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Dein Glück stirbt in 4 Tagen

von Marcus Ehrhardt (Autor:in)
290 Seiten
Reihe: Chicago Crime, Band 1

Zusammenfassung

"Hallo George, Zeit für ein neues Spiel." Als George Franklin in Chicago Punkt Mitternacht die Stimme des Anrufers erkennt, weiß er sofort: Der Killer ist wieder da. Bereits vor drei Jahren trieb dieser ein perfides Spiel mit ihm und ermordete seine Frau. Vier Tage Zeit gibt ihm der Entführer, seine in Frankfurt versteckt gehaltene Tochter aufzuspüren. Anders als damals bei seiner Frau, darf er dieses Mal nicht versagen. Dieses Mal darf er keinen Fehler begehen. Dieses Mal wird er seine Tochter rechtzeitig finden. Dieses Mal wird er dem Ganzen ein Ende bereiten. ****** Unter dem Pseudonym Rachel Callaghan gibt es die Vorgeschichte der beiden Protagonisten George und Vanessa. Titel dieser Romance-Story ist "Chicago Moments". ****** Chicago, die Wiege Al Capones, dem größten Mafia-Paten aller Zeiten, ist auch Jahrzehnte später von Gewalt und Kriminalität gezeichnet. Die Reihe "Chicago Crime" erzählt fiktive, spannende Storys, in denen sich Detective Miller vom Chicago Police Department Serienmördern und anderen Gewaltverbrechern mit aller Entschlossenheit in den Weg stellt. Nimmt er in Band 1 noch eine kleine Nebenrolle ein, wächst sein Anteil und der seines Kollegen Rosenthal, bis sie ab Band 3 schließlich zu den dominierenden Protagonisten werden. Später erhalten die beiden Cops Unterstützung von der FBI-Profilerin Amber Raven. Die Titel sind chronologisch geordnet, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dein Glück stirbt in 4 Tagen

 

 

 

 

Marcus Ehrhardt

Kapitel 1

 

 

Dieser Tag hatte das Zeug dazu, einer der besten seines Lebens zu werden.

Um kurz vor 7 Uhr war George Franklin geweckt worden – Vanessa hatte sich unter der Bettdecke mal wieder selbst übertroffen, sie konnte einfach die unglaublichsten Dinge mit ihrem Mund anstellen. Nach einer gemeinsamen Dusche, bei der er sich revanchierte, verabschiedete er sich nach dem Frühstück von seiner brünetten Freundin, mit der er seit genau einem Jahr eine Beziehung führte.

»Und sei heute Abend pünktlich, verstanden?«, hauchte sie ihm ins Ohr, bevor er zur Tür hinausging.

Den Weg von ihrem Apartment am Lake Shore Drive, einer der besten Wohngegenden der am Lake Michigan gelegenen Metropole, die fast 3 Millionen Einwohner beherbergte, bis ins Büro schaffte er in Rekordzeit. Selbst der für Chicago typische Stau auf der Interstate 95 in Höhe der Alexander Hamilton Bridge schien sich einen Tag Urlaub genommen zu haben, und somit fühlte sich der zähfließende Verkehr für ihn an wie freie Fahrt. Er las jüngst in einem Artikel der Chicago Tribune, dass dieser Streckenabschnitt seit Ewigkeiten zu den staureichsten in den ganzen USA zählte und man hier um die hundert Stunden im Jahr mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von nicht einmal 25 Meilen in der Stunde verbrachte – wenn er denn auf der täglichen Route lag. Doch wie von Zauberhand gesteuert fand Georges SUV jede Lücke und durch geschickten Spurwechsel durchflog er geradezu dieses schwarze Loch der Lebenszeit.

Kaum in der Firma angekommen – er war Teilhaber der Illinois Security Union, kurz ISU, einem Unternehmen, das sich auf Personen- und Objektschutz spezialisiert hatte und in dessen Kundendatei sich namhafte Mandanten aus der Wirtschaft und der besseren Gesellschaft fanden – überraschte ihn ein leitender Mitarbeiter mit der Meldung, dass ihnen ein weiterer Großkunde ins Netz gegangen wäre.

Vor fünf Jahren hatte er das Angebot angenommen, dort Partner zu werden. Dank seiner guten Beziehungen zum Militär, wechselte er doch direkt aus der Offizierslaufbahn in die Firma, nutzten auch zahlreiche Einrichtungen Uncle Sam´s immer häufiger das Know-How und die Technologie der ISU.

Die turnusmäßige, morgendliche Besprechung verlief aufgrund dieser guten Nachricht äußerst entspannt. Sowohl George als auch seine beiden Partner und die anwesenden Abteilungsleiter sahen einen neuen Rekordumsatz für das kommende Geschäftsjahr voraus, und das bereits zum vierten Mal in Folge. Beschwingt von diesen Erkenntnissen machte sich die Arbeit fast von allein, daran änderte auch die überraschende Kündigung seiner Sekretärin nichts, die der Liebe wegen an die Ostküste nach New York ziehen wollte.

»Folgen Sie Ihren Gefühlen, May«, hatte er ihr geraten und damit ein Lächeln auf das runde Gesicht der Mittfünfzigerin gezaubert, die sich mit einem Aktenberg auf den Armen zurück in ihr Büro verzog. Würdest du so einen Quatsch auch schwafeln, wenn du nicht selbst gerade im siebten Himmel schweben würdest?, fragte er sich gedanklich, schüttelte den Kopf und griff zum Telefon. Nach einem kurzen Gespräch mit einem der bekanntesten Juweliere der Stadt strahlte er umso mehr. Nichts würde ihm den heutigen Tag jetzt noch verderben können, davon war er in diesem Moment überzeugt.

Die Stunden verflogen wie aufsteigender Rauch eines Lagerfeuers in der texanischen Prärie, der vom Südwestwind fortgeweht wurde.

»Verdammt, ich muss los!«, entfuhr es ihm, nachdem er einen Blick auf seine Uhr geworfen hatte. Im Hinauslaufen griff er nach seinem Jackett und spurtete die Treppen hinab, bis er nach fünf Etagen in der Tiefgarage angekommen war.

Auch der abendliche Verkehr schien ihm wohlgesonnen, so erreichte er sein Ziel einige Minuten früher als gedacht.

»Guten Abend, Mr. Franklin«, begrüßte ihn der hagere Mann, der gerade den Inhalt der Glasvitrine neu sortierte, die als Tresen fungierte.

»Guten Abend, Mr. Harper«, erwiderte George den Gruß. »Ich bin schon sehr gespannt, was Sie für mich haben.« Der Angesprochene lächelte und ging ins Hinterzimmer, aus dem er nach einem Augenblick zurückkehrte, ein schwarzes, samtenes Kästchen in seiner Hand haltend. Er stellte es zwischen ihnen ab, drehte es um und hob den Deckel.

»Hier ist das gute Stück. Was sagen Sie?« Das Licht der Deckenstrahler brach sich tausendfach in dem Stein, der spielerisch in den Weißgoldring eingearbeitet war. George starrte darauf, nahm ihn vorsichtig, als würde er jeden Moment zerbrechen können, aus dem Etui und besah ihn sich von allen Seiten.

»Sie haben sich selbst übertroffen, Mr. Harper. Er sieht fantastisch aus.«

»Nun, Mrs. Garcia hat mich hervorragend instruiert.«

»Ja, May ist klasse. Aber ich muss mich leider um Ersatz für sie kümmern, sie verlässt bald das Unternehmen.«

»Das betrübt mich zu hören, hervorragendes Personal ist schwierig zu finden.«

»Das bekommen wir schon in den Griff. Unsere Scoutingabteilung ist gut besetzt.« Der Juwelier lächelte ihn an.

»Freut mich zu hören. Dann hoffen wir gemeinsam, dass die zukünftige Mrs. Franklin unsere Auffassung teilen wird, was den Ring betrifft.«

»Das wird sie – ganz sicher.« Er legte den Ring zurück in die Schachtel, holte darauf seine Geldbörse hervor, zückte seine American Express Card und reichte sie dem Juwelier. Dieser nahm sie, zog sie durch das Lesegerät und übergab George die Quittung zusammen mit dem eingepackten Schmuckstück.

»Ich wünsche Ihnen viel Glück mit diesem Kleinod. Richten Sie Vanessa einen lieben Gruß von mir aus.« Sie schüttelten sich die Hände und George wandte sich zum Gehen.

»Vielen Dank. Bis zum nächsten Mal«, erwiderte er und wenige Minuten später befand er sich auf dem Weg nach Hause.

Vanessa erwartete ihn bereits mit einem frisch zubereiteten 3-Gänge-Menü. Er wollte sie zur Feier des Tages ursprünglich in eines der vielen Luxusrestaurants der Stadt ausführen, doch sie hatte vorgeschlagen, den Abend daheim zu verbringen, weil es ihr in den letzten Tagen häufiger nicht gut ging und sie nicht riskieren wollte, ein Hundertdollar-Essen direkt nach dem Verzehr wieder auszukotzen, wie sie es wörtlich sagte. Er liebte sie für ihre direkte Art – darüber hinaus für viele andere Dinge. Und in Anbetracht des kleinen Vermögens, das er gerade für den Verlobungsring hatte zahlen müssen, nahm er diese Kostenersparnis gerne mit. Zwar waren ihm in den letzten Jahren Geldsorgen fern, doch er wuchs in einem Arbeiterhaushalt auf und ihm war bewusst, welche Privilegien sie genossen, die jedoch schnell der Vergangenheit angehören könnten, sollte es mit der Firma mal bergab gehen. Daher wusste er den Wohlstand zu schätzen, solange er währte, und achtete darauf, regelmäßig etwas für Notzeiten auf die hohe Kante zu legen.

»Hallo Schatz«, begrüßte sie ihn und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund. »Das Essen ist in einer halben Stunde soweit.«

»Passt, dann kann ich in Ruhe vorher duschen.« Er grinste sie an. »Willst du nicht mitkommen?« Sie stieß ihn spielerisch von sich.

»Du bekommst wohl nie genug, was?« Sanft bugsierte sie ihn aus der Küche. »Das verschieben wir auf später, sonst werde ich hier nie fertig.«

Sie hatten gerade den Hauptgang beendet – seine Freundin servierte nach der Hummercremesuppe Steak mit geschmorten Bohnen – da erhob sich George plötzlich, ging um den Tisch und kniete sich zu Vanessas Füßen. Sie sah auf ihn hinab und lachte unsicher.

»Du willst doch wohl nicht –«, doch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, hielt er bereits ihre Hand und es folgte eine gut einstudierte, mehrminütige Rede, während der er das Kästchen hervorholte und öffnete. Vanessa hielt die Luft an, als sein Antrag mit den Worten endete:

»... und darum frage ich dich jetzt: Willst du meine Frau werden?« Sie strahlte und blickte zwischen den stahlgrauen Augen Georges und dem Diamantring hin und her. Es war um sie geschehen. Sie ließ den Gefühlen freien Lauf und die Tränen rannen über ihre Wangen.

»Natürlich will ich das!« Sie zog ihn zu sich und sie küssten sich. »Ich krieg keine Luft mehr«, sagte sie kurz darauf und befreite sich sanft aus seiner Umarmung.

»Sorry, aber das musste sein.« Er löste sich von ihr, eilte zum Kühlschrank und kehrte mit einer Flasche Champagner zurück. Gekonnt öffnete er sie und wollte gerade zwei Gläser befüllen, da bedeckte sie eines davon mit ihrer Hand.

