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Das Geheimnis der Bilder

Detektiv Gummimann

von Tino Keller (Autor:in)
200 Seiten

Zusammenfassung

Detektiv Gummimann, bekommt den Auftrag, drei verschollene Bilder wieder zu beschaffen. Seine Fähigkeit, die Körpergrösse zu verändern, hilft ihm dabei. Die Bilder bringen ihn in ein Land, das noch im tiefsten Mittelalter steckt. Der schöne Eindruck, vom friedlichec Leben, zeigt bald seine düstere Seite. Der Herr, der das Land beschützen soll, stellt sich als unfähig heraus, seinen Auftrag zu erfüllen. Der mächtige Herrscher und Tyrann des Nachbarlandes nimmt diese Ländereien ein, beeinflusst den Geist der jungen Männer des Dorfes und verschleppt sie in seine Armee. Detektiv Gummimann ist mitten drin … Obwohl sich Detektiv Gummimann wie Kindergeschichten anhört, sind es keine. Es sind Erzählungen, für Leser ab zwölf Jahren, die jeden fesseln. Dieser Detektiv ist kein Held, aber Dank seiner Fähigkeit, die Körpergrösse zu verändern, kann er helfen Kriminalfälle und andere Probleme zu lösen. Oft helfen ihm Glück und richtige Entscheide dabei. Es sind Geschichten, die sich in der Schweiz, in Basel und der näheren Umgebung, und in fremden, unbekannten Ländern abspielen. Wer zu lesen beginnt, hat Mühe das Buch oder den Tolino wegzulegen. Nadja S. aus E. schreibt: Das Buch ist wirklich spannend, fantasievoll und so super, dass ich es jeweils kaum zur Seite legen konnte. Ich freue mich schon auf die nächsten Abenteuer von Detektiv Gummimann.....meinem neuen Schwarm! Barbara S. aus T. schreibt: Kann ich sehr empfehlen, sind so spannend dass ich immer weiterlesen musste.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Teil 1

Es war herrlich, nicht zu warm, ein angenehm kühler Wind sorgte dafür, dass Gummimann nicht ins Schwitzen kam. Frühling im Baselbiet, das Blühen der Kirschbäume und der blaue Himmel führten bei ihm zu einem Hochgefühl. Er genoss es bei diesem Wetter zu joggen, ab und zu blieb er stehen und trippelte an Ort, um nicht den Rhythmus zu verlieren und schaute über die Felder oder ins Tal. Im Moment hatte er nur kleinere Fälle, die nicht besonders wichtig waren, dadurch hatte er etwas mehr Zeit und die nutzte er für seine tägliche körperliche Ertüchtigung. Von Wallgisdorf aus, von den Einwohnern Wallgis genannt, den hinteren Wallgberg hinauf, durch die Felder mit den blühenden Bäumen, dann durch den Wald und durch das Wallgtal zurück zum Dorf. Es schien kein weiter Weg zu sein, aber es waren doch mehr als zwölf Kilometer, mit etlichen Steigungen, die es in sich hatten. Auf der Vorderseite des Wallgberges beim Aussichtspunkt sah er hinunter zum nördlich gelegenen Basel, verfolgte den Verlauf des Rheins und schaute dem emsigen Treiben der Stadt zu. Gummimann beendete sein Trippeln und joggte weiter, es waren noch etwa drei Kilometer bis Wallgisdorf. Niemand war unterwegs, auf seiner Route durch die Wälder war er meist allein, aber genau das gefiel ihm. Manchmal überlegte er sich, ob er laut singen sollte, aber das liess er bis jetzt bleiben, vielleicht auch aus Rücksicht auf die Waldtiere, die seinen Singsang ertragen mussten, der, das musste er zugeben, nicht sehr perfekt war, und das war noch gelinde ausgedrückt. Jetzt noch das letzte Gefälle, dann durch die happige Steigung im Wallgtal und er war, nach einem kurzen Spaziergang durchs Dorf, wieder zu Hause. Er wohnte noch nicht lange dort, erst nach seinen Erlebnissen in Amerika zog es ihn aufs Land. Hier war er schneller in der Natur und trotzdem war er nahe bei der Stadt; eine Viertelstunde mit dem Auto oder alle zwanzig Minuten gab es einen Bus. Schon am Eingang zum Wallgtal hörte er hinter sich eilige Schritte, jemand schien auch zu joggen, war aber sehr schnell. Das würde er in diesem Gelände nicht lange durchhalten, ausser er wäre wirklich ein Top-Sportler. Die Schritte kamen näher und die Person hatte ihn nach kurzer Zeit eingeholt. Ein Mann tauchte auf seiner rechten Seite auf, er überholte ihn aber nicht, sondern passte sich seiner Geschwindigkeit an.

»Sie sind doch Detektiv Gummimann, stimmt's?« fragte dieser stark schnaufend.

»Ja, bin ich, warum wollen Sie das wissen?«

»Man sagt, Sie seien der Beste auf diesem Gebiet«, redete er weiter.

Der Weg wurde steiler und Gummimann kam auch ausser Atem. Durch das Gespräch rannte er schneller, als er das sonst an dieser Stelle gewohnt war.

»Man sagt noch viel, wenn der Tag lang ist.«

»Ja, ich weiss«, jetzt kam der Mann ins Schwitzen, er verlangsamte das Rennen, »aber ich weiss, vieles stimmt trotzdem. Ich hätte einen Auftrag für Sie.« Er hatte langsam Mühe mit dem Reden, immer wieder rang er nach Luft. »Könnten wir uns für einen Moment setzen?«

Gummimann willigte ein und sie setzten sich auf einen Baumstamm, der am Wegrand mit viel anderem Holz, für den Abtransport bereit lag. Geduldig wartete er, bis sich der Mann soweit erholt hatte, dass er reden konnte ohne dauernd nach Luft zu schnappen. Der Mann war mittleren Alters, so gegen vierzig, hatte kurz geschnittene, dunkle Haare mit einer modernen Frisur. Er trug eine diskrete Brille und einen Anzug, der zum Joggen überhaupt nicht geeignet war. Auf einer Bank oder als Politiker wäre er mit dieser Aufmachung besser durchgegangen.

»Joggen ist nicht meine Sache. Man sagte mir, dass ich Sie hier treffen könnte. Mein Name ist Robert Jaeger, ich bin Kunstsammler und Besitzer einer Galerie in Basel. Ich habe ein grosses Problem, ich brauche Ihre Fähigkeiten und ihr Können.«

»Schön, ja, aber in Sachen Kunst, da kenn ich mich überhaupt nicht aus, ich glaube kaum, dass ich ihnen helfen kann. Aber trotzdem, um was geht es?«

»Ja, nun«, er schaute sich um, als ob er sich vergewissern wollte, dass niemand lauschte. »Es wurden mir drei Bilder gestohlen, drei wertvolle Bilder von Daniel Progard. Was sie darstellen, weiss ich nicht genau, ich habe sie nie gesehen, meist zeigen sie relativ freizügige Damen. Ich nehme nicht an, dass sie Progard kennen. Er lebte von 1961 bis 1981 in Paris, hat dort auch seine meisten Bilder gemalt und starb 1982 an Krebs. Seine Bilder sind einzigartig, sie berühren den Betrachter auf eine kaum erklärbare Weise.«

»Und Ihnen wurden die Bilder gestohlen, aus Ihrer Galerie? Gibt es Fotos davon?«

»Nein, nicht aus meiner Galerie, es gibt auch keine Fotos davon und ich hab sie, wie gesagt, noch nie gesehen. Sie verschwanden auf dem Weg zu mir. Aber ich habe ein kleines Bild von Progard, das vielleicht den Ort zeigt, wo die Bilder zu finden sind.«

»Und dieser Progard soll damals schon gewusst haben, wo seine Bilder im Jahre 2014 bei einem Diebstahl versteckt werden? Das glauben Sie ja selbst nicht. So was ist nicht möglich.«

»Ich sagte Ihnen schon, die Bilder sind einzigartig und wenn Sie das Bild betrachten, verstehen Sie das. Ich möchte, dass Sie mir die Bilder zurückholen.«

Gummimann war aufgestanden und schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ich kann das fast nicht glauben, ich brauche Bedenkzeit, ich muss mir das zuerst durch den Kopf gehen lassen.«

Auch Robert Jaeger war jetzt aufgestanden und schaute Gummimann lange und bittend an. Es sah nicht so aus, als gebe er sich einfach so geschlagen.

»Am Geld soll es nicht liegen, sagen Sie mir, was so ein Einsatz kostet. Es ist mir wirklich sehr wichtig, geben Sie mir möglichst bald Bescheid, es eilt, vielleicht sind sonst die Bilder für immer verschwunden oder beschädigt. Hier ist meine Karte, bitte beeilen Sie sich.«

Er drückte unserem Detektiv die Visitenkarte mit Name, Adresse und Telefonnummer in die Hand, verabschiedete sich und ging das Tal hinunter, bis er aus Gummimann's Blickfeld verschwand. Gummimann drehte die Karte mehrmals um, als ob er so mehr Informationen darauf zu finden hoffte. Es kam ihm sehr eigenartig vor. Wie soll ein Bild zu verschwundenen Bildern führen und das von einem Maler, der vor mehr als dreissig Jahren gestorben war. Jaeger war irgendwie speziell, vielleicht ein Spinner. Langsam spazierte er durch das Tal nach Wallgis und es beschäftigte ihn. Joggen war jetzt nicht mehr wichtig, seine Gedanken kreisten um die Anfrage für den Auftrag.

 

Als er zu Hause angekommen war, setzte er sich an den Küchentisch, er musste es mit Sir Clearwater besprechen, vielleicht kannte er den Typ oder den Maler. Alle paar Wochen telefonierte Gummimann mit ihm, sie redeten über die neusten Ereignisse, über Fälle von ihm und von Clearwater, er war ein guter Berater und oft konnte er ihm weiterhelfen. Clearwater arbeitete beim Schweizer Geheimdienst und war seit Langem ein guter Freund von ihm, mit dem er alles besprechen konnte. Sie vertrauten sich und halfen sich gegenseitig, wenn Not am Manne war. Die ganze Sache jetzt mit Jaeger liess ihn nicht los und da war er der richtige Gesprächspartner.

Er nahm sein Handy und wählte.

»Clearwater«, erklang die sympathische Stimme des älteren Herrn.

»Detektiv Gummimann. Hallo Sir Clearwater, alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?«

»Ja, vielen Dank, es ist alles bestens und bei Ihnen auch, hoffe ich. Aber so wie ich Sie kenne und wie Ihre Stimme klingt, wollen Sie sich nicht nur über mein Befinden erkundigen. Es geht um mehr.«

»Sie haben recht«, Gummimann lachte, »Sie haben mich durchschaut, es geht um mehr.«

»Da bin ich ja mal gespannt, ich höre.«

»Ich habe einen neuen Auftrag erhalten.«

»Das ist doch schön.«

»Ja sicher, aber der ist sehr seltsam, ich habe noch nicht zugesagt, darum wollte ich Sie um Ihren Rat fragen.«

Er erklärte Clearwater den Sachverhalt.

»Das heisst, Sie wollen, dass ich Robert Jaeger überprüfe. Das mach ich gerne. In Basel gibt es eine Galerie Jaeger, das weiss ich, aber ihn selbst kenne ich nicht. Der Maler, wie hiess er gleich...?«

»Daniel Progard.«

»Ja, Progard, habe ich noch nie gehört, aber das heisst nicht, dass es ihn nicht gibt. Ich kenne viele Maler, aber längst nicht alle, da kann ich Ihnen vermutlich kaum helfen. Am besten ist, sich im Internet zu informieren. Ich werde mich aber trotzdem umhören.«

»Das habe ich gehofft. Ich werde mich auch ins Internet stürzen. Wenn Sie aber etwas über Jaeger herausfinden, haben Sie mir schon viel geholfen, Sie haben da mehr Möglichkeiten. Vielen Dank Sir Clearwater, ich warte auf Ihren Anruf. Ich glaube, ich sage mal zu. Irgendwie reizt mich der Auftrag. Ich kann immer noch aussteigen wenn ich merke, dass es mich überfordert. Bis bald Sir Clearwater.«

»Auf Wiederhören Detektiv, sobald ich mehr weiss, werde ich mich bei Ihnen melden.«

Gummimann hängte auf und stellte seinen Computer ein. Ein Ausflug ins Internet ist immer nett. Während der PC im Wohnzimmer hochfuhr, ging er in die Küche und holte sich ein paar Brote und Käse. Das war sein Mittagessen. Sonst kochte er für sich, aber dafür hatte er jetzt keine Zeit, der Auftrag war spannender. Es dauerte bis er den Browser vor sich hatte. Auf Google gab er den Namen des Malers ein. Daniel Progard. Es gab tausende von Einträgen über ihn. Die meisten waren Galerien, die Bilder von ihm ausstellten. Einige wenige hatten noch kurze Biographien dabei, aber überall stand ungefähr das Gleiche; wann er geboren war, wo er arbeitete, wann er starb. Eine Biographie war etwas ausführlicher, sie beschrieb, dass Progard das letzte Jahr in einer Psychiatrischen Klinik verbrachte und in dieser auch an Krebs starb. Wo das war, darüber gab sie keine Auskunft. Auf seinen Bildern waren meist Frauen, Gummimann gefielen die Bilder nichts besonders, auf manchen waren die Frauen nackt, liegend, schön, aber sie waren nichts Umwerfendes. Er stellte den PC aus. Lange schaute er noch auf den leeren Bildschirm.

Warum waren die Bilder so wichtig? Warum stiehlt jemand solche Bilder? Warum muss es schnell gehen?

Er stand auf und ging zum Küchentisch, dort lagen Jaeger's Karte und das Handy. Die Küchenuhr zeigte 13.30 Uhr, er überlegte ob er jetzt anrufen sollte oder erst in ein oder zwei Stunden, vielleicht sollte er sogar bis zum Abend warten. Normalerweise freute er sich über neue Aufträge, aber dieses Mal hatte er ein komisches Gefühl dabei. Was genau der Grund war, konnte er nicht sagen.

Vor dem Küchenfenster beobachtete er einen Traktor mit einem Anhänger auf der Strasse, der Fahrer musste seine Ladung neu sichern.

Er beschloss nach einigem Abwägen, sich jetzt zu melden und setzte sich wieder, nahm das Telefon und wählte Jaeger's Nummer. Es läutete zweimal, dann wurde abgenommen.

»Jaeger.«

»Hallo Herr Jaeger, Detektiv Gummimann, ich habe es mir überlegt, ich nehme den Auftrag an.«

»Guten Tag Herr Gummimann, es freut mich das zu hören. Ja, dann treffen wir uns nochmals und ich gebe Ihnen alles was Sie brauchen. Dann können Sie mir auch noch den Preis nennen, den Ihr Einsatz kosten wird.«

»Okay, soll ich zu Ihnen kommen?«

»Nein, treffen wir uns im Freien, im Wald vom Wallgberg, beim Aussichtspunkt mit dem Blick nach Basel. Ich würde mich freuen, wenn das geht.«

»Das geht schon, ist aber sehr ungewöhnlich und wann?«

»16.00 Uhr, geht das?«

»In Ordnung, 16.00 Uhr, beim Aussichtspunkt.«

Er beendete das Gespräch und schüttelte seinen Kopf. 

