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Irrwege der Leidenschaft

von Katharina Mohini (Autor:in)
1480 Seiten

Zusammenfassung

In den unabhängig voneinander zu lesenden Geschichten haben die unterschiedlichsten Protagonisten eines gemeinsam. Die Stürme des Lebens haben ihre ersten Dellen, Ecken und Kanten an ihnen hinterlassen. Und doch geben die Helden der Geschichten nicht auf, ihr kleines, großes Glück für sich zu suchen und zu finden. Den Mut zu finden, über den eigenen Schatten zu springen und sich auf das Abenteuer einer aufregenden, neuen Partnerschaft einzulassen. Da ist die Escort-Lady, für die es um Geld, Beziehungen und Einfluss geht. Und die doch durch die Liebe zu einem kleinen Mädchen ganz andere Werte für sich entdeckt. Ein alleinerziehender Vater, den der Fluch einer einseitigen Beziehung zögern lässt sich erneut zu verlieben. Die vornehme Reederin, die alles hat, was das Leben einem bietet. Nur gelingt es ihr nicht den Menschen zu finden, der ihr Herz vom Eis befreit. Ein Lebenskünstler auf Abwegen, dessen unmoralische Wette nicht nur sein ganzes Leben auf ewig verändern wird. Die beiden Freundinnen, deren Vergangenheit ihr zukünftiges Leben auf ewig beeinflusst. Die Sehnsucht diesen einen besonderen Menschen und eine Familie zu finden. Liebe und Vertrauen zu geben und zu erhalten und doch immer dabei die quälende Frage im Nacken: Wann erzähle ich dem geliebten Menschen, dass er mehr erhält, als er es sich womöglich vorzustellen vermag. Der Vater mit dem Sohn, die so viel mehr miteinander teilen, als die Liebe zum Unternehmen. Die Tücken, sich in eine Frau zu verlieben, die weit mehr Geheimnisse besitzt, als man erahnen kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



Prolog

Was konnte enervierender sein als eine Tagung von Kommunalpolitikern und höchsten Gemeindevertretern des südhessischen Raumes, verwünschte der gepflegt erscheinende Mittfünfziger seine momentane Situation. Er schnaubte unwillig ins Halbdunkel des imposanten Saales hinein, in dem er und annähernd dreihundert Leidensgenossen dem von verordnetem Enthusiasmus getragenen Bericht eines Frankfurter Sozialreferenten lauschten. Gequirlte Hühnerkacke war das!

Manchmal kam es ihm aus den Ohren heraus, dieses Gejammer über die knappe, wenn nicht gar desolate Haushaltslage und die immer weiteren Forderungen von Bund und Land. Natürlich war es anstrengend, eine Gemeinde am Florieren zu halten. Aber es war machbar! Man musste nur eine Portion Mut, Abenteuergeist und die gewissen Beziehungen haben, um selbst eine Stadt wie sein Gernhausen mit einem leichten Gewinn in der Stadtkasse über die Runden zu bringen. Die Art und Weise, wie er dieses bewerkstelligte, würde zwar nie die Grundlage für einen versierten Vortrag sein. Was jedoch zählte, war das Ergebnis. Und das konnte sich allemal sehen lassen …

Nils-Ole Händler spürte das Vibrieren seines iPhones an der Brust, während die leise Melodie von Marilyns „Diamonds are a girl’s best friend“ eine eingehende SMS ankündigte. Ein zufriedenes Lächeln huschte ihm über die Lippen, als er den knappen Text ihrer Antwort las.

„Montpellier 18 Uhr. Weiße Rose und die Elle in der Hand.“

Was zum Henker war die Elle? Egal, er war sich sicher, die richtige Frau auf Anhieb zu erkennen. Zufrieden ließ sich Nils-Ole Händler in seinem „Kinosessel“ zurücksinken und gönnte sich den Luxus, gedanklich abzuschalten. Den kommenden Abend im Geiste zu planen und durchzugehen, war wichtiger als jeder Vortrag.

***

Mit weitaus gemischteren Gefühlen legte die Absenderin der SMS ihr Handy beiseite und betrachtete diese wunderschöne, selbstbewusst wirkende Frau, die sie aus dem großen Spiegel heraus ansah. Einzig der skeptische Blick aus dunkelbraunen Augen spiegelte noch eine Spur von Verunsicherung wider.

Es war immer so, wenn es zu einem neuen „Klienten“ ging. Selbst nach Jahren in diesem Geschäft. Die immer wiederkehrende Frage, ob sie mit ihm Glück hatte oder ob sie nicht doch irgendwann an einen Psychopathen geriet. Die Erinnerung an seine Stimme gestern am Telefon ließ ihr einen wohligen Schauer über den Rücken laufen. Dunkel, markant und geheimnisvoll, mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein. Christin Thorstraten rief sich nochmals seine Worte in Erinnerung, während sie ihr langes, in Wellen fallendes Haar ausgiebig mit einer Bürste bearbeitete. Er hatte sich ihr unter den Namen Nils-Ole vorgestellt. Er sei Geschäftsmann aus der Nähe Frankfurts und hätte ein verlängertes Wochenende in der Stadt – mit einsamen Abenden. Wenn sie nicht abgeneigt sei und Zeit habe, würde er sich freuen, ihre Dienste für die kommenden zwei Tage in den späten Nachmittags- und Abendstunden in Anspruch zu nehmen.

Auf ihre Frage hin, wer sie empfohlen habe und für seinen Leumund garantieren könne, hatte er mit einer Spur Bedauern in der Stimme geantwortet, dass er ihre Adresse und Profession von einem guten alten Freund faktisch geerbt habe. Hartmut Schneider und er seien viele Jahre enge Freunde gewesen. Auf dem Sterbebett habe ihm sein Freund von seinen amourösen Abenteuern mit einer sehr netten und vor allem sehr verschwiegenen jungen Dame erzählt.

Christin konnte sich sehr wohl an Hartmut erinnern. Und auch jetzt, als sie an das gestrige Gespräch dachte, erfüllte es sie mit einer Spur von Traurigkeit, dass dieser nette und vor allem sehr spendable Mann nicht mehr unter ihnen weilte.

»Scheiß drauf«, knurrte sie ihr Spiegelbild an. Irgendwann traf es jeden. Und wenn Hartmut ihr einen „Erben“ vermittelte, dann wollte sie ihn sich zumindest anschauen. Zumal es in ihrem Geschäft – wie jetzt im Februar – immer recht flau war. Außerdem war da, wie gesagt … seine Stimme. Sie hatte etwas an sich, das sie nicht ruhen ließ. Ein letzter Blick in den Spiegel. Fast perfekt, wenn auch das halbe Pfund Concealer unter ihren Augen dem aufmerksamen Beobachter offenbarte, dass die letzte Nacht recht kurz gewesen war. Wer konnte auch ahnen, dass zwei kleine Japaner so viel Ausdauer besaßen. Christin Thorstraten gönnte dieser selbstbewussten Frau ein letztes siegessicheres Lächeln und verließ ihr Bad.

***

Kurz vor sechs Uhr erschien Nils-Ole Händler in der Bar des Montpellier, eines Hotels in Frankfurts Toplage und eines erfolgreichen Politikers würdig. Ein prüfender Blick in einen der reichlich vorhandenen Spiegel. Perfekt! Fehlte nur noch die junge Frau, die annähernd der erwarteten Beschreibung entsprach. Mit einem Anflug von Grauen registrierte er die genüsslichen Blicke dieser Matrone in Eingangsnähe. Herr im Himmel, flehte alles in ihm, hoffentlich geriet er nicht an so etwas! Da konnte er gleich daheim seine Alte beglücken. Händler schenkte der Frau ein geringschätziges Lächeln und strebte an ihr vorbei in die Mitte der Lounge.

Ein Kellner trat geflissentlich an die Sitzgruppe heran, machte aber sofort kehrt, als der Gast ihm mit einem Wink zu verstehen gab, dass er zu warten gedachte.