»Es ist besser, wenn wir keinen Alkohol trinken.« Klar, dachte er, wie dumm von mir, schließlich kämpfte sie seit einiger Zeit mit Magenbeschwerden. »Aber du darfst natürlich gern ein Glas trinken.« Er schaute sie verdutzt an und wusste nicht, ob es an seinem grenzdebilen Gesichtsausdruck lag, dass ihr Lächeln immer breiter wurde, oder ob sie einfach wegen des Heiratsantrags glücklich war. Doch langsam dämmerte es ihm.

»Wir, ihr, du? Du bekommst, ich meine, wir bekommen –?«

»Ja, du Blitzmerker. Laut Dr. Benson bin ich im dritten Monat.«

Jetzt war es um George geschehen. Vanessa ergriff die Gelegenheit, nahm ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her ins Schlafzimmer, wo sie das fortsetzten, was sie heute Morgen unterbrechen mussten. Erschöpft ließ sie sich neben ihn aufs Bett sinken, nachdem sie fast eine Stunde lang übereinander hergefallen waren. Nun lagen sie nebeneinander und schauten zur stuckverzierten Zimmerdecke. Viele Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, doch einer drängte die anderen in den Hintergrund: George Franklin, du bist im Moment wahrscheinlich der glücklichste Idiot des ganzen Landes. Womit hast du das verdient? Bevor er sich seine Frage beantworten konnte, nickte er ein.

Der Klingelton seines Smartphones weckte ihn. Er drehte sich um und nahm es vom Nachtschrank. Genau Mitternacht, eine unterdrückte Nummer – soll ich trotzdem rangehen? Ok, jetzt bin ich eh schon wach. Er drückte auf das grüne Telefonsymbol.

»Ja?«, nuschelte er und gab sich gar nicht erst die Mühe, munter zu klingen. Erst vernahm er ein Rauschen und nach einem Knacken hörte George die blechern verzerrte, dennoch vertraute Stimme des Anrufers:

»Guten Morgen, George, bist du bereit für ein neues Spiel?« Ein frostiger Schauer lief über seinen Rücken, riss ihn dieser Satz doch binnen einer Sekunde brutal zurück in seinen schlimmsten Albtraum. Jegliche Müdigkeit fiel von ihm ab wie nach einem Tauchbad im Eiswasser.

Kapitel 2

 

 

Was ist denn mit dem los?, fragte sich Vanessa, als sich George mit dem Handy in der Hand aus dem Bett wuchtete und die Treppe hinunterlief. Sie amüsierte sich darüber, dass es scheinbar wichtigen Kunden immer wieder gelang, ihren Freund – nein, ihren Verlobten – von dem einen auf den anderen Moment komplett zu vereinnahmen. Anders konnte sie es sich nicht erklären, dass er nach einer kräftezehrenden Liebeseinheit noch zu so einer Energieleistung in der Lage war, der es bedurfte, in diesem Tempo in die untere Etage ihres zweigeschossigen Apartments zu gelangen.

Sie setzte sich auf und lauschte den Geräuschen. Ganz sicher war sie nicht, doch sie meinte am Schlagen der Tür erkannt zu haben, dass er ins Büro gelaufen sein musste.

»Wenn ich das geahnt hätte, mein Lieber, wärst du um eine Extraschicht nicht herumgekommen«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte. Na ja, du wirst mich schon aufklären, was so wichtig gewesen ist. Sie zuckte mit den Schultern, ging ins Bad, welches durch eine Nebentür vom Schlafzimmer aus zugänglich war, und gönnte sich eine Dusche.

Als sie nach einigen Minuten fertig und George noch nicht zurückgekehrt war, warf sie sich einen Morgenmantel über und stieg ebenfalls die Stufen, die von der Galerie nach unten führten, hinab. Sie verharrte vor dem Büro und horchte hinein. Als sie ihn weder sprechen noch sonstige Geräusche hören konnte, klopfte sie zaghaft an. Da keine Reaktion erfolgte, öffnete sie die Tür und warf einen Blick ins Zimmer. Das Deckenlicht brannte und auf dem Schreibtisch, der gewöhnlich stets aufgeräumt war, lagen mehrere Zettel wild durcheinander. Von George hingegen fehlte jede Spur.

»George?«, rief sie, doch er antwortete nicht. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Was zum Himmel war hier los? Wo bist du? »George?«, rief sie erneut, nur diesmal deutlich lauter. »Siri, Küche und Wohnzimmer: Deckenlicht an«, sagte sie und im selben Moment war es im kompletten Wohnbereich taghell. Sie blinzelte etwas, gewöhnte sich jedoch schnell an das Licht und schaute in jedes Zimmer, doch nirgendwo fand sie ihn. Erst jetzt sah Vanessa den Zettel an der Eingangstür. Er klebte neben dem Steuerungsgerät für die Alarmanlage. Sie las leise die mit schwarzem Edding geschriebenen Zeilen: »Musste weg. Geh nicht aus der Wohnung und lass den Alarm aktiv. Bin bald zurück. George.«

Kapitel 3

 

 

Die Stimme des Anrufers fraß sich in seine Eingeweide wie hungrige Hyänen in den Bauch eines erlegten Zebras. Er hielt den Atem an und war für eine Sekunde lang keiner Bewegung fähig.

Nachdem er die Starre durchbrochen hatte, sprang George aus dem Bett. Er achtete weder auf Vanessa, die ihm verwundert hinterher sah, noch darauf, dass er nackt die Treppenstufen hinab eilte. Seine Finger schlossen sich fest um das Handy, als könnte er nicht nur das Gerät zerquetschen, sondern auch den grausamen Menschen darin, dessen Stimme ihm gerade das Adrenalin durch die Blutbahn jagte.

»Was willst du Schwein von mir?«, raunte er ins Handy. George hatte die Tür zum Büro hinter sich geschlossen und ging vor dem Schreibtisch hin und her. Sich in Ruhe hinzusetzen und seinem Anrufer zu lauschen war unvorstellbar.

»Na na, George, begrüßt man so einen alten Freund?« Das folgende Gelächter des Mannes klang durch den Stimmenverzerrer absurd, fast komisch. Doch George war absolut nicht zum Lachen zu Mute.

»Fick dich! Was willst du?«

»Ich will nur spielen. Du erinnerst dich sicher noch an unsere Regeln. Ich hoffe, du hältst dich diesmal daran.« Wieder folgte ein Kichern. George atmete tief durch, irgendwie müsste er die Kontrolle über sich behalten.

»Das sind deine Regeln, du Schwein! Komm raus und zeig dich, dann spielen wir mal ein richtiges Spiel!«

»Ach George, das verschieben wir auf später. Jetzt habe ich erstmal eine neue Aufgabe für dich.« Die Gedanken rasten durch seinen Kopf wie die bunten Strahlen einer nächtlichen Lasershow durch die Finsternis. Sollte er einfach auflegen? Oder wäre es ratsam, den Ausführungen dieses Irren zuzuhören? Da er zu keinen klaren Überlegungen fähig war, antwortete er:

»Was zum Teufel willst du noch von mir?«

»So gefällst du mir schon besser«, schnarrte es. »Du bekommst gleich als ersten Hinweis ein Foto und ich rate dir: Schau es dir ganz genau an. Und George?« George wusste einfach nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte, daher stammelte er nur:

»Ja, was?«

»Denk an das letzte Spiel: Keine Polizei! Und lass dein Handy an, sonst heißt es sofort: Game over.«

Es klickte einmal, dann war das Gespräch unterbrochen. George legte das Handy auf die Schreibtischplatte, blickte, immer noch nackt vor dem Schreibtisch stehend, von oben auf das Display wie ein Mungo auf die Schlange: jederzeit bereit in sekundenschnelle auf die kleinste Bewegung zu reagieren. Er zuckte zusammen, als ein Brummen den Eingang einer MMS ankündigte. Wie in Zeitlupe näherte sich seine Hand dem Gerät und er zögerte kurz, bevor er die kühle, glänzende Oberfläche berührte. Innerhalb weniger Sekunden materialisierte sich das von einer unbekannten Nummer gesendete Bild auf dem Touchscreen.

Es war wie ein Déjà-vu. Nicht unbedingt das, was er auf dem Foto sah, eher das Gefühl, welches er empfand, während sich das erst verpixelte Bild langsam scharfstellte. Ungläubig neigte er den Kopf, bis dieser nur noch etwa 30 Zentimeter vom Handy entfernt war, und zoomte das Foto mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand größer, damit er erkennen konnte, was es zeigte. Er stutzte, doch je länger er das Bild betrachtete, umso mehr wühlte es ihn auf.

Ich muss hier raus, an die Luft!, schrie es in ihm, während er wütend einen Stapel Dokumente in die Luft warf. Er schnappte das Handy und merkte erst jetzt, da er es in die Hosentasche stecken wollte, dass er immer noch keine Kleidung trug. Er hastete nach oben ins Schlafzimmer und nahm erleichtert das Rauschen der Dusche wahr. Er zog sich die erstbesten Sachen über, die er fand, und rannte wieder nach unten, wo er in seine Sneakers schlüpfte und die Autoschlüssel aus der Schale neben dem Sofa angelte. George war bereits aus der Wohnung, da kehrte er nochmal um und schrieb Vanessa eine Nachricht, die er neben die Alarmanlage klebte. Dann fiel hinter ihm die Wohnungstür ins Schloss.

 

***

 

Vanessa saß mit angezogenen Beinen auf der Couch und starrte auf den Zettel, der neben dem Tee lag, den sie sich gerade zubereitet hatte. Sie hielt ihr Smartphone in der Hand, als würde es eher klingeln, wenn es nicht auf dem Tisch lag. Über eine Stunde war vergangen, seitdem George verschwunden war, und er hatte auf keinen ihrer zehn Anrufversuche reagiert. Was ist nur los und warum schreibt er, ich soll in der Wohnung bleiben?, fragte sie sich zunehmend besorgt.

Sie kannte ihren Verlobten seit 18 Monaten und noch nie hatte sie etwas Vergleichbares erlebt. Klar, er musste immer mal wieder spontan zu einem Kunden, wenn es dort Schwierigkeiten gab, doch bislang fand er jedes Mal die Zeit, ihr kurz zu erklären, was los war und wohin er fahren würde.

»Mach dich nicht verrückt«, sagte sie sich, »es wird sich alles aufklären und hinterher lachst du wahrscheinlich über deine konfusen Gedanken.« Aber warum dann der Hinweis auf die Alarmanlage? Und dass ich die Wohnung nicht verlassen soll? Sie blickte zum Steuerungsgerät: Das grüne Lämpchen leuchtete, also war sie aktiv. »Siehst du, alles in Ordnung.«

Das komplette zehnstöckige Apartmenthaus war von Georges Firma mit aktuellster Überwachungssoft- und -hardware ausgestattet worden, was er ihr nicht ohne Stolz bei ihrem dritten Date erzählt hatte. Bislang hatte sie sich also absolut sicher gefühlt. Um in ihre Wohnung zu gelangen, musste man mit einer Schlüsselkarte den Haupteingang und den Lift entsperren und der Scanner vor ihrer Wohnung entriegelte das Türschloss nur, wenn neben der Karte auch der Daumenscan mit dem gespeicherten Abdruck übereinstimmte.

Vanessa wählte erneut Georges Nummer, doch abermals meldete sich nur seine Mailbox. Dort hatte sie bereits zweimal eine Nachricht hinterlassen, daher unterbrach sie die Verbindung. Genervt warf sie das Telefon in die Sofaecke und schaltete das TV an. Sie zappte sich durch ein Gewirr von Werbekanälen und verschiedenen Serien, doch nichts davon bescherte ihr die gewünschte Ablenkung.