»Das begreif ich nicht, macht mit mir im Wald ab, eigenartig, sehr eigenartig«, sagte er laut zu sich. »Klienten haben manchmal schon verrückte Wünsche.«

 

 

 

Es war genau 16.00 Uhr, als er beim Aussichtspunkt eintraf. Robert Jaeger sass schon auf der grünen Holzbank und blickte zur Stadt. Es war ruhig, einige Vögel trällerten ihr Lied und ein Kuckuck rief in den Wald hinein.

Gummimann überlegte wieviel Geld er bei sich hatte, der Volksmund sagt: Das Geld, das man beim Ruf des Kuckucks bei sich trägt, hat man das ganze Jahr. Viel war es nicht.

Er setzte sich zu Jaeger auf die Bank.

»Grüss Gott, Detektiv Gummimann, schön dass Sie gekommen sind, ich befürchtete schon, Sie würden es sich anders überlegen.«

»Hallo, Herr Jaeger, ich war nahe daran, ich muss es zugeben, auch Ihr Spezialwunsch, sich hier zu treffen, irritierte mich ein wenig. Es ist nicht üblich, das heimlich im Wald zu tun.«

Robert Jaeger trug noch den gleichen Anzug wie am Morgen. Das weisse Hemd hatte er gewechselt, die Schweissflecken waren verschwunden, auch trug er eine andere Krawatte, eine dunkelblaue mit kleinen Ottifanten.

»Ich weiss, aber ich will nicht, dass mich jemand sieht. Niemand braucht zu wissen, dass mir Bilder gestohlen wurden. Das macht einen sehr schlechten Eindruck und könnte den Einen oder Anderen dazu verleiten zur Konkurrenz zu gehen, um dort auszustellen. So bleibt es unter uns. Ich hoffe, ich kann mich auf Sie verlassen, Herr Gummimann.«

»Das können Sie. Was ist nun genau meine Aufgabe?«

»Wie schon gesagt, die Bilder wieder zu beschaffen. Ich habe hier«, er holte etwas aus seiner Umhängetasche, »ein Bild, das vermutlich auch von ihm ist.« Es war noch mit Plastik umwickelt und er musste es zuerst auspacken. »Da sehen Sie, in diesem Gebäude sind sie vermutlich versteckt.«

Es war ein Bild von einem grossen Gebäude mit einer Statue im Vordergrund.

»Und wie wollen Sie das wissen?«

»Ich spüre das, ich bin mir sicher, dass die Bilder da sind.«

»Und wo soll das sein?«

»Das weiss ich nicht, aber Sie werden das herausfinden, da bin ich mir sicher Sie können das Bild als Hilfe behalten, bis Sie die andern gefunden haben.«

»Eine komische Sache, normalerweise kann man nicht durch Gefühl etwas, das gestohlen wurde, wieder finden. Und wie soll ich wissen, wo dieses Gebäude mit der Statue ist? Was machen wir, wenn Sie sich getäuscht haben? Ich weiss nicht recht, ich kann es versuchen, aber machen Sie sich nicht zu viel Hoffnung.«

»Haben Sie sich überlegt, was Sie für Ihre Arbeit wollen?«

»Die Arbeit berechnet sich nach Zeitaufwand, ich werde Ihnen eine Rechnung zukommen lassen.«

»Vielen Dank, meine Adresse und meine Telefonnummer haben Sie, melden Sie sich bei mir, wenn Sie mehr wissen.«

Als Gummimann wieder allein war, schaute er sich das Bild an das auch von diesem Progard stammen soll. Es war klein, ungefähr zwanzig auf dreissig Zentimeter, mit einem schlichten Rahmen. Man sah ein altes Gebäude, es hätte ein Hotel oder auch ein Schulhaus sein können. Es war eine Farbstiftzeichnung, man konnte jedes Detail erkennen, die vielen Fenster und den Anbau auf der rechten Seite. Vermutlich stand es im Wald, aber das konnte man nicht richtig erkennen. Es schien auch, dass die Umgebung irgendwie im Nebel war. Das Dach war sehr schwarz, als ob es dort gebrannt hätte. Vor dem Gebäude stand die Statue einer nackten Frau, die nur mit einem Tuch ihre Blösse verdeckte.

Und hier, in diesem Gebäude sollen die Bilder versteckt sein, sagt Jaeger's Gefühl. Aber warum sagt sein Gefühl nicht wo das Gebäude steht? Und wo im Gebäude? Ist es im Keller, im Estrich, im Esssaal?

Das Bild hatte einen schönen Rahmen, das musste Gummimann zugeben, die Zeichnung selbst war zwar hübsch, aber für ihn nichts Spezielles. Er versorgte es wieder im Plastik. Dann schaute er noch ein bisschen Richtung Basel und machte sich wieder auf den Heimweg.

 

 

 

Gummimann sass vor dem Computer, in der einen Hand hatte er das Bild, mit der anderen klickte er sich durch die Fotos von Häusern und verglich. Seit zwei Stunden war er damit beschäftigt, der Erfolg blieb bis jetzt aus. Er suchte zuerst Bilder von Schulen, dann von alten Hotels und jetzt war er bei Spitälern und Kliniken angekommen. Viele Gebäude glichen der Zeichnung, aber sie waren es nicht. Entweder hatten sie mehr Fenster, waren höher oder die Umgebung war eine komplett andere, viele waren zu neu oder seit Jahren abgerissen. Es war zum Verzweifeln. Wie sollte er jemals herausfinden, welches Gebäude er suchte und wo es stand. Vielleicht war es auch abgerissen worden oder sah jetzt vollkommen anders aus. Das Bild war mindestens dreissig Jahre alt und in dieser Zeit konnte sich vieles verändert haben. Möglicherweise konnte ihn die Skulptur vor dem Gebäude weiterbringen. Er musste es aber bald wieder aufgeben, da es tausende Bilder von ähnlichen Skulpturen im Internet gab. Wahrscheinlich war es eine Kopie, wie viele andere, die abgebildet waren. Trotzdem fand er nach längerem Suchen noch zwanzig Fotos mit genau dieser Frau, die an verschiedenen Orten standen, doch kein Ort passte. Frustriert lehnte er sich im Stuhl zurück, verschränkte die Hände im Nacken und schloss die Augen.

»Wie soll ich da weiter kommen?«, er sprach laut mit sich.

Er setzte sich in einen seiner Polstersessel. Das Bild von diesem Progard machte ihn fast wahnsinnig, keine Anhaltspunkte, ausser der Vermutung von Jaeger, dass hier die gestohlenen Bilder seien. Es war dunkel geworden, er spürte erst jetzt, dass er Hunger hatte. Durch das Suchen hatte er die Zeit richtig vergessen. Er stand auf und ging in die Küche. Im Kühlschrank fand er noch Aufschnitt.

Sein Handy spielte 'Axel F', das konnte nur Clearwater sein.

»Gummimann.«

»Clearwater, ich hoffe, ich habe Sie um diese Zeit nicht gestört.«

»Nein, sicher nicht, bis Mitternacht können Sie mich problemlos anrufen.«

Er setzte sich an den Küchentisch und packte mit einer Hand das Fleisch aus, mit der anderen hielt er das Telefon.

»Ich sollte für Sie Nachforschungen über Robert Jaeger anstellen. Da gibt es aber nicht viel zu sagen. Er hat eine gut gehende Galerie in Basel, keine Vorstrafen, ist bis jetzt nur durch seine Seriosität aufgefallen. Er hat ein Haus in Bottmingen, im Bertschenacker, ist verheiratet, hat zwei Kinder, noch kleine und er ist Mitinhaber der Galerie Fantos in Zürich. Das wäre alles was ich weiss, nicht viel und nichts Negatives.«

»Das ist gut, ich habe ihm nämlich zugesagt, er hat mir noch ein Bild von diesem Progard gegeben. Auf diesem Bild wäre, so sagt er, der Ort an welchem die Diebe die Bilder versteckt hätten. Verrückt, was? Ich habe den Ort aber nicht gefunden, vermutlich gebe ich ihm das Bild wieder zurück und breche den Auftrag ab.«

»Wäre schade. Apropos, Sie fragten mich noch wegen diesem Progard, ich habe nur eine kurze Biographie von ihm gefunden. In dieser steht, er wäre bis zu seinem Tod in einer Psychiatrischen Anstalt in Eggerswiller im Elsass gewesen.«

»Ja, ich weiss, er war in einer Anstalt. Wo sagten Sie? Sie haben einen Ort?«

«In Eggerswiller im Elsass, so mindestens steht es in der Biografie der Galerie Breitenmoser in Basel.«

»Ich glaube, Sir Clearwater, Sie haben mir geholfen, sogar sehr. Vielen Dank, ich kenne jetzt mein nächstes Ausflugsziel. Ich werde mich wieder bei Ihnen melden.«

Gummimann hängte auf, das Essen konnte warten.

In Google gab er Eggerswiller ein. Es gab viele Einträge, die meisten waren Namen von Leuten, die im Elsass wohnten. Einen Eintrag gab es von einem Dorf Eggerswiller, ein Restaurant wollte umbauen und es musste ausgeschrieben werden. Von einer Klinik aber stand nichts. Auf Google Maps konnte er den Ort finden, es gab dort nur wenige Häuser und eines war wohl das Restaurant, das umgebaut werden sollte, doch auch auf dieser Karte sah er keine Klinik. Gummimann beschloss trotzdem nach Eggerswiller zu fahren, das aber bis morgen Zeit hatte. Er setzte sich wieder in die Küche und ass sein verspätetes Abendessen.

 

 

 

 

Eine Fahrt durchs Elsass ist meistens entspannend und schön, nicht viele Autos, kleine Dörfer, grosse Wälder und Wiesen, noch sehr ländlich. Einzig, die wenigen Autos fuhren schnell und überholten an den unübersichtlichsten Stellen. Auch wenn man glaubt schnell zu fahren, versuchten sie sich noch vorzudrängen. Gummimann hatte eine Schweizer Autonummer und die Elsässer meinten, die Schweizer würden alle schleichen. Seit einer Stunde war er unterwegs, sein Navigationsgerät sollte ihn nach Eggerswiller bringen. Er war erstaunt, dass das Navi einen so kleinen Weiler wie Eggerswiller überhaupt kannte. Es war noch früher Morgen, viele Bauern waren mit ihren Traktoren unterwegs und er musste oft warten oder hinter ihnen her schleichen. Die Einheimischen überholten sie, er hatte nicht den Mut dazu. Plötzlich meldete sich sein Navi, es forderte Gummimann zum Wenden auf, er musste eine Abzweigung verpasst haben. An einer Bushaltestelle stoppte er. Im Rückspiegel versicherte er sich, dass kein Raser ihn überholen wollte und wendete. Etwas langsamer fuhr er den Weg zurück und wartete bis die Dame vom Navi ihn zum Abbiegen aufforderte. Nach vielleicht zwei Kilometern hielt er wieder an. Ein Bauer war damit beschäftigt seinen Anhänger zu entladen.

»Hallo, Bonjour, ich möchte nach Eggerswiller.«

»Oui, Eggerswiller, à droite!«

Er zeigte mit der Hand in die Richtung, was ihm enorm half, sein Französisch war nicht gerade berühmt. Gummimann bedankte sich, der Bauer arbeitete weiter. Bei der nächsten Abzweigung gab es tatsächlich einen Wegweiser nach Eggerswiller, aus dieser Fahrtrichtung war er gut sichtbar. Nach weiteren zehn Minuten kam er zu drei Bauernhäusern und einem Restaurant. Ein Baugerüst zierte den Bau, ein Anbau war neu erstellt worden. Einige Arbeiter malten an der Fassade. Nicht mehr lange und das Werk würde vollendet sein. Ein Schild an der Tür sagte, dass entweder geschlossen war oder man trotz des Bauens eintreten konnte. Seine Sprachkenntnisse waren nicht so gut, dass er genau verstand was geschrieben war. Er parkierte auf dem Parkplatz vor dem Haus und ging zum Eingang. Die Tür war verschlossen, das Schild hiess vermutlich 'Geschlossen', trotzdem klopfte er. Im oberen Stock ging ein Fenster auf, eine junge Frau mit blonden, kurzen Haaren und einer Zigarette im Mund, blickte hinaus. Gummimann hoffte, sie konnte Deutsch.

»Hallo, Bonjour Madame, parlez vous allemand.«

»Bonjour Monsieur, ja ich spreche Deutsch. Womit kann ich behilflich sein?«, fragte sie mit dem typischen Elsässer Dialekt.

»Ich suche eine Klinik, die muss hier in Eggerswiller sein, eine Psychiatrische Anstalt, sie soll ziemlich gross sein.«

»Noch nie davon gehört, ich wohne erst seit Kurzem hier, aber fragen Sie doch Pierre, der wohnt schon lange hier, der weiss Bescheid.«

»Und wo finde ich diesen Pierre?«

»Dort sitzt er«, sie zeigte zum nächsten Bauernhaus, »da, auf dem Bänkchen, er ist alt, aber weiss alles über Eggerswiller.«

Sie verabschiedete sich und schloss das Fenster. Gummimann lief über den grossen Platz, das kleine Weglein hinauf zu dem alten Bauernhaus, vor dem der alte Mann sass. Sein struppiger, langer, grauer Bart und sein schütteres Haar zeugten von seinem Alter, aber seine Augen waren wach und aufmerksam. Er rauchte gemütlich eine Pfeife. Das Haus war nicht mehr im besten Zustand, überall bröckelte der Putz, aber das schien ihn nicht zu stören.

»Sie sind Pierre, stimmt's?«

»Oui, das bin ich, wer will das wissen?«

»Ich heisse Gummimann, bin von der Schweiz und suche hier eine Klinik, ein grosses Gebäude soll das sein.«

»Ja, ich weiss, für Bekloppte, die gab es hier, aber die ist vor dreissig Jahren abgebrannt. Marta meine damalige Frau arbeitete dort. Nach dem Brand war alles vorbei, die Klinik wurde für immer geschlossen. Es gab viele Tote, Monsieur. Meine Frau hatte an diesem Tag frei, ihr Glück. Das waren noch Zeiten, damals. Jetzt gibt es hier nur noch das 'la Poste', früher war das sogar wirklich eine Post, jetzt nur noch ein Restaurant, für Leute, die Geld haben.«

Die Pfeife war ausgegangen, er betrachtete sie lange.

»Gibt es noch etwas von der Klinik?«

»Oui Monsieur, im Wald, ich weiss aber nicht, ob der Weg dorthin noch befahrbar ist. Viel sehen Sie da nicht mehr, das Meiste ist eingestürzt, aber man kann sich noch vorstellen wie gross die Klinik war. Hinter dem Restaurant geht der Weg ab in den Wald, zu Fuss vielleicht dreissig Minuten. Ich würde das Auto hier unten lassen. Man munkelt, dass es in der Klinikruine Geister gäbe«, er kicherte und machte eine abwinkende Geste, »dummes Geschwätz.«

Er hatte Streichhölzer aus seiner Hosentasche gefischt und versuchte nun seine Pfeife wieder zum Brennen zu bringen. Gummimann bedankte sich bei Pierre. Dieser winkte ab und lachte, er zündete ein weiteres Streichholz an, hielt es an die Pfeife und saugte Luft ein.