Nils-Oles Geduld wurde nicht lange strapaziert. Langstielige cremefarbene Rose und eine aufgerollte Zeitschrift in der Hand. Schon mit dem ersten Blick registrierte er, dass diese grazile Blondine atemberaubend schön war. Ein knapper Blick zur Uhr. Er schätzte Pünktlichkeit. Sie sah sich suchend um, bis ihr Blick auf seiner Wenigkeit ruhen blieb. Mit einem selbstbewussten Lächeln ließ sie den einen oder anderen allein stehenden Herrn an der Bar links liegen stehen und nahm mit langsamen, andächtig wirkenden Schritten Kurs auf ihn. Diese Frau hatte eindeutig Geschmack. Ein edles baumwollfarbenes Kleid, kniefrei, goldbraune Beine, in beigefarbenen Wildlederstiefeln endend. Nichts an ihr war von der Stange, erkannte er selbst als Laie.

»Guten Tag.« Das dunkle Timbre ihrer Stimme drang bis in seine Lenden hinein. »Nils-Ole?«

Wann hatte er jemals solch ein Herzklopfen verspürt, fragte er sich, als er sich erhob und sie mit einem angedeuteten Handkuss begrüßte. »Frau Thorstraten?«

Sie nickte mit vornehmer Zurückhaltung und schenkte ihm ein schüchternes Lächeln.

Andächtig nahm er die Feinheiten ihrer Erscheinung in sich auf. Ein perfektes Make-up, wenn er das beurteilen durfte. Die unterschiedlichen Töne ihres Lidschattens, der ihre dunklen, verruchten Blicke untermalte und sie doch so sinnlich wirken ließ. Er fühlte sich in einen Zustand versetzt, den Dichter verspüren mussten, wenn sie Meisterwerke schufen.

Sie ließ seine stille, im Grunde genommen unhöfliche Musterung über sich ergehen. Wie jemand, der es gewohnt ist, immer wieder aufs Neue oberflächliche Bekanntschaften zu schließen.

»Offenbar sagen Ihnen meine äußeren Reize zu«, stellte seine Besucherin mit einem leisen, ja rauchigen Lachen fest und setzte sich mit einer fließenden Bewegung.

Für einen Moment brachte ihn ihre Offenheit zur Besinnung. Er setzte sich ebenfalls und enthüllte ein selbstbewusstes Lächeln, das sich mit ihrem messen konnte. »In der Tat. Ich würde sogar sagen, dass Sie mir mehr als sympathisch sind. Wenn es nach mir geht, soll es uns an netten Gesprächen und interessanten Unternehmungen nicht mangeln.«

Ehe Christin darauf antworten konnte, trat der Barmann auf sie zu. Sie bestellte sich einen Chardonnay, während ihr Gastgeber einen sauer Gespritzten orderte. Gelegenheit, um den Klienten für sich zu prüfen. Das Ergebnis fiel mehr als vielversprechend aus. Gepflegte Erscheinung, bis hin zu den manikürten Händen. Volles dunkelblondes Haar, in das sich vereinzelt silberne Fäden schlichen. Gepflegter Vollbart in einem gebräunten Gesicht; bei dem zu dieser Jahreszeit – es sei ihm verziehen – ein Turbobräuner mitgewirkt hatte. Das Imponierende an ihm waren jedoch seine geheimnisvollen grauen Augen. Augen, die ihr das Gefühl gaben, als könnten sie bis in die unergründlichsten Tiefen ihrer Seele hineinschauen. Ja, jetzt passierte es ihr sogar, dass sie ertappt und errötend die Augen niederschlug. Herr im Himmel, wann war ihr das das letzte Mal einem Mann gegenüber passiert?

»Das mit der Sympathie scheint zumindest beiderseitig zu sein«, stellte er mit einem leicht spöttischen Ton fest, der ihr dennoch nicht ihre Würde raubte.

»Ja, das lässt sich nicht leugnen.« Christin Thorstraten gab sich die Blöße, etwas tiefer durchzuatmen, und zauberte ein zufriedenes Lächeln hervor. Schnell hatte sie sich wieder im Griff. »Nachdem das erste Eis also gebrochen ist …« Sie schlug die Beine übereinander. »Hartmut hat mit Ihnen über meine Gebühren und Prämissen gesprochen?«

Nils-Ole Händler nickte und sagte mit leiser und dennoch fester Stimme. »Zwei Stunden Essen gehen, Smalltalk vierhundert aufwärts. Die Nacht elfhundert und definitiv kein ungeschützter Verkehr.«

Sie nickte ernst und ergänzte zum besseren Verständnis. »Nebenkosten gehen zulasten des Kunden. Und Verkehr, nur wenn ich selbst dazu bereit bin.«

Der hinzutretende Kellner ließ das Gespräch stocken. Als sich der Störenfried endlich abwandte, erhob Händler sein Glas. »Ich finde, das ist eine vernünftige Grundlage, auf der wir gemeinsam arbeiten können. Ich bin der Nils.«

»Christin«, übertönte sie das leise Klingen der Gläser und zwinkerte ihm zufrieden zu. »Auf gute Zusammenarbeit.«


Kapitel 1

Die rapshonigfarbene Frühjahrssonne setzte sein Büro in ein ganz besonderes Licht. Wie ein göttlicher Beistand, der ihn und seine Gedanken begleitete und segnete. Es waren die Szenen ihres ersten Treffens, derer er sich erinnerte. Wie auch die der weiteren Stunden und folgenden Treffen, resümierte Nils-Ole Händler zufrieden und gönnte sich den Luxus, sich zufrieden in seinem imposanten Chefsessel zu aalen.

Alles, aber auch einfach alles lief für ihn seitdem wie am Schnürchen. Der Vertrag mit der Plast-Modrow AG war in dieser Woche unter Dach und Fach gebracht worden. Ein Jahrhundertgeschäft, das er fast im Alleingang für die Stadt an Land gezogen hatte. Das bedeutete Gewerbesteuer – nicht zu viel, denn das war ja unter anderem der Deal – und viele neue Arbeitsplätze. Natürlich fiel auch für ihn etwas ab, erinnerte er sich an die erkleckliche Summe, die heute auf seinem persönlichen Nummernkonto in Zürich eingegangen war. Spielgeld! Er lächelte zufrieden. Christin und er würden eine schöne Zeit miteinander haben. Christin von seiner Idee zu überzeugen, erinnerte er sich ernüchtert, war rückblickend aufreibender gewesen, als ein Unternehmen mit neuen Arbeitsplätzen anzusiedeln. Erst war sie seinen Ideen gegenüber gar nicht aufgeschlossen und wollte ihre Selbstständigkeit und Entscheidungsfreiheit auf keinen Fall aufgeben. Doch wer konnte schon einem Nils-Ole Händler widerstehen. Jeder Mensch war käuflich, auch eine Christin Thorstraten. Die sich, wie er sich eingestehen musste, teuer verkauft hatte. Fünfzehntausend im Monat, plus freie Wohnung. Dafür würde sie ihm allein zur Verfügung stehen; Diskretion natürlich inbegriffen.

Ein Schauer der Erregung lief Händler über den Rücken, als er für sich feststellte, dass sie Seelenverwandte waren. Herzlich zueinander, dabei doch nie den Blick aufs Wesentliche verlieren. Geld, Macht, gute Beziehungen und ungeteilte Hingabe. Dass besonders Letzteres zwischen ihnen stimmte, im Bett und an allen möglichen und unmöglichen Orten, darüber gab es nichts zu klagen. Etwas, das längst über alles Geschäftliche hinausging. Er schloss die Augen und genoss die Erinnerungen, bis ihn die Alltagsgeschäfte eines Bürgermeisters wieder einholten.

