bobby McFerrin, was sie zum Anlass nahm, den fröhlichen Song laut mitzusingen.

Das Brummen ihres Handys unterbrach jäh ihre muntere Gesangseinlage. Sie reduzierte die Lautstärke und schaltete die Freisprechanlage an.

»Wo bist du?«, quäkte Goselüschen ihr entgegen, was ihr ein Lächeln abrang.

»Bin sofort da, fahre in zwei Minuten auf den Parkplatz.«

»Okay, lass den Wagen laufen. Wir müssen los!«

Wenig später, der VW war noch nicht einmal zum Stehen gekommen, riss Goselüschen die Beifahrertür auf und hievte seinen massigen Körper hinein.

»Was ist los?«, fragte sie. Goselüschen stöhnte beim Versuch, sich elegant umzudrehen, um den Gurt zu erreichen.

»Psycho-Claudi hat die ungefähre Adresse herausbekommen, von der das Mädchen geflohen ist.« Er deutete mit dem Kopf zur Seite. Dort stiegen zwei uniformierte Kollegen in einen Streifenwagen. »Fahr hinterher.«

»Okay«, antwortete sie. »Übrigens glaube ich nicht, dass Claudia mag, wenn du sie so nennst.« Goselüschen grunzte.

»Dann soll sie weghören, außerdem sitzt sie ja nicht hier im Wagen, oder?«

»Ist ja gut, beruhig dich.« Maria war überrascht von der genervten Reaktion ihres Kollegen, befasste sich jedoch nicht weiter damit. »Was hat sie aus dem Mädchen rausbekommen?«

»Nicht wirklich viel«, begann Goselüschen. »Namen konnte oder wollte sie nicht nennen. Aber sie konnte sich wohl noch ziemlich gut an ihren Fluchtweg erinnern. So bleibt nur ein Haus übrig, welches in Frage kommt. Es liegt etwas abschüssig von der Straße. Sie ist gestern Nacht geflohen, wann genau konnte sie natürlich nicht sagen.«

»Wahrscheinlich ist sie verwirrt durch die Gegend gelaufen.«

»Denk ich auch. Ist nachvollziehbar, dass sie erstmal rennt ohne nachzudenken, wohin.«

»Haben wir eine Täterbeschreibung?« Goselüschen seufzte.

»Außer den Informationen zu dem Haus hat das Mädchen wohl nichts preisgegeben. Psy – also Claudia meinte, sie wäre immer noch total unzugänglich. Will es morgen weiterprobieren. Unter der Adresse ist ein Heiner Gerke gemeldet, seit vier Jahren dort wohnhaft – saß vorher fünf Jahre wegen eines Sexualdeliktes an einer Minderjährigen. Wurde als therapiert eingestuft und mit Auflagen entlassen.«

»Na, das passt ja.« Maria nickte und folgte dem Streifenwagen.

Das Haus lag am Ende eines von Unkraut überwucherten Schotterweges, der von unbeschnittenen Bäumen und Büschen gesäumt wurde. Der sandige Platz vor dem offensichtlich renovierungsbedürftigen, rotgeklinkerten Einfamilienhaus war mit Pfützen übersät, die seit dem letzten Regen noch nicht verdunstet waren. Maria erschien es, als ob vor Jahren geplant gewesen wäre, die Auffahrt zu pflastern, dann jedoch entschieden wurde, sie im derzeitigen Zustand zu belassen. Möglicherweise fehlte seinerzeit das Geld für Baumaßnahmen, was auch die baufällige Verfassung des Wohnhauses erklärt hätte. Sie parkten neben dem Streifenwagen. Maria instruierte die uniformierten Kollegen, sich auf jeweils einer Seite zum hinteren Teil des Gebäudes zu bewegen, falls der Verdächtige versuchen sollte zu fliehen.

»Bist du bereit?«, fragte Goselüschen seine Kollegin vor der Haustür. Als sie nickte, betätigte er den vergilbten Klingelknopf, auf dem kein Name mehr zu erkennen war. Es rührte sich nichts. Auch nach einem erneuten Läuten konnten sie keine Bewegung im Haus ausmachen. Vorsichtig drückte Maria die Klinke herunter. Mit einem Knarren schwang die Eingangstür nach innen auf. Goselüschen und Maria sahen sich an, zogen ihre Dienstwaffen und tasteten sich langsam in den vom restlichen Tageslicht schwach beleuchteten Flur vor. Ein säuerlicher Geruch stieg den beiden in die Nase.

»Essigreiniger?«, fragte Goselüschen leise. Maria nickte und antwortete in derselben Lautstärke:

»Denk schon.«

Ein plötzliches Poltern gefolgt von einem Kreischen ließ die beiden erstarren. Im nächsten Moment schoss eine Katze an ihnen vorbei und verschwand durch die offenstehende Haustür nach draußen.

»Verdammtes Drecksvieh!« Goselüschen fasste sich theatralisch auf seine linke Brust.

»Ach komm, es ist nur eine Katze – du liest zu viel Stephen King«, antwortete sie flüsternd. Sie bewegten sich in die Richtung, aus der eben das Tier gekommen war und fanden sich in einer überraschend ordentlichen Küche wieder. Lediglich eine Vase lag am Boden, die musste die Katze gerade umgeworfen haben. So kann der erste Anschein trügen, sagte sich Maria. Dem verwahrlosten Eindruck, den das Grundstück offenbarte, folgte ab der Eingangstür eine gut in Schuss gehaltene Wohnung. Neben dem Herd stand eine abgedeckte Kasserolle Lasagne, die nur darauf wartete, in den Ofen geschoben zu werden. Der Typ ist unmöglich, dachte Maria kopfschüttelnd, als sie den hungrigen Blick ihres Kollegen wahrnahm. Sie öffneten und durchschritten die Tür auf der linken Seite neben dem Kühlschrank. Als Erstes drängten sich ein breiter Schrank und die Ecke einer abgewetzten Sofagarnitur in ihr Blickfeld – dann stockte Maria der Atem. Neben einem Sessel ragte auf dem Boden ein Unterarm hervor. Sie stieß Goselüschen an und deutete mit dem Kopf dorthin. Er betätigte den Lichtschalter. Mit etwas Verzögerung wurde der große, aufgeräumte Wohnbereich von der Deckenlampe erhellt. Sofort erkannten sie, dass der Arm zu einem Mann gehörte, dessen Kopf eine Schusswunde an der Schläfe zierte. Eine Walther P1, die Standardpistole der Bundeswehr bis vor ungefähr fünfzehn Jahren, lag einen halben Meter neben der anderen Hand des Toten auf dem blutbesudelten, alten Teppich.

»Der wollte wohl einem Richterspruch zuvorkommen und der Justiz Arbeit abnehmen«, sagte Goselüschen schulterzuckend. Maria blickte sich im Zimmer um, während ihr Kollege sein Smartphone zückte, um die Spurensicherung und die Rechtsmedizin anzufordern.

»Und uns – aber warten wir erstmal ab, was die Jungs von der Spusi finden.« Maria blickte sich im Zimmer um, jedoch fiel ihr nichts Auffälliges ins Auge.

»Was sollen sie finden? Sein Opfer ist ihm abgehauen, da hat er Panik bekommen und sich weggeschossen. Fertig.«

Nach den Telefonaten durchkämmten Goselüschen und Maria den Rest des Hauses. Im Keller fanden sie einen separaten Raum, in dem offensichtlich das Mädchen gefangen gehalten und missbraucht worden war. Er war fensterlos und außer einer alten Matratze und einem Eimer für die Notdurft der Kleinen war er leer. Gestank von Schweiß und Urin stach den beiden in die Nase, obwohl der Geruch des Essigreinigers bezeugte, dass der Raum frisch gereinigt worden war. Aus der Wand über der Matratze ragte ein Eisenring, an welchem ein Ledergurt hing. Etwa einen halben Meter weiter klaffte ein Loch in der Mauer.

»Hätte er sein Haus besser in Schuss gehalten, wäre ihm sein Opfer nicht so leicht abgehauen«, sagte Goselüschen. Er hob einen weiteren Eisenring mit Lederschnalle auf, der unter dem Loch zwischen Wand und Matratze lag. Sie sah ihn fragend an. »Nun, die Wände sind so feucht, dass sie im Laufe der Zeit nur oft genug an der Schraube rütteln musste, bis der Putz bröckelte.«

»Und mit der dann freien Hand konnte sie die andere Fessel lösen«, folgerte Maria.

»Jo, und weil unser Kinderschänder wohl nicht der cleverste war, hatte er weder die Keller- noch die Haustür verschlossen.«

»Zum Glück für das Mädchen. Das muss die Hölle gewesen sein.« Goselüschen stimmte grimmig guckend zu.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739421438
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
Rache Vergeltung Mord Thriller Verrat Verschwörung Entführung Krimi Undercover Spannung Psychothriller Cosy Crime Whodunnit

Autor

  • Marcus Ehrhardt (Autor:in)

Der Autor, 1970 geboren, lebt im niedersächsischen Vechta und ist Vater zweier erwachsener Kinder. Die Idee, Geschichten zu erzählen und Bücher daraus entstehen zu lassen, kam quasi über Nacht. Seinen großen Sympathien den USA gegenüber in all ihren Vielfalten und endlosen Weiten ist es geschuldet, dass einige seiner Titel eben dort verankert sind. Demgegenüber erscheinen immer wieder Titel, die vorrangig in seiner norddeutschen Heimat angesiedelt sind.
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Titel: Die Klaviatur der Gerechtigkeit