Beim Auto, einem königsblauer Peugeot 107, klein aber fein, Gummimann war stolz auf ihn, holte er noch ein paar Sachen, die er für seinen Ausflug zur Klinik wichtig fand. Er hatte Pierre's Bemerkung ernst genommen, das Auto auf dem Parkplatz stehen zu lassen. Eine halbe Stunde zu Fuss ist gesund und die Gegend hier ist schön. Das Wetter stimmte auch, blauer Himmel, ein schwaches Lüftchen, zum Wandern nicht zu warm. Nochmals kontrollierte er, ob er alles, was er vielleicht brauchen würde, bei sich hatte, Progard's Bild, die zwei Taschenlampen, eine grosse und eine kleine falls er sich klein machen musste, auch das Handy durfte natürlich nicht fehlen. Der Weg führte um das Restaurant herum zum Wald. Er wurde im Wald bald schlechter, ab und zu wuchsen kleine Bäume auf der Fahrbahn, man merkte, dass sie kaum benutzt wurde. Früher war der Weg geteert, aber jetzt war davon nicht mehr viel zu sehen. Gras, Wurzeln und Sträucher hatten das Zepter übernommen und nur noch an wenigen Stellen hat der Belag stand gehalten.

Nach zwanzig Minuten kam er an eine Abzweigung, das verbogene Gestell eines Schildes, vielleicht einst mit dem Namen der stolzen Klinik, stand am Weg, der rechts abging. Vermutlich war dieser Teil früher abgesperrt, aber nur noch mickerige Überbleibsel waren von dieser Absperrung vorhanden. Keine fünf Minuten später stand er vor der Ruine. Die Klinik musste gross gewesen sein, der Wald hatte sich aber an vielen Stellen seinen Platz zurückerobert. Durch die Bäume und die wuchernden Sträucher war nur ein kleiner Teil der ehemaligen Klinik zu sehen. Einst war das, worauf er stand, wahrscheinlich ein Parkplatz, aber jetzt wäre es unmöglich gewesen ein Auto dort abzustellen, überall Erde, Wurzeln und Pflanzen. Das Dach des Gebäudes fehlte komplett, auch die oberen Stockwerke waren nur noch andeutungsweise vorhanden. Das Meiste war eingefallen und auf den Mauern machte sich die Natur breit. Gummimann kämpfte sich durch den Wald der Klinik entlang. Plötzlich stand die Statue der nackten Dame vor ihm. Sie lächelte und hielt brav das Tuch über ihre Blösse, sie sah aber nicht mehr so frisch aus, der Zahn der Zeit hatte ihr ziemlich zugesetzt. Er hielt an und nahm das Bild von Progard aus der Tasche. Von hier aus hatte er einen etwas besseren Überblick. Es musste einst wirklich eine stolze Klinik gewesen sein. Warum sie abgebrannt war, wusste er nicht. Einige Teile des Hauses waren fast nicht mehr vorhanden, doch das Gebäude am südlichen Ende stand zum grossen Teil noch. Plötzlich überfiel ihn ein eigenartiges Gefühl, ein Gefühl, das ihn zu einer Tür im hinteren Klinikteil führte. Er wusste plötzlich, dass dort die Bilder zu finden waren. Gummimann war etwas irritiert, auch Jaeger behauptete doch den Fundort der Bilder einfach gespürt zu haben und genau das geschah jetzt mit ihm. Er wusste plötzlich, wo er sie suchen musste. Er kletterte durch das dichte Unterholz zur Klinikmauer. Vorbei an scheibenlosen Fenstern, an Stacheldraht, der einst das Eindringen verhindern sollte, zu der Tür, die auf dem Bild zu sehen war. Sie war verschlossen, aber nicht abgeschlossen. Sie klemmte, die ersten Versuche sie aufzumachen scheiterten. Die Tasche mit dem Bild stellte er an die Mauer, dann stemmte er sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Langsam gab sie nach, und er konnte sie etwas öffnen. Er zwängte sich ins Gebäude, es war dunkel, das Licht von der Türe reichte nicht weit. Ein schimmliger, muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Er knipste seine grosse Taschenlampe an. Wahrscheinlich war das einst der Lieferanteneingang. Ein langer, schmaler Korridor, grau, fast schwarz, mit metallverkleideten Lampen an der Decke und Schimmel bewachsenen Wänden, führte zu einigen Türen, die rechts und links abgingen. Er musste nicht ausprobieren, welche Tür die richtige war, er wusste es. Ein Geräusch liess ihn herumfahren. Die Eingangstür hatte sich geschlossen. Erstaunlich, hatte er doch grosse Mühe gehabt sie zu öffnen und jetzt schloss sie sich von selbst. Ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen, ging er zu der Tür am Ende des Korridors und öffnete sie. Er wusste, hier hinein musste er, hier würde er die Bilder finden. Es war dunkel, aber ein leichter Lichtschimmer an der Decke zeigte ihm, dass es irgendwo ein Fenster oder eine Öffnung gab. Mit der Taschenlampe suchte er den Raum ab. Er war nicht sehr gross. Ein paar Meter vor ihm lag ein riesiger Schuttberg, es sah aus, als sei hier die Decke eingestürzt, aber bei genauerem Hinsehen sah er, dass dies nicht der Fall war. Der einzige Weg auf die andere Seite zu gelangen war darüberzusteigen, das Licht kam von dort. Plötzlich flog ihm mit starkem Getöse ein Stück Beton vor die Füsse, es hatte sich von der Decke gelöst. Gummimann sprang darüber und stand nun vor dem Schuttberg. Immer mehr Deckenstücke lösten sich und fielen vor den Eingang. Der Krach war ohrenbetäubend, er musste sich die Ohren zuhalten. Bald war der Eingang soweit zugeschüttet, dass er nicht mehr passierbar war. Glücklicherweise wurde Gummimann von den Betonteilen nicht getroffen, doch der Rückweg war ihm versperrt. Es war wieder ruhig. Gummimann war ziemlich erschrocken und zitterte am ganzen Körper. Angespannt schaute er zur Decke, er hatte Angst, es könnte noch mehr herunter kommen, doch als auch nach einigem Warten alles ruhig blieb, konnte er sich ein wenig entspannen. Für einen Moment schloss er die Augen, das wirkte beruhigend. Und zu Hause dachte er noch, es würde ein einfacher Auftrag werden.

Als er sich etwas gefangen hatte, kletterte er auf den Schuttberg. Im oberen Drittel musste er sich kleiner machen, damit er höher hinaufsteigen konnte. Er versorgte die grosse Taschenlampe und nahm die kleine. Die war nicht so hell, aber er konnte sie auch noch im kleinen Zustand halten. Ganz auf der Höhe war ein Spalt zwischen Schutt und Decke, das schien sein Durchgang zu sein. Obwohl er sich jetzt so klein wie möglich machte, musste er auf allen Vieren durchkriechen und sich dabei auf spitzige Steine und scharfe Metallstücke achten. Er kam nur langsam vorwärts, aber er konnte die helle Stelle immer besser sehen. Nach ein paar Metern endete die Kriecherei, endlich er war durch, auf der anderen Seite. Das Licht kam aus einem weiteren Zimmer, es musste dort Fenster haben. Er kletterte vom Schuttberg herunter und machte sich langsam wieder grösser. Seine Kleider waren vollkommen staubig und er versuchte sich etwas zu entstauben, mit mässigem Erfolg. Auf dieser Seite sah er auch ohne Taschenlampe genug. Mit ein paar Schritten kam er zur nächsten Öffnung, die früher auch eine Türe besessen haben musste, er sah es an den Scharnieren und am Holzrahmen. Ein Brett versperrte ihm den Weg, es lag im unteren Teil des Durchgangs. Ohne zu überlegen stieg er darüber, musste sich aber im gleichen Moment am Türrahmen festhalten, denn dahinter fehlte der Boden. Ein tiefes Loch, vielleicht zweieinhalb Meter breit und ebenso tief, erstreckte sich von einer Wandseite zur anderen. Bei so vielen Hindernissen kam ihm plötzlich die Aussage von Pierre in den Sinn, dass es hier Geister gebe. Gummimann glaubte nicht an solche Sachen, aber langsam kamen ihm Zweifel, ob es vielleicht doch stimmen könnte. Zurück konnte er nicht oder nur mit grossen Schwierigkeiten, er musste weiter.

Das was er jetzt zu tun hatte, liebte er überhaupt nicht. Sich an den Rändern entlang angeln, war nicht möglich, auch gab es nichts wo er sich festhalten konnte um sich darüber zu schwingen. Es gab also nur die Variante, die sehr unangenehm war. Er stellte sich an den Rand der Einsturzstelle und machte sich so gross wie möglich, er musste sich sogar ducken weil er mit dem Kopf an die Decke stiess. In der Hoffnung, dass seine Einschätzung der Distanz stimmte, liess er sich nach vorne fallen. Mit den Händen fing er sich auf der anderen Seite auf und bildete darüber mit seinem Körper eine Brücke. Eigentlich müsste er sich jetzt nur noch klein machen, dann wäre er auf der anderen Seite, aber dazu brauchte es Überwindung, denn meistens schlugen seine Knie sehr schmerzhaft am Boden auf. Das hatte er in Amerika erlebt, und es war ihm noch gut in Erinnerung. Aber es musste sein. Er biss auf die Zähne, machte sich rund, stiess sich etwas ab, machte sich dann klein und zog die Knie an den Körper. Ein bisschen konnte er so das Aufschlagen vermindern, aber ganz gelang es ihm nicht. Es waren seine Füsse, die jetzt etwas litten, doch er hatte es geschafft, er war auf der anderen Seite. Hier schien der Boden noch stabil zu sein. Er stand auf und machte sich normal gross. Dann stampfte er ein paar Mal stark auf den Boden um die Tragkraft zu testen. Als der sich als stark genug herausstellte, versuchte er sich den Staub von den Kleidern zu wischen, was ihm aber wieder nur teilweise gelang. Ein Blick zurück liess ihn staunen, die Ränder der Einsturzstelle waren gerade, als ob jemand den Boden heraus gesägt hätte. Doch lange wollte er sich damit nicht beschäftigen, die Bilder waren im Moment wichtiger. Aber wo waren sie? Irgendwo hier sollten sie sein, er spürte es, das Klinikbild von Progard hatte ihm diese Gewissheit gegeben. Auch wenn er es hier nicht bei sich hatte, das Gefühl war trotzdem da. An den Wänden hingen alte Plakate von verschiedenen Veranstaltungen der Umgebung und von sehenswerten Orten, die man besuchen sollte. Sie hingen nur über dem intakten Stück Boden, die restliche Wand war leer. Auch hier war der Einfluss des Bildes zu spüren. Ohne lange zu suchen, wählte er ein Plakat und entfernte es vorsichtig. Es war das Richtige. Da hing das erste Bild, eine auf einem Couch sitzende nackte Dame, die träumerisch zu einer kleinen Uhr blickte, die hinter ihr an der Wand hing. Man sah sie diskret von der Seite, sie schien zu lächeln. Das Bild war ungefähr so gross wie das Klinikbild, auch eine sehr gute, detailreiche Zeichnung. Gummimann war zufrieden, einen Drittel der Aufgabe hatte er gelöst, die andern Bilder würde er hinter den restlichen Plakaten auch finden. Vorsichtig zog er die Reisnägel aus den Ecken des Bildes und rollte es auf. Das nächste Plakat, ein Wettrennen von Landmaschinen, hing neben dem Fenster, aber dahinter war nur die Wand. Erst jetzt bemerkte er, dass das Fenster Scheiben hatte, es war ein Kippfenster und war intakt. Der Raum war vermutlich einst ein Teil einer Waschküche. Hinter dem nächsten und dem übernächste Plakat, wie auch hinter den restlichen, waren keine Bilder verborgen. Auch sein Gefühl meldete sich nicht mehr. Als nach intensivstem Suchen die Erfolge ausblieben, gab er es auf. In diesem Raum gab es nur dieses eine Bild, die anderen musste er an weiteren Orten suchen. Er nahm zur Sicherheit alle Plakate von der Wand und rollte sie um das Bild. Dann klappte er das Fenster herunter und kletterte mit der Plakatrolle hindurch ins Freie. Es ärgerte ihn, dass er vorher den ganzen Weg durch den Keller machen musste, durch das Fenster, wie jetzt, wäre es viel einfacher und schneller gegangen. Egal, Hauptsache war, er hatte das Bild und die andern würde er auch noch bekommen, da war er sich sicher. Er ging um die nächste Ecke zurück zum Lieferanteneingang. Bei der Türe stand noch immer die Tasche mit dem Klinikbild. Was ihn interessierte war, ob die Tür sich nun einfacher öffnen liess, nachdem sie sich von selbst geschlossen hatte. Langsam drückte er die Klinke nach unten und versuchte sie zu öffnen. Sie war abgeschlossen, auch drücken und stossen nützen nichts. Irritiert liess er es bleiben. Wie hatte er das vorher geschafft? Kopfschüttelnd nahm er die Tasche, packte die Plakate hinein und machte sich auf den Weg zurück zum Auto. Nochmals blieb er bei der Statue stehen und betrachtete ein weiteres Mal das Klinikbild, er hoffte, dass es ihm zeigen würde, wo die anderen Bilder zu finden waren. Lange studierte er es, doch da war kein neues Gefühl, wo die Suche weiter gehen soll. In der Ferne hörte er jemanden lachen.

Als er beim Auto eintraf, wartete schon Pierre auf ihn. Er hatte wieder seine Pfeife im Mund, aber rauchte nicht. In der Hand hielt Pierre ein Plastikmäppchen.

»Bonjour Monsieur, haben Sie die Klinik gefunden? Viel ist ja nicht mehr da.«

»Bonjour Pierre, in der Tat, viel gibt es da nicht mehr, nochmals vielen Dank für die Hilfe.«

»De rien, das ist in Ordnung, ich habe noch einen Zeitungsartikel vom Brand der Klinik gefunden, sogar auf Deutsch, den hab ich damals aus einer Zeitung ausgeschnitten. Ja, die alten Zeiten, da gab es noch deutschsprachige Zeitungen, aber jetzt, rien, nichts, schlimm.«

Er übergab Gummimann das Mäppchen.

»Ich kann eine Kopie davon machen lassen.«

»Non, ce n'est pas nécessaire, behalten Sie es, ich brauche ihn nicht mehr. Au revoir, Monsieur.«

Mit einem kurzen Winken mit dem Gehstock verabschiedete er sich, kicherte und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Bauernhof. Gummimann bedankte sich, er versorgte das Mäppchen in die Innentasche seiner Jacke und schaute dem alten Mann erstaunt nach.

Auf dem Heimweg stoppte er noch im nächsten grösseren Dorf und ging dort zur Mairie, zum Gemeindehaus. Er wollte nach den Namen, der beim Brand gestorbenen Menschen fragen. Da es dreissig Jahre her war, mussten sie die Unterlagen lange suchen und gaben ihm schlussendlich eine Kopie davon mit. Fast zufrieden mit dem Resultat, fuhr er zurück nach Wallgisdorf.

 

 

 

 

 

»Gummimann.«

Er klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter ein, damit beide Hände frei waren und versuchte dabei ein Stück Brot abzuschneiden.

»Clearwater, hallo Detektiv, hat es geklappt, haben Sie die Bilder?«

Das Brot war hart und liess sich sehr schlecht schneiden, er hätte neues kaufen sollen.

»Eines, ja, aber wirklich nur eines und dieses zu bekommen war keine einfache Sache.«

Während er sprach, gab er das Schneiden auf und nahm das Handy in die Hand und setzte sich an den Küchentisch. Er würde am späteren Nachmittag im Ligaladen frisches Brot besorgen.

»Und die andern beiden Bilder, wo sind die, gibt es die überhaupt?«

»Die gibt’s vermutlich schon, aber wo die sind, weiss ich noch nicht, ich bin erst jetzt nach Hause gekommen. Mal sehen ob das Klinikbild noch ein paar Geheimnisse freigibt.«

»Ich sehe schon, Sie machen das gut, dann hat Ihnen der Ort doch geholfen, immerhin eines war dort.«

»Ja, eines war dort, die andern werde ich auch noch finden. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich mehr weiss. Ach ja, Progard ist nicht beim Brand gestorben, ich bekam eine Liste der damals Verstorbenen und da war er nicht dabei.«

»Das hab ich mir gedacht, er soll ja an Krebs gestorben sein. Ich habe mich mal umgehört, niemand weiss etwas von seinem Tod, auch weiss niemand, wo er gestorben ist und wo seine Gebeine sind. Komische Sache das, Gummimann, wirklich komisch. Also, ich höre von Ihnen.«

Sie verabschiedeten sich, Gummimann legte das Handy auf den Tisch und schaute zum Fenster hinaus.

Der Auftrag wurde unheimlich. Ein Maler, der nicht gestorben war oder niemand weiss wo und wann; ein Bild, das Gefühle aussendet; eine Türe, die selbständig zugeht und sich dann nicht mehr öffnen lässt; eine Decke die einstürzt und so weiter. Es mögen Zufälle sein, aber so richtig glaubte er nicht mehr daran. Sein Hunger war noch immer da, er musste etwas essen. Zum Glück war der Laden nicht weit, schade nur, dass er nichts in Frankreich eingekauft hatte, es wäre billiger gewesen.

Als er zurückkam biss er beherzt ins Brötchen, Brot hatte es keines mehr, dazu wählte er Schinken. Vor ihm lag das Klinikbild, irgendwie hatte es sich verändert. Der Nebel war nicht mehr so dicht und man sah einen Turm. Warum hatte er den nicht schon früher bemerkt, vielleicht hatte er ihn einfach nicht beachtet. Dort bei der Klinik gab es aber keinen Turm, den hätte er sicher gesehen. Der Turm stand im Hintergrund des Bildes oberhalb des Gebäudes. Er war rund und nicht sehr gross, das Dach war auf der Vorderseite beschädigt, im oberen Teil gab es ein Fenster, natürlich ohne Glas, wie das alte Türme so an sich hatten, dafür hatte er Eisengitter.

Gummimann nahm ein weiteres Brötchen, teilte es und füllte es mit Fleisch.

Wo könnte der Turm stehen? Die Klinik auf dem Bild wirkte jetzt eher unscharf, unwichtig, die Details, die er am Anfang so bewundert hatte, fehlten. Erst jetzt fiel ihm auf, dass auch die Statue verschwunden war. Das Bild hatte sich verändert. Diese Erkenntnis schockierte ihn, er legte das Brötchen auf die Seite, sein Herz klopfte wie wild. Er atmete ein paar Mal tief durch, musste sich wieder beruhigen. Die Statue war verschwunden, der Nebel zurückgegangen, das war nicht mehr das gleiche Bild, das er am Anfang hatte. Sein Herzschlag normalisierte sich nur langsam wieder, noch immer zitterte er. Ob sich auch das andere Bild von der sitzenden Dame verändert hatte?

Er rollte die Plakate aus und nahm das Bild aus dem Stapel. Lange betrachtete er es, es schien sich nicht verändert zu haben. Doch so genau hatte er es vorher nicht angesehen, vermutlich würde er eine Veränderung gar nicht bemerken. Er legte es wieder zurück und studierte nochmals den Turm, er spürte, dass dieser sein nächstes Ziel sein würde. Das nächste Bild war dort versteckt. Das grösste Problem war wieder der Ort, wo nur stand der Turm? Vielleicht war er wirklich in der Nähe der Klinik, vielleicht aber an einer komplett anderen Stelle.

Sein Zittern war verschwunden, er hatte sich wieder im Griff.

Die Plakate könnten ein Hinweis sein. Er verteilte sie auf dem ganzen Küchentisch, nahm wieder das Brötchen und ass während er sich die Plakate ansah. Ein Turm war auf keinem zu sehen, auch gaben die Fotos und Anzeigen keinen Hinweis auf den Ort, den er suchte. Er schrieb sich alle Ortsnamen auf, die irgendwie erwähnt wurden und das waren viele. Hauptsächlich das Plakat hinter dem er das Bild fand, war interessant, sicher war es mit Absicht hinter diesem versteckt worden. Während der Computer hochfuhr, machte er sich ein weiteres Brötchen mit Schinken. Es war schon ziemlich dunkel, er musste im Wohnzimmer das Licht anmachen, als er sich vor den PC setzte. Die erste Gemeinde, die er eingab war Ferrette. Es gab dort eine Burgruine namens Hohenpfiert mit zwei Türmen, die noch standen und ein Teil der früheren Befestigungsmauern waren. Diese entsprachen dem gesuchten Turm überhaupt nicht. Er suchte nach dem nächsten Namen und dann nach dem übernächsten und so weiter, bis er alle durch hatte. Nirgendwo gab es einen Turm, der dem auf dem Bild glich. Enttäuscht hielt er die Hände hinter seinen Kopf, massierte sich seinen Nacken um zu entspannen und gähnte. Zwei Stunden lang war er jetzt geistig durchs Elsass gesurft ohne Resultat.

Die Brötchen waren auch aufgebraucht und er musste den restlichen Schinken ohne essen. Sein Kopf brummte, leichte Kopfschmerzen machten sich bemerkbar, er hatte einfach zu lange vor dem Computer gesessen. Das Beste um wieder fit zu werden, ist ein paar Schritte zu gehen, frische Luft und andere Gedanken. Er löschte das Licht im Wohnzimmer, nahm seine Jacke vom Kleiderständer und wollte die Haustüre öffnen, da spürte er etwas in der Innentasche. Zuerst dachte er, es sei ein Werbeprospekt, welche er noch nicht fortgeworfen hatte, aber plötzlich kam ihm Pierre in den Sinn, der ihm beim Parkplatz ein Plastikmäppchen mitgegeben hatte. Die frische Luft war vergessen, er zog die Jacke wieder aus, warf sie auf den Stuhl beim Eingang und setzte sich erneut an den Küchentisch. Im Mäppchen war ein Zeitungsartikel vom Brand der Klinik. Es wurde über die Feuerwehr geschrieben, die Mühe hatte zum Gebäude zu kommen, zu wenig Wasserdruck machte das Löschen schwierig. Viele Insassen hatte es dort nicht mehr und von diesen starben einige an Rauchvergiftung, fünf verbrannten. Die Überlebenden wurden zu einem Teil nach Paris gebracht, ein anderer Teil in die Schweiz in ein Bauernhaus in Büren, Solothurn. Gummimann schluckte leer, Büren wäre nah, aber gibt es dort den gesuchten Turm? Paris wäre schwierig, so gross und dort nach einem Turm zu suchen, ein Ding der Unmöglichkeit oder sehr langwierig. Er machte im Wohnzimmer wieder Licht und setzte sich ein weiteres Mal vor den Computer. Schon nach ein paar Sekunden war er auf der Homepage von Büren. Unter Geographie gab es tatsächlich einen kleinen Eintrag über die Ruine Sternenberg und ihrem Turm, sogar mit Bild. Es war der gesuchte, er hatte ihn gefunden. Am liebsten hätte er gerade jetzt Clearwater angerufen um ihm seinen Erfolg mitzuteilen, aber es war schon spät und morgen würde auch wieder ein Tag sein. Dann musste er auch noch Jaeger Bescheid geben, darauf freute er sich weniger.

 

 

 

Noch vor dem Kaffee am Morgen und das heisst etwas bei Gummimann, rief er Clearwater an.

»Clearwater«, sagte die Stimme am anderen Ende.

»Gummimann, ich hoffe ich habe Sie nicht geweckt.«

»Nein, es ist acht Uhr, ich bin seit einer Stunde bei der Arbeit.«

»Sehr gut. Ich weiss jetzt vermutlich, wo das nächste Bild zu finden ist. Es ist wahrscheinlich in Büren, und dort in einem Turm der Ruine Sternenberg.«

»Aber sicher sind Sie nicht?«

»Nein, das weiss ich erst, wenn ich dort bin. Doch ich denke, ich habe recht.«

»Nicht schlecht. Und wie sind Sie zu dieser Information gekommen?«

»Auf einem alten Zeitungsausschnitt, den ich von einem alten Mann in Eggerswiller erhalten habe, wurde Büren erwähnt. Einige der Insassen wurden dorthin verlegt.«

»Und wieso wissen sie von dem Turm.«

»Ja, das ist eher unheimlich. Das Bild von der Klinik, das ich von Jaeger bekommen habe, veränderte sich plötzlich. Am Anfang war um die Klinik herum nur Nebel, dann löste sich dieser auf und der Turm erschien. Dafür verschwanden andere Sachen auf dem Bild, eine Statue, das Gebäude hatte weniger Details. Ich muss sagen, es ist richtig unheimlich.«

»Es verändert sich, sagen Sie, das ist wirklich unheimlich. Und Sie sind sicher, dass sie den Turm vorher nicht einfach übersehen hatten.«

»Ganz sicher, es hat sich verändert. So unwahrscheinlich das klingen mag. Aber wer ist dieser Progard, dass er solche Bilder malen kann?«

»Es ist fast nicht zu glauben, aber ich werde mich genauer über diesen Progard informieren.«

»Das ist gut. Und ich fahre jetzt nach Büren, dann weiss vielleicht ich mehr.«

»Viel Glück, Gummimann, aber seien Sie vorsichtig.«

»Bin ich Sir Clearwater, bin ich.«

Sie verabschiedeten sich.

Gummimann machte sich einen Kaffee, holte Kaffeerahm und Zucker und setzte sich wieder an den Küchentisch. Es war ein schöner Morgen, ein guter Tag zum Joggen, die Zeit würde das zulassen, aber seine Neugier nicht. Er glaubte nicht mehr an Diebe, die die Bilder gestohlen hätten, es war etwas anderes und Jaeger wusste das. Aber was könnte dahinter stecken? Dieser Progard ging ihm nicht aus dem Sinn. Woher wusste der schon vor dreissig Jahren, wo die Bilder sein würden? Vermutlich hatte er sie selber versteckt, aber warum? Es war richtig unheimlich. Dass er noch Jaeger anrufen musste, lag ihm auf dem Magen. Was sollte er ihm sagen, sollte er ehrlich sein? Er beschloss, ihm noch nichts von seinem Fund zu erzählen, er wollte zuerst die Bilder finden und dann weiter sehen. Er war überzeugt, Jaeger wusste mehr als er sagte, es war Gummimann nur nicht klar warum er das verschwieg. Er wählte seine Nummer. Es läutete, einmal, zweimal, dreimal, niemand nahm ab. Nach weiteren fünfmal Klingeln wollte er gerade auflegen, als sich doch noch eine verschlafene Stimme meldete.

»Ja, hallo.«

»Sind sie es, Herr Jaeger?«

»Ja, ich bin es«, klang es gähnend.

»Hier Detektiv Gummimann. Habe ich Sie aus dem Bett geholt?«

»Nein, ich habe nicht geschlafen«, er musste wieder ein Gähnen unterdrücken, »guten Tag Herr Gummimann, Sie haben neue Informationen?«

Jaeger wirkte müde und schien noch nicht ganz wach zu sein. Aber Gummimann war das egal.

»Ja, ich vermute, ich weiss sogar, wo die Bilder sind«, erklärte Gummimann, »ich glaube sie sind in der Klinik in der Progard am Schluss lebte, in Frankreich, denke ich. Ich war auch schon dort, habe aber noch nichts gefunden, ich suche weiter.«

»Ja, gut, eigenartig, na ja, sie werden schon weiterkommen.«

»Wieso eigenartig?«

»Ach einfach so. Es ist eigenartig, dass es eine Klinik ist, die man da auf dem Bild sieht. Sie geben mir sicher Bescheid, wenn sie mehr herausgefunden haben.«

»Klar, mach ich, auf Wiederhören Herr Jaeger.«

Damit hängte er auf.

Das Gebäude auf der Zeichnung sieht doch aus wie eine Klinik, was soll daran eigenartig sein?

Sein Kaffee war nur noch lauwarm, er nahm die letzten paar Schlucke.

Jaeger wollte etwas anderes sagen, er weiss etwas, davon war Gummimann jetzt vollends überzeugt.

 

 

 

Auf der Autobahn nach Liestal, dann durchs Land über Seltisberg, Lupsingen nach Büren. Das war der Weg, den Gummimann wählte. Büren war noch richtig ländlich, knapp tausend Einwohner, hier hatte es noch Bauernhöfe und Misthaufen im Dorfkern, aber es gab auch viele Mehr- und Einfamilienhäuser, die dem Dorf einen moderneren Look verpassten. Die Gemeindeverwaltung war im Dorfzentrum an der Durchfahrtsstrasse, ein relativ neues Gebäude, hier hielt Gummimann an. Der ländliche Duft, durchsetzt mit Autoabgasen empfingen ihn als er ausstieg und über den Parkplatz zum Eingang ging. Der Bus Nummer 67 nach Liestal fuhr laut vorbei, er hörte ihn aber nur noch kurz, dann schloss sich die Eingangstür. Hinter dem einen Schalter, der zweite war geschlossen, arbeiteten zwei Personen. Eine junge, hübsche Dame begrüsste ihn.

»Grüezi, womit kann ich Ihnen helfen?«

Gummimann war im ersten Moment gerade ein wenig irritiert, sie machte ihn richtig verlegen. Sie war wirklich hübsch mit ihren blonden langen Haaren, dem sinnlichen Mund und den blauen Augen.

»Äh, ja, hallo, ähm, ich bräuchte ein paar Auskünfte«, nach etwas stottern, schaffte er es doch sein Anliegen vorzubringen, »ich suche die Ruine Sternenberg.«

»Die Ruine Sternenberg, ja die gibt's, aber da ist leider nicht mehr viel zu sehen. Ein Turm steht noch und ein paar Mauerreste.«

Sie lächelte ihn an, mit der Hand wischte sie eine Strähne ihrer blonden, langen Haare aus dem Gesicht.