Nur kurz sollte es Nils-Ole Händler an diesem Tag noch vergönnt sein, an seine Geliebte und eine rosige Zukunft zu denken. Der Moment, an dem ihm Frederik, seine rechte Hand und engster Vertrauter, mitteilte, dass die Wohnung für eine gewisse Dame hergerichtet sei und bezogen werden könne. Das war wohl sein größter persönlicher Coup gewesen, bei dem er sich ob seiner Gerissenheit auf die Schulter klopfen konnte. Und ein Bilderbuchbeispiel dafür, dass alles in der Stadt nach seiner Pfeife tanzte. Er hatte es der Stiftung „Historisches Gernhausen“ ermöglicht, das ehemalige Torschreiberhaus, das am Waldtor in der historischen Altstadt gelegen war, zu übernehmen. Unter der Bedingung, dass Stadt und Stiftung ein Stipendium einrichten, die es einem jungen, vielversprechenden Historiker ermöglichten, für ein Jahr – bei Kost und Logis – an der ausführlichen Chronik ihrer wunderschönen Heimatstadt Gernhausen zu arbeiten. Welch ein „Zufall“, dass eine gewisse Frau Thorstraten eine Vorliebe für Historie besaß und ein begonnenes Studium in Sachen Geschichte vorweisen konnte. Ja, alles lief nach seinen Wünschen. Und die Miete für ein exklusives Appartement konnte er sich dadurch ebenfalls sparen.


Kapitel 2

Mit gemischten Gefühlen sah Christin den roten Lichtern des Regionalexpresses hinterher, wie er den Bahnhof in Richtung Würzburg verließ. Mit erstaunlicher Schnelle leerte sich der Bahnsteig von den Feierabendpendlern und ließ die junge Frau mit ihren beiden übergroßen Koffern zurück.

Nils hatte ihr auf der Fahrt hierher eine SMS geschickt. „Kann leider nicht persönlich kommen. Schicke Frederik = absolut vertrauenswürdig. In Vorfreude N.-O.“ Ob er das auch noch sagen würde, wenn ihr dieser Frederik gefiele? Es war kindisch, so zu reagieren, warf sie sich im Stillen vor und verdrängte den Vergleich, der sich ihr auftat. Nils würde schon seine Gründe haben.

»Frau Thorstraten?«

Erschrocken fuhr sie herum und wäre dabei beinahe über eines ihrer Gepäckstücke gestolpert. Ein Mann mittleren Alters stand vor ihr. Grauer Anzug, imposante, aber distanziert wirkende Erscheinung, selbst eine Schirmmütze fehlte nicht.

»Bürgermeister Händler schickt mich, damit ich Sie in Ihr neues Heim geleite. Er ist untröstlich, nicht selbst zu kommen. Berufliche Verpflichtungen halten ihn davon ab. Übrigens, ich bin Frederik, Frederik Zander, der Chauffeur … und bei Bedarf auch das Mädchen für alles.« Er lachte über seinen vermeintlichen Scherz und ergriff ihre Koffer, als wären sie Leichtgewichte. »Wenn Sie mir dann bitte zum Wagen folgen möchten.«

Er ging ihr voran und machte an einer exklusiven Luxuskarosse mit Stern Halt. Sanft öffnete sich die Kofferraumklappe.

Frederik, sie erlaubte sich, ihn so zu nennen, wandte sich ihr zu. »Ist das Ihr gesamtes Gepäck, Frau Thorstraten?«

»Ja, vorerst. Eine Spedition liefert den Rest.«

Er nickte verstehend und hielt ihr die hintere Tür auf.

Imposant, bemerkte Christin mit einem sachkundigen Rundblick. Selbst manch Frankfurter Politiker oder Wirtschaftsboss fuhr nicht so etwas Schickes.

»Wenn es Ihnen genehm ist, würde ich Ihnen gern einen kleinen Teil Ihrer neuen Heimat zeigen. Bürgermeister Händler bat mich darum«, erbot sich Frederik und deutete ihr stummes Nicken als Zustimmung.

Schon bald war es Christin ziemlich egal, wohin er fuhr und mit welchem Enthusiasmus er diese planlose Anhäufung von sauberen Industriearealen und monotonen Kleinhaussiedlungen als Heimat anpries. Monoton war exakt der richtige Ausdruck. Und hier sollte sie Monate, wenn nicht gar Jahre – ginge es nach Nils-Ole – ihr Leben fristen? Sie vermisste bereits jetzt ihr schönes Loft in Nähe der Frankfurter City, das sie die letzten zwei Jahre bewohnt hatte.

***

»Papa kommt!!!«

Erschrocken zuckte Jutta Kellermann zusammen, als ihr kleiner Sonnenschein jubelnd aufsprang und beinahe den Topf mit den gerade geschälten Kartoffeln mit sich riss.

Hannah spurtete aus der Küche, über den Flur und aus der Haustür hinaus, wo sie vom kurzen Treppenabsatz hinabsprang. Direkt in die ausgebreiteten Arme ihres Vaters hinein, dem es gerade eben noch gelang, das kleine Etwas abzusetzen, das er zuvor im Arm gehalten hatte.

»Hallo, mein Schatz.« Tobias Herder herzte seine Tochter, deren Aufmerksamkeit jedoch schlagartig dem winselnden Mitbringsel zu seinen Füßen galt. »Hattest du einen schönen Tag?«

»Wer ist das denn?« Hannah drückte ihrem Vater einen fahrigen Kuss auf die Wange und strampelte sich hektisch frei.

Das kleine winselnde Etwas versteckte sich hinter dem Bein des großen Menschen.

»Oh Papa, ein Hündchen. Oh, ist das süüüüüß! Ist das jetzt meins?«

Hannahs Jubelschrei ließ die Frau des Hauses in der Tür erscheinen. »Ein Hund?«, klang es weitaus weniger begeistert. »Bin ich mit euch beiden Pflegefällen nicht schon mehr als genug gesegnet?« Sie ergab sich mit einem Lächeln, begrüßte Tobias mit einem Kuss auf die Wange und beugte sich zum offenbar jüngsten Familienmitglied hinab.

»Wie heißt sie denn, Papa?« Hannahs Augen leuchteten überirdisch, während sie das Fellknäuel heftig umarmte, was dieses nicht im Mindesten zu stören schien. Die kleine Zunge huschte über das Kinn seines neuen Frauchens und ließ Hannah kichern.

»Sie ist ein Er. Und wie mir der Tierarzt, bei dem ich schon war, sagte, ist er ein Die-Straße-rauf-und-runter-Hund. Einen Namen müssen wir für ihn noch finden.«

»Und?« Juttas Blicke sprachen Bände. Im Grunde wussten alle, wer das Tier die meiste Zeit umsorgen müsste. Sie ergriff Tobias’ Hand und ließ sich von ihrem Schwiegersohn aufhelfen. Manchmal, an Tagen wie diesen, spürte sie doch den einen oder anderen Knochen.

Tobias schenkte ihr ein verlegenes Lächeln. »Ich habe ihn auf einem Rastplatz gefunden«, suchte er nach den Argumenten, die ihm vorhin noch so vernünftig klangen. »Ausgesetzt, mit einem Paketband an eine Sitzbank angeleint. Wenn du das Häuflein Elend jaulen gehört hättest … Der Tierarzt meinte auch, dass das Tierheim völlig überfüllt sei.«

»Balu! Er soll Balu heißen«, krähte Hannah in sein Plädoyer hinein. »Wir behalten ihn doch, Papa? Oma?«

Wer konnte da etwas dagegen sagen? Außer Jutta vielleicht, die schließlich ergeben seufzte. »Dann haben wir unser Quartett wohl beisammen.«

***

Frederik liebte sein Heimatstädtchen, das stand außer Frage, fand Christin, die kaum mehr ein Gähnen unterdrücken konnte. Der Tag war anstrengend genug gewesen. »Frederik, ich verspreche Ihnen, in den nächsten Tagen werde ich Ihre Stadtführung gern ein weiteres Mal genießen. Aber nun wäre ich doch froh, möglichst schnell in meine neue Wohnung zu kommen.« Mit Grausen dachte sie daran, was sie erwarten würde. Nils-Ole hatte ihr zwar berichtet, dass das Haus von Grund auf saniert sei und dass er sich um eine geschmackvolle Einrichtung gekümmert habe. Nur, aus leidlicher Erfahrung wusste sie, was Männer mit „drum kümmern“ meinten. Ein belastbares Doppelbett wäre vermutlich der einzig brauchbare Gegenstand, den sie erwarten durfte.

»Gern«, brachte sich Frederik in Erinnerung. »Aber einen kleinen Umweg durch unsere schöne Altstadt muss ich Ihnen doch noch antun.«

Die bislang ruhige Fahrt veränderte sich kurz darauf. Trotz weicher Federung und Fahrweise übertrug sich das Echo des Kopfsteinpflasters in den Innenraum.