Nach etwa einer Stunde des Wartens, die Uhr zeigte mittlerweile auf kurz vor zwei, entschied sich Vanessa, allein ins Bett zu gehen. Soll er mir halt morgen erzählen, weswegen er so Hals über Kopf abgehauen ist. In dem Moment, als sie das Gerät abschaltete, hörte sie Geräusche im Flur. Leise lief sie zur Wohnungstür und warf einen Blick durch den Spion. Sie erschrak, als sie den Mann auf der anderen Seite erblickte.

Kapitel 4

 

 

Warum noch einmal? Reicht es ihm nicht? Reicht es ihm überhaupt irgendwann? Womit habe ich das verdient, womit hat überhaupt jemand so etwas verdient? George konnte und wollte es nicht glauben. Die Gefühle spielten verrückt und wechselten sekündlich zwischen Angst, Zorn und Trauer. Doch über allem stand ein großes Fragezeichen.

Fast wäre er beim Herausfahren aus der Tiefgarage mit einem dunklen Van kollidiert, der neben der unbeleuchteten Ausfahrt parkte.

»Verdammter Idiot!«, entfuhr es ihm. Um wenige Zentimeter verfehlte er mit seinem Wagen dessen Heck. Doch im nächsten Augenblick war es wieder vergessen, seine gesamte Konzentration galt dem Telefonat. Er fluchte weiter vor sich hin, pfiff auf jedes Tempolimit. Zügig gelangte er durch das Lichtermeer aus Reklametafeln, Scheinwerfern anderer Wagen und Straßenbeleuchtungen durch die nächtliche City seiner Heimatstadt, bis es die letzte Meile, aus dem Zentrum heraus zum Firmensitz, merklich ruhiger wurde und die Beleuchtung deutlich abnahm. Entgegen der gemäßigten Verkehrslage tobte in ihm weiterhin ein Wirbelsturm der Emotionen.

Das änderte sich nicht, als er das Gebäude erreicht hatte, in dem die ISU drei Etagen gemietet hatte.

»Oh, Mr. Franklin, so früh im Dienst?« Mit einem kurzen Nicken reagierte er auf Pete, den Wachmann des Komplexes, der von seinen Monitoren aufsah, den Kopf schüttelte, sich aber sofort wieder seinen Geräten zuwandte, während George an ihm vorbeistürmte und im mittleren der drei Fahrstühle verschwand.

Er wippte mit dem Fuß, als würde das das Schließen der Aufzugstür und die anschließende Fahrt in den achten Stock beschleunigen können. George atmete geräuschvoll aus und verließ mit großen, schnellen Schritten den stählernen Käfig, kaum dass sich die Tür summend geöffnet hatte. Nur wenige Plätze des Großraumbüros, das eine Etage über der firmeneigenen Entwicklungsabteilung lag, waren beleuchtet. Kein Wunder, dachte er sich, es ist mitten in der Nacht, deshalb ist nur die Notbesetzung im Dienst.

Außer einem jungen Kollegen, den er fast über den Haufen gerannt hätte, nahm augenscheinlich niemand Notiz von ihm. Mittlerweile hatte er sein Jackett ausgezogen, denn trotz der büroüblichen Raumtemperatur, die von einer leise im Hintergrund surrenden Klimaanlage geregelt wurde, hatte er das Gefühl, aus allen Poren wahre Sturzbäche zu schwitzen. Zielsicher steuerte er auf das kleine, baulich abgetrennte Büro in der hinteren Ecke zu.

»Mein Gott, Mr. Franklin, was ist so dringend, dass Sie mich um diese Uhrzeit herzitieren?«, wollte Dave wissen, den er aus dem Auto heraus angerufen und zum Büro gebeten hatte, ohne ihm den Grund dafür zu verraten. George schloss die Tür hinter sich und ließ bei der Scheibe, durch die man den Hauptraum einsehen konnte, die Jalousien hinunter, nicht ohne sich zu vergewissern, dass niemand neugierig in seine Richtung schaute.

»Muss ich Sie auf Ihren Arbeitsvertrag hinweisen?«

»Nein, Mr. Franklin, tut mir leid. Es war nicht so gemeint«, lenkte der schlanke IT-Spezialist kleinlaut ein, was auch daran gelegen haben könnte, dass sein Vorgesetzter mit seinen 1,90 Meter fast einen Kopf größer und wesentlich besser in Form war. »Was kann ich für Sie tun?« George waren die Befindlichkeiten seines Mitarbeiters im Moment vollkommen egal, zumal alle Angestellten in ihrem Arbeitsvertrag eine Klausel akzeptiert hatten, jederzeit zum Dienst einbestellt werden zu können. Zwar galt dies ausschließlich für firmeninterne Belange, aber er musste Dave ja nichts über die wahren Hintergründe erzählen.

»Gut, zur Sache: Sie sind Entwicklungsleiter für die Catch-App. Wie weit sind Sie damit?« Dave schluckte und räusperte sich.

»Ja, nun, wir sind in der Beta-Phase. Es gibt noch kleinere Baustellen, aber ich bin mir sicher, dass wir das in den nächsten Monaten in den Griff bekommen.« George wusste um die Schwierigkeiten, mit denen sie seit etwa einem halben Jahr zu kämpfen hatten, doch im Moment hatte er alles – außer Zeit. Mit dieser App, die eher ein Spielzeug für Erwachsene darstellte, vorausgesetzt, sie würde irgendwann einwandfrei funktionieren, kämen dank Kontrollfreaks die nächsten Millionen Umsatz wie von allein. Die App würde unterdrückte Anrufe zurückverfolgen können und mittels Nutzung von GPS-Signalen und einer neuen Technologie innerhalb weniger Sekunden die Nummer und den Standort des Anrufers ermitteln. Derzeit musste man solche Daten über die Telekommunikationsunternehmen anfordern, was einerseits zeitaufwändig und andererseits bezogen auf Datenschutzaspekte rechtlich höchst fragwürdig war. Doch George und seine beiden Vorstandskollegen vertraten die Meinung, dass die Regierung paranoid genug wäre, die Nutzung der App, zumindest beschränkt auf hoheitliche Aufgaben, durch das Gesetzgebungsverfahren zu peitschen. Und sollte das in den USA scheitern, gab es im asiatischen und südamerikanischen Raum genügend Abnehmer, die das Verteidigen von Menschenrechten – insbesondere den Schutz der Privatsphäre – weit unten auf ihrer Agenda führten.

»Ziehen Sie sie rauf«, sagte George und legte sein Smartphone neben die blau leuchtende Tastatur des Computers. Zögerlich nahm Dave, der mittlerweile hinter seinem Schreibtisch saß, das Gerät in die Hand und schaute seinen Chef fragend an.

»Jetzt? Die Beta-Version?«

»Ja.« Wie begriffsstutzig kann man sein?, fragte er sich und stöhnte leise.

»Gut, na klar, wenn Sie wollen.« Er verband das Telefon und seinen Rechner mit einem USB-Kabel und tippte einige Befehle. »Soll ich Ihre Nummer mit in die Kontrollgruppe aufnehmen?« Nein, zum Teufel!, wollte George darauf erwidern, besann sich jedoch. Es musste schon seltsam genug für seinen Mitarbeiter anmuten, wegen so einer vermeintlichen Lappalie aus dem Schlaf geholt und in die Firma geordert zu werden, daher bemühte er sich, einen plausiblen Grund für sein Vorgehen hinterherzuschieben.

»Ja, nehmen Sie die auf. Ich erwarte heute Abend einen Anruf eines Interessenten aus Hong Kong für die App«, log er, »und dabei möchte ich aus erster Hand Informationen geben können. Das ist aber noch inoffiziell. Daher muss ich darauf bestehen, dass Sie absolutes Stillschweigen über diese Aktion hier bewahren.« George beobachtete Dave, der scheinbar nicht einzuordnen wusste, ob er gerade Teil einer wichtigen geschäftlichen Transaktion geworden war oder ob sein Boss zu viele schlechte Agententhriller gelesen hatte. Erleichtert stellte er fest, dass Dave keine Anstalten machte, irgendetwas zu hinterfragen. Natürlich nicht, dachte er, Dave will so schnell wie möglich wieder ins Bett.

»Selbstverständlich. Auch das steht ja in meinem Vertrag.« Er zog das Kabel aus dem Handy und aktivierte die App darauf. »Fertig«, sagte er und George nahm sein Gerät wieder entgegen. »Wenn Sie jetzt angerufen werden, öffnet die App nach kurzer Zeit ein Fenster mit der Nummer und den Koordinaten des Anrufers. Vorausgesetzt, sie funktioniert.«

»Danke«, sagte er und ging zur Tür. Bevor er das Büro verließ, drehte er sich noch einmal zu ihm um. »Und Dave, Sie machen hier einen hervorragenden Job.«

»Äh, danke, Mr. Franklin, ich arbeite auch wirklich gerne –.« Bevor er den Satz beenden konnte, hatte George bereits die Tür von außen geschlossen und war auf dem Weg zum Auto.

Langsam machte sich die Müdigkeit wieder bemerkbar, denn obwohl der Anruf weiterhin das Adrenalin durch seine Blutbahn jagte, ignorierte sein Körper nicht, dass er, mit Ausnahme der vielleicht 90 Minuten Schlaf nach dem Schäferstündchen mit Vanessa, seit fast 20 Stunden auf den Beinen war. Und in nicht einmal fünf weiteren Stunden würde ihn der Wecker erneut aus dem Bett holen – vorausgesetzt, er könnte überhaupt schlafen.

Je näher er seiner Wohnung kam, umso mehr Gedanken machte er sich, was und wie viel er Vanessa gleich erzählen sollte. Hoffentlich machte sie sich keine Sorgen, fiel ihm ein, denn die Nachricht, die er hinterlassen hatte, erschien ihm jetzt, da er darüber nachdachte, eher suboptimal. Vielleicht war sie nach dem Duschen aber auch einfach wieder ins Bett gegangen und schlief. Ja, so wird es sein. Natürlich, du Trottel, und die Anrufe auf dein Handy hat sie im Schlaf gemacht.

George bog auf die Zufahrt zur Tiefgarage, da fiel ihm der Van wieder ein, den er beim Herausfahren fast gerammt hätte. Er war fort. Hatte das etwas zu bedeuten oder schob er jetzt Paranoia? Genug Grund dazu hätte er gehabt. Doch er verdrängte den Gedanken daran, lenkte den Wagen auf seinen reservierten Stellplatz und fuhr mit dem Aufzug auf die Etage seiner Wohnung. Die Schlüsselkarte, die er bereits für den Aufzug brauchte, behielt er in der Hand. Er müsste sie eh gleich noch einmal benutzen. George trat aus dem Lift, schwenkte nach rechts und blieb kurz darauf vor dem Scanner neben der Türzarge stehen. Er zog die Karte durch den Schlitz, während er gleichzeitig seinen Daumen auf das dafür vorgesehene Feld legte. Es summte kurz, dann klickte es und das Türschloss entriegelte. George seufzte und schob sie auf.

»Was zur –«, rief er, als ihm die Tür fast aus der Hand gerissen wurde, er die Klinke jedoch festhielt, durch den Schwung nach vorn stolperte und beinahe stürzte.

Kapitel 5

 

 

Es roch muffig. Es war dunkel. Julia zitterte, als würde sie auf einer Vibrationsplatte stehen, die ihr mit 50 Herz Schwingungen durch den ganzen Körper jagte. Einiges würde sie im Moment dafür geben, wenn es so wäre: Dass sie in ihrem Fitnessstudio um die Ecke von Dirk, ihrem Trainer, zu Höchstleistungen gepusht und nach 60 Sekunden für eine halbe Minute durchatmen würde, um sich für den nächsten Durchgang zu erholen. Dass sie spürte, wie ihre Muskeln brannten und die Beine weich wurden.

Doch sie war nicht in ihrem Studio. Nur, wo war sie dann? Sie hob den Kopf und sah sich um, soweit es möglich war. Leichter gedacht als getan, denn ihr Schädel kam ihr zentnerschwer vor. Das schummrige Licht, das durch ein vergittertes Fenster von der Größe eines Pizzakartons in den Raum fiel, ließ sie vermuten, dass sie sich in einem Keller befand. Die Zelle, wie der Raum auf sie wirkte, hatte in etwa die Ausmaße einer Autogarage. Die Decke hing tief, vielleicht waren es zwei Meter vom Boden, und an der gegenüberliegenden Wand glaubte sie, die Umrisse einer Tür auszumachen. Die Mauer links von ihr konnte sie nicht ganz sehen, da sie zum großen Teil von etwas verdeckt wurde, das nach einem Öltank aussah. Zumindest ähnelte er dem, den sie im Haus ihrer Großmutter gesehen hatte.

Julia kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was sich hinter dem Fenster befand, doch sie sah nur grauen Himmel und dünne Zweige, die leicht im Wind wogten. Und die Spitze eines Turms. Oder eines Schornsteins? Julia war unsicher, zu sehr war sie benebelt von – ja, wovon eigentlich?

Ihr nächster Blick fiel auf ein Gestänge vor ihren Füßen. Erst jetzt registrierte sie, dass sie in einem Bett lag. Oder eher einer Pritsche, wie sie es aus Knastfilmen kannte. Dieses Gestänge war, sie blinzelte, tatsächlich, es war ein Stativ. Julia ächzte und wollte sich auf die Seite drehen, um aufzustehen, auch wenn ihr dämmernder Verstand ihr sagte, dass dies in ihrem körperlichen Zustand momentan die denkbar schlechteste Idee wäre. Die Lederriemen, die um ihre Arme, Beine und das Becken geschnallt und fest mit dem stählernen Bettgestell verbunden waren, nahmen ihr die Entscheidung ab.

Es schrie in ihr, dass sie in Panik ausbrechen, sich von den Fesseln befreien und aus diesem Gefängnis ausbrechen müsste. Doch sie fühlte keine Angst, keinen Schmerz, nur die Kälte spürte sie. Aus den Augenwinkeln sah sie zwei weitere Gestelle, die jeweils seitlich neben ihr standen. Von beiden führten Bänder, nein, es waren Schläuche, stellte sie beim zweiten Hinsehen fest, zu ihren Handgelenken. Sie nahm nochmal alle Kraft zusammen, hob erneut, trotz des gefühlten Felsbrockens auf ihrer Stirn, den Kopf und besah sich die Bescherung. Wer auch immer hatte ihr in jeden Arm eine Kanüle gelegt. Wozu auch immer. Sie hatte keine Ahnung, was ihr darüber verabreicht wurde. Doch halt, natürlich hatte sie eine Ahnung: Es musste irgendeine Droge sein – damit kannte sie sich schließlich bestens aus – denn nur dadurch konnte sich Julia erklären, dass ihre momentane Situation ihr relativ gleichgültig war.

»Wo bin ich?«, glaubte sie, sich sagen zu hören. Schemenhaft liefen die Erinnerungen ab: Sie kam vom Einkaufen nach Hause in ihre billige Zweizimmerwohnung in Bahnhofsnähe. Sie räumte die Lebensmittel in den Kühlschrank und stellte die Getränke in den Abstellraum, der eher als größerer Wandschrank durchgehen würde. Dann ging sie duschen, während im Topf auf dem Herd langsam die Dosenravioli aufwärmten. Nachdem sie sich in ihren Jogginganzug geworfen hatte, der längst mal wieder in die Waschmaschine gehörte, schnappte sie sich den Kochtopf, goss sich ein Glas Mineralwasser ein und verzog sich damit auf ihr ramponiertes Sofa. Im TV lief irgendeine Serie, es war etwas Kitschig-romantisches, das brauchte sie nach dem Tag, der von vorn bis hinten einer Katastrophe glich. So hatte er sich jedenfalls angefühlt.

Sie kaute gelangweilt auf ihren Tomatennudeln und trank von ihrem Wasser. Es hatte irgendwie bitter geschmeckt, meinte sie, gedacht zu haben. Später hörte sie noch ihr Handy klingeln, doch sie ging nicht ran. Warum bin ich nicht rangegangen? Ich weiß es nicht, vielleicht war ich zu müde. Dann zog irgendwer oder irgendwas an ihr herum. Das war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte.

Und nun lag sie fixiert auf diesem Feldbett in einem Kellerloch und hatte absolut keine Vorstellung davon, wo sie war oder welche Uhrzeit, geschweige denn, welcher Tag heute war. Und vor allem: Warum war sie hier?

Noch einmal unternahm sie den Versuch, sich von den Fesseln zu befreien und aufzustehen, doch ihre Glieder fühlten sich an wie mit Blei gefüllt. Sie sah, dass sie nicht mehr den Jogginganzug trug, sondern sich ein Kleid mit Blumenmuster angezogen hatte – oder es ihr angezogen worden war. Sicher das zweite, dachte sie noch, denn weder besaß sie ein solches Kleidungsstück, noch würde sie sich jemals freiwillig so etwas Scheußliches überwerfen. Ein Nebel legte sich über ihr Bewusstsein, wenig später schlief sie ein.

Kapitel 6

 

 

George hatte damit gerechnet, dass Vanessa wieder ins Bett gegangen oder wartend auf der Couch eingeschlafen wäre. Womit er nicht rechnete, war, dass sie ihm die Türklinke fast aus der Hand reißen würde.

»Was ist denn mit dir passiert?«, rief sie und half ihm durch einen beherzten Griff am Oberarm, dass er auf den Beinen blieb. »Du siehst aus, als ob du seit Tagen keinen Schlaf gehabt und drei Nächte durchgesoffen hättest.« So fühle ich mich auch, stimmte er ihr gedanklich zu, wandte sich von ihr ab und warf einen Blick in den Spiegel neben der Garderobe. Verdammt, sie hatte recht. Wie konnte das sein?

»Gib mir ein paar Minuten, dann erkläre ich dir alles.« Er stand ihr wieder zugewandt gegenüber, schob sie sanft zur Seite und ging an ihr vorbei. »Soweit ich es kann«, flüsterte er noch hinterher, dann lief er die Treppe hoch und verschwand im Bad. Bei einem erneuten Blick in den Spiegel, diesmal in den über dem Waschbecken, fiel ihm auf, dass er den Pullover auf links trug. Von den Flecken am Kragen mal abgesehen. »Kein Wunder, dass du aussiehst wie ein Penner.« Was musste Dave sich bei dem Anblick gedacht haben? Auch seine Augen schienen innerhalb der letzten Stunden dunkle Ränder bekommen zu haben, und seine dunklen mittellangen Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. George schüttelte den Kopf. »Und so gehst du aus dem Haus.« Beinahe hätte er laut über sich selbst und das jämmerliche Bild gelacht, das er gerade abgab, doch die Situation war viel zu ernst.

Er entledigte sich der Klamotten und sprang unter die Dusche, in der er vereinzelte Tropfen von Vanessas Benutzung auf den Fliesen sehen konnte. Der harte Strahl aus dem Duschkopf wirkte belebend – und genau das brauchte er, fühlte er sich doch immer noch wie durchgekaut und ausgespuckt. Nach drei Minuten unter der Brause, die letzte davon prasselte eiskaltes Wasser auf seinen trainierten Körper, zog er seinen Pyjama über. Vanessa erwartete ihn auf dem Sofa. Er atmete tief durch und überlegte, während er die Stufen hinab ins Wohnzimmer wankte, wie er ihr erklären sollte, was gerade passiert war. Und vor allem, was noch passieren könnte.

George blickte in die Augen Vanessas, die ihn förmlich durchdrangen. Natürlich erwartete sie Antworten, das war ihm sonnenklar, doch immer noch war er unsicher, mit welchen Informationen er seine Verlobte belasten sollte – immerhin trug sie sein Baby in sich und er wollte keinesfalls ein Risiko eingehen.

»Du siehst schon wieder etwas besser aus«, sagte sie, nachdem er sich neben sie gesetzt hatte. Er rutschte zur Seite und drehte sich so, dass sie sich schräg gegenübersaßen.

»Okay, hör zu«, begann er, »du hast viele Fragen und verdienst auf jede einzelne davon eine Antwort. Und ich versuche, soweit ich dazu in der Lage bin, alles zu erklären.« Das Blau ihrer Augen strahlte gerade besonders kräftig, oder bildete er sich das nur ein? Warum denke ich jetzt über ihre verdammte Augenfarbe nach? Komm schon, George, sie ist stark und verkraftet die ganze Wahrheit. Er streckte den Rücken durch, vereinzeltes Knacken zwischen den Wirbeln unterstrich dies. Er räusperte sich. »Am besten fange ich von vorne an. Beziehungsweise bei dem, was ich für vorne halte.« Sie zog eine Augenbraue hoch, unterbrach ihn jedoch nicht. »Wie du weißt, ist meine letzte Frau Sharon vor ungefähr drei Jahren ermordet worden.« Vanessa nickte. »Du hast mich nie gefragt, was damals wirklich passiert ist und dafür bin ich dir dankbar, denn es war eine brutal schlimme Zeit für mich.«

Vanessa hatte zu der Zeit, als der Mord geschah, noch in einer Kleinstadt nahe Denver gelebt und zog erst kurz darauf nach Chicago. Ihr wurde eine Stelle in einem Architekturbüro angeboten, die sie einfach nicht ausschlagen konnte. Nach wenigen Monaten erkannte ihre neue Chefin ihr Potential, woraufhin Vanessa mehr und mehr eigene Projekte zugeteilt wurden. Bei einem davon hieß der Auftraggeber ISU, die durch George Franklin vertreten wurde. So hatten sie sich kennengelernt und nachdem sie ihn anfangs für einen arroganten Kotzbrocken gehalten hatte, wie sie ihm später einmal lachend gestand, konnten sich beide der knisternden Spannung nicht entziehen, die zwischen ihnen herrschte, und schließlich lud sie ihn zu einem Date ein. Vanessa hatte es geschickt eingefädelt, sodass George auch heute noch glaubte, die Initiative damals wäre von ihm ausgegangen. Auch glaubte er, dass sie über den Mord an seiner damaligen Frau lediglich das wusste, was seinerzeit in der Presse und dem TV darüber berichtet wurde: Die Lösegeldübergabe misslang mit der Folge, dass der Entführer sein Opfer umbrachte. Das war die Version, die George gemeinsam mit Detective Miller, dem leitenden Ermittler für die Öffentlichkeit, gestrickt hatte.

»Schatz, ich denke, ich weiß darüber mehr als du meinst«, sagte sie leise, legte ihre Hand auf seine und drückte sie. »Klar, anfangs hatte ich tatsächlich nur die Informationen, die in der Zeitung über den Fall standen.« Er kräuselte die Stirn. Woher weiß sie mehr? Als könnte sie seine Gedanken lesen, fuhr sie fort: »Doch kurz nachdem wir zusammengekommen sind, hatte ich geschäftlich mit dem Vorgesetzten des damaligen Ermittlers zu tun. Und der beichtete mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass es keine willkürliche Entführung gewesen wäre, sondern ein persönlich motivierter Mord. Nähere Details nannte er mir nicht, die wollte ich auch gar nicht hören.«

George unterdrückte seine kurz aufwallende Wut auf den Captain, der seine Klappe nicht halten konnte. Aber das ist jetzt auch völlig egal, dachte er, das macht es mir sogar einfacher.

»Okay. Sharon wollte über das Wochenende zu ihren Eltern. Genau um Mitternacht bekam ich einen Anruf von einem Unbekannten, der behauptete, Sharon in seiner Gewalt zu haben. Zum Beweis schickte er mir ein Foto von ihr in einem abgedunkelten Raum. Ich dachte erst an einen üblen Scherz, unterbrach das Gespräch und versuchte sofort, Sharon zu erreichen. Doch sie ging nicht an ihr Handy. Dann rief ich ihre Mutter an, die mir bestätigte, dass sie sich unterwegs zwar noch gemeldet hätte, jedoch noch nicht angekommen wäre. Ich beruhigte sie und sagte ihr, dass sie sicher nur eine Panne hätte und bald ankommen würde.« Vanessa hörte ihm aufmerksam zu. George spürte allerdings, dass ihr nicht wohl bei seiner Erzählung war. »Wenig später meldete sich der Unbekannte erneut und fragte mich, ob mein Kontrollanruf zum gewünschten Ergebnis geführt hätte. Darauf lachte er und dieses Lachen werde ich in meinem Leben nie wieder vergessen.«

»Und was passierte dann?«, fragte sie vorsichtig, doch ihre Mimik verriet ihm, dass sie es eigentlich nicht wissen wollte.

»Er diktierte mir die Regeln. Ich hätte genau vier Tage Zeit, Sharon zu finden. Würde ich es in dieser Zeit schaffen, würde sie überleben. Würde ich sie hingegen später finden, wäre sie bereits tot. Und falls mir einfallen würde, die Polizei einzuschalten, würde sie sofort sterben.« George spürte ein leichtes Zittern in Vanessas Hand, die immer noch auf seiner ruhte. »Des Weiteren sagte er, dass ich täglich genau einen Hinweis über mein Handy bekäme, wodurch ich sie finden könnte, er sei schließlich kein Unmensch, hat er mich verhöhnt.«

»Du hast die Polizei eingeschaltet?« Keinerlei Vorwurf schwang in ihrer Frage mit.

»Erst am zweiten Tag. Ich war natürlich völlig von der Rolle, wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Und Sharons Eltern lagen mir ebenfalls in den Ohren, dass ich das FBI oder so um Hilfe bitten sollte. Meine beiden Vorstandskollegen, die ich aus lauter Verzweiflung eingeweiht hatte, bestärkten mich zusätzlich, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Schließlich könnten die heutzutage völlig unsichtbar agieren und so würde der Täter schnell gefasst und Sharon befreit werden. Ich wartete trotzdem, bis um Mitternacht der Anruf mit dem nächsten Hinweis kam.«

»Wieder ein Foto?« George schüttelte den Kopf.

»Nein, er schickte mir eine Grafik mit dem Logo von General Motors

»Dem Autokonzern? Was sollte das für ein Hinweis sein?« Jetzt zog Vanessa beide Augenbrauen hoch.

»Ja, vom Konzern. Und genau diese Frage stellte ich mir damals auch: Was soll ich damit anfangen? Ich zerbrach mir ein paar Stunden darüber den Kopf und hab dann entmutigt die Polizei informiert. Rückblickend wohl der größte Fehler meines Lebens.« Er atmete tief durch, eine einzelne Träne lief über seine Wange. Vanessa rückte näher an ihn ran und streichelte über seinen Rücken.

»Wie ging es weiter?«, fragte sie leise.

»Detective Miller versprühte Optimismus. Sie hätten Spezialisten, die solche perfiden Rätsel schnell entschlüsseln könnten. Doch noch am selben Tag bekam ich einen Anruf von dem Unbekannten und auch diese Worte werde ich nie vergessen: Du hast dich nicht an die Regeln gehalten, George. Deine Frau findest du hier. Dann nannte er mir die Koordinaten und legte auf. Ich habe sofort Miller angerufen und zwei Stunden später wurde mir mitgeteilt, dass Sharon mit durchtrennter Kehle auf einem stillgelegten Fabrikgelände gefunden wurde, das früher von GM betrieben wurde.« Seine Stimme brach, während er die letzten Sätze sprach.

»Oh mein Gott! Das ist so grausam, wenn man dafür überhaupt Worte finden kann. Aber das war nicht deine Schuld«, versuchte sie, ihn zu trösten. Er zog ein Taschentuch aus der Hose und putzte sich die Nase.

»Nein. Aber ich hätte sie vielleicht retten können, wenn ich mich an die Regeln gehalten hätte.«

»Das kannst du nicht wissen. Vielleicht hat er sie gleich nach der Entführung getötet und wollte dich nur quälen.«

»Nein, sie war erst eine Stunde tot, als die Cops das Gebäude stürmten. Der Killer hatte ihr zwei Kanülen gelegt. Durch eine wurde ihr Flüssigkeit zugeführt, durch die andere Tropfen für Tropfen das Blut abgesaugt. Der Rechtsmediziner sagte mir, dass es nach seiner Einschätzung tatsächlich ungefähr vier Tage gedauert hätte, bis Sharon verblutet wäre, so wie die Kanülen eingestellt waren.«

Von seiner anfangs aufrechten Haltung war kaum noch etwas zu sehen, er saß nun in sich zusammengesunken neben ihr. Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich.

»Das ist ja abscheulich, was ist das für ein krankes Schwein?«

»Das weiß ich nicht und auch die Cops haben ihn nie gefasst. Obwohl sie jeden Stein in meinem Leben umgedreht und jeden möglichen Verdächtigen genauestens unter die Lupe genommen haben. Ich musste ihnen die Namen von jedem nennen, dem ich auch nur mal den Parkplatz weggeschnappt oder in der Schule nicht hab abschreiben lassen. Zwar sagte mir Detective Miller noch vor gut einem Jahr, dass sie nicht aufhören würden, nach ihm zu suchen, doch machen wir uns nichts vor, der Fall ist dort längst zu den Akten gelegt worden.« Jetzt war es Vanessa, die etwas von ihm abrückte und ihn ernst ansah.

»Das ist alles wirklich ganz schrecklich und muss grausam für dich gewesen sein«, begann sie und er musste unweigerlich daran denken, wie er sich die Monate nach Sharons Tod fast ausschließlich von Whiskey ernährt hatte, bis ihm sein Jugendfreund Howard Turner den Kopf wusch und ihn langsam wieder ans Weiterleben heranführte. Selbst seine beiden Partner waren trotz großem Verständnis für ihn und seine Situation kurz davor, ihn aus der Firma zu werfen. Doch er fing sich wieder und irgendwann trat diese brünette, blauäugige und äußerst freche Architektin aus Colorado in sein Leben und gab ihm einen neuen Sinn. Ihre Worte rissen ihn wieder ins Hier und Jetzt. »Doch was hat das mit dem Anruf heute Nacht und deinem plötzlichen Verschwinden zu tun?« George atmete geräuschvoll aus und strich mit seinen Händen die Oberschenkel hoch und runter. Der Schweißfilm darauf bremste die Bewegung deutlich.

»Dieser Anruf heute Nacht«, sagte er und Vanessa ahnte offensichtlich, was folgte, »kam von ihm. Er sagte, es sei Zeit für ein neues Spiel.«

»Aber ich verstehe nicht, wen hat er – oder was hat er?« George griff nach dem Handy, das er vorhin auf den Couchtisch gelegt hatte, entsperrte es und wartete, bis das Foto, das er geschickt bekommen hatte, klar erkennbar war. Dann reichte er es an Vanessa, die es ihm zögerlich abnahm und dabei aussah, als wäre es hochinfektiös. Ihr ängstlicher Blick änderte sich, nun wirkte er angewidert und überrascht. Sie blickte vom Display zu George und wieder zum Foto, bevor sie langsam sagte: »Das verstehe ich nicht.« George schüttelte den Kopf und pflichtete ihr bei.

»Ich verstehe das auch nicht.« Doch er konnte sich gut vorstellen, was ihr gerade im Kopf herumgehen musste. Denn genauso verwirrt wie sie jetzt dreinschaute, fühlte er sich vor ein paar Stunden, als er das Foto zum ersten Mal gesehen hatte. Das Foto, auf dem eine junge Frau in einem Blümchenkleid auf eine Liege gefesselt zu sehen war. Der aus jedem Handrücken eine Kanüle ragte. Die mit glasigem Blick in die Kamera schaute, offensichtlich benebelt von irgendeiner Droge oder einem Tranquilizer, was sie zwar wach, aber bewegungsunfähig machte. Auf deren Bauch ein Pappschild lag, das deutlich in deutscher Sprache die Worte Rette mich, Vater zierte.

»Wer ist diese Frau? Kennst du sie?« George meinte, einen vorwurfsvollen Unterton in ihrer Stimme auszumachen, ging darauf jedoch nicht ein.

»Ich weiß es nicht. Ich habe sie noch nie gesehen und habe keine Erklärung dafür. Aber schau dir ihre Augenpartie an.« Vanessa besah sich erneut das Foto und wie es George vor ein paar Stunden getan hatte, zoomte auch sie es nun größer und starrte dem Gesicht der Frau, das jetzt das ganze Display ausfüllte, in die Augen.

»Sie hat –«, Vanessa schluckte hart, »deine Augen.«

Kapitel 7

 

 

In einem kurzen, aber beängstigend realistischen Albtraum musste er die Gräueltat an Sharon noch einmal durchleben, bevor er schweißnass aufwachte und sich in den Sitz katapultierte.

»Nein«, stöhnte er und nach kurzer Ungewissheit wurde ihm bewusst, dass er die Sache gerade zwar geträumt hatte, das Telefonat vorhin jedoch grausame Realität war. Die Gedanken rasten erneut, doch er zwang sich, wieder einzuschlafen.

Nachdem er sich lange unruhig hin- und hergewälzt hatte, rollte sich George gegen 6 Uhr aus dem Bett und schleppte sich unter die Dusche. Ich muss tatsächlich wieder eingeschlafen sein, sonst hätte ich mitbekommen, dass Vanessa aufgestanden ist.

Sie hatten während ihres Gespräches festgestellt, dass sie in ihrem übermüdeten Zustand zu keiner vernünftigen Vorgehensweise gelangen würden. Daher hatte Vanessa angeregt, dass sie sich beide den kommenden Tag freinehmen und nach etwas Schlaf in ausgeruhtem Zustand einen Plan fassen sollten. George war einverstanden, da er selbst nicht wusste, was er anderes hätte tun sollen. Das Einzige, was für ihn unweigerlich feststand, war, dass er nicht die Cops einschalten würde. Nein, er würde den heutigen Hinweis abwarten und danach gemeinsam mit Vanessa entscheiden, was zu tun wäre.

»Du hast ganz schön gearbeitet im Schlaf«, sagte sie zu ihm, nachdem er sich an den Frühstückstisch gesetzt und sie ihm einen Kuss auf die Wange gegeben hatte. »Glaubst du immer noch, dass es sich um die Tochter von dieser Antje handelt?«

Bevor sie ins Bett gegangen waren, hatte er ihr noch seine Vermutung mitgeteilt. Vor über 20 Jahren hatte er eine kurze Affäre mit einer Frau namens Antje Becker. Das war zu der Zeit, als er als junger Offizier auf der US-Militärbasis im deutschen Ramstein stationiert war. Sie hatten sich nur zehn oder fünfzehn Mal getroffen, war sich George sicher, und bei dem vorletzten Treffen überraschte ihn Antje mit der Nachricht, dass sie von ihm schwanger wäre. Sie hätten Stunden darüber diskutiert und schließlich hätte er ihr versprochen, zu dem Kind zu stehen, sollte sie es austragen. Doch Antje, die damals ständig Drogen konsumierte, bestand darauf, das Kind abzutreiben und George sollte gefälligst für den Eingriff und die Schmerzen bezahlen. Da er unsicher und zugegeben etwas erleichtert über ihre Entscheidung war, hinterfragte er es nicht weiter und kratzte soviel Geld zusammen, wie es ihm auf die Schnelle möglich war. Bei ihrem letzten Treffen einige Tage darauf überreichte er ihr die Summe und sah sie niemals wieder. Er hat auch ewig nicht an sie zurückgedacht, bis zu dem Moment, als er gestern das Foto auf dem Handy sah und es ihm irgendwann dämmerte, dass es nicht nur seine Augenpartie war, die ihm bekannt vorkam, sondern auch, dass das Mädchen dieser Antje verdammt ähnelte.

»Ja«, erwiderte er und nippte am Kaffee, dessen Aroma ihm schon im Bad entgegengekommen war. »Ich habe mir gerade das Foto noch einmal angesehen und ja, ich bin sicher.« Er nahm einen weiteren Schluck. »Aber ob sie meine Tochter ist?« Er zuckte mit den Schultern. Vanessa setzte sich zu ihm.

»Wenn es aber die Tochter dieser Frau ist, dann müsste man sie doch erreichen und nachfragen können, oder?« Er lachte humorlos auf.

»Becker ist in Deutschland ein Name wie Smith hier bei uns, den gibt es wie Sand am Meer. Außerdem ist es ewig her, ich weiß nicht einmal, wo genau sie früher gewohnt hat. Wir haben uns entweder in meiner Bude oder in einem Motel getroffen.«

»Sehr romantisch«, sagte sie augenrollend, entschuldigte sich jedoch gleich.

»Schon gut. Vielleicht sollte ich das auch nicht ernst nehmen und die Sache einfach ignorieren.« Vanessa zuckte zurück.

»Wie bitte? Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Wenn das wirklich deine Tochter ist und sie sich in den Händen dieses Psychopathen befindet, können wir das wohl kaum ignorieren.«

»Damit hast du vermutlich recht.«

»Komm schon, George, denk nach. Wenn du selbst nicht wusstest, dass du ein Kind hast, wer könnte es dann wissen?«

»Hm, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?« Ein Schmerz schoss durch seinen Kopf, daher rieb er sich kräftig die Schläfen. »Erzählt habe ich damals niemandem davon – außer Howard. Aber für den lege ich meine Hand ins Feuer. Ansonsten kommen dafür nur Antje und natürlich alle, denen sie davon erzählt hat, in Frage.«

»Dass Howard mit der Sache zu tun hat, halte ich auch für undenkbar«, pflichtete sie ihm bei. Sie hatte seinen besten Freund nicht oft getroffen, seit sie mit George liiert war, die beiden verstanden sich jedoch auf Anhieb, worüber ihr jetziger Verlobter dankbar war. Da seine Eltern früh bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren und er außer ein paar entfernten Verwandten, zu denen er keinen Kontakt pflegte, niemanden hatte, zählte er Howard zu seiner Familie. Und da wäre es doch sehr schade, wenn seine zukünftige Frau gerade mit ihm nicht zurechtkäme. »Vielleicht hat er sich mal verplappert.«

»Ausschließen kann ich das natürlich nicht, doch wir haben seit meinem letzten Treffen mit Antje nie wieder darüber gesprochen. Da würde es mich wundern, wenn er die Geschichte auf einmal irgendwo aus dem Hut gezaubert hätte. Aber ja, ganz unmöglich ist es nicht.« Er legte eine kurze Pause ein und drehte lustlos seinen Bagel auf dem Teller herum, als würde dieser ihm die Zukunft orakeln können. »Auf jeden Fall macht es mir Angst, dass dieser Pisser mehr über mich weiß als ich selbst.«

»Und er setzt es gnadenlos gegen dich ein.« Sie stand auf, holte die Kaffeekanne und goss ihnen nach. »Reg dich jetzt nicht auf, aber ich muss dich das fragen: Bist du sicher, dass es derselbe Anrufer war?« George fixierte weiter das Rundgebäck.

»Warum sollte ich mich darüber aufregen? Ich denke selbst die ganze Zeit darüber nach. Vom Gefühl her und wegen des Tonfalls in seiner Stimme und des perversen Lachens bin ich mir zu einhundert Prozent sicher. Aber vom Verstand her zweifle ich daran. Ich meine, wenn er mich fertig machen will und wieder genauso treffen wie beim letzten Mal, warum entführt er dann meine Tochter, von der ich bislang nicht einmal wusste, dass es sie gibt, und nicht –?«

»Und nicht mich?«, beendete sie seinen Satz. »Das ergibt für mich auch keinen Sinn. Nur sollten wir bedenken, dass die Handlung eines Psychopathen nicht unbedingt verständlich und logisch sein muss.«

»Das stimmt. Das erwähnte damals auch Detective Miller. Bei diesen Typen reichen oftmals die banalsten Situationen, über die ein gesunder Mensch vielleicht nur lachen oder schlimmstenfalls die Nase rümpfen würde, um einen psychotischen Schub auszulösen, der in keinem Verhältnis steht.« George erinnerte sich an den Fall eines Mannes aus Boston, der vor einigen Jahren in einem Supermarkt ein wahres Blutbad anrichtete, weil sich jemand an der Kasse vorgedrängelt hatte. Daher fand er die Forderung des Detectives damals plausibel, ihm selbst die kleinste Auseinandersetzung aufzuzählen, so nichtig sie George auch erschien.

 

***

 

Der Tag verstrich. George war am Nachmittag noch einmal in die Firma gefahren, um die gröbsten Dinge für die nächsten Tage abzuarbeiten und seine Abteilungsleiter zu instruieren. Zwar war es ungewöhnlich für ihn, dass er an der heutigen Frühbesprechung nicht teilgenommen hatte – das letzte Mal fehlte er vor einem halben Jahr wegen einer Autopanne – doch schien es niemandem aufgefallen zu sein, jedenfalls wurde er nicht darauf angesprochen. Einzig Dave, den er letzte Nacht hergenötigt hatte, warf ihm einen bösen Blick zu, verschwand dann aber schnell in seinem Büro. George seufzte. Du hast allen Grund dazu, sauer auf mich zu sein, dachte er, Klausel hin oder her.

Nachdem er alles erledigt hatte, rief er den diensthabenden Abteilungsleiter für den Personen- und Objektschutz in sein Büro und erteilte ihm einen Auftrag.

»Ich brauche sicher nicht zu hinterfragen, warum wir das tun sollen, richtig?«, mutmaßte der untersetzte Mann mit dem schütteren Haar, der momentan eine kleine Armee von fast 100 durchtrainierten und bestens ausgebildeten Frauen und Männern unter seinem Kommando hatte, die im ganzen Land verteilt für Sicherheit sorgten. Jedenfalls für die, die sich das satte Honorar leisten konnten, das die ISU monatlich einforderte.

»Korrekt, Peters, tun Sie es einfach.« Der Mann nickte und ließ George allein im Büro zurück. Dieser drückte die Durchwahltaste zu seiner Sekretärin. Nach einer Weile meldete sich unerwartet die neue Praktikantin Josephine, die ihr unter die Arme greifen sollte.

»Hi, Mr. Franklin, May ist nicht an ihrem Schreibtisch«, sagte sie mit ihrer piepsigen Stimme.

»Wo ist sie denn?«

»Tut mir leid, Mr. Franklin, ich habe sie heute noch gar nicht gesehen.«

»Gut, dann legen Sie ihr einen Zettel hin, dass sie sich bei mir melden soll.« Er beendete das Gespräch, ohne ihre Antwort abzuwarten, und wählte die nächste Nummer.

Als er wieder zu Hause angekommen war, spekulierten er und Vanessa stundenlang, wo der Entführer die junge Frau gefangen halten könnte und welchen Hinweis er ihnen gleich zukommen lassen würde. Eines stand für beide fest: Egal, ob sie damit spontan etwas anfangen könnten, sie würden auf keinen Fall die Cops alarmieren. Davon hatte George seine Verlobte ohne Nachdruck überzeugen können.

An Schlaf war nicht zu denken. In ihrer Alltagskleidung saßen sie direkt nebeneinander und starrten auf das Display des Smartphones, das bedrohlich wirkend auf dem Couchtisch lag. Die Spannung war fast greifbar und erreichte ihren Höhepunkt, als die Uhr auf dem Gerät von 23:59 Uhr auf Mitternacht sprang. George spürte deutlich Vanessas Fingernägel durch den Jeansstoff. Ihre Hand lag auf seinem Oberschenkel und sie krallte sich förmlich darin fest. Doch nichts passierte. Sie warteten weitere zehn Minuten und als George gerade aufstehen und zu einem Fluch ansetzen wollte, vibrierte es schließlich.

»Nun geh schon ran«, sagte sie und schob es zu ihm. Wie in Zeitlupe griff seine Hand danach, hob es an und sein Daumen drückte das grüne Telefonsymbol. Er stellte auf Lautsprecher und im nächsten Moment erfüllte die ihm bekannte, blecherne Stimme das Wohnzimmer.

»Guten Morgen, George, entschuldige die Verspätung. Ich hatte noch etwas zu erledigen.« Sein widerliches Kichern folgte.

»Sag, was du zu sagen hast, und dann lass mich in Ruhe!«

»Wer wird denn gleich so unleidlich sein, mein Lieber? Aber sei es drum. Ich gehe davon aus, dass du meine gestrige Botschaft bekommen und verstanden hast. Zumal du bislang deinen Fehler vom letzten Mal NOCH nicht wiederholt hast.«

»Ich wusste bisher nicht mal, dass ich Vater sein soll. Warum sollte ich also glauben, dass sie meine Tochter ist?« Wieder kicherte der Anrufer.

»Ach, George, bist du so naiv? Schau sie dir genau an. Und falls du mir nicht glaubst, was natürlich dein gutes Recht ist, lass es doch darauf ankommen. Ich werde dir dann am fünften Tag etwas DNA von ihr zukommen lassen. Willst du das wirklich riskieren? Willst du schon wieder das Leben eines Familienmitglieds auf dem Gewissen haben?« Lautlos ploppte ein Fenster auf dem Display auf, verkleinerte sich sofort und war nur noch als Streifen am oberen Rand zu erkennen. George fuhr kurz zusammen und stieß Vanessa mit dem Ellbogen an, die nur mit den Schultern zuckte. Jetzt hab ich dich, triumphierte er innerlich. Nun muss ich nur noch so viel wie möglich herausbekommen.

»Nicht ich, sondern du bist es, der sie umbringt. Ich hoffe, du schmorst dafür in der Hölle.«

»Was immer du wünschst, möge in Erfüllung gehen.« Die Arroganz in der Stimme machte George rasend, er konnte sich nur mit Mühe beherrschen, das Smartphone nicht gegen die Wand zu werfen.

»Du hältst dich selbst nicht an deine Regeln. Wo bleibt der Hinweis?«, sagte er fordernd.

»Der Hinweis, welcher Hinweis? Ach so«, erwiderte er und lachte. »Du bist doch ein kluges Köpfchen. Daher solltest du mich nicht für einen Idioten halten. Mittlerweile hast du es vermutlich geschafft, meine Nummer zurückzuverfolgen, wir quatschen schließlich schon lange genug. Von daher bleibt mir nur, dir eine gute Reise zu wünschen. Wir sehen uns, mein Lieber.«

Es knackte und das darauf folgende Rauschen machte ihnen klar, dass der Irre das Gespräch beendet hatte.

»Dieses Schwein. Woher wusste er das?«

»Woher wusste er was?« Vanessa standen die Fragezeichen auf der Stirn. George tippte mit dem Finger auf das Display und es öffnete sich die Nachricht mit der Handynummer und den Koordinaten. Wenigstens funktionierte die App, dachte er frustriert.

»Ich habe ein Programm auf meinem Handy, das anonyme Anrufe zurückverfolgen kann. Hier siehst du die gefundenen Daten.« Er hielt ihr das Display kurz vor die Augen. »Daran arbeiten wir unter anderem zur Zeit in der Firma.«

»Das ist doch gut.«

»Ja, aber nicht gut ist, dass er davon wusste. Was weiß er noch alles und vor allem, woher?« Ein Gefühl der Nacktheit, der absoluten Angreifbarkeit breitete sich in seinen Eingeweiden aus. Er war der Profi des Überwachens, er sollte Dinge über andere wissen oder in Erfahrung bringen können. Doch scheinbar gab es jemanden, der seine eigenen Waffen gegen ihn verwendete.

»Wichtig ist aber doch erstmal, dass du ihn orten konntest. Woher kam der Anruf?« George drückte auf ein Feld in der App, worauf sich Google-Maps öffnete und ein blauer Punkt auf verschwommenem Hintergrund erschien. Innerhalb weniger Sekunden stellte sich das Bild scharf und das Programm zoomte automatisch heran.

»Frankfurt am Main, wie ich vermutet habe«, sagte er nur.

»Frankfurt, also Deutschland? Dann ist der Typ da drüben mit dem Mädchen. Ich wüsste schon nicht, wie wir vorgegangen wären, wenn er hier in der Nähe wäre – aber was zum Teufel sollen wir jetzt machen?« George stand auf und ging im Wohnzimmer umher. Nach einer Weile blieb er vor Vanessa stehen, zog sie zu sich hoch und küsste sie. Dann hielt er sie auf eine Armlänge Abstand.

»Ich sage dir, was wir machen: Ich habe bereits damit gerechnet und mir für heute Nacht einen Direktflug nach Frankfurt gebucht. Er geht um –.«

»Einen?«, fiel sie ihm ins Wort. »Du glaubst doch nicht, dass ich dich das allein machen lasse.«

»Schatz, ich werde dich mit Sicherheit nicht in Gefahr bringen.«

»Aber dich selbst schon, oder was? Da hab ich wohl ein Wörtchen mitzureden.«

»Hör mir zu: Wollte der Typ mir etwas antun, hätte er mich schon längst abgeknallt oder abgestochen. Er will mich leiden sehen, das ist sein Antrieb.« George hoffte inständig, dass Detective Miller mit dieser Vermutung damals richtig gelegen hatte, versuchte nun aber, so überzeugt wie möglich zu klingen. »Und wenn du mit mir kommst, spielen wir ihm vielleicht noch in die Karten und servieren dich auf einem Silbertablett. Nein, das lass ich nicht zu.«

»Aber –.«

»Kein Aber. Ich habe dafür gesorgt, dass du rund um die Uhr bewacht wirst. Sowohl unsere Wohnung als auch das ganze Haus ist perfekt gesichert, dafür hab ich Zusatzkräfte eingeteilt. Was du tun kannst, ist, dich sowenig wie möglich draußen aufzuhalten. Solange du drinnen bleibst, kann dir außer einem Erdbeben oder einem Bombenanschlag nichts passieren.« George konnte in Vanessas Gesicht lesen, wie es in ihrem Kopf arbeitete, doch schließlich gab sie klein bei.

»Okay. Du hast sicher recht. Wann geht der Flieger?« Er schaute auf die Armbanduhr.

»Ich muss in einer Stunde einchecken.«

»Und was wirst du genau unternehmen, wenn du angekommen bist?« Er nahm sie in die Arme und legte sein Kinn auf ihren Kopf, ihre Haare dufteten nach Frühlingsblumen. Ihr Körper bebte und er drückte sie fest an sich.

»Ich habe zehn Flugstunden vor mir und damit genug Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Aber ich werde dich natürlich ständig auf dem Laufenden halten.«

»Das ist ja wohl das Mindeste.«

 

***

 

Statt sich ein Taxi zu bestellen, ließ George sich von einem der neu georderten Securitymitarbeiter zum Flughafen bringen. Er nutzte die Fahrt zum O´Hare International Airport, einem der zehn größten Flughäfen weltweit, um Jane, wie die dunkelhaarige Kollegin hieß, noch einmal besonders für die kommenden Tage zu sensibilisieren. Sie nickte nach jedem Satz, der stakkatoartig vom Rücksitz auf sie einprasselte, und als George mit seinen Anweisungen fertig war, ließ er sie alles wiederholen.

»Gut, Sie haben verstanden, Jane. Ich verlasse mich auf Sie und Ihr Team.«

»Das können Sie, Sir«, erwiderte die Frau, die eine Ausbildung bei den Marines hinter sich hatte und in der Lage war, einen kräftigen Mann mit bloßen Händen zu töten.

»Gut, lassen Sie mich da vorne raus.« Er deutete an ihr vorbei auf eine Reihe parkender Taxis.

»Sir, soll ich Sie nicht am Eingang absetzen?« George schmunzelte, hatte der Airport doch weit mehr als nur einen Eingang.

»Ich will mir vor dem Flug noch etwas die Beine vertreten, danke.«

»Alles klar, Sir.« Sie hielt in zweiter Reihe und bevor sie auf die Idee kommen konnte, auszusteigen und ihm aus dem Wagen zu helfen, war George schon rausgesprungen. Er knallte die Tür zu und schlug zweimal mit der flachen Hand auf das Wagendach, worauf sich das Auto in Bewegung setzte und zwischen den hunderten von Fahrzeugen verschwand, die selbst zu dieser nächtlichen Uhrzeit hier unterwegs waren.

Da May Garcia den ganzen Tag nicht mehr aufgetaucht war – wo zum Teufel steckte sie überhaupt? War sie etwa krank? – hatte er am Nachmittag seit Jahren das erste Mal selbst einen Flug für sich gebucht, und es kam ihm komplizierter vor als früher. Doch den Check-in-Schalter der United Airlines, deren Maschine ihn sicher über den Teich bringen sollte, würde er mit geschlossenen Augen finden.

Das Boarding und der Start fanden pünktlich und ohne Komplikationen statt. Fünf Stunden später befand er sich, zusammen mit über 200 weiteren Passagieren der Boeing 747, von denen der überwiegende Teil jedoch nicht wie er in der geräumigen Ersten Klasse reiste, mitten über dem Atlantik. Seitdem er das Flugzeug betreten hatte, zermarterte er sich das Gehirn, um sich selbst die Frage zu beantworten, die Vanessa ihm vorhin gestellt hatte. Was genau tust du, wenn du in Frankfurt angekommen bist? Gute Frage, gestand er sich ein. Er hatte immer noch keinen konkreten Plan ausgetüftelt. Plötzlich überkam ihn die Müdigkeit und nach einigen Minuten, die er erfolglos dagegen ankämpfte, fiel er in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel 8

 

 

George wusste im Moment nicht, ob sein unsanftes Erwachen am Druckgefühl in den Ohren, der Durchsage des Kapitäns oder der Schräglage der Maschine lag, die sie angenommen hatte, um in die optimale Anflugposition zur Landebahn zu kommen. Schlussendlich war es ihm auch egal. Er warf einen Blick aus dem Fenster und meinte, in der Ferne bereits die Skyline von Frankfurt erkennen zu können. Sicher war er sich allerdings nicht, da aufgrund der sieben Stunden Zeitverschiebung bereits die Abenddämmerung Einzug gehalten hatte.

Wenig später rumpelte es kurz, als die Reifen des Flugzeugs auf dem Asphalt aufsetzten. Dumpf drang der Applaus der Reisenden aus der Holzklasse zu ihm hoch. Er wartete, bis das Anschnallen-Signal über seinem Platz erloschen war, holte sein Handgepäck aus der Ablage und reihte sich in die Schlange aus Anzugträgern und Kostümträgerinnen ein. Eine Teleskopgangway wurde vom Terminal ausgefahren und schien sich an die Boeing anzusaugen. Die Flugbegleiterin und die Pilotin der Passagiermaschine verabschiedeten freundlich die Reisenden am Ausgang und George rang sich ein Lächeln ab, als er die Gangway erreichte. Er flog wirklich gerne, doch das Gefühl, danach wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren, mochte er noch eine Nuance lieber.

Sein letzter Aufenthalt in Deutschland lag nun schon einige Jahre zurück und zu seiner Army-Zeit hatte er nur selten den zivilen Flugverkehr genutzt. Meist wurden seine Kameraden und er mit einer Militärmaschine direkt vom US-Stützpunkt Ramstein aus in die Heimat geflogen. Dennoch fand er sich zügig auf dem großen Flughafen zurecht. Zudem war er positiv überrascht davon, wie gut er sich mit seinem Deutsch noch verständigen konnte. Es hatte sich gelohnt, regelmäßig die Fremdsprachenkurse zu belegen, die den stationierten Soldaten auf freiwilliger Basis angeboten worden waren. So stellte er fest, dass er gar besser dieser Sprache mächtig war, als der Fahrer seines Taxis – ein Schwarzafrikaner, der sich mit einer Mischung aus Englisch, Französisch und Hessisch zu verständigen versuchte. Erst als George englisch mit ihm sprach, fanden die beiden zueinander und der ockerfarbene Mercedes nahm seine Fahrt in Richtung Südwesten auf.

 

***

 

Während der eineinhalbstündigen Fahrt unterhielten sie sich über Gott und die Welt, wobei George sich zwingen musste, den Sätzen seines Fahrers konzentriert folgen zu können. Er hatte momentan keinen Kopf für den Niedergang der Volksparteien in Deutschland oder das Aufstreben einer von vielen als Gefahr für die Demokratie eingestuften Partei. Eine Maschine im Landeanflug donnerte über sie hinweg und unterbrach jäh ihr Gespräch, der Lärm war ohrenbetäubend und brachte das Taxi zum Vibrieren. Ach, wie hab ich das vermisst, dachte George.

Sie hatten die Militäreinrichtung in Ramstein fast erreicht und George spürte eine leichte Anspannung, die immer mehr wuchs, je näher sie ihrem Ziel kamen. Unablässig knibbelte er an seinen Fingernägeln oder fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht.

Sie hielten vorm Tor. Er drückte seinem Chauffeur das Fahrtgeld in die Hand und packte ein ordentliches Trinkgeld obendrauf. Zum Dank zeigte ihm Carl – den Namen hatte George beiläufig erfahren, als sein Fahrer über Funk gerufen wurde – seine beneidenswert weißen Zähne.

»Merci, Chef«, sagte er, reichte ihm immer noch breit grinsend die Quittung und fuhr nach einem Wendemanöver davon. George atmete einmal kräftig durch, dann näherte er sich den Wachposten.

Es war vollkommen ungewohnt für ihn, einen Besucherantrag für Zivilpersonen auszufüllen, brauchte er doch zu seiner aktiven Army-Zeit nur seinen Dienstausweis vorzeigen und konnte, fast ohne anzuhalten, mit dem Wagen den Eingang passieren. Nun musste er angeben, wen er in der Anlage aufzusuchen gedachte und welchen Grund der Besuch dieser Person hatte.

Nach einer Viertelstunde hatte er die bürokratischen Hürden gemeistert. Der Mann von der Wache übergab ihm die notwendigen Dokumente, um an sein Ziel gelangen zu können.

»Ich hoffe, Sie sind gut zu Fuß, Sir«, merkte er noch an. Vor George lag eine halbe Stunde strammer Marsch.

»Danke, Corporal, ich fühle mich fit genug.« Er hob kurz die Hand zum Gruß und wollte sich schon auf den Weg machen, da kam der zweite Wachmann aus dem Häuschen gelaufen.

»Mr. Franklin, bitte nehmen Sie doch einen Moment Platz.« Er deutete auf eine Holzbank, die seitlich am Wachhäuschen angebracht war. »Major Turner schickt einen Wagen. Der wird gleich hier sein.«

»Ich habe die letzten 12 Stunden gesessen und bleibe lieber stehen.«

»Wie Sie wollen«, erwiderte der Mann knapp und verschwand aus Georges Sichtfeld. Auch der Corporal beschäftigte sich mittlerweile wieder mit anderen Dingen.

Es dauerte fünf Minuten, bis ein offener Jeep neben ihm anhielt und weitere fünf, bis sie Gebäude 23 B erreicht hatten. Das Wort Casino stand in unscheinbaren Lettern über dem Eingang des Backsteingebäudes, in dem die Offiziere unter sich blieben und gerade die Piloten gerne mal die Sau rausließen, wie die Deutschen es bezeichneten.

Es fühlte sich fast wie nach Hause kommen an, als George den Gastronomiebereich betrat. Nichts schien sich in den letzten Jahren verändert zu haben, weder die schweren, roten Vorhänge vor den Fenstern noch die völlig fehl am Platz wirkenden Deckenlampen, die im Stile von Kronleuchtern gefertigt waren. Auch der dunkle Parkettfußboden wies Schlieren und Kratzer auf, genauso wie damals. Zwar hatten die USA das wohl weltweit höchste Budget für Verteidigungsausgaben, doch das meiste floss in Waffengattungen und das Personal.

Die Besucherzahl hielt sich in Grenzen, vielleicht 25 Offiziere verteilten sich an der ausladenden Theke und um einzelne Tische. Rauchschwaden hingen wie Wolken unter der Decke und im Hintergrund lief Jazzmusik eines ihm unbekannten Interpreten.

»Wenn das nicht der gute alte George Franklin ist!«, schallte es quer durch den Saal und ihm huschte ein verlegenes Lächeln über das Gesicht. Kurz schien die Zeit still zu stehen und alle Augen richteten sich auf ihn, im nächsten Moment allerdings führten die Soldaten ihre Gespräche fort und interessierten sich nicht weiter für den Zivilisten. Außer einem, und der kam mit leicht humpelndem Gang auf ihn zu und umarmte ihn überschwänglich. Eine alte Sportverletzung des Knies forderte seit einigen Jahren ihren Tribut.

»Hey, Major Turner«, sagte George und befreite sich nach einer Sekunde aus dem festen Griff seines besten Freundes, der ihm gerade bis zur Nase reichte, dafür aber doppelt so breit wirkte. »Du zerquetschst mich ja.«

»George, wie geht es dir? Und wie geht es der entzückenden Vanessa? Du warst ja sehr geheimnisvoll heute Morgen am Telefon. Mensch, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Sechs Monate? Acht? Ich freu mich über deinen Besuch.« George hob die Hand und lachte.

»Ruhig, Brauner, nicht so schnell.« Howard stimmte in das Lachen ein. »Eins nach dem anderen.«

»Du hast recht.« Er zog George zu einem Tisch und winkte eine Bedienung heran. »Einen Whiskey für mich und ein Ginger Ale für meinen Freund hier.« Der junge Mann nickte, ging zur Theke und erschien gleich wieder mit den bestellten Getränken, die er vor ihnen auf den runden Tisch stellte, in deren Mitte eine Plastikblume in einer hässlichen Vase ihr Dasein fristete. Howard war einer der wenigen Menschen, die um Georges Alkoholproblem wussten und ihn niemals, wirklich niemals dazu drängten, etwas zu trinken. Obwohl er sich durchaus hin und wieder einen Drink genehmigen konnte, ohne gleich rückfällig zu werden, empfand George es doch als sehr angenehm, nicht immer ablehnen zu müssen.

»Also, der Reihe nach«, begann er, »ich freue mich natürlich auch, dich zu sehen, und mir und Vanessa geht es gut.« Er griff nach seinem Glas und stieß mit Howard an. Nachdem sie einen Schluck genommen und die Gläser wieder abgesetzt hatten, fuhr er fort: »Das letzte Mal müsste jetzt vier Monate her sein. Du warst bei deinen Eltern zu Besuch.«

»Ah, genau. Man vergisst echt die Zeit, wenn man so weit ab vom Schuss lebt. Du hast alles richtig gemacht! War echt eine gute Entscheidung, dass du damals den Absprung gewagt hast.«

»Ja, ja, das sagst du jedes Mal, wenn wir uns treffen. Niemand hält dich hier fest und keiner verlangt von dir, dass du auch die nächsten 20 Jahre deines Lebens der Airforce opferst.« Howard lehnte sich zurück, straffte sich und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Dann sagte er mit bedeutungsschwerer Stimme:

»Du sollst nicht fragen, was dein Land für dich tun kann – du sollst nur fragen, was du für dein Land tun kannst!« George hielt Howards ernstem Blick stand und nickte langsam. Dann brachen beide in ein lautes Lachen aus. »Aber nun erzähl, was treibt dich nach good old Germany?«

George wollte gerade ansetzen und Howard erklären, weshalb er nach all den Jahren wieder nach Deutschland kam, doch bevor er beginnen konnte, trat ein schlanker Mann an ihren Tisch.

»Lieutenant Franklin, schön, Sie mal wieder zu sehen.« Er salutierte und reichte ihm darauf die Hand, die George zögerlich griff.

»Sergeant Fulham, Entschuldigung, Lieutenant Fulham. Jetzt bin ich wirklich überrascht.« Er stand auf und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. Fulham war beim letzten Afghanistan-Einsatz der ranghöchste Unteroffizier unter seiner Leitung gewesen und zog sich, kurz bevor sie die Stellung geräumt hatten, bei einem Konvoi eine schwere Verletzung zu. George überraschte es, dass er überhaupt noch diente, anstatt sich ausmustern zu lassen und sich mit der Versehrtenentschädigung eine solide zivile Karriere aufzubauen. Fulham war ihm bei insgesamt drei Auslandseinsätzen direkt unterstellt gewesen und zeigte als seine rechte Hand stets überdurchschnittlichen Einsatz. »Steht Ihnen ausgezeichnet, die neue Uniform.«

»Danke, Sir.«

»Nennen Sie mich George. Schließlich tragen wir denselben Dienstgrad.«

»Das stimmt. Also, George, wie geht es meinem Onkel? Das heißt, Sie sind doch noch bei der ISU, oder?« Eigentlich passte es ihm nicht in den Kram, jetzt bei der Unterhaltung mit Howard gestört zu werden. Er wollte ihn möglichst schnell über den eigentlichen Grund seines Erscheinens aufklären, schließlich rannte ihm die Zeit davon. Andererseits fand er es unangebracht, Fulham vor den Kopf zu stoßen. Dieser hatte ihm nicht nur während seiner Dienstzeit manches Mal den Arsch gerettet, sondern ihm darüber hinaus durch die Vernetzung mit seinem Onkel Paul die Teilhaberschaft in der ISU erst ermöglicht.

Als es auf das Ende der Kommandierung zuging, hatte George seinem Team mitgeteilt, im Anschluss in das zivile Leben zurückzukehren. Da Fulham um Georges Faszination und Sachverstand für technische Überwachungsgeräte wusste, sie selbst allerdings nicht teilte, schlug er ihm vor, sich mit seinem Onkel und dessen Partner kurzzuschließen. Er erzählte, dass diese vor kurzem erst ein Überwachungsunternehmen, die ISU, gegründet hätten und von Georges Sachverstand definitiv profitieren würden. Und so war es auch gekommen, das heißt, die Erwartungen, mit denen die beiden Existenzgründer gestartet waren, wurden um Längen übertroffen.

»Paul geht es gut, außer er patzt mal wieder am letzten Loch, dann ist er für den Rest des Tages unausstehlich. Aber setzen Sie sich doch.« Fulham schmunzelte.

»Ja, Onkel Paul und seine Leidenschaft für das Golfen. Er war schon immer ein schlechter Verlierer, sagt meine Mom.« Die Männer am Tisch und der davor stehende Fulham lachten. »Aber nein, danke, George. Ich wollte nur kurz Hallo sagen, wenn ich Sie schon mal hier sehe. Vielleicht können wir morgen etwas quatschen. Sie bleiben doch sicher ein paar Tage?«

»Ja«, erwiderte er, »drei bis vier Tage sind eingeplant.« Fulham streckte sich und hob die Hand zur Schläfe.

»Also dann: Guten Abend, Major, guten Abend, George.« Die beiden Freunde schauten dem ein paar Jahre jüngeren Mann hinterher.

»Wie kommt es, dass er hier Dienst schiebt? Hast du da deine Finger drin gehabt?«, wollte er von Howard wissen. Der lächelte überlegen.

»Du weißt doch, dass wir keinen Mann zurücklassen. Ich hatte hier eh zwei Posten zu besetzen, als er gerade wieder dienstfähig war. Ein paar Telefonate und das Ding war durch.« Er nahm einen Schluck. »Und du wirst es nicht glauben, aber ich habe neben Fulham noch Digger Brown hergelotst.« Zum zweiten Mal stand George der Mund offen.

»Was? Digger Brown? UNSEREN Digger Brown, den verrücktesten Sprengmeister aller Zeiten?«

»Genau den«, sagte Howard nickend. »Allerdings vermute ich, er würde sofort wieder seine Sprengstoffkiste gegen den Schreibtisch tauschen, wenn er gefragt werden würde. Aber ich sorge schon dafür, dass die Anfragen ihn gar nicht erst erreichen.« George schüttelte den Kopf und trank sein Glas leer.

»Und wo ist der? Auch hier?«

»Nein, er hat Urlaub.«

»Langsam überlege ich, ob ich nicht wieder in den Dienst von Uncle Sam eintrete und zu euch komme.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739454986
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
Rache Vergeltung Hoffnung Frankfurt Psychothriller Thriller Serienmörder Entführung FBI chicago Krimi Ermittler Noir Abenteuer Militär Krieg Roman

Autor

  • Marcus Ehrhardt (Autor:in)

Der Autor, 1970 geboren, lebt in Vechta. Die Idee, Geschichten zu erzählen und Bücher daraus entstehen zu lassen, kam quasi über Nacht. Die Stories sind bewusst nicht reißerisch und verzichten auf übermäßige Darstellung von Gewalt und Brutalität und können unabhängig voneinander gelesen werden. Folgen Sie ihm auf FB "Autorenseite Marcus Ehrhardt", auf Insta "marcus.ehrhardt.autor" oder bestellen Sie den Newsletter auf seiner HP marcus-ehrhardt-autor dot de und verpassen keine Neuerscheinung.
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Titel: Dein Glück stirbt in 4 Tagen