»Ja! Das habe ich vermutet, ich besuche auch noch andere Ruinen im Solothurnischen und im Baselbiet. Ich habe grosses Interesse an alten Burgen«, schwindelte Gummimann, mehr wollte er nicht erklären.

»Also, von hier fahren Sie am besten durch die Seewenerstrasse bis zur Kreuzung im Dorf, dann biegen Sie links ab in die Gempenstrasse, bleiben auf dieser, bis rechts dann der Dummerweg abgeht und dem folgen Sie durch den Wald, zur Ruine.«

»Vielen Dank, aber ich habe noch eine Frage, 1982 nach dem Brand einer Psychiatrischen Klinik im Elsass, wurden in einem Bauernhaus hier in Büren Menschen aufgenommen. Gibt es noch eine Namensliste aus dieser Zeit?«

»Uii, das ist schon ein paar Tage her, mal sehen ob ich da was finde, einen Moment.«

Gummimann nutzte die Zeit sich ein wenig umzusehen. Viel gab es da aber nicht. Eine grosse Zimmerpflanze beim Fenster, fast ein kleiner Baum, brachte ein bisschen Farbe in den sonst eintönigen Raum. Zwei Stühle standen den Schaltern gegenüber an der Wand und dort gab es auch Prospekte von verschiedenen Organisationen, sowie ein Anschlagbrett mit den wichtigsten Mitteilungen der Gemeinde. Er setzte sich auf einen der Stühle und studierte einen Prospekt der Spitex.

»Ich habe etwas gefunden.«

Die hübsche Dame erschien wieder am Schalter. Gummimann stopfte den Prospekt zurück in den Halter und trat zu ihr.

»Das war auf dem Güggelhof, zwanzig Personen«, sie schob ihm die Blätter über den Tresen hin, »sogar mit den Geburtsdaten, aber das war vor mehr als dreissig Jahren, viele sind vermutlich gestorben, darüber habe ich leider nichts gefunden. Die wohnten auch nur zwei Jahre hier, dann wurden sie auf verschiedene Anstalten verteilt, wohin, darüber geben mir die Papiere leider keine Auskunft.«

Gummimann nahm die Blätter, überflog sie kurz und nickte.

»Vielen Dank, Sie haben mir weiter geholfen. Ach, ja, wie weit kommt man mit dem Auto wenn man zum Turm will.«

»Bis zum Ende des Dummerwegs können Sie fahren, dort gibt es einen kleinen Parkplatz auf welchem Sie das Auto abstellen können, oft parkieren dort Hundehalter.«

Er lachte, bedankte und verabschiedete sich von der netten Dame und setzte sich in seinen Wagen. Die Namen, die er überflog, erstaunten ihn, Progard war nicht darunter. Hatte er seinen Namen geändert, oder war er doch vorher gestorben? Aber wie konnte er dann die Bilder verstecken? Vermutlich gibt es sogar noch einen weiteren Ort an welchem er suchen musste. Er glaubte nicht, hier beide Bilder zu finden.

Er fuhr los zum Dummerweg.

 

Da stand er, der Turm der Ruine Sternenberg. Das Auto liess Gummimann auf dem kleinen Parkplatz beim Waldeingang stehen. Es war ein langer und steiler Waldweg bis hierher, aber schön und angenehm, fast so entspannend wie joggen. Er nahm das Klinikbild aus seiner Tasche und verglich es mit der Wirklichkeit. Es war der gesuchte Turm, nur das Dach war etwas mehr eingefallen, sonst stimmte es überein. Auch die alten Mauern waren noch da, zwar nur noch Fragmente davon, doch man konnte sie gut erkennen. Während er das Bild betrachtete, überkam ihn wieder das eigenartige Gefühl, das Gefühl, welches ihm zeigte wo er das nächste Bild suchen musste. Der Turm war ungefähr zehn Meter hoch, vielleicht sogar etwas mehr, war rund und hatte bodeneben eine Öffnung, welche früher vermutlich mal eine Tür vom Burginnern her war. Dann im oberen Teil war das kleine Fenster mit dem Gitter, das sah man auch gut auf der Zeichnung, in diesem Raum sollte das Bild sein. Er kletterte über die Mauerreste, umrundete den Turm und betrachtete ihn von allen Seiten. Das Bild hier zu finden schien eine einfache Aufgabe zu sein, durch die Tür und dann hinauf in den Raum, wo das Bild versteckt war. Doch die Schwierigkeiten begannen schon beim Eingang, da gab es keine Treppe nach oben, nicht mal eine Öffnung in den oberen Teil. Der Raum war klein, es lag viel Abfall herum, der von nicht sehr umweltfreundlichen Besuchern zeugte, sonst war er leer. Einen anderen Eingang gab es nicht. Vielleicht könnte er sich durch das Gitter beim Fenster zwängen, aber wie kam er dort hinauf. Er schaute sich die Wand an. Einige der Steine standen leicht aus der Mauer heraus, sie bildeten, beim genaueren Betrachten, fast eine Treppe. Vielleicht war das früher sogar mal eine. Da musste er hinauf. Der Aufstieg würde aber sehr schwierig werden, er war gar nicht begeistert, er hatte Höhenangst, aber es war der einzige Weg, den er im Moment sah.

Er liess seine Tasche am Boden stehen und suchte dann den besten Einstieg in die Turmwand. Neben der Tür fand er ihn und er kletterte auf den ersten Stein. Da dieser nur etwa zehn Zentimeter aus der Wand stand, musste er sich kleiner machen, damit er einigermassen vernünftig darauf stehen konnte und etwas länger, dass er von einem Stein zum anderen kam. Er wusste, er durfte nicht nach unten schauen, denn je höher er stieg, umso mehr Mühe machte ihm seine Angst. Krampfhaft sah er darum nach oben, festhalten konnte er sich nirgends. Mit ausgestreckten Armen, fast umarmend, rutschte er der Turmwand entlang. Nach dem sechsten Stein war sein Aufstieg zu Ende, der siebte war so weit entfernt, dass er ihn auf keine Weise erreichen konnte. Gummimann wollte sich gerade so klein wie möglich machen, damit er sicher auf dem Absatz stehen und sich etwas beruhigen konnte, als ihn ein lautes Kreischen aufschreckte. Er drehte sich um und sah einen grosser Raubvogel, vermutlich ein Adler, auf sich zustürzen, der ihn angriff. Wahrscheinlich hatte er auf dem Dach sein Nest mit Jungen und verteidigte sie. Gummimann, der nun klein war, duckte sich und die scharfen Krallen des Tieres schrammten um Haaresbreite an seinem Kopf vorbei. Er hatte Angst und versuchte sich länger zu machen um zurück auf den unteren Stein zu kommen. Der Vogel kreiste über dem Turm und stiess immer wieder Warnschreie aus und setzte dann erneut zu einem Sturzflug an. Gummimann machte sich wieder klein um besser stehen zu können und überlegte zugleich ob er sich nicht einfach ganz gross machen und herunter springen sollte. Aber es waren sicher mehr als vier Meter bis zum Boden und die Landung an dieser Stelle, mit Gebüschen mit Stacheln, eher unangenehm. Das Tier kam wieder kreischend auf ihn zu, doch diesmal verfehlten ihn die Krallen nicht. Es packte ihn an seiner Jacke, riss ihn vom Steinabsatz und flog mit ihm davon. Die Höhe machte Gummimann ganz schwindlig, seine Befürchtungen, dass der Vogel ihn fallen lassen könnte oder dass seine Jacke zerriss, stiegen mit jedem Flügelschlag. Nach unten blicken konnte er nicht, er hatte starkes Herzklopfen und spürte ein Kribbeln in seinem ganzen Körper, das immer wie unangenehmer wurde. Beim Blick zur Seite sah er die Krallen des Vogels, die direkt neben seinem Kopf die Jacke hielten. Es gelang ihm, zuerst mit einer, dann mit beiden Händen die Füsse des Tieres zu erreichen und sich daran festzuhalten, was ihn etwas beruhigte. Der Raubvogel flog zweimal im Kreis und setzte dann zur Landung an. Gummimann zwang sich kurz nach unten zu blicken, der Vogel hatte dort sein Nest. Er hielt ihn für eine Maus, was ihm nicht zu verübeln war, Gummimann gab sich oft selbst als eine solche aus, und die Vogeljungen freuten sich schon auf eine gute Mahlzeit. Frischer Gummimann stand heute bei Familie Adler auf dem Speiseplan. Der Vogel liess ihn fallen und landete. Gummimann machte sich sofort grösser als er den Boden berührte, das Raubtier sah ihn verdutzt an, kreischte und flog erschrocken davon, die Jungen schrien. Wo war er gelandet, er schaute sich um und staunte nicht schlecht, er war auf dem Turm, da wo er hinwollte. Der Adler zog immer noch schimpfend in sicherem Abstand seine Bahnen um das Nest. Die Überlegung wie er beim Zurückgehen wieder vom Turm herunter und am Nest vorbei kommen sollte, verschob Gummimann auf später, jetzt wollte er zuerst das Bild suchen. Er stand mit einem Fuss im Nest, mit dem andern auf dem Rand des Steinhügels, der einst das Dach und Teile der Wand war. Auf der gegenüberliegenden Turmseite war das Dach teilweise noch vorhanden. Vor Regen hätte es kaum geschützt, aber einige Ziegel lagen noch auf der Holzkonstruktion. Vermutlich hatte man es nachträglich dazu gebaut, es sah nicht so alt wie der Rest der Burg aus. Der Raubvogel hatte sich noch nicht in die Nähe seines Nestes getraut. Gummimann kletterte vom Steinhügel hinunter und ging unter das noch vorhandene Dach. Dort gab es im Boden eine Öffnung mit einer Steintreppe. Mit seiner grossen Taschenlampe leuchtete er sie aus und stieg hinab. Die Treppe war eng und in mehreren Windungen führte sie nach unten. Sie endete in einem dunklen Raum, das Fenster mit dem Gitter war aber nicht zu sehen. Nach seinem Gefühl musste dieser Raum bereits unterhalb dem gesuchten sein, den er von unten gesehen hatte. Vielleicht hatte er eine Abzweigung verpasst. Gummimann stieg wieder die Treppe nach oben, er leuchtete die ganze Treppenwand Zentimeter um Zentimeter ab, bis er wieder auf dem Dach stand, es gab keine Abzweigung. Als er wieder zurück im Raum war, begann er dort die Wände zu untersuchen. Trotz Abklopfen aller Wände gab es kaum einen Hinweis auf einen Aufgang. Es fiel ihm auf, dass der Raum rechteckig und nicht rund, wie der Turm war. Eine Stelle klang beim Klopfen leicht anders, aber die Wand war gemauert und unterschied sich sonst nicht vom Rest. Er setzte sich auf ein paar Steine, die am Rand lagen und leuchtete zum x-ten mal durch den Raum. Der Boden, vor der Stelle wo die Wand anders klang, war leicht erhöht, einen Zentimeter, vielleicht weniger. Mit der Hand befreite er die Stelle etwas von Staub und Steinen. Da lag doch tatsächlich eine Steinplatte, ungefähr sechzig Zentimeter breit und einen Meter lang, sie endete an der Wand.

Gummimann säuberte sie weiter und entdeckte dabei einen Eisenring zum Öffnen. Die Platte war schwer, aber er konnte sie mir dem Eisenring anheben und auf die Seite schieben. Ein schmaler Graben tat sich vor ihm auf. Etwa einen halben Meter tiefer ging er unter der Wand durch. Um unten durchzukommen musste er sich etwas kleiner machen. Er kletterte hinunter, kroch auf die andere Seite der Wand und kam zu einer steilen Wendeltreppe die nach oben führte. Sie war eng, aber so hoch, dass er wieder seine normale Körpergrösse annehmen konnte. Nach einer Windung kam er in einen kleinen Raum, ohne Fenster, es musste ein Zwischenstock sein. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er hinein, für einen kurzen Augenblick glaubte er dunkle Schemen zu sehen, die auf ihn zukamen, aber er konnte sich das auch nur eingebildet haben. Doch dann wurde es dunkel. Es schien, als sei seine Lampe defekt, er suchte nach der kleinen Taschenlampe, aber auch die funktionierte nicht. Er tastete sich vorwärts. Plötzlich begann es zu stinken. Es stank nach Verwesung, der Geruch war so stark, dass er kaum atmen konnte. Ihm wurde schlecht. Er hörte Stimmen die ihm etwas zuflüsterten, zuerst schwach, dann begannen sie zu schreien und wurden dabei immer lauter. Er spürte etwas in seiner Nähe, vielleicht waren es Hände, die ihn kurz berührten. Ab und zu blitzte etwas im Dunkeln auf, es sah aus wie Augen, die sich für einen Moment zeigten. Der Lärm und der Gestank wurden beinahe unerträglich, er drehte sich um, wollte zur Treppe zurück, aber er fand sie nicht mehr, sie schien verschwunden zu sein. Gummimann machte sich etwas grösser um schneller durch den Raum zu kommen, mit einer Hand tastete er sich der Wand entlang, damit er nicht die Richtung verlor, die andere hielt er zum Schutz vor sein Gesicht. Mit ein paar grossen Schritten erreichte er das Ende. Der Raum schien nicht sehr breit zu sein, denn er konnte die gegenüberliegende Wand berühren. Ihm schwindelte, die unsichtbaren Hände zerrten jetzt an seinen Kleidern, er konnte kaum noch gehen. Da ertastete er eine Öffnung im Boden der Wand. Sie war nicht sehr gross und er machte sich darum etwas kleiner. Die Hände rissen ihn jetzt zu Boden. Er schleifte sich kriechend vorwärts. Die Hände zogen ihn immer stärker nach hinten, aber es gelang ihm sich an der Ecke der Mauer festzukrallen und sich unter grösster Anstrengung in den weiteren Gang zu ziehen. Fast im gleichen Moment brannten seine beiden Taschenlampen wieder, der Gestank verschwand, der Lärm versiegte, die haltenden Hände waren verschwunden, er war wieder frei. Einige Minuten blieb er am Boden sitzen, er musste sich erholen und tief ein- und ausatmen. Der Schwindel legte sich langsam wieder, seine Kräfte kamen zurück. Ein Meter weiter im Gang gab es erneut eine Treppe, sie hatte nur wenige Stufen und am Ende sah er Licht. Gummimann stand auf und rannte beinahe die Stufen herauf, er war im Raum mit dem Gitterfenster. Es war fast wie eine Erlösung, den ersten Teil hatte er geschafft. Der Raum war rund, bis auf die Stelle, hinter der vermutlich die Treppe durchging. Es gab da sonst nichts, sogar der Boden war einigermassen schmutzfrei. Blickte man durch das Fenster sah man den Weg zum Turmeingang. Gummimann war irgendwie enttäuscht, er hatte mehr erwartet, Plakate an der Wand oder sonst was, so genau wusste er es selbst nicht, aber einfach nichts, war ein bisschen wenig. Noch immer steckten die Erlebnisse von dem dunklen Raum in seinen Gliedern. Was war dort wirklich geschehen? Warum diese Hindernisse um an die Bildern zu kommen? An den Rückweg durfte er gar nicht denken, schon der Gedanke an die Hände und an den Gestank liess ihn erschaudern, er musste sich zusammenreissen. Die Suche nach dem Bild war jetzt; das was noch kommen würde, später. Er versuchte seine wilden Gedanken in den Hintergrund zu drängen und begann zu suchen. Der Boden schien als Versteck nicht geeignet, keine Platten, keine Erhöhungen, trotzdem säuberte er ihn vom Staub, dort wo es welchen gab. Dann untersuchte er die Wand, er klopfte auf jeden Stein, bei einer Steinwand gab es viele davon. Aber da gab es nichts was auf ein Versteck hinweisen konnte. Eine Stunde später setzte er sich frustriert auf den Boden, wo sollte er noch suchen? Es musste hier sein, er spürte es. Die Decke, er blickte nach oben, sie war weiss, sauber und glatt, für eine alte Burg eher ungewöhnlich. Er stand auf und berührte sie. Aber sie war gar nicht aus Stein. Es sah zwar aus wie Stein, war aber eine Folie, die jemand an die Decke geklebt hatte. Aus der Hosentasche fischte er sein Sackmesser, natürlich war es ein Schweizer Messer, rot, mit allen Schikanen und mehr als dreissig Teilen. Mit einer kurzen Klinge schnitt er in die Folie, weitete mit der Hand den entstandenen Schnitt aus, bis er mit beiden Händen die Plastikfolie herunter ziehen konnte. Zuerst löste sie sich nur an der Schnittstelle, doch durch sein hartnäckiges Ziehen gab sie mehr und mehr nach und bald war die ganze Decke davon befreit. Nahe dem Fenster, in einer Plastikhülle verpackt, klebte das zweite Bild. Ein Drittes gab es hier nicht. Gummimann löste es vorsichtig von der Decke. Es zeigte eine wiederum nackte Dame seitlich, die rechts vor einem Fenster stand. Sie blickte aber nicht durch dieses, sondern verträumt auf einen Blumenstrauss auf dem Tisch. Gummimann betrachtete es lange. Die Dame auf dem Bild war hübsch, etwas zu mollig für seinen Geschmack, aber es war gut gemalt, sehr realistisch.

Was jetzt kommen würde, darauf freute er sich überhaupt nicht. Er rollte das Bild zusammen, machte ein Gummiband darum und bereitete sich geistig auf den Abstieg vor. Das Bild hatte er in die Innentasche seiner Jacke versorgt. Da es zu lang war, liess er es oben etwas heraus schauen. Als erstes kam wieder die kurze Treppe, die zum unheimlichen Raum führte. Er fluchte laut und ging die Stufen herunter. Es war wieder dunkel, und er musste seine Taschenlampe anmachen. Was ihm auffiel war, dass der kurze Gang viel länger schien, vielleicht war das nur Einbildung oder er hatte ihn einfach anders in Erinnerung, was ihn nicht gewundert hätte, nach all dem Stress. Doch der Geisterraum von vorher war nicht mehr da. Eine steile Wendeltreppe führte am Ende des Ganges nach unten, am nächsten Raum vorbei, zum Turmausgang. Es war ähnlich wie beim ersten Bild, sobald er es gefunden hatte, verschwanden alle Schwierigkeiten. Er trat ins Freie, seine Tasche mit dem Klinikbild wartete geduldig vor dem Turm auf ihn. Noch einmal blickte er zur Turmspitze, es hätte ihn nicht erstaunt, wenn der Adler nun auch verschwunden wäre. Noch bevor er zurück zum Auto ging, glaubte er ein Lachen zu hören.

 

Ziemlich erschöpft liess er sich in den Autositz fallen, er hatte auch jetzt noch Mühe alles zu glauben, was ihm widerfahren war. Verrückt, das konnte er niemandem erzählen, die würden ihn für übergeschnappt abstempeln. Er nahm das Bild aus seiner Jacke und versorgte es in der Tasche, wendete das Auto und fuhr langsam durch das Dorf. Mehr als drei Stunden hatte er für den Ausflug gebraucht, den Auftrag zu zwei Dritteln gelöst. Die Bilder aber liessen ihn nicht los, er musste noch mehr in Erfahrung bringen. Komischerweise wussten die von der Gemeinde fast nichts zum Aufenthalt der psychisch Auffälligen von 1982, nicht wo sie später hinkamen, nicht wer gestorben war, nur dass sie da waren, das war belegt.

Gummimann stoppte an einer Bushaltestelle, eine ältere Frau mit einer grossen Schachtel unter dem Arm wartete dort auf den Bus. Er liess auf der Beifahrerseite das Fenster herunter.

»Entschuldigung, wo finde ich den Güggelhof?«

Die Frau kam näher und schaute zum Fenster hinein.

»Der Güggelhof, der ist auf der anderen Seite von Büren«, und sie erklärte Gummimann genau, wo er hinfahren musste.

Er bedankte sich und musste sich mit dem Abfahren beeilen um den Platz für den Bus freizugeben, der schon wartete. Bei der nächsten Gelegenheit wendete er und bog dann in die Seewenstrasse ab. Am Ende des Dorfes fuhr er rechts in den Güggelhofweg und etwa anderthalb Kilometer später erreichte er den Bauernhof. Der Hof bestand aus mehreren Gebäuden, war gross und zum Teil neu gebaut. Vor dem Hauptgebäude parkierte er und stieg aus. Eine Frau mittleren Alters war mit dem entladen eines Lieferwagens beschäftigt. Gummimann ging zu ihr.

»Entschuldigung, guten Tag, ich suche jemanden der sich auf diesem Hof auskennt.«

Die Frau unterbrach ihre Arbeit und drehte sich zu ihm. Sie war kräftig aber nicht dick, trug blaue Jeans und einen leichten, grauen Pullover, ihre dunklen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden.

»Da können Sie auch mit mir reden, um was geht es?«

»Sehr gut, ich heisse Gummimann«, er hielt ihr seine Hand entgegen. Sie wischte ihre an der Hose ab und sie begrüssten sich. »Ich interessiere mich für psychisch angeschlagene Menschen, die vor dreissig Jahren hier zwei Jahre gelebt haben.«

»Meisner, ich bin Verwalterin des Hofes. Vor dreissig Jahren, sagen Sie, das ist ziemlich lange zurück. Hier ist niemand mehr, der damals schon hier war. Höchstens, dass wir im Archiv noch etwas finden werden, vielleicht. Kommen Sie mit, Sie können dort selbst nachsehen.«

Er folgte ihr ins Haus.

»Wohnen immer noch Leute mit psychischen Problemen hier?«

»Ja, zehn Personen, die wohnen aber in einem betreuten Gruppenhaus weiter hinten auf dem Hof. Sie arbeiten bei den Tieren und in den Gärten.«

Frau Meisner führte Gummimann durch den Hausgang zu einer Treppe ins Kellergeschoss. Sie schloss eine Türe auf und machte Licht. Es war ein grosser Raum mit vielen Gestellen, auf denen Kartonschachteln standen, die mit Jahreszahlen beschriftet waren.

»Wir haben alle Akten nach Jahrgängen abgelegt, wann sagten Sie, waren die hier?«

»1982 - 84, vielleicht etwas länger.«

»Bis 1984, da haben Sie Glück, nach dreissig Jahren werden die Akten vernichtet, die aber könnten noch da sein.«

Sie schritten langsam durch die Gestelle bei der Wand, dann blieb sie stehen.

»Da sind sie. Akten, die so alt sind, kann ich Ihnen zum Durchsehen geben, bei jüngeren Jahrgängen verbietet uns das der Patientenschutz. Draussen im Gang gibt es einen Tisch, da können Sie sich damit beschäftigen.«

Sie nahm die Kartonschachtel heraus und ging zum Ausgang, Gummimann folgte ihr. Dann begleitete sie ihn zu einem Tisch und stellte die Schachtel ab.

»Lassen Sie sich Zeit, rufen Sie mich, wenn Sie fertig sind oder wenn Sie etwas wissen wollen, ich bin vor dem Haus beim Lieferwagen.«

Achtzehn Dossiers stapelten sich auf dem Tisch. Er brauchte anderthalb Stunden um das Wichtigste durchzulesen, nun hatte er es geschafft. Zwei Akten waren besonders interessant. Beide Personen hiessen Daniel und beide wohnten vorher in Paris. Die Nachnamen waren Leserowitz und Poissonnier.

»Brauchen Sie noch lange, ich sollte in der Stadt etwas erledigen, Sie könnten sonst morgen wieder kommen.«

Frau Meisner kam ihm durch den Gang entgegen.

»Nein, das dürfte nicht nötig sein, aber ich habe zwei Akten gefunden, die ich noch genauer studieren möchte, haben Sie einen Kopierer hier?«

»Nehmen Sie sie mit, Sie können sie mir wieder zurückbringen wenn sie fertig sind damit. Wir brauchen sie sicher nicht mehr, die sind so alt.«

»Sehr gerne, ich werde Sie Ihnen wieder bringen.«

Er packte die restlichen Akten in die Schachtel und wollte sie wieder ins Lager zurückbringen, doch Frau Meisner winkte ab.

»Lassen Sie, ich werde sie versorgen.«

Mit den beiden Akten unter dem Arm bedankte er sich nochmals bei der Dame und machte sich auf den Heimweg.

 

 

 

Es war schon früher Abend, als er zu Hause eintraf. Zuerst musste er etwas essen, wie schon so oft vergass er das, wenn er einen interessanten Auftrag hatte. Unterwegs hatte er eine Pizza gekauft und er freute sich darauf. Er setzte sich an den Küchentisch. Die Pizza hatte er schon in der Pizzeria aufschneiden lassen, herzhaft biss er in das erste Stück seiner Prosciutto.

Axel F meldete sich, Gummimann verschluckte sich beinahe.

»Was soll das, ich bin beim Essen«, sagte er genervt.

Er liess das Handy läuten, aber der Anrufer war hartnäckig und gab nicht auf. Gummimann schluckte herunter und nahm widerwillig ab.

»Gummimann beim Essen.«

»Jaeger, hallo Herr Gummimann, es tut mir leid, dass ich Sie beim Essen störe, ich wollte mich erkundigen wie weit Sie sind.«

»Guten Abend Herr Jaeger, ja, ein Bild habe ich, eine auf einem Bett liegende nackte Frau. Jetzt bin ich auf der Suche nach dem zweiten Bild, wo ich suchen muss, weiss ich noch nicht.«

»Sehr gut, das hört man gern, das sind doch gute Neuigkeiten. Ich werde mich morgen wieder melden, vielleicht wissen Sie bis dann wo das zweite ist. Ich bin im Moment noch in London, werde aber voraussichtlich auf Ende Woche wieder zurückkommen, dann können wir uns treffen.«

»Ok, prima, dann bis morgen.«

Gummimann legte sein Handy wieder auf den Tisch und widmete sich seinem Nacht- und Mittagessen. Zuviel wollte er Jaeger nicht sagen. Ein, zwei Tage Vorsprung waren nicht schlecht, da konnte er die Bilder in aller Ruhe untersuchen. Er traute Jaeger noch immer nicht. Der Typ wusste mehr als er zugab, es steckte noch etwas anderes dahinter.

Als er fertig gegessen hatte, entsorgte er die leere Pizzaverpackung. Aus seiner Tasche holte er das neue und das Klinikbild und legte beide auf den Tisch. Das neue Bild war auch eine farbige Zeichnung, aber im Gegensatz zu den andern war es quadratisch. Die nackte Dame auf dem Bild schien dieselbe zu sein wie auf dem ersten Bild, vermutlich war es auch das gleiche Zimmer, aber aus einem anderen Blickwinkel. Die Dame hatte eine kleine Tätowierung auf ihrem Oberschenkel, ein kleiner Schmetterling. Man sah hier ihre linke Seite, während sie auf dem ersten Bild von rechts zu sehen war. Er legte das Bild wieder auf die Seite und nahm das Klinikbild. Der Turm und die Klinik waren noch wie vorher, aber auf der rechten Seite begann sich etwas aus dem Nebel zu schälen. Noch konnte man nicht erkennen, was es war. Gummimann versuchte herauszufinden, was es sein könnte, aber er sah noch zu wenig, er brauchte noch etwas Geduld.

Dann holte er die beiden Akten aus der Tasche. Zuerst nahm er sich Daniel Poissonnier vor, Jahrgang 39, das konnte ungefähr stimmen. Er kam aus Paris nach Eggerswiller, schizophren, leider stand nichts darüber was Poissonnier dort gearbeitet hatte. In Büren hatte er sich meistens mit den Tieren beschäftigt, machte viele Spaziergänge. Nach zwei Jahren kam er in eine betreute Wohngruppe in Meggen am Vierwaldstättersee. Gummimann wunderte sich, dass er in der Schweiz blieb, fand aber heraus, dass er einen Schweizer Pass hatte. Sein Nachname beginnt auch mit P, er könnte Progard sein.

Dann nahm er sich Leserowitz vor. Der Name könnte jüdisch sein, auch bei ihm stand leider nicht, was seine Arbeit in Paris war. In der Wohngruppe sei er sehr inaktiv gewesen, stand da weiter, meistens wollte er nicht arbeiten. Er behauptete, er sei ein König und hätte das nicht nötig. Einmal verschwand er für zwei Tage und konnte trotz intensivster Suche nicht gefunden werden. Als er dann wieder auftauchte, tat er, als sei nichts gewesen. Befragungen brachten nichts, er sagte nicht, wo er sich in diesen zwei Tagen aufgehalten hatte. Nach zwei Jahren kam er in eine kleine Sonderklinik nach Erlach am Bielersee. Er sei 1985 gestorben. Es stand aber nicht, wo er begraben wurde und ob er wirklich in Erlach starb.

Gross weiter brachten ihn diese Akten nicht. Gummimann streckte sich auf dem Stuhl und gähnte, er war müde, wollte aber noch mit Sir Clearwater reden. Schon nach dem ersten Klingeln nahm Clearwater ab.

»Detektiv Gummimann, schön dass Sie noch anrufen, ich habe darauf gewartet. Haben Sie das zweite Bild?«

»Ja, hallo Sir, ich habe das zweite Bild, aber es war wieder eine verrückte Sache. Jetzt suche ich das dritte Bild, aber ich muss zugeben, ich habe keine Ahnung, wo ich suchen soll.«

»Und das zweite Bild gibt keinen Hinweis auf das dritte?«

»Keinen, und das Klinikbild auch noch nicht, etwas ist am Entstehen, aber bis jetzt ist nichts zu erkennen. Ich war noch auf dem Bauernhof, wo er einst wohnte und von dort habe ich zwei Akten mitgenommen von ehemaligen Patienten, aber die haben mir auch nicht weiter geholfen.«

»Wieso zwei Akten, gab es dort mehrere Progard's? Das ist ja nicht ein sehr üblicher Name.«

»Nein, Progard gab es dort gar keinen, ich habe zwei mitgenommen die in Frage kommen könnten.«

»Ich nehme an, Progard ist sein Künstlername.«

»Das ist gut möglich, aber wie erfahre ich seinen richtigen Namen?«

»Internet, Gummimann, Internet, suchen sie unter 'Künstlername Progard', vielleicht finden Sie was.«

»Das ist eine gute Idee. Danke Sir Clearwater.«

»Keine Ursache und wenn Sie Zeit haben erzählen Sie mir von Ihren Erlebnissen.«

»Mach ich gerne, ich melde mich wieder.«

Gummimann hängte auf und startete sofort den Computer. Dieser musste natürlich noch ein paar Updates verarbeiten und zwang ihn zum Warten. Er nervte sich, dass er selbst nicht auf die Idee mit dem Internet gekommen war, aber vielleicht war er einfach zu müde. Als der Computer bereit war, gab er sofort 'Künstlername Progard' bei Google ein und schon der zweite Eintrag zeigte, der richtige Name war Leserowitz.

 

Gummimann war wieder unterwegs.

Am Morgen rief er noch Sir Clearwater an und teilte ihm mit, dass er nach Erlach fahren würde zu einem Bootshaus, er vermutete dort sein nächstes Ziel. Auf dem Klinikbild war in der Zwischenzeit der ganze Nebel verschwunden und ein Bootshaus war erschienen. Ob dort das Bild zu finden sei, würde sich herausstellen. Progard lebte dort eine kurze Zeit als Daniel Leserowitz, bis er dann für immer verschwand oder starb.

Gummimann kannte Erlach ein wenig, doch wo das Bootshaus war, wusste er nicht. Sicher war, es befand sich irgendwo am Ufer des Bielersees und es schien alt zu sein, nicht mehr im besten Zustand. Einst war es braun, aber die Farbe war jetzt vielleicht verbleicht oder es konnte mit anderer Farbe neu gestrichen worden sein. Man sah das Haus auf dem Bild etwas seitlich von vorne, ein bisschen gab es einen Einblick in das Innere frei, und man konnte ein Boot sehen, das auf einem Gestell stand. Ob das noch dort ist, ist fraglich, ist die Zeichnung doch dreissig Jahre alt. Das Giebeldach war an seinem Spitz über dem Eingang mit einem Schmetterling verziert, vermutlich aus Holz. Er glich jenem Tatoo der Dame auf Bild zwei.

Auf seiner Fahrt durch Erlach fragte er mehrere Passanten nach diesem Bootshaus. Alle kannten viele Bootshäuser, aber keines, das dem auf dem Bild entsprach. Schon fast ausserhalb des Städtchens, auf den Weg nach Vinelz, glaubte eine Dame mit Kinderwagen, es zu kennen. Weit sei es nicht, meinte sie und beschrieb Gummimann genau den Weg zum Bootshaus. Es sei aber nicht zugänglich, mit einem hohen Zaun und das Gebiet ein bisschen verwildert, ergänzte sie, aber es könnte es sein.

Ein bisschen verwildert war nur der Vorname, innerhalb des Zauns war genau so viel Wald wie ausserhalb. Das Bootshaus konnte er durch die Bäume sehen, seine braune Farbe war zum Teil noch vorhanden, doch die meiste Farbe war abgeblättert, jetzt sah man das rohe, verwitterte Holz. Gummimann ging zum Zauneingang, es gab da zwar eine Tür, aber die war abgeschlossen. Der Maschendrahtzaun war hoch, sicher zwei Meter, der obere Teil war nach innen abgewinkelt und mit Stacheldraht abgesichert. Darüber zu klettern wäre nur mit viel Mühe gegangen. Plötzlich tauchte ein Hund auf, ein Deutscher Schäfer, er musste irgendwo hinter dem Haus gewesen sein. Er bellte wie verrückt, fletschte seine Zähne und sprang am Zaun hoch. Gummimann flüchtete erschrocken zurück, obwohl ihm das Tier nichts hätte anhaben können. Mit etwas Abstand ging er nun dem Zaun entlang. Der Hund bellte und führte, sich noch immer wie ein Verrückter auf. Zuerst wollte Gummimann feststellen, ob es überhaupt das gesuchte Bootshaus sei. Auf der Seeseite hätte er das Klinikbild nicht mehr gebraucht, es war genau wie auf der Zeichnung. Der Schmetterling am Giebel war ziemlich ausgebleicht. Sogar ins Innere konnte er blicken und er sah das Boot, das jetzt an der Wand stand. Zur Sicherheit nahm er das Bild trotzdem zum Vergleichen. Wieder überkam ihn das Gefühl und nun wusste er wo er ungefähr das Bild finden würde. Es schien diesmal einfacher zu sein, aber so ganz traute er diesem Eindruck nicht. Es schien jedes Mal einfach zu sein und war es nie. Der Hund kläffte noch immer, als müsste er die ganze Umgebung vor ihm warnen.

»Wo ein Hund ist, ist das Herrchen nicht weit«, sagte Gummimann laut und begann zu rufen.

Niemand meldete sich.

»Hallo, ist da wer?«, rief er nochmals, doch ausser, dass der Hund noch aufgeregter bellte und sich noch wilder benahm, gab es keine Reaktion.

Wieder schritt er den ganzen Zaun ab, der lärmige Kläffer begleitete ihn. Irgendeine Möglichkeit in das Haus zu kommen, sollte es ja geben, nur welche? Der Zaun war zum See hin mit spitzen Stacheln, die mit Stacheldraht umwickelt waren, abgeschlossen. Der See selbst musste an dieser Stelle eine gewisse Tiefe haben, damit Boote nicht stecken blieben. Eine Zufahrt zum Haus gab es nicht mehr, wachsendes Schilf versperrte den Weg, auch lag viel Treibholz im Wasser. Komischerweise war direkt vor dem Bootshaus nichts, auch kein Schilf. Gummimann sah schnell ein, dass der Wasserweg war ein schlechter Weg war, den er nur im Notfall wählen würde. Als er vorhin dem Zaun entlang ging, sah er beim Eingang eine Stelle, bei der der Maschendraht nicht ganz bis zum Boden reichte. Wenn er sich klein machen würde, könnte er dort unten durchkriechen. Nur der Hund störte, die Vorstellung ihn am Hintern oder am Bein zu haben, war nicht unbedingt das, was er sich wünschte, trotzdem musste er es wagen. Seine Tasche stellte er auf den Boden, er konnte sie nicht mitnehmen, machte sich klein und versteckte sich so hinter einem umgefallenen Baum. Der Hund bellte noch ein paar Mal, dann hörte er verwirrt auf. Wie wild begann er zu suchen, aber es schien, als glaubte er den eventuellen Eindringling verjagt zu haben. Noch ein-, zweimal lief er den Zaun entlang, um sich zu vergewissern und verschwand dann hinter dem Haus. Gummimann kletterte über den Baumstamm und lief, noch immer klein, zu der Zaunstelle bei der er unten durchkriechen wollte. Es war ruhig, der Hund schien noch nicht zurückzukommen. Er legte sich am Boden auf den Rücken und zog sich mit den Händen unter dem Maschendraht durch. Die ersten paar Schritte schlich er noch klein, zum Bootshauseingang und machte sich dort normal gross. Vom Hund war immer noch nichts zu hören, was ihn einerseits freute, anderseits auch befremdete, ein Tier in dieser Grösse konnte nicht einfach verschwinden. Vielleicht war er schlau und passte ihn im Haus ab, darum hiess es weiter auf der Hut zu sein. Vorsichtig drückte er die Klinke nach unten, er wollte möglichst keine Geräusche machen. Die Tür war nicht verschlossen und noch immer keinen Ton vom Hund. Langsam schob er sie auf, immer in Erwartung nächstens angesprungen zu werden, aber nichts geschah. Bald stand er im Bootshaus, das ungefähr zehn auf fünfzehn Meter gross war. Vom Hund keine Spur. Das Bootshaus war alt und in schlechtem Zustand, das sah man am morschen Holz der Wände, an der abblätternden oder schon fehlenden Farbe und am Dach, bei dem Ziegel fehlten oder zerbrochen waren. Der Boden aus Beton war an vielen Stellen mit grünem Moos bedeckt und mit Rissen übersät, in denen sogar Gras wuchs. Gegenüber vom Eingang gab es Überreste eines Gestelles und ein an die Wand gelehntes, umgedrehtes Ruderboot, das sogar noch relativ intakt aussah. In der Mitte des Raumes war der Wassergraben, circa zwei Meter breit und vielleicht sieben Meter lang, der einst die Garage für die Boote war, die man nicht aus dem Wasser nehmen wollte. An dessen Ende standen zwei grosse Plastikkisten. Durch die Öffnung zum See sah er zum Schilf und zum Treibholz. Vom Hund war weder was zu sehen noch zu hören, er war einfach nicht mehr da. Gummimann wunderte sich nicht mehr, nach all dem was er an den andern Orten erlebt hatte. Die nächste Schikane würde kommen, das war so sicher, wie das Amen in der Kirche. Er ging zur ersten Kiste und öffnete sie, sie war leer, in der zweiten fand er eine gelbe Fischerjacke aus Kunststoff. Sie sah noch einigermassen brauchbar aus, er liess sie aber liegen und schloss die Kiste wieder. Als er vor dem Ruderboot stand, das an der Wand lehnte, hatte er wieder das Gefühl, dass das Boot etwas mit dem Bild zu tun haben würde. Ob er es dort suchen müsste und ob er es dort finden würde, das spürte er nicht. Das Gefühl war speziell, es machte ihm sogar irgendwie Angst. Seine Versuche das Ruderboot zu kippen, damit er es besser untersuchen konnte, scheiterten. Trotz grossem Kraftaufwand, schien es, als klebe es an der Wand. Also untersuchte er es zuerst von Aussen. Er fuhr mit der Hand über das Holz, es war lackiert, roh, ohne Farbe, in gutem Zustand, es gab da nichts Aussergewöhnliches. Um in das Boot zu schauen musste er sich kleiner machen. Das Boot stand schräg an der Wand, im Normalfall hätte dies das Kippen verhindert. Mit der Taschenlampe, die er wie immer dabei hatte, leuchtete er in das Innere des Bootes. Ungefähr in der Mitte war etwas am Boden befestigt, von Weitem sah es aus wie das Bild, doch so genau konnte er es nicht erkennen. Um es besser zu sehen, musste er darunter kriechen, so kam er näher dazu. Er machte sich noch etwas kleiner und kletterte unter das Boot. Vorbei an einer Sitzbank, kam er zu einem Foto. Es hatte ungefähr die Grösse der Bilder, es zeigte eine Berglandschaft bei schönem Wetter, mit vielen Bäumen und einer Wiese mit grasenden Kühen. Progard hat das vielleicht fotografiert, aber sicher nicht gemalt. Etwas enttäuscht machte sich Gummimann grösser und löste mit dem Sackmesser das Bild vom Bootsboden, faltete es ein paar Mal und er steckte es unter den Gürtel seiner Hose und suchte weiter. Plötzlich hörte er ein Rutschen, er blickte nach oben und sah wie ihm das Boot entgegen kam, er ging in Deckung und hielt, um sich zu schützen, beide Arme über den Kopf, dann knallte es. Als er aufblickte bemerkte er, dass das Boot ihn gefangen hatte, es war von der Wand gerutscht und lag nun über ihm, es gab keinen Ausgang mehr. Ziemlich erschrocken wunderte er sich, wie das möglich war, er konnte das Boot vorhin nicht von der Wand lösen. Das war wieder dieser Progard, er war sich sicher, diese eigenartigen Phänomene, die Einstürze, Hunde, die verschwinden, Türen, die sich von alleine schliessen. Was war das für ein Mensch? Warum das alles? Langsam beruhigte er sich wieder und er begann nach einem Ausgang zu suchen. Mit der Taschenlampe leuchtete er den Rand des Bootes ab. Seine Hoffnung, das Holz sei gesplittert, morsch, musste er leider bald aufgeben. Es gab nur eines, er musste das Boot anheben. Am hinteren Ende, an der Breitseite legte er sich auf den Rücken und machte sich etwas grösser, die Beine hielt er angewinkelt über seinem Körper und den Füssen stemmte er gegen den Schiffsboden. Zuerst musste er es so überhaupt anheben können. Mit ganzer Kraft drückte er dagegen und schaffte es tatsächlich, es ungefähr fünfzehn Zentimeter in die Höhe zu stemmen. Er kam richtig ins Schwitzen und liess es wieder herunter. Jetzt musste er nur noch etwas finden, was er zwischen Boot und Boden klemmen konnte damit der Spalt offen blieb. Nach kurzem Überlegen nahm er seine grosse Taschenlampe. Wieder stemmte er das Boot in die Höhe, dann schob er die Lampe unter den Bootsrand. Für einen kurzen Augenblick schien es zu funktionieren, qer freute sich schon, doch die Taschenlampe begann sich durchzubiegen und spickte dann irgendwo ins Bootshaus. Das Boot fiel zurück, nur ein schmaler Spalt war noch zu sehen, irgendetwas war da noch eingeklemmt. Gummimann holte seine kleine Taschenlampe, sie hing an einer Schnurr um seinen Hals. Als er hin leuchtete staunte er nicht schlecht, es war das zusammengefaltete Foto, es war unter den Rand gerutscht, er musste es beim Stemmen verloren haben. Erstaunlich war, dass es trotz des Gewichtes des Bootes nicht stark zusammengedrückt wurde. Ob das sein Weg nach Aussen war? Er legte sich wieder auf den Rücken und stemmte, unter Stöhnen, das Boot erneut in die Höhe, dann nahm er das Foto und schob es, durch einen Falz aufgestellt, unter den Rand. Langsam liess er das Boot nach unten sinken. Das Foto hielt, es bog sich nicht einmal durch. Sofort machte er sich klein und kletterte so schnell es ging unter dem Bootsrand durch in die Freiheit und nahm wieder seine normale Grösse an. Das Foto zu holen, wie konnte es anders sein, war kein Problem, er konnte das Ruderboot ohne grosse Anstrengung mit einer Hand anheben. Das Bild war, ausser dem Falz, weder zerknittert noch sonst irgendwie beschädigt, auch fühlte es sich wie ein normales Foto an und trotzdem konnte es das schwere Boot tragen. Irgendwie hatte Gummimann genug von diesen Spielereien von Progard, am liebsten hätte er alles stehen und liegen gelassen und wäre gegangen. Wäre da nicht seine Neugier gewesen. Sie war so gross, dass sie überwiegte, er wollte das letzte Bild noch finden. Nachdem er eine kurze Pause eingelegt hatte, ging er wieder durch das Bootshaus und untersuchte die Wände. Nochmals schaute er in die Plastikkisten, doch all das brachte ihn nicht weiter, das Gefühl, das ihm sagte wo das Bild sei, kam nicht. Frustriert setzte er sich auf den Rand am Ende des Wassergrabens und liess seine Füsse knapp über dem Wasser baumeln. Zuerst sah er das Schilf vor dem Eingang, dann als er in das Wasser im Schiffsgraben blickte, spürte er schwach, dass dort etwas sein musste. Das Gefühl war plötzlich wieder da, schwächer als er es bis jetzt erlebt hatte, aber es war das gesuchte Zeichen. Der Gedanke, das Bild sei unter Wasser zu suchen, liess ihn frösteln, es war Frühling und nicht Sommer, überhaupt noch nicht die Zeit für ein Bad im See. Beim Seeeingang des Grabens schaute er ins Wasser, es gab vieles zu sehen, aber nichts worin man ein Bild hätte versenken können. Es war nicht tief, vielleicht einen Meter. Um darin stochern zu können brauchte er eine Stange oder auch ein längeres Stück Holz. Beim Blick durch das Bootshaus blieb er an den Überresten des Gestelles hängen. Es stand in der Ecke an der Wand, und war aus Metall. Er suchte sich dort eine Tablarstange aus, die an Wand stand. Sie war ziemlich lang und er musste sie schräg halten, damit sie nirgends an das Dach stiess. Dann schaute er wieder ins Wasser und versuchte die Stelle zu finden, an der das Gefühl am stärksten war. Aber es war schwierig, irgendwie nicht eindeutig. Mit der Stange fing er im Wasser zu stochern an, doch plötzlich war das Gefühl ganz verschwunden. Gummimann hatte Mühe das zu begreifen, er zog die Stange wieder heraus, musste er wirklich selbst ins Wasser steigen? Ihm passte das ganz und gar nicht. Als sich das Wasser beruhigt hatte kam das Gefühl wieder zurück, zuerst etwas diffus, dann stärker. Lag es an der Stange? Er stellte sie an die Wand, dann legte er sich auf den Bauch und machte sich etwas grösser, damit er mit der Hand ins Wasser kam, doch sobald er damit eintauchte, verschwand das Gefühl wieder. Verwirrt versuchte er es nochmals und noch ein weiteres Mal, mit demselben Resultat. Darauf hin setzte sich wieder an den Rand. Für einen Moment schaute er an die Decke um sich besser konzentrieren zu können und erschrak, das Gefühl war nun in voller Stärke da. Wie konnte das sein, an zwei Orten? Sein Blick auf die Oberfläche des jetzt wieder ruhigen Wassers zeigte ihm die Lösung. Als Spiegelbild war der Dachstock zu sehen und jedes Mal, wenn man etwas ins Wasser tauchte, verschwamm das Bild und verschwand, wie das Gefühl. Das Gefühl an der Decke aber blieb und zeigte ihm nun ungefähr, wo er zu suchen hatte, es musste im First beim Ausgang zum See sein. Das Dach war ein Giebeldach in dessen First ein Rohr durch die Aussenwand führt, das sich durch fast das ganze Gebäude zog und vermutlich einst ein Teil eines Hebeliftes war. Auf der Seeseite gab es einen Rolladenkasten. Gummimann wollte da hinauf klettern, dazu musste er sich zuerst gross machen um sich daran festzuhalten, und wieder klein, damit er auf die Oberseite des Kastens steigen konnte. Zuerst kroch er, dann konnte er mit etwas kleinerer als halber Körpergrösse aufrecht auf dem Kasten bis zum Rohr gehen. Gummimann untersuchte alles sehr genau, konnte aber kein Bild entdecken. Aber das das Bild musste da sein, das Gefühl war jetzt sehr stark. Doch da gab es nur die Ziegel und das Rohr. Bei den Ziegeln war es nicht. Es blieb nur das Rohr und plötzlich wusste er mit Sicherheit, wo er das Bild finden würde. Allerdings zum Rohrende kam er nur von ausserhalb des Hauses. Er kletterte vom Kasten herunter und machte sich normal gross. Das Rohr stand ungefähr zwanzig Zentimeter ins Freie, das Ende war mit dem ausgebleichten Holzschmetterling verziert. Er nahm die Stange vom Gestell, sie sollte lang genug sein, dass er sie oben an das Rohr stellen konnte. Am Boden suchte er eine Rille, damit die Stange nicht davon rutschte. Es ging, sie stand zwar etwas schief vor der Aussenwand, aber hielt sicher. Damit er erst vom oberen Teil aufsteigen musste, machte er sich ziemlich gross, hielt sich dann an der Stange fest, machte sich etwas kleiner und kletterte von dort aus zum Schmetterling. Er hielt sich mit der linken Hand am Rohr fest, mit der rechten versuchte er das Holzbild zu entfernen. Zuerst liess es sich kaum bewegen, aber es war wie bei einem Korken einer Flasche, durch stetes hin und her bewegen löste es sich langsam und der Schmetterling fiel herunter in den See. Mit den Fingern, die er in die Öffnung steckte, tastete er das Innere ab. An den Fingerspitzen spürte er etwas, konnte es aber nicht erreichen. Gummimann machte sich noch kleiner und kletterte höher, jetzt passte sein ganzer Arm in das Rohr, und er konnte das Ding festhalten. Vorsichtig zog er es ein Stück heraus, es war das aufgerollte Bild. Er machte sich wieder grösser, zog es ganz aus dem Rohr und kletterte die Stange herunter. Dann machte er sich normal gross und rollte das Bild auf. Es war das gesuchte, etwa zwanzig auf dreissig Zentimeter gross und es zeigte wieder dieselbe Dame, wie auf den andern beiden Bildern. Man sah sie nackt von hinten vor einem Spiegel sitzend, sie schaute aber nicht hinein, sondern auf den Boden, auf dem eine Rose lag. Das Schmetterlingstatoo war knapp an ihrem Oberschenkel sichtbar. Gummimann rollte das Bild wieder zusammen.

Auf dem Weg nach draussen fand er vor einer der Kisten, seine Taschenlampe, sie war nicht verbogen und funktionierte noch problemlos. Der Hund blieb verschwunden, die Tür des Zauns war offen. Wieder glaubte er jemanden lachen zu hören. Er wunderte sich über nichts mehr, alle Probleme lösten sich immer auf, sobald das gesuchte Bild gefunden war. Seine Tasche stand noch da, wo er sie hingelegt hatte, er nahm sie und ging zu seinem Peugeot. Der Auftrag war erledigt, jetzt konnte er erleichtert nach Hause fahren.

 

 

 

Die Heimfahrt von Erlach verlief problemlos, ohne Stau, Gummimann wählte die Strecke über den Pierre-Pertuis durch den Jura nach Wallgisdorf.

Jetzt war er wieder zu Hause in seiner Küche.

Er legte die drei Bilder und das gefaltete Foto auf den Tisch. Das war also der Auftrag von Jaeger. Er behauptete ja, die Bilder seien ihm gestohlen worden, was Gummimann überhaupt nicht glauben konnte. Die waren nicht gestohlen, sie wurden von Progard versteckt und mit irgendwelchen magischen Tricks oder Schutzvorrichtungen versehen. Aber was war an den Bildern so wertvoll, dass sie so geschützt werden mussten? Er studierte ein Bild nach dem andern und verglich sie miteinander. Es war wirklich immer dieselbe Dame, zweimal im gleichen Zimmer und einmal im Schlafzimmer, man sah einen Teil des Bettes. Auf dem letzten Bild schaut sie die Rose an, die am Boden liegt, auf dem zweiten Bild betrachtet sie einen Blumenstrauss auf einem Tisch und auf dem ersten eine Uhr auf einem Büchergestell. Ob sie wirklich die Gegenstände anschaute, war schwierig zu sagen, mindestens sah es so aus. Doch von den Bildern ging eine sonderbare Ausstrahlung aus, das spürte er, wusste aber nicht, was sie bedeutete. Dann nahm er das von ihm gefaltete Foto und strich es glatt, soweit es möglich war. Es war nichts Besonderes, eine Landschaftsaufnahme, Berge im Hintergrund, Wald und davor einige grasende Kühe. Es konnte irgendwo auf der Welt aufgenommen worden sein.

Jaeger würde irgendwann anrufen, dann musste er ihm sagen, dass er seinen Auftrag erledigt hatte, doch zuvor wollte er Clearwater die Bilder zeigen, das mit der Ausstrahlung liess ihm keine Ruhe. Zuerst musste er wieder etwas essen, wie üblich vergass er das bei solchen Aufträgen. Es gab nur etwas Kaltes, Brot, welches er auf dem Nachhauseweg gekauft hatte und Schinken, sehr viel Fantasie hatte er beim Einkaufen nicht gehabt.

Noch während er den letzten Bissen herunterschluckte, wählte er Clearwater's Nummer.

»Clearwater.«

»Gummimann, hallo Sir Clearwater.«

»Guten Abend, Detektiv, haben Sie es geschafft?«

»Ja, ich habe es geschafft. Ich habe auch das dritte Bild, ich möchte Sie aber bitten bei mir vorbeizukommen.«

»Das freut mich, dass Sie es geschafft haben, aber warum soll ich vorbeikommen?«

»Irgend etwas ist eigenartig mit den Bildern, ich möchte, dass Sie sich die mal ansehen, bevor ich sie Jaeger überlasse. Ich muss ihm spätestens bis morgen Bescheid geben.«

»Gut, ich bin in einer Stunde bei Ihnen, bin mal gespannt, was sie mir Eigenartiges zeigen wollen.«

Damit unterbrachen sie die Verbindung. Gummimann hatte ein komisches Gefühl und wurde es nicht los. Nochmals studierte er die Bilder, konnte aber nicht sagen womit es zusammenhing.

 

Als nach einer Stunde Clearwater an der Haustüre läutete, war er erfreut und etwas erleichtert, vielleicht konnte ihm der alte Herr mit seiner Erfahrung weiterhelfen. Mit seinen hellgrauen kurzen Haaren und seinen wachen Augen, wirkte er wie immer, sehr seriös und schon fast weise. Wie üblich kam er in einem weissen Anzug und dem dazugehörigen weissen Panamahut, den er beim Eingang auf den Kleiderständer hängte. Sie setzten sich an den Küchentisch. Gummimann arbeitete meistens dort, seine Küche war gross und ideal dafür, schon weil er nur ein paar Schritte zum nächsten Kaffee machen musste.

»Ich bin froh, dass Sie kommen konnten. Etwas stimmt mit den Bildern nicht. Auch die Aussage von Jaeger, sie seien ihm gestohlen worden, stimmt sicher nicht. Er wusste von den Bildern, das ist klar, aber das waren nicht seine, sie waren so gut versteckt und mit Tricks abgesichert und das seit Jahren, dass es nicht seine sein können. Doch warum ist er so scharf darauf? Warum will er sie überhaupt haben? Die machen mir sogar Angst, irgendwie.«

»Angst? Kann ich die Bilder sehen?«

Gummimann legte sie nebeneinander auf den Tisch. Sir Clearwater betrachtete eines nach dem andern mehrmals.

»Die Bilder sind gut gezeichnet«, meinte er, »viele Details, gute Farben, vermutlich Stiftzeichnungen. Bilder von Progard sind sehr wertvoll, ich kann mir gut vorstellen, warum er sie unbedingt haben will. Das ist das Bild der Klinik mit dem Turm und dem Bootshaus. Am Telefon haben Sie mir gesagt, zuerst hätte man nur die Klinik mit einer Statue im Vordergrund gesehen. Dann sei die Statue plötzlich verschwunden und die andern Sachen, wie der Turm und das Bootshaus seien erschienen. Das ist wirklich eigenartig. Jetzt sieht man alle drei.«

Gummimann nickte, er hielt seine Hände an die Schläfe und blickte auf die Bilder.

»Ja, so war es. Spüren Sie nicht die Ausstrahlung, die von den Bildern ausgeht? Die eigenartigen Gefühle, die sie auslösen?«

»Nein, ich spüre nichts, sie lösen bei mir keine speziellen Gefühle aus.«

»Das begreife ich nicht, warum spüre ich was, und warum diese Tricks beim Suchen?«

»Sie sprechen immer von Tricks, was sind das für Tricks?«

»Ja, Sie haben recht, ich muss es Ihnen erzählen.«

Er begann seine Erlebnisse zu schildern, ab und zu musste er Clearwater's Fragen beantworten, dann unterbrach er kurz um etwas Kaffee zu trinken und erzählte dann weiter. Als er geendet hatte, war für einen kurzen Moment Ruhe.

»Jetzt wissen Sie, warum ich nicht an einen Diebstahl glaube«, sagte er nach einer Weile, »und auch, warum mir die Bilder Angst machen. Es ist zwar jedes Mal gut ausgegangen, aber was wäre gewesen, wenn ein anderer die Bilder gesucht hätte? wäre der jetzt tot?«

»Ja, Sie haben recht, das ist eine gute Frage. Aber mich beeinflussen die Bilder nicht. Könnte es nicht sein, dass all das, was Sie erlebt haben, diese Stimmung bei ihnen auslöst?«

»Möglich wäre es schon, vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich mach mir sicher zu viele Gedanken. Morgen werde ich Jaeger anrufen und ihm die Bilder übergeben. Aber all das Verrückte, was ich erlebt habe, kann ich mir nicht eingebildet haben, das ist einfach unmöglich. Das Klinikbild beeinflusste mich, gab mir Tipps, wo ich zu suchen hatte und es hat sich während des Auftrags verändert, es zeigte mir den nächsten Ort. Wenn ich mir das nur eingebildet habe, werde ich vielleicht langsam verrückt.«

»Jetzt aber Gummimann, halten Sie die Luft an, ich glaube Ihnen, dass Sie das so erlebt haben. Und ...«

Das Telefon von Gummimann meldete sich.

»Es ist Jaeger, ich sehe es auf dem Display. Entschuldigung.«

Er nahm ab.

»Gummimann.«

»Jaeger, ich bin früher aus London zurückgekommen, was gibt es Neues?«

»Ich habe die Bilder, Sie können sie bei mir abholen.«

»Bei Ihnen, ich dachte mir... Okey, ich werde sie bei Ihnen abholen, Ihre Adresse habe ich, ich komme noch heute Abend. Also, dann bis später.«

Damit war das Gespräch beendet. Gummimann schaute Clearwater an und hielt noch immer das Handy in seiner Hand.

 

Es vergingen knapp fünfundvierzig Minuten bis Jaeger ins Wohnzimmer trat. Gummimann hatte ihn hereingelassen. Clearwater wartete dort, stand kurz auf und begrüsste ihn mit einem Händedruck.

»Nehmen Sie Platz«, Gummimann zeigte auf einen freien Sessel. »Das ist Sir Clearwater, ein guter Kollege von mir, ich habe ihm von unserem Auftrag erzählt, wir haben noch ein paar Fragen.«

Jaeger setzte sich und musterte den älteren Herrn im weissen Anzug.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739360089
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Schlagworte
Schweiz Basel Reisen Fantasy Kriminalgeschichten Mystik Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Tino Keller (Autor:in)

Jahrgang 1951, wohne in der Schweiz in der Nähe von Basel. Ich arbeitete lange als Jugendarbeiter und liebte es Geschichten zu erzählen. Geschichten von Detektiv Gummimann. Jetzt bin ich Pensioniert und habe Zeit zum Schreiben. Durch eine Krankheit bin ich nicht mehr so mobil, aber in meinen Geschichten geht noch alles. Der Detektiv hat viele Eigenschaften von mir. Eigentlich schreibe ich mehr für mich, wenn es den Lesern gefällt, freut es mich umso mehr.
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Titel: Das Geheimnis der Bilder