»Unsere Altstadt ist schließlich eine der schönsten und intaktesten im gesamten Bundesgebiet. Fast völlig frei von den sogenannten „Bausünden“«, predigte Frederik andächtig.

Christin verfolgte, dass sein Kopf wie bei einem Wackeldackel hin und her pendelte. Seine leuchtenden Augen steckten sie sogar mit ihrer Begeisterung an. Aber nur ein wenig, korrigierte sie sich, als sie daran dachte, wie man sich hier auf High Heels bewegen sollte. War es doch neben dem durchgehenden Straßenpflaster ein einziges Bergauf und Bergab. DAS Trainingszentrum für angehende Bergziegen – definitiv! Die Straßen, durch die sie kamen, wurden immer verwinkelter und enger. Mit einer Mischung aus Faszination und Beklemmung sah sie an den Häuserfronten hinauf. Irgendwo da oben mussten die Giebel unweigerlich gegeneinander stoßen. Mit einem süffisanten Schmunzeln stellte sie sich bildlich vor, wie sie mit Nils im Bett lag, er sich auf ihr abmühte und der Nachbar ihm dabei auf die blanke Kehrseite klatschte. Nein, hier würde sie nicht lange bleiben, nahm sie sich fest vor. Romantisch aussehende mittelalterliche Stadthäuser waren nur romantisch, solange man nicht in ihnen wohnte. Selbst das Wasser würde sie aus einem Brunnen schöpfen müssen. Oh Gott, Gernhausen war kein Ort, in dem sie „gern hausen“ und vor allem nicht alt werden wollte.

Kurz darauf verkündete ihr Frederik, dass sie da wären. Er hielt so dicht an der Hausmauer, dass sie auf die Fahrerseite rutschen musste, um überhaupt aussteigen zu können.

Nachdem ihre Schuhe einen halbwegs festen Stand gefunden hatten, sah sich Christin skeptisch um. Es war bereits Mitte April, doch die Dunkelheit hatte hier in den engen Straßen längst ihren Einzug gehalten. Sogar die auf alt getrimmte funzlige Beleuchtung war bereits in Betrieb. Hell genug, um zu erkennen, dass das Haus, vor dem sie stand, ihre schlimmsten Befürchtungen bei Weitem übertraf. Und hell genug, um die nachgemalte Jahreszahl im Balken über der verzogenen Haustür zu lesen. 1517. Das Jahr der letzten Renovierung? Fuck!

»Haben Sie keine Angst.« Frederik Zander las das Entsetzen im Gesicht der schönen Frau. »Wir müssen ums Eck herum. Die Waldtorgasse ist so schmal, dass wir nicht einmal kurzfristig dort halten dürfen.« Er packte wie zuvor auf dem Bahnhof ihre schweren Koffer, als wären es gerade einmal Einkaufstüten. »Wenn ich vorangehen darf, gnädige Frau.«

Christin hatte Mühe, ihm auf ihren hohen Absätzen zu folgen, so schnell war er ums Eck verschwunden. Das Erste, was ihr auffiel, war ein wunderschön restauriertes altes Stadttor, das mit den Resten einer Stadtmauer perfekt illuminiert in den heraufkriechenden Abend hineinleuchtete. Hinter diesem glänzte das frische Grün mächtiger Baumkronen. Ein erstes Mal revidierte sie ihren Entschluss, gleich morgen abzureisen.

»Das Waldtor«, pries ihr Fremdenführer stolz an. »Das Letzte von ehemals vier Stadttoren und eine unserer schönsten Sehenswürdigkeiten. Nebenbei beherbergt es unser kleines Mittelalter-Museum.« Er blieb vor einem Haus rechterhand des Tores stehen. Ein Stockwerk kleiner als die Häuser in seiner Nachbarschaft – aber bedeutend schmucker.

»Das Torschreiberhaus.« Frederik Zander zog einen Schlüsselbund aus der Tasche. »Willkommen in Gernhausen und viel Erfolg bei dem, was Sie für uns und unsere Gemeinde erforschen werden.«

Christin nahm den Schlüssel mit einem dankbaren Lächeln entgegen. Was ihr dabei durch den Kopf ging, verschwieg sie diesem netten Mann lieber. Sie schloss auf und betrat das Haus.

Hell gestrichene Wände und ein nagelneuer Laminatfußboden begrüßten sie. Linkerhand eine schmale, aber doch sehr komfortabel wirkende Garderobe. Mit jedem Schritt, den sie tat und mit dem sie ihr neues Reich in Besitz nahm, stiegen ihre Begeisterung und Vorfreude. Alles wirkte so jungfräulich, kam ihr der Vergleich. Nichts von dem Muff, den sie befürchtet … und vielleicht ein wenig erhofft hatte.

»Werden Sie mich heute noch benötigen?«

»Wie bitte?« Christin erwachte aus ihrer Andächtigkeit. »Nein, Herr Zander. Bitte richten Sie dem Bürgermeister meinen Dank aus. Und auch Ihnen natürlich vielen Dank für alles.«

Er lächelte zurückhaltend und bugsierte die Koffer noch ein Stück weiter in den Flur hinein. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme erste Nacht, Frau Thorstraten.«

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, überfiel Christin eine Stille, die sie sehnsüchtig erwartet hatte. Endlich konnte sie für sich ihr neues Heim in Besitz nehmen. Und was sie dabei am meisten erfreute, Nils-Ole hatte Wort gehalten. Alle Zimmer waren mit funktionellen, teils sogar hübschen Möbeln ausgestattet. Wie die kleine Küche, deren Front aus gelaugtem Holz bestand. Andächtig stieg sie die Treppe in den ersten Stock empor. Es war faszinierend, plötzlich in einem über die gesamte Grundfläche gehenden Raum zu stehen. Ein gemütliches Wohnzimmer, in dem die nötigen Stützstreben aus Fachwerk harmonisch eingepasst waren. Im Hintergrund ein Arbeitszimmer, das durch einen unauffälligen hüfthohen Raumteiler abgegrenzt war. Selbst die Illusion eines Kamins entdeckte sie. Ja, hier ließe es sich schon leben. Sie durchschritt andächtig den Raum und begab sich auf dessen andere Seite, an der eine elegant geschwungene Treppe in ein weiteres Stockwerk hinaufführte. Ein schmaler Flur, der an einer mit kunstvollen Schnitzarbeiten versehenen Tür endete.

Flackernder Kerzenschein durchbrach die Dunkelheit des Raumes und tauchte dessen edle Ausstattung in unruhiges Licht. Obwohl es romantisch wirkte, wollte sie unbedingt sehen, ob ihre Vermutung zutraf. Ihre Hand tastete zum Lichtschalter.

***

Blöder Fatzke, dachte der abendliche Spaziergänger grimmig bei sich. Der Mann mit dem kleinen Hundewelpen sah der protzigen Limousine hinterher. Solch einen Aufstand zu machen, nur weil Balu sein Beinchen am Hinterrad gehoben hatte. Tobias Herders Blick ging zurück zum Torschreiberhaus. Hinter den Fenstern brannte Licht. Es schien neue Bewohner zu haben. Irgendwie schade, dass er damals den Sanierungsauftrag nicht bekommen hatte. Nicht dass er sich über mangelnde Aufträge beklagen müsste. Doch ein Kleinod der Architektur vergangener Jahrhunderte so zu versauen … Das tat einem in der Seele weh. Er verwarf den nutzlosen Gedanken und sah auf den kleinen Vierbeiner, der vor ihm saß und ihn mit seinen Knopfaugen zu hypnotisieren versuchte. »Komm Balu, ich werde dir zeigen, wo hier die schönsten Bäume für große Hunde stehen.«

***

»Nils-Ole, du bist verrückt!« Christin schüttelte lachend den Kopf über solch jungenhafte Fantasie. Champagner, Kerzen und erlesene Köstlichkeiten waren um das Bett, das mehr eine Spielwiese war, verteilt. Das alles war ja schon lustig, aber sein bestes Stück und die Hüften mit einer roten Schleife zu versehen … »Was hättest du getan, wenn Frederik mir meine Koffer hier heraufgetragen hätte? Überhaupt, was machst du eigentlich hier? Ich denke, du bist auf einem wichtigen Empfang.«

»Bin ich nicht? Nenne es totale Geheimhaltung. Ich wollte dich überraschen und willkommen heißen.« Nils-Ole Händler ließ sich wie ein Gekreuzigter fallen und streckte ihr beide Arme entgegen.

Eigentlich, dachte Christin bei sich, sollte sie sich nun in seine Arme werfen und sich ihm hingeben. Doch sie beließ es vorerst bei einem interessierten Lachen und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Diese Matratze! Ein Gedicht, spürte sie bereits jetzt. Überhaupt alles, was er hier hatte einrichten lassen, war edel und … Sie holte tief Luft. »Nils, wenn du so weitermachst, kann es passieren, dass ich mich eines Tages doch noch in dich verliebe.«

»Was, meinst du, ist der Sinn der ganzen Übung, mein Schatz?« Er ergriff sachte ihre Hand und zog sie langsam zu sich herab. »Ich denke schon, dass ich dich liebe.«

Nils-Ole Händler spürte ihre Reaktion, wie sie sich versteifte und plötzlich zu einer fremden Frau wurde. Er gab sie sofort wieder frei, doch irgendwie schien die Stimmung verflogen.

»Hatten wir nicht schon einmal darüber gesprochen«, sagte sie mit leicht tadelndem Unterton und gab ihm einen Kuss, der ihm zeigen sollte, dass sie es ihm nicht nachtrug.

Er wusste selbst nicht, welchem Gefühl er nachgeben sollte. Dem, dass er sie wahrhaft liebte und um sie kämpfen wollte, oder dem des Gekränkten, das ihm suggerierte, wie undankbar sie im Grunde war. Christin sah ihn mit zur Seite gelegtem Kopf an und schenkte ihm dabei einen Blick, der so gegensätzlich war, dass es ihn schmerzte.

Ihre Hand strich zärtlich über den Saum des roten Schleifenbandes, das seine Hüften zierte. »Wahre Liebe gibt es nicht, Nils. Lass uns weiterhin eine schöne Zeit haben und nicht irgendwelchen kindischen Hirngespinsten hinterherjagen, ja?«

»Du bist ein echter Misanthrop, Mädchen. Weißt du das? Wenn ich das sagen würde, wäre es bei meinem Alter und meiner Lebenserfahrung annehmbar«, kam es spöttisch, aber nicht weniger ehrlich von ihm. Langsam begann er die Knöpfe ihrer viel zu züchtig wirkenden Bluse zu öffnen. »Magst du es mir nicht verraten?«

Christin betrachtete ihn mit glühenden Blicken, während sie ihre Hand weiter hinauf schickte und auf seiner dicht behaarten Brust ruhen ließ. Eine Antwort blieb jedoch aus.

»Wie sieht der Mann aus, der das Herz einer solch desillusionierten Frau erobert? Was muss er mitbringen?« Er stöhnte vor Lust und Schmerz, als sich ihre langen rot lackierten Fingernägel in seine Brust gruben. Eine Harpyie, die ihm bei dem geringsten Fehler sein Herz herausreißen würde.

»Du gibst wohl nie auf, was?«

»Nein!« Ein weiteres Stöhnen. »Würden wir sonst so gut harmonieren?« Mit schmerzhafter Erkenntnis spürte er, dass seine Idee, sich wie ein Geschenk zu verpacken, unüberlegt war. Der Blutstau im Unterleib wurde allmählich unangenehm. »Komm, erzähle es dem alten Mann.«

»Okay, du sollst es erfahren.« Sie ließ sich aus ihrer Bluse helfen und schenkte ihm dabei ein falsches Lachen. »Der Mann, den ich einmal lieben könnte, muss treu und liebevoll sein. Ja, stark und zärtlich zugleich.« Ihre Hand glitt an ihm herab und erlöste den armen Kerl dort unten aus seiner peinlichen Lage. »Er muss vergeben können, Verständnis, aber auch Prinzipien haben.« Ein weiteres spöttisches, mit Unglauben gepaartes Lachen. Sie schälte sich aus dem Rest ihrer Kleidung und sah sinnlich auf den nackten Mann unter sich herab. »Vermögend und weltgewandt. Er sollte mich verwöhnen und umwerben … Und wenn es sein muss, auch um mich kämpfen.« Mit anmutigen Bewegungen glitt sie über ihn und begann damit, seinen Körper mit kleinen Küssen zu bedecken. »Ach!« Ihr Oberkörper schwang nach oben, dass die wilde Frisur nur so um ihr zartes Gesicht brandete. »Natürlich muss er ein richtiger Kerl sein, der mich im Sturm erobert, mich nimmt und liebt, bis ich jeden klaren Gedanken fahren lasse und in seinen Armen schmelze.«

Nils-Ole richtete sich halb auf, während sein fester Griff ihren Unterleib erfasste und ihn dorthin dirigierte, wo es ihm am genehmsten war. Sein Lachen klang arrogant und zugleich verlangend. »Wenn du solch einen Typen gefunden hast, lass ihn dir patentieren. Bis dahin wirst du mit mir nicht unzufrieden sein.«

Ihr gurrendes Lachen stellte das alte Vertrauensverhältnis wieder her. »Nils-Ole Händler, strenge dich an. Zeige mir, dass meine Träume vielleicht doch keine Makulatur sind.«

Sie erlaubte es sich, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, um sich und diesen Mann zu verwöhnen, wie er es noch nie erlebt haben dürfte.


Kapitel 3

Als Tobias Herder an diesem Morgen völlig zerschlagen in der Küche erschien, stand das Frühstück auf dem Tisch. Selbst Brötchen hatte Jutta besorgt. Fast wie sonntags, dachte er. Dabei war er mit Grausen längst bei der Planung eines langen Arbeitstags.

»Guten Morgen!« Jutta Kellermann schenkte ihrem Schwiegersohn ein Lächeln, aus dem eine gehörige Spur Schadenfreude hervorblitzte. »Du siehst nach wenig Schlaf aus.«

»Nach sehr wenig«, stöhnte Tobias. »Der Hund … Balu«, erinnerte er sich an den Namen, den seine Tochter gestern für das jüngste Familienmitglied gefunden hatte. »Er hat die halbe Nacht über gefiept und das Fräulein da oben hat wie ein Stein geschlafen. Ich musste dreimal mit diesem Quälgeist hinaus.«

»Die Geister, die ich rief.«

»Altes Lästermaul«, erwiderte er und musste selber schmunzeln. »Hättest du das arme Tier dort angebunden gelassen? Außerdem … Hannah kann wirklich einen Spielkameraden gebrauchen.«

Damit hatte Tobias etwas angesprochen, was ihn und der Mutter seiner verstorbenen Frau immer wieder Sorgen bereitete. Hannah war an und für sich ein lebenslustiges Kind, bei dem selbst die Psychologen festgestellt hatten, dass es den Verlust der Mutter kompensiert und stattdessen in der Großmutter einen vollwertigen Ersatz gefunden hatte. Nur wenn es darum ging, dass seine Tochter von sich aus Kontakt zu anderen Kindern suchte oder auf andere Erwachsene zuging, schien sich die Sechsjährige in sich selbst zu verkriechen.

»Du hast recht«, erlöste Jutta sie aus ihren gemeinsamen betrübten Gedanken. »Ich werde nachher mit Hannah zusammen unser neues Familienmitglied „einkleiden“ gehen.«

»Danke, Mama. Ich lasse dir Geld da.«

»Du sollst nicht immer Mama zu mir sagen!«, fauchte Jutta und drohte ihm schmunzelnd mit der Faust. »Das macht mich immer so alt.«

»Gerade einmal dreiundfünfzig, meine Liebe. Soll ich dir erzählen, wie viele Männer allein im letzten Jahr bei mir um deine Hand angehalten haben?«

»Null, du lieber Spinner. Und nun sieh zu, dass du dein Frühstück einnimmst und zur Arbeit kommst.«

Sie flüchtete sich aus der Küche und ließ ihn mit sich und seinen Gedanken allein. Dankbarkeit, unendliche Dankbarkeit durchströmte ihn, als er wieder einmal daran dachte, dass Jutta damals alles stehen und liegen gelassen hatte, als Sina – ihre Tochter und seine Frau – bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Damals hatte er plötzlich allein dagestanden. Allein mit einer vierjährigen Tochter und diesem ständigen Spießrutenlauf ausgesetzt, der Sinas Verlust nur noch schlimmer machte und ihr einziges dunkles Vermächtnis war. Dann kam Jutta und sorgte mit ihrer burschikosen Direktheit innerhalb kürzester Zeit dafür, dass den Lästerern und sogenannten „guten Freunden“ das Mundwerk gestopft wurde. Jutta war geblieben und hatte sich ans Werk gemacht, das aus dem Zweifler und Versager, der er einmal war, der Mensch wurde, der ihn heute aus dem Spiegel heraus anblickte. Ernsthafter, selbstbewusster und ein kräftiges Stück gereifter.

Vom oberen Stockwerk her wurde es lebendig. Hannah kam die Treppe herunter und in die Küche gestürmt. In ihrem Gefolge der grässliche Quietscher, wie er Balu heute Nacht getauft hatte. Wie sehr sich der Kleine über das Wiedersehen mit ihm freute, spürte Tobias, als es um seinen Knöchel herum sehr feucht wurde.

***

Rasende Kopfschmerzen!, war Christins erste und leider auch einzige Empfindung. Sie weigerte sich standhaft, dem Wunsch zu folgen, die Augen zu öffnen. Stattdessen schickte sie ihre Hand über das leere, kühle Laken neben sich. Nils hatte sich irgendwann in der Nacht fortgeschlichen. Den traurigen Gedanken, die sich kurz in ihr breitzumachen versuchten, erteilte sie eine Abfuhr. Das war eben das Los einer Teilzeitgeliebten. Aber das war nicht der Grund für ihren miesen Allgemeinzustand. Es war mehr der impertinente Geruch nach Farbe und der reichlich genossene Schampus, die ihren Preis forderten.

Nur langsam fügten sich die Bilder in ihrem Kopf zu einer Erinnerung zusammen. Ihre Ankunft in Gernhausen, die neue Wohnung, die wilde Nacht mit Nils-Ole und wie er sie begrüßt hatte. Herrlich, spürte sie dem Kribbeln und Aufbäumen ihres malträtierten Körpers nach. Jeder Muskel protestierte. Aber es war schön gewesen … Schön wie lange nicht! Christin dachte an ihrem „Traummann“, den sie sich – Nils zuliebe – zusammengebastelt hatte. In Dingen wie ein einfallsreicher Liebhaber zu sein, kam sie zum Schluss, hatte er sich dieses Prädikat ehrlich verdient. Sie konnte schließlich ein Lied davon singen, wie viele Artisten und Möchtegernliebhaber sich an ihr versucht hatten und gescheitert waren. Hinzu kamen letztlich die fünfzehn Mille plus Apanage im Monat … Zwei zu Null für Nils. Aber war das wirklich Liebe? Sie wagte nicht daran zu denken, obwohl sein ganzes Auftreten, seine Aufmerksamkeiten und ganz besonders die Blicke aus seinen eindrucksvollen grauen Augen viel davon sprachen und sie im Grunde ihres Herzens berührten.

Geblendet von der gnadenlos hereinscheinenden Sonne schloss sie gleich wieder die Augen. Hatte Nils ihr nicht voller Stolz berichtet, er habe extra eine Innendekorateurin engagiert? Was musste das für eine Null sein! Oder war ihr das Geld bei den Jalousien ausgegangen? Sie zog sich das zweite Kopfkissen über das Gesicht und schenkte sich weitere zehn Minuten. Es roch noch nach ihm. »Fünfzehntausend«, murmelte sie in die Federn hinein, als müsse sie sich selbst davon überzeugen, dass es das alles wert war.

Gerade war Christin erneut hinweggedämmert, als ihr Smartphone zum Leben erwachte. Mit einem wenig druckreifen Fluch nahm sie das Gespräch an. Es war die Spedition, die ihr mitteilte, dass sich die Ankunft ihrer Möbel auf den Abend, wenn nicht gar bis zum folgenden Morgen verzögerte. Shit, wenn man einmal auf andere angewiesen war! An Schlaf war nicht mehr zu denken. Außerdem war es bald zwölf Uhr und ein nagender Hunger klopfte bei ihr an. Stöhnend rappelte sie sich auf. Paracetamol, ein Knäckebrot mit Hüttenkäse und zwei dicke Scheiben Tomaten. In genau der Reihenfolge!

Nur, was nützte der schönste Kühlschrank mit Biofach und hast du nicht gesehen, wenn in ihm nur eine Betriebsanleitung vor sich hin kühlte? Nils hatte an fast alles gedacht. Nur nicht daran, dass sein Liebchen nicht allein von Luft und Sex leben konnte. Es fing alles wirklich sehr gut an.

***

Heute gönnte sich Tobias den Luxus, die Mittagspause im gut besuchten Café am Markt zu verbringen. Die Zwiebelsuppe und auch die reichlich belegten Baguettes waren hier unübertroffen. Wenn man einen lukrativen Job fast abgeschlossen hatte, durfte man sich auch mal verwöhnen. Zumal wenn man, wie an diesem schönen und sonnigen Tag, einen der begehrten Plätze an der Straße vor dem Café ergatterte.

Sein zufriedener Blick glitt die Wallhofstraße hinauf, Gernhausens kleine, aber feine Fußgängerzone. Wenige Läden der Art, wie man sie in diesen monotonen, ewig gleichen Shoppingcentern fand, in denen man nicht wusste, ob man sich gerade in Oslo oder in Palermo aufhielt. Nein, kleine, aber exklusive Geschäfte mit speziellen Waren aus der Region oder mit den sogenannten Nischenangeboten, wie man sie in den großen Städten kaum mehr fand. Dank seiner Mithilfe gab es nun bald ein weiteres schönes Geschäft, in dem sich besonders die Damenwelt wohlfühlen konnte. Er behielt seine anhaltende Skepsis für sich, ob die Niedermeyers mit ihrer Dessous- und Wäscheboutique den rasenden Umsatz machen würden. Bei einer eher prüde eingestellten Einwohnerschaft war das fraglich. Am Ergebnis seiner Arbeit sollte es jedenfalls nicht liegen. Er hatte das Innenleben des aus dem siebzehnten Jahrhundert stammenden Bürgerhauses speziell nach den ausgefallenen Wünschen seines Auftraggebers umbauen können. Herr Niedermeyer war ihm heute bei der Abnahme des Ergebnisses beinahe um den Hals gefallen. Er hatte ihn zur Eröffnungsfeier in zwei Wochen herzlich eingeladen und ihm für seine Gattin, wie er sagte, einen Gutschein über hundert Euro in die Hand gedrückt. Es bereitete Tobias bereits jetzt eine diebische Freude, sich Juttas Gesicht vorzustellen, wenn er ihr diesen Gutschein überreichte.

»Hallo Tobi.« Die junge, attraktive Kellnerin blieb vor seinem Tisch stehen. »Du hattest die Zwiebel und das überbackene Käsebaguette bestellt?«

»Ja. Hallo Zoe, wie geht es dir?«, grüßte er seine Nachbarin, die hier halbtags jobbte, und schenkte ihr ein offenes Lächeln.

»Gut! Gut, wenn ich so wie jetzt ein paar Stunden Ruhe vor meinen wilden Rangen habe«, sagte die Mutter von Zwillingen.

Tobias nickte verstehend und nahm den heißen Steinguttopf entgegen. Heiß … Er biss sich auf die Lippen und begann andächtig umzurühren. Dabei sah er dem Treiben auf der Straße zu, bis er es wagen konnte, die Suppe ohne Brandblasen auf der Zunge zu genießen. Das Schuhgeschäft Hagen auf der anderen Seite hatte ein großes Plakat im Schaufenster. Ballerinas, dreißig Prozent auf den Neupreis, konnte er bis hierher lesen. Er würde Jutta eine SMS schicken. Erst vorgestern hatte sie ihm gesagt, dass Hannah erneut aus ihren Schuhen wuchs und dass der Sommer kam.

Das Geräusch, das mit einem Male an seine Ohren drang, riss ihn magisch aus seinen Gedanken. Das metallische Klacken von Absätzen auf Stein, das wohl in jedem normal denkenden Mann unterschwellig den Jagdinstinkt weckt, alarmierte auch Tobias. Die Trägerin dieser hochhackigen Botschaft blieb vor ebendem Schuhgeschäft stehen. Mein Gott, solch rassiger Anblick hatte sich ihm lange nicht geboten. Dabei konnte er von seinem Platz aus gerade einmal ihre Rückfront sehen. Kurven an den richtigen Stellen, die ihre Trägerin mit einem engen Rock und hellen Strümpfen mit Naht besonders betonte. Ihr langes, goldblondes Haar fiel ihr in anmutigen Wellen bis über die Schultern hinab. Er war ehrlich traurig, als sich die unbekannte Schönheit dazu entschloss, das Schuhgeschäft zu betreten und seinen Röntgenblicken zu entschwinden. Wenigstens hatte seine Mahlzeit die richtige Temperatur erreicht, versuchte er sich zu trösten. Doch die Traumfrau, wie er sie insgeheim für sich getauft hatte, ließ ihm keine Ruhe. Während seine Augen in ihrem Beobachterjob langsam anfingen zu tränen, versuchte sein Geist, ihre Erscheinung mit einer ihm bekannten Frau zu verknüpfen. In einer Stadt mit kaum zwanzigtausend Einwohnern kannte man sich mehr oder weniger; und wenn es nur vom Sehen war. Er war nicht wirklich ein wahrer Womanizer. Weder vor der Zeit mit Sina und erst recht nicht danach. Doch diese Frau wäre ihm bestimmt nicht entgangen. Negativ, kamen seine Rezeptoren zu einem für ihn unbefriedigenden Ergebnis. Zumindest besaß sie Ausdauer, was das Shoppen anging, dachte er, dankbar, dass Jutta und Hannah sich damit sehr gut allein beschäftigten und ihm diese Tortur ersparten. Tobias hatte sein Mahl fast beendet, als seine Ausdauer belohnt wurde. Die Traumfrau verließ den Schuhladen. Hinter einem Berg aus Taschen und Tüten war sie kaum zu erkennen. Hatte sie das wirklich alles in der kurzen Zeit und in diesem einen Geschäft eingekauft? Oh Gott, ihre Kreditkarte musste ja glühen.

Sie trug nun flache Schuhe, als sie die Straße zielstrebig überquerte und das Café und somit seine Nähe ansteuerte. Das Fluchen und Pöbeln eines Fahrradkuriers, der das plötzliche Hindernis im letzten Moment umkurven musste, verlor sich unbeachtet im Wind. Die Frau sah einfach nur atemberaubend aus, entschied Tobias ohne Wenn und Aber. Andere Vergleiche wären Makulatur. Ihr schmales Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen wurde von einer wahren Flut goldblonder welliger Haare umrahmt. Ihre sinnlichen, leicht verkniffenen Lippen … Am liebsten wäre er jetzt auf der Stelle zum Bildhauer geworden.

Sein Herzschlag setzte ungefähr zu dem Zeitpunkt wieder ein, als er ihren Blick aus dunklen Augen auf sich gewahrte. Erwischt! Hm, ein verlegenes Lächeln kam immer an. Es war vielleicht nicht gerade höflich, sie so zu mustern. Aber das herablassende »Bauernlümmel«, mit dem sie seine Aufmerksamkeit honorierte, war auch nicht wirklich nett. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, rauschte sie an seinem Tisch vorbei, dass ihm ihre Einkäufe nur so um die Ohren flogen.

»Trampeltier«, murmelte Tobias leicht gekränkt und widmete sich dem Rest seiner Mahlzeit. So eine eingebildete Zicke.

Die „Zicke“ drapierte ihre Einkäufe in zwei der Korbstühle am Nebentisch und ließ sich seufzend in den dritten fallen.

Wie hingezaubert stand die freundlich lächelnde Zoe neben ihrem neuen Gast und wurde von ihr angefaucht, bevor sie auch nur zwei Worte herausbrachte. »Sie sehen doch wohl, dass ich gerade erst Platz genommen habe, oder? Nun gut, dann bringen Sie mir eben einen Espresso und die Speisekarte. Aber ohne Zucker!«

Zoe und Tobias hatten sich noch nie so stumm verstanden wie in diesem Augenblick. Still in sich hinein lächelnd folgte Tobias scheinbar interessiert dem Treiben auf der Straße. Insgeheim dankte er – der eigentliche Atheist – dem lieben Herrgott dafür, dass er ihn vor solch einer keifenden Furie bewahrt hatte … und weiterhin bewahren möge.

»Wie können Sie mir jetzt sagen, dass Sie vor dem Haus stehen!« Erschrocken zuckten die Gäste im weiten Umkreis zusammen. Aber das schien die Frau am Nebentisch nicht zu bemerken oder zu interessieren. »Ihr Chef selbst hat mich vor nicht einmal zwei Stunden angerufen und auf heute Abend vertröstet!«

Ihre Blicke trafen sich ein weiteres Mal und stürzten den jungen Mann diesmal in ein Wechselbad der Gefühle.

»Nein, Sie warten jetzt dort. Ich bin in ein paar Minuten da.« Erst jetzt gaben ihre Blicke ihn frei. Mit einer wütenden Verwünschung erhob sie sich, verstaute ihr Telefon und griff ihre Einkäufe.

Überflüssig zu erwähnen, dass Tobias’ Schulter genau der Tasche am nächsten war, die ihre abgelegten High Heels beinhalten mussten.

»Wo ist die denn hin?« Die konsternierte Zoe stand mit ihrem Tablett im Durchgang.

»Hat sich auf ihren Besen geschwungen und ist abgerauscht«, kam es lakonisch von Tobias.

Zoes Gesichtsausdruck wechselte ins Weinerliche. »Und der Espresso? Ich habe heute schon vier Storno. Der Chef reißt mir den Kopf ab.«

»Was für ein Glück. Zoe, wie konntest du wissen, dass ich gerade jetzt einen Espresso dringend nötig habe? Nur mit doppeltem Zucker, sonst werde ich auch noch giftig wie diese Spaßbremse.«

***

Als Tobias am Abend heimkehrte und die Parade von Balus Grundausstattung für über zweihundert Euro bewundert hatte, berichtete er seinen Mädels von den günstigen Ballerinas im Schuhhaus Hagen. Von seinen Erlebnissen mit einer unheimlich attraktiven, aber leider auch völlig durchgeknallten Frau erzählte er dann lieber doch nichts.

Wie hätte er auch zu diesem Zeitpunkt wissen können, dass ihm sein Schicksal nur noch zwei erholsame Tage zugestand.


Kapitel 4

Es war Freitagabend. Anstrengende Tage voller Auspacken und Einräumen lagen hinter Christin. Doch so langsam konnte sie für sich mit Fug und Recht behaupten, dass sie sich wohlzufühlen begann.

Seufzend und mit einer gehörigen Portion Selbstkritik betrachtete sie ihr Outfit und das eigentlich gut gelungene Make-up für den Abend. Besonders der Smokey-Eyes-Effekt war ihr geglückt. Dieser neue Lidschatten mit dem nicht zu aufdringlich wirkenden Glitzern brachte die Goldsprenkel in ihren dunkelbraunen Augen richtig zur Wirkung. Nicht nur Nils-Ole würde sich nach ihr umdrehen. Sie malte sich aus, wie seine Selbstsicherheit, mit der er sie in Besitz genommen hatte, auf ein vernünftiges Maß gestutzt wurde. Ein bisschen Eifersucht konnte nicht schaden. Der Lippenstift. Er wirkte ein wenig zu dunkel. Aber das ließ sich nun nicht ändern. Morgen würde sie zu dieser gut sortierten Drogerie gehen, die sie längst ausfindig gemacht hatte. Wenn sie denn bis zum Mittag aus dem Bett kam. Christin … bleib bei der Sache, rief sie sich zur Ordnung und begutachtete ihren Gesamteindruck im Spiegel, der eigentlich viel zu klein war. Das Kleid saß wie angegossen. Elegant und etwas zu bieder. Genau der richtige Stil für dieses Kaff! Da war es wieder, dieses Gefühl von Unlust. Dabei hatten Nils-Ole und dieser Kulturverein den Abend extra für sie auserkoren, um die neue Stadtchronistin der Öffentlichkeit und Presse vorzustellen. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Aber es war nun einmal ihre Tarnung. Offiziell würde sie nun ein Jahr lang als Chronistin die Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner erforschen. Und wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, so freute sie sich sogar auf diesen Job. Nicht nur, weil sie faktisch zwei Semester Geschichte studiert hatte! Okay, nicht wirklich, aber ihr damaliger Freund und Gönner war Professor für Geschichte gewesen. Zumindest hatte sie so etwas um die Ohren, wenn Nils-Ole ihre Dienste nicht benötigte.

Ein Blick zur Uhr. Noch immer reichlich Zeit. Sie als „Star“ des Abends wollte schließlich nicht die Erste sein. Womöglich noch beim Aufbau der Kulissen helfen. Langsam begann sie zu bedauern, dass sie Nils’ Vorschlag abgelehnt hatte, Frederik solle sie standesgemäß vorfahren. Aber das wäre ein Zuviel des Guten. Außerdem war es ein so schöner Abend, dass es sich von allein anbot, gemütlich zu Fuß zum Empfang im historischen Rathaus zu gehen. Die Ballerinas, die sie vor Kurzem gekauft hatte, mussten eh eingelaufen werden.

Erneuter Blick zur Uhr. Zwei Minuten später. Ein anderer Gedanke. Etwas, das sie bereits gestern Abend geplant hatte.

Christin lächelte ihrem Spiegelbild ein letztes Mal zu und stieg die Treppe ins darunterliegende Wohnzimmer hinab. Hier fühlte sie sich bislang noch am wohlsten. Irgendwie hatte sie es vollbracht, diesem verhältnismäßig großen Raum ihre persönliche Note zu geben. Lachend drehte sie sich mit ausgebreiteten Armen einmal im Kreis und huschte dann zur Balkontür. Der Balkon, das wäre in der kommenden Woche ihr nächster Job. Christin schwebten schon so viele Ideen durch den Kopf. Wilder Wein wäre schön. Ja, und schnell wachsende Pflanzen. Besonders schnell wachsende! Alles was half, um diesem neugierigen Volk, das sich Nachbarn nannte, die Einblicke in ihr Leben zu verwehren. Erst gestern stand so eine impertinente Frau vor ihrer Tür und wollte sie willkommen heißen. Dabei hatte sie einen Hals gemacht, dass eine Giraffe vor Neid erblasst wäre. Christin schloss die Tür und zog die langen Stores vor. Jalousien! Die hätte sie heute wirklich bestellen können, ärgerte sie sich über sich selbst und über diese sogenannte Innendekorateurin, die ihr die Wohnung eingerichtet hatte. Sie selbst hätte sich in Grund und Boden geschämt, solch halb fertige Sachen abzuliefern. Schluss jetzt, warf sie sich energisch vor. Wenn sie nun anfing, sich über alles aufzuregen, würde sie in diesem Kaff nie zur Ruhe kommen!

Christin trat an das kaum bestückte Bücherregal. Das Buch mit dem wundervoll gestalteten Einband lag gut in der Hand. Irgendwie schade, dass es nicht für die Ewigkeit war, dachte sie mit einer Spur schlechten Gewissens. Ganz bestimmt würde es später besser brennen als ihr letztes Tagebuch, sagte sie sich und setzte sich mit dem jungfräulichen Band an den Tisch.

Mit was sollte sie die erste Seite füllen? Wenn es auch das Schicksal all seiner Vorgänger erleiden würde, sobald sie hier ihre Zelte abbrach, so wollte sie es doch mit Respekt führen und behandeln. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Antlitz und ließ eine selten gespürte Sanftheit zutage treten.

Christin legte den Stift nieder und schloss für einen Moment die Augen. Herunterkommen, das waren die richtigen Worte. Wie oft hatte sie sich das in den letzten Jahren in schwachen Augenblicken gewünscht. Und doch war es nie eingetroffen. Sie musste an ihre erste Nacht mit Nils-Ole denken; hier oben – sie sah zur Decke – im Lotterbett. Es drehte sich natürlich nur um ihn und seine Männlichkeit. Als Quintessenz dessen blieb die Frage, was sie selbst noch vom Leben erwartete?

Nun ist es wieder so weit. Ich habe einen neuen Lebensabschnitt begonnen, der mich von Frankfurt fortgeführt hat. Hierher nach Gernhausen. Eine wunderschöne Altstadt gibt es hier, in der ich nun lebe. Es ist alles viel kleiner und hübscher als in meinem alten Leben. Und … ja, auch entschleunigter! Aber ist das so verkehrt? Ein wenig Hoffnung trage ich schon in mir, dass ich etwas ruhiger werde und vor allem auf den Boden komme. Ich bin nun dreißig Jahre alt und spüre immer öfter, dass das Leben auf der Überholspur zwar schön, aber auf Dauer nicht ertragbar ist.

Ich glaube, dass ich eine reelle Chance habe. Ich muss sie nur nutzen. Nils-Ole Händler – so heißt mein derzeitiger Gönner – ist ein erster guter Anfang auf dem Weg dorthin. Ich hätte es schlimmer erwischen können. Dieser Mann hat etwas für sich. Er ist hübsch anzusehen, ein wunderbarer und vor allem potenter Liebhaber, immer gut aufgelegt und in so vielen Dingen bewandert. Anders herum ist er gerissen, selbstbewusst und weiß, was er will. Besser gesagt, er ist mehr als das. Was hinter seiner gutmütigen Fassade schlummert, möchte ich gar nicht wissen. Es soll mir auch egal sein. Er ist kein Mann auf Dauer. Nicht nur, weil er verheiratet ist und seine eigentlich hübsch anzusehende Frau verächtlich „dicke Matrone“ nennt. Was also ist verlässlich an ihm? Nein, Nils ist für mich nur Mittel zum Zweck. Obwohl mich unsere tiefschürfende Plauderei in der ersten Nacht seitdem häufig beschäftigt. Was erwarte ich wirklich von einem Mann, den ich liebe und mit dem ich alt werden möchte? Wenn ich meinen Traumprinzen jemals finden würde. Christin, du bist dreißig und es ist absehbar, wie lange du noch „Gute Zeiten“ haben wirst …

***

Freitagabend. »Endlich Wochenende«, stöhnte Tobias Herder erlöst. Solch anstrengende und zeitraubende Termine wie heute mit dem Ehepaar Leisner gab es zum Glück nicht so oft. Aber die ganze Vorarbeit hatte sich rundherum gelohnt. Die Leisners hatten endlich den Vertrag für die Restaurierung und Modernisierung ihres Hauses aus der Zeit um 1650 unterzeichnet. Ein Auftrag, der sicher mehr als vier Monate Beschäftigung versprach. Es würde ein richtiges Schmuckstück werden, dachte Tobias zufrieden und schloss umständlich das Garagentor. Dabei versuchten sich die Baupläne und Zeichnungen, die er sich unter den Arm geklemmt hatte, erneut selbstständig zu machen. Warum nur hatte er nicht erst das ganze Backbeermus zu Hause abgeliefert und war dann zur weit entfernten Garage gefahren? Egal, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Es hetzte ihn niemand – Wochenende!

Zumindest war er so geistesgegenwärtig gewesen, den Haustürschlüssel in der Hand zu behalten, beglückwünschte sich Tobias, als er sich und seine Last durch die schmale Haustür zwängte. Ehe er sich versah, huschte etwas Kleines, Flinkes an seinen Beinen vorbei. Quietschende Reifen und zorniges Hupen gingen einher mit der Erkenntnis, