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Du bist raus!

1 Novelle & 3 Kurzgeschichten

von Karin Braun (Autor:in)
110 Seiten

Zusammenfassung

Wie hatte es eigentlich angefangen? Wo war der Punkt, an dem sich alles veränderte? Ich kann es nicht mehr genau festmachen. War es der Tag, an dem ich das erste Mal über Nacht blieb? Nein, es begann früher. Vor ungefähr einem halben Jahr begann es, am ersten schönen Maitag des Jahres. Ich hatte bei IKEA gefrühstückt. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, das Essen dort ist gut und billig. Außerdem sitzt man nett und kann Menschen sehen, ohne sich unterhalten zu müssen. Ich hasse es, mich unterhalten zu müssen. Also, ich hatte gefrühstückt, und als ich das Geschäft verlies, sah ich in der Gartenausstellung diesen Stuhl. Ein Stahlrohrgestell, an dem sich eine Art Netz als Sitzfläche und Lehne spannte. Um es gleich zu sagen: Ich interessiere mich nicht für Möbel! Mein Zimmer ist klein, ich wohne möbliert, und bin ohne unnötigen Schnickschnack eingerichtet. Aber dieser Stuhl sprach mich an. Wahrscheinlich war es seine ungewöhnliche Form, jedenfalls setzte ich mich hinein und fand es wundervoll. Herrlich bequem. Durch die Federung und die Nachgiebigkeit von Sitzfläche und Lehne passte er sich jeder Bewegung an. Hatte ich wirklich nicht vermutet, so merkwürdig wie der aussah. Dazu noch die Sonne und das Treiben auf dem Parkplatz. Es war so angenehm, dass ich bald eine halbe Stunde dort sitzen blieb. Dann ging ich nach Hause und selbst dort ging mir der Stuhl nicht mehr aus dem Kopf. Zwei Tage später besuchte ich das Geschäft erneut, und wieder setzte ich mich nach dem Frühstück in die Sonne in dieses wunderbare Sitzmöbel. Diesmal hatte ich mir sogar eine Zeitung mitgebracht und blieb fast zwei Stunden dort. So ging es einige Wochen. (aus "Lebst du noch oder wohnst du nur?)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

DER CHEF

 

Der Mann, der mich empfing, war ungefähr in meinem Alter. Er sah mir sogar ein wenig ähnlich. Allerdings nur, was den Bauchansatz und die schütteren Haare betraf. Nun ja, die Größe stimmte auch noch, aber das war es auch schon. Mein Gegenüber strahlte Autorität und Freundlichkeit aus, war leger, aber teuer gekleidet, was man von mir nicht behaupten konnte. Er kam direkt auf mich zu und hielt mir die Hand hin. Meine streckte sich ihm reflexartig entgegen. Während mein Gesichtsausdruck wohl verängstigt war, strahlte der seine pures Wohlwollen aus. „Hallo Martin. Martin ist doch richtig?“ Ich nickte automatisch. Er wandte sich an seine Sekretärin: „Elke, bringen Sie doch bitte Kaffee und vielleicht etwas Gebäck. Wir haben Martin sicher mit unserer Einladung in Aufregung versetzt. Bestimmt hat er heute Morgen noch gar nichts runtergekriegt.“ Er wandte sich wieder mir zu: „Gebäck ist doch in Ordnung? Oder lieber etwas Deftiges?“ Ich kriegte keinen Ton raus und schüttelte den Kopf. Er nickte und wandte sich wieder der Frau zu: „Martin hat sicher recht, am besten etwas Herzhaftes und etwas Süßes.“ Sie lächelte zustimmend und wandte sich zum Gehen.

Waren die hier alle verrückt? In meinem Kopf ging es drunter und drüber. Man hatte mich dabei erwischt, widerrechtlich in einem Geschäft zu wohnen, doch statt mich anzuschreien und die Polizei zu rufen, machte man sich Sorgen, was ich am liebsten zum Frühstück hätte.

Mittlerweile saß ich an dem kleinen runden Tisch, der etwas abseits vom Schreibtisch stand, und kriegte noch immer nicht den Mund auf. Nur meine Gedanken rasten: Anscheinend würde ich noch einmal glimpflich davon kommen. Statt Anzeige und Verurteilung sah es hier eher so aus, als wenn ich mit einem Frühstück, einer Standpauke und einem Geschenkgutschein davon kommen würde. Gerade als ich mit überlegte, ob ich mich vielleicht erst einmal entschuldigen solle, begann Sven zu sprechen: „Also Martin, sagen Sie mal, was gefällt Ihnen so gut an IKEA, dass Sie hier Ihr Wochenende verbringen?“

Ich räusperte mich kurz. Plötzlich war meine Stimme wieder da, und ich erzählte ihm alles von Anfang an. Die Sache mit dem Gartenstuhl, wie ich den ersten Regentag hier verbrachte und wie ich dann letztendlich das Wochenende geplant hatte. Ich schloss mit: „Es tut mir leid, Herr Jürgens, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe, aber die Verlockung war einfach zu groß. Sehen Sie, ich lebe allein. Nicht dass ich mich beklagen möchte, es ist meine eigene Entscheidung, daher bin ich gerne hier in Ihrem Geschäft. Hier ist alles bunt und gemütlich und ich kann Leute sehen, ohne ihnen zu nahe zu kommen oder mit ihnen sprechen zu müssen.“

Er nickte verständnisvoll und fragte mich nach meiner materiellen Lage. Ich erklärte, dass ich arbeitslos sei und dass meine Verhältnisse eher beengt wären.

Er sah aus, als wenn er etwas Ähnliches erwartet hatte, wirkte aber verständnisvoll und sagte: „Das ist sicher nicht leicht und in unserem Alter ist es ja auch nicht mehr einfach, etwas zu finden, nicht wahr?“

Ich wollte gerade antworten, dass ich mir nicht vorstellen könnte, dass er meine Probleme wirklich versteht, denn schließlich hatte er ja einen guten Job und, den Bildern auf seinem Schreibtisch nach zu schließen, eine Familie. Also nicht, dass ich das wollte. Na ja, eine Arbeit, die mir Spaß machte schon, aber eine Familie? Menschen, die Ansprüche an mich stellten? Nein, das nicht. Doch bevor ich etwas sagen konnte, kam Elke mit dem Frühstück. Sie hatte wirklich an alles gedacht. Brötchen, Kaffee, Schinken, Rühreier, Lachs und auch Kuchen. Das war nicht von schlechten Eltern und nach all der Aufregung knurrte mir der Magen. Also griff ich herzhaft zu.

Während des Frühstücks unterhielten wir uns über banale Themen wie das Wetter, die Verkehrslage und so. Ich hatte schon fast vergessen, warum ich hier war, als Herr Jürgens, oder besser gesagt Sven, seine Tasse zurückschob und ernst wurde:

„Also Martin, sicher fragen Sie sich, warum ich keinen Aufstand mache, dass Sie bei uns übernachtet haben, denn schließlich, auch wenn wir es nicht so empfinden, stellt es ja den Tatbestand des Hausfriedensbruches dar.“ Er sah mich ein wenig streng über seine Brille hinweg an. Doch gleich darauf blinzelte er wieder freundlich und sprach weiter: „Dass ich es nicht tue, hat damit zu tun, dass wir beide dieselbe Idee haben, also im Ansatz zumindest. Sie finden unsere Möbel so schön und fühlen sich in unsere Ausstellung so wohl, dass Sie sogar eine Anzeige riskieren. Das freut uns natürlich, und nachdem wir festgestellt hatten, dass das Arbeitszimmer, in dem sie den einen Nachmittag saßen, an diesem Tag drei Mal so oft verkauft wurde wie sonst, kamen wir ins Grübeln.“

Nun wurde mir klar: Die hatten mich die ganze Zeit beobachtet!

Sven lachte, er schien meine Gedanken zu lesen: „Ja, sicher haben wir Sie entdeckt, meine Assistentin war auch dafür, Sie sofort entfernen zu lassen, aber ich wollte erst einmal abwarten, was passiert, und hatte recht.“ Er sah sehr zufrieden mit sich aus.

Ich warf ein: „Vielleicht ist es nur ein Zufall gewesen, dass Sie dieses Zimmer den Tag öfters verkauft haben.“

Er verneinte: „Martin, das ist kein Zufall. Die Konzernzentrale hat schon vor Jahren eine Umfrage unter unseren Kunden veranstaltet. Es ging darum, unsere Ausstellung noch attraktiver zu gestalten, und eine erstaunliche Anzahl von Kunden äußerte den Wunsch, sie belebt zu sehen.“

Das verblüffte mich nun wirklich.

Sven schenkte sich Kaffee nach und nickte mir verständnisinnig zu: „Ich war genau so überrascht, aber dann kam ich ins Nachdenken und es erschien mir immer logischer. Nicht nur, dass sie die Möbel im Gebrauch sehen würden, natürlich war mir auch klar, welche Werbemöglichkeiten uns da für Küchengerätschaften, Geschirr und Accessoires entstehen würden.“ Sein Blick wurde verträumt und gleichzeitig berechnend. Wahrscheinlich sah er vor seinem inneren Auge lange Schlangen von Menschen mit wohlgefüllten Einkaufskörben an den Kassen seines Geschäftes stehen. Ein wenig verwundert stellte ich fest, dass er mir nicht unsympathisch war, obwohl ich Geschäftsleute und Kapitalismus ablehne. Ich bin immer Sozialdemokrat gewesen und würde es auch bleiben.

Mit einem bedauernden Seufzer löste sich Sven aus seiner Gedankenwelt und wandte sich wieder mir zu: „Sehen Sie Martin, bis Sie es sich in unserer Ausstellung gemütlich machten, sahen wir keine Möglichkeit, unsere Erkenntnisse umzusetzen. Sie haben uns da auf eine Idee gebracht. Also kurz gesagt, ich möchte Ihnen einen Job anbieten.“

Wie bitte? Einen Moment glaubte ich, mich verhört zu haben. Ein Jobangebot, das hatte ich schon seit Jahren nicht mehr erhalten. Nicht, dass ich mich groß drum bemüht hätte. Dass mich keiner wollte, war schon in Ordnung. Die Welt um mich herum war mir suspekt und so wenig ich mich in ihr zurechtfand, so wenig konnte sie mich gebrauchen. Und nun ein Jobangebot von einem angesehenen Unternehmen, und nicht etwa durch eine offizielle Bewerbung, sondern durch eine quasi Straftat. Plötzlich musste ich lachen, bis mir die Tränen übers Gesicht liefen. Lachen, wie ich noch nie in meinem Leben gelacht hatte. Sven sah mich ein wenig unsicher an, aber ich konnte keine Erklärung geben, da das Lachen meine Sprechversuche erstickte. Es war einfach zu komisch, und auch schwer zu erklären. Mein Sachbearbeiter im Jobcenter, der mich immer wie ein Stück Müll ansah, forderte stets, dass ich mehr Eigeninitiative entwickeln sollte. So hatte er sich das bestimmt nicht vorgestellt.

Mein Gesprächspartner reichte mir ein Kleenextuch und ich trocknete meine Augen. Langsam bekam ich wieder Luft und erklärte ihn, was mich so zum Lachen veranlasst hatte.

Das fand er nun auch zum Lachen, wurde aber schnell wieder ernst. „Ja, es ist schon seltsam und bestimmt nicht das, was der Herr gemeint hat. Aber wie heißt es? Manchmal muss man ungewöhnliche Wege gehen.“

Nachdem ich mich nun wieder gefasst hatte, wurde ich gleich wieder unsicher und fragte zögerlich: „Bieten Sie mir eine Stelle als Verkäufer an? Dazu muss ich Ihnen gleich sagen, habe ich keine Eignung. Nicht einmal ansatzweise. Menschen verunsichern mich und ich mag nicht mit ihnen sprechen.“ Bei der Vorstellung, Möbel verkaufen zu müssen und mit zänkischen Frauen über Farben und Liefertermine zu streiten, während ihre Männer mich herablassend als lebensuntüchtig einstuften, stieg Panik in mir auf. Mir wurde die Luft knapp und ich sah mich ängstlich nach der Tür um.

Sven Jürgens legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter: „Nur die Ruhe Martin, keine Angst. Verkäufer sollen Sie nicht werden. Jedenfalls nicht im klassischen Sinne.“

Ich fuhr auf: „Was heißt, nicht im klassischen Sinne?“

Jürgens winkte mich zu seinem Schreibtisch und betätigte die Maus seines Computers. Der Bildschirmschoner verschwand vom Monitor und es erschien das Bild einer Wohnung. Küche, Bad, Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer.

Das Angebot

 

Begeistert zeigte er auf den Monitor: „Sehen Sie Martin, das schwebt mir vor. Eine Musterwohnung in der Ausstellung, die Sie bewohnen sollen.“

Meine Gedanken rasten. Was war das denn für eine Idee?

Sven lächelte liebevoll auf den Bildschirm und erklärte dabei: „Seit wir Sie entdeckt haben, habe ich Gespräche mit der Konzernleitung geführt. Sie sind begeistert und haben uns grünes Licht gegeben, hier in Kiel ein Experiment zu starten. Wenn es erfolgreich ist, wird es erst in ganz Deutschland und später weltweit umgesetzt werden. Wir werden Trendsetter sein, nicht nur was unsere Produkte betrifft, sondern wir werden auch werbungstechnisch ganz neue Maßstäbe setzen.“

Mir wurde schwindelig und ich musste mich setzen. Sven riss sich umgehend vom Monitor los und kam ebenfalls zurück in die Sitzecke: „Entschuldigen Sie Martin, aber ich bin so aufgeregt.“

Er wirkte wie ein kleiner Junge und das beruhigte mich einigermaßen. Mir war diese kindliche Freude fremd, und bei anderen, egal wie alt, empfand ich sie als irritierend. Doch dieser Mann hatte etwas Mitreißendes. Vielleicht empfand ich es auch nur so, weil ich Anteil an allem hatte. Aber bei aller Sympathie, wir mussten hier zu Ende kommen, und so bat ich ihn, konkret zu werden.

Er räusperte sich: „Also wir stellen Sie uns als Bewohner dieser Musterwohnung vor. Sie würden darin wohnen und einen normalen Alltag gestalten. Sie wissen schon, Frühstück machen, lesen, am Computer sitzen und was auch immer.“

Unsicher fragte ich: „Aber würden die Leute denn in meine Wohnung reinkönnen? Ich meine, würden sie in meiner unmittelbaren Nähe sein?“

„Nein, Martin, wir würden die Wohnung verglasen, die Kunden könnten sie sehen, aber nicht mit Ihnen sprechen und Sie auch nicht berühren. Wie im Fernsehen.“

Ein Teil von mir empörte sich und zog Vergleiche zu einem Aquarium oder einem Zoogehege. Doch ich spürte auch Neugierde und Freude über das Angebot. In erster Linie einmal deswegen, weil es mir den Aufenthalt hier ganz legal ermöglichte. Welche Erleichterung, nachdem ich schon befürchtet hatte, weltweit in allen IKEA-Fillialen Hausverbot zu bekommen. Doch erst einmal brauchte ich mehr Informationen.

„Also gut, die Menschen können mir nicht direkt nahekommen, aber jeder hat doch Verrichtungen in seinem Tagesablauf, die er gerne ungestört erledigen würde. Also Toilette und so. Wie soll das gehen?“

Sven lächelte: „Da haben wir natürlich dran gedacht. Wir haben noch einen versteckten Raum angefügt, in dem sich ein Bad befindet, das nicht einsehbar ist. Sozusagen ein Bad hinter dem Bad.“

Mir kam die nächste Frage: „Ich habe mir ja nun ihre Ausstellung angesehen und bemerkt, dass ihr Erfolg auch darauf beruht, dass die Leute die Dinge nicht nur in einer natürlichen Umgebung sehen, sondern auch berühren können.“

Mein Gegenüber sah mich anerkennend an: „Gut erkannt Martin. Das war ein Punkt, der uns große Sorgen bereitete, dabei ist die Lösung so einfach. Wir werden aufgelockert und ein wenig abweichend von der sonstigen Ausstellung die Möbel und Dinge aus der Wohnung um diese herum stellen. Da sind unsere Designer und Psychologen schon dran.“

Seine Anerkennung tat mir gut, und etwas selbstsicherer fragte ich nach weiteren Details.

„Wir stellen uns vor, dass Sie sechs Stunden am Tag in der Wohnung zu sehen sind. Zu unterschiedlichen Tageszeiten. Sechs Stunden die Woche sind für Arbeiten um den eigentlichen Job herum vorgesehen. Also Friseur, Kleidung. Einweisung in den Umgang mit neuen Produkten.“

Ich überlegte kurz: Das hörte sich gar nicht schlecht an. Sicher, das mit dem Friseur und der Kleidung war nicht meines. Aber ein paar Zugeständnisse musste man wohl machen. Aber die Arbeitszeit war in Ordnung und, die Hauptsache, ich konnte hier sein. Doch ich wollte nicht zu begeistert scheinen, also fragte ich mürrisch: „Was soll ich denn die sechs Stunden in der Ausstellung tun? Zu Hause mache ich meistens nichts, außer Lesen oder kochen, und das wird die Leute ja nicht interessieren.“

Er lachte: „Nein sicher hat niemand Lust Ihnen beim Trübsal blasen zuzusehen. Das würde die Leute eher deprimieren. Wir wollen ja, dass sie motiviert werden und kaufen, weil sie leben wollen wie Sie.“ Ernster vor er fort: „Ich will Ihnen auch offen sagen, dass unsere Marketingabteilung Sie nicht für den passenden Kandidaten hält. Sie meinen Sie würden nicht genug Erfolg und Optimismus ausstrahlen, auch halten sie Sie für zu alt.“

Er sah das empörte Aufflackern in meinen Augen und winkte ab: „Keine Aufregung, die Typen in dem Bereich versuchen krampfhaft, noch wie siebzehn zu wirken, auch wenn sie dicht vor der Rente stehen. Was diese Leute nicht erkennen, ist, dass die Kaufkraft nicht bei den sehr jungen Leuten liegt, sondern bei den Menschen unserer Altersklasse. Es gibt immer mehr Ältere, und die wollen wir ansprechen.“

„Aber Ihr Angebot ist doch sehr auf junge Menschen ausgerichtet,“ wagte ich einzuwenden.

„Das stimmt, aber seien wir doch mal ehrlich, wer bezahlt denn dem Studenten oder der jungen Familie die ersten Möbel? Die Eltern! Also Menschen wie wir. Wenn ich daran denke, was mich der Auszug meiner beiden Töchter ohne den Personalrabatt hier gekostet hätte! Mann oh Mann!“ Er schüttelte traurig den Kopf: „Doch das ist eine andere Sache. Wie gesagt, Sie haben recht. Aber Sie sollten auch bedenken, dass die Gesellschaft sich verändert, wie gesagt, die Menschen werden immer älter, und gleichzeitig wollen sie nicht alt sein. Also wird sich auch unser Sortiment entsprechend anpassen. Sie sind genau der Richtige, glauben Sie mir.“

Das machte mich nun verlegen, zumal ich das gar nicht fand. Aber es gefiel mir, dass jemand anders mich so wahrnahm.

Schließlich blieb nur noch die Frage nach der Bezahlung, die ich ein wenig zögerlich stellte. Sven lächelte verschmitzt: „An dieser Stelle würde ich jetzt nach Ihren Vorstellungen fragen, und froh sein, dass Ihr schlechtes Gewissen wegen der illegalen Übernachtung hier Sie veranlasst, nicht in der oberen Preisklasse Forderungen zu stellen. Aber das lassen wir mal.“

Er nahm einen Zettel, schrieb etwas darauf und schob ihn mir rüber. Verblüfft las ich die recht hohe Summe, bemühte mich aber, meine Freude nicht zu zeigen.

„Nun, sind wir uns einig? Das ist natürlich nur das Anfangsgehalt. Das ist durchaus nicht das Ende der Fahnenstange. Später kommen noch Spesen, Sondervergütungen und Werbeeinnahmen dazu. Gar nicht davon zu reden, dass Sie natürlich die Ausstattung, die wir Ihnen stellen, behalten können.“

Einen Moment war ich versucht noch weitere Fragen zu stellen, denn bei diesen Aussichten musste ein Haken sein. Dann hörte ich auf die Stimme in mir, die sagte: „Greif zu, so eine Chance erhältst du nie wieder.“

So schlug ich ein und wir verabredeten, dass ich die nächsten Tage meine Angelegenheiten mit dem Jobcenter klären sollte. Die erste Besprechung und mein erster Arbeitstag würde dann der nächste Montag sein. Um 08:30 würde es mit einer Besprechung der Marketingabteilung und Jürgens beginnen.

Die letzten Tage im alten Leben

 

Die nächsten Tage hatte ich gut zu tun. Meine Zweifel, dass Sven Jürgens sein Angebot wirklich ernst gemeint hatte, wurden schnell zerstreut, denn schon am nächsten Tag hatte ich einen unterschriebenen Arbeitsvertrag im Briefkasten.

Bis ich diesen in meinen Händen hielt, hatte ich es noch immer nicht glauben können. Nach all den Jahren einen wirklich guten Job, der auch noch meiner Veranlagung entsprach. Ich bin bestimmt nicht faul, und meinen letzten Job hatte ich sehr gerne gemacht. In der Objektbewachung arbeitete ich alleine und brauchte mich nicht mit Kollegen abgeben. Leider war ich dort wegen Krankheit gekündigt worden. Auch war diese Arbeit natürlich nicht gut bezahlt gewesen. Das war jetzt anders. Ich hatte mir schon ausgerechnet, dass ich einiges würde sparen können, wenn ich diesen Job durchhielt. Selbst wenn es nur zwei Jahre wären. Dann würde ich fürs Erste wieder Arbeitslosengeld I bekommen und hätte einige Rücklagen. Das würde es mir ermöglichen, auch einmal etwas zu unternehmen. Vielleicht zu verreisen. Afrika oder Island. Diese Länder hatten mich immer schon gereizt.

Doch ein Schritt nach dem anderen und der erste führte zum Jobcenter. Herr Meier-Diesterberg, mein Sachbearbeiter, fiel fast hinten über, als er meinen Vertrag las. Er ging ihn zweimal durch, schnappte nach Luft und sah mich das erste Mal nicht wie etwas an, das die Katze ins Haus geschleppt hat.

„Alle Achtung Herr Rusch. Da kann man wohl gratulieren!“ Er musterte mich von oben bis unten und etwas von dem alten Ekel trat wieder in seinen Blick: „Sie hatte ich schon ganz aufgegeben. Ich meine, Sie sind nicht gerade das, was ein Arbeitgeber sucht! Sehen Sie sich nur mal an.“ Seine Augen blieben an meiner zu weiten, nicht ganz sauberen Jeans hängen. Angeekelt wandte er sich ab und rückte einen Papierstapel zwischen uns, um eine deutliche Grenze zu ziehen. Er selber war natürlich wie aus dem Ei gepellt.

Kopfschüttelnd vor er fort: „Wie sind Sie bloß an diesen Job gekommen? Ich habe gar nichts von diesem Stellenangebot mitbekommen.“ Er blätterte in dem Vertrag und da stach ihm das Gehalt in die Augen. Anscheinend glaubte er, sich verlesen zu haben. Jedenfalls nahm er die Designerbrille ab, putzte sie ausgiebig, hieb sie sich wieder auf die Nase und las erneut.

„Donnerwetter, Sie verdienen da ja mehr als ich“, brach es empört aus ihm heraus. „Wie haben Sie das nur hingekriegt, dass jemand Ihnen einen solchen Betrag zahlt?“ Sein Blick ruhte wieder abfällig auf mir. Langsam wurde ich sauer und streckte energisch die Hand nach meinem Vertrag aus, während ich sarkastisch antwortete: „Durch Eigeninitiative, Herr Meier-Diesterberg, durch Eigeninitiative. Darf ich nun bitten, dass wir hier voranmachen? Ich habe noch einiges zu erledigen.“

Er reichte mir den Vertrag und meinte verärgert: „Eigeninitiative wie?“ Während ich meine Sachen packte, knurrte er: „Sehen Sie zu, dass sie diese Chance nicht vermasseln. Aber was rede ich, Typen wie Sie landen doch immer wieder hier.“

Mit zornrotem Kopf verließ ich sein Zimmer, schlug die Tür zu. Ein kleines Stimmchen in mir flüsterte aber: „Der Mann hat doch recht, du bist doch ein Versager und hast noch jede Chance in den Sand gesetzt.“ Das machte mich noch wütender und entschieden sagte ich laut: „Du schaffst es diesmal, die sehen dich hier nie wieder.“ Ein Mann, der mir entgegenkam, nickte begeistert und sagte: „Gut so, Bruder. Zeig ihnen, was ne Harke ist.“

Am nächsten Morgen kündigte ich meinen Job bei der Zeitung, und nun hatte ich frei. Eigentlich wäre ich gerne zu IKEA gefahren und hätte im Restaurant gefeiert, aber das konnte ich nun nicht. Es war merkwürdig. Ich hatte Hemmungen, in diesem Zwischenstadium dort als Gast zu sein. Denn das war ich ja noch. Aber eben nur bis Montag, dann wäre ich ein Mitarbeiter und die Menschen die dort arbeiteten, meine Kollegen. Doch feiern wollte ich diese Veränderung meiner Lebensumstände, und so erlaubte ich mir ein Essen in einem richtig feinen Restaurant. Sogar eine Käseplatte gönnte ich mir zum Dessert.

Ich weiß nicht, ob es dran lag oder an der Aufregung wegen Montag, jedenfalls schlief ich extrem schlecht und erwachte gegen Morgen schwitzend und um Atem ringend aus einem Albtraum.

Beim Frühstück versuchte ich die Fragmente des Traumes zusammenzukriegen und plötzlich erinnerte ich mich genau:

Ich war in meiner IKEA-Wohnung. Hatte dort am Küchentisch gesessen und vor der Glasscheibe drängelten sich die Leute. Sie zeigten mit dem Finger auf mich, und jemand hatte ein Schild: „Füttern verboten“ aufgehängt. Die Blicke der Leute waren aufdringlich und es wurden mehr und mehr. Einige klopften ungeduldig mit den Fingern an das Glas und riefen: „Nun tu doch mal was.“

Ich war wie erstarrt. Konnte nur da sitzen und mich hin und her wiegen, wie ich es einmal bei einem Gorilla im Zoo gesehen hatte.

Plötzlich zerbrach die Glasscheibe und die Menschen drängten sich in die Musterküche, ihre Hände griffen nach mir. Sie schrien auf mich ein, zogen an meiner Kleidung und an meinen Haaren und ich schlug nach ihnen. Das schien sie eher zu belustigen statt zu beeindrucken. Schließlich kam das Wachpersonal und ich war erleichtert. Zwei Männer drängten die Menschen zurück und die anderen beiden nahmen mich zwischen sich und wollten mich in Sicherheit bringen. Da bemerkte ich, dass meine Hand nur noch an einem Faden mit dem Arm verbunden war. Es blutete nicht, keine Sehnen und keine Knochen, sondern nur Kabel und Drähte hielten die Verbindung. Erschrocken zeigte ich den Wächtern, was passiert war. Der eine klopfte mir auf die Schulter und meinte: „Keine Sorge, in der Werkstatt kriegen die dich wieder hin.“ Dann hoben sie mich hoch und brachten mich aus dem Geschäft.

Plötzlich waren wir in einer Fabrik, mit einer Fertigungsstraße, an der Menschen Martinköpfe auf Martinkörper schraubten und unzählige Modelle von mir bauten. Ich war entsetzt und wollte schreien, aber ich kriegte keinen Ton heraus. Plötzlich stand Sven Jürgens vor mir, in einem Overall mit einer Werkzeugkiste in der Hand, und sagte: „Ruhig Martin, wir kriegen das schon wieder hin.“ Dann riss er an meinem Arm und dieser rutschte aus dem Ärmel meines Pullovers. Jürgens schmiss ihn weg und nahm aus seiner Kiste einen neuen Arm, der sehr viel kräftiger war als mein alter und aus Metall. Er schob ihn in den Ärmel und arretierte ihn in der Achselhöhle. Jürgens nickte zufrieden, doch dann verzog sich sein Gesicht ängstlich und auch ich merkte, dass etwas nicht stimmte. Das Metall breitete sich aus, überzog meinen ganzen Körper, und ich begann zu schreien.

 

Sicher nur die Aufregung versuchte ich mich zu beruhigen, und schob die Erinnerung an den Traum beiseite. Ein Blick auf die Uhr und ich sah, dass es Zeit war zu gehen.

An der Tür sah ich mich noch einmal in meinem Zimmer um und fragte mich, ob ich wohl noch der Alte sein würde, wenn ich heute Abend nach Hause käme.

Teamsitzung

 

Punkt 08:25 stand ich in Jürgens‘ Vorzimmer und wurde von seiner Sekretärin freundlich in das Büro meines neuen Chefs geleitet. Dort stand ich nicht nur dem freundlichen Sven gegenüber, sondern noch vier wildfremden Menschen. Eigentlich hatte ich erwartet ...? Ja, was eigentlich? Vielleicht eine Wiederholung meines letzten Besuches hier? Damals war ich zu Gast, heute war ich ein Mitarbeiter, und als dieser musste ich natürlich auch andere an dem Projekt Beteiligte kennenlernen. Und das mir, der die Menschen doch nun wirklich nicht mochte. Sven hatte wohl mein Zurückzucken bemerkt und kam auf mich zu:

„Keine Angst Martin, du bist hier unter Freunden. Die beißen nicht. Also komm herein und dann wollen wir auch gleich in medias res gehen.“

Er legte seinen Arm auf meine Schulter und schob mich mit sanften Druck auf den mir zunächst stehenden Mann zu.

Himmel, dachte ich, genau mein Typ. Schwarzes Haar mit Gel gestylt. Gezupfte Augenbrauen, Sonnenbräune, auffällige, bunte Kleidung und, wie sollte es anderes sein, ein Ohrring. In den manikürten Händen ein Smartphone und eine Kaffeetasse. Jürgens stellte mir den jugendlich wirkenden Mann als Roger Hansen, Typberater, vor. Wir begrüßten uns durch ein kurzes Kopfnicken, bevor ich weiter geschoben wurde. Die nächsten wurden mir als Enno Gutzeit, Harald Schmidt (haha natürlich nicht „DER“ Harald Schmidt) und Marc Liebig, kurz: die Werbeabteilung, vorgestellt. Auch hier ein interessierter Blick auf mich und ein nichtssagendes Lächeln aus den drei Gesichtern. Als ich ebenfalls mit einer Tasse versorgt worden war, forderte Jürgens uns auf, ihm in den an sein Büro angeschlossenen Konferenzraum zu folgen.

Nachdem wir uns um den Tisch versammelt hatten, eröffnete Jürgens das Gespräch:

„Also meine Herren, das Projekt ist bekannt. Wir haben bereits einiges auf der letzten Sitzung besprochen und vereinbart, heute konkreter zu werden. Vielleicht kann Harald das Ergebnis unserer letzten Sitzung noch einmal zusammenfassen, damit auch Martin auf dem neusten Stand ist, und dann gehen wir in die Planung der Umsetzung.“ Er wandte sich an Harald Schmidt. Dieser trank einen Schluck Wasser, räusperte sich und begann:

„Also, auf der letzten Sitzung haben wir herausgearbeitet, wie die Wohnung konzipiert sein soll und wo sie ihren Platz findet in unserer Ausstellung. Wir haben uns dafür entschieden, mit diesem Modell in erster Linie alleinstehende Männer anzusprechen. Frühere Umfragen haben ergeben, dass es hier nicht so wichtig ist, aus welchem Berufszweig der Käufer kommt, sondern was er eigentlich verkörpern möchte. Das ist bei Männern so um die vierzig der erfolgreiche, unabhängige Junggeselle. Einer, der sein Leben genießt, Schöngeist besitzt und es gerne chic und bequem hat. Was wiederum bedeutet, dass wir die Wohnung in diesem Stil anrichten werden. Also eher Produkte aus dem gehobenen Preissegment, gemischt mit einigen Schnäppchen. Daran sollte natürlich Martins Erscheinungsbild angepasst sein. Eine Vita hierzu hat Enno entworfen und wir anderen fanden sie in Ordnung. Wenn du jetzt vielleicht übernimmst?“

Enno blätterte in seinen Notizen, überflog kurz die entsprechenden Seiten auf seinem Block und begann: „Also, wir stellen uns Martin als Freiberufler vor, Berater, Journalist oder Fotograf. Na ja, jedenfalls irgendwas, wo er viel von zu Hause aus arbeitet. Er lebt alleine, führt aber ein sehr reges Leben. Ist interessiert an Lifestyle, Kunst, gutem Essen und lädt auch gerne mal Freunde ein.“ Er unterbrach sich und sah mich resigniert an, als wenn er sagen wollte: „Wie du es hinkriegen sollst, so einen Typen zu verkörpern, weiß ich nicht. Wer hatte bloß die dämliche Idee, dich einzustellen.“ Ehrlich gesagt hatte ich das Gleiche gedacht, aber bei ihm ärgerte es mich und ich blitzte ihn zornig an. Sven hatte unseren Blickwechsel gesehen und auch er wusste, was Enno dachte, und es schien ihn zu amüsieren. Seine Lippen umspielte ein ironisches Lächeln als er das Wort ergriff: „Enno, Enno, du zweifelst doch nicht etwa an meiner Menschkenntnis.“ Seine Augen richteten sich auf mich: „Martin wird das sehr gut machen. Davon bin ich fest überzeugt.“ Ehrlicherweise fügte er hinzu: „Ich weiß, dass er im Moment sicher nicht so aussieht, aber um ihn ein wenig aufzupolieren, haben wir ja Roger dabei.“ Er sprach Hansen an: „Meinst du, dass Martin bis Donnerstag so weit ist?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752133530
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Kindheit Kurzgeschichten Baba Yaga Einsamkeit Erzählungen

Autor

  • Karin Braun (Autor:in)

Geboren in Pinneberg. Floh die Kleinstadt schnell. Es folgten kurze Ausflüge in verschiedene Berufe, um schließlich beim Schreiben zu landen. Karin Braun lebt in Kiel und arbeitet als Autorin, Literaturbloggerin, Herausgeberin – kurz: Sie macht was mit Büchern.
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Titel: Du bist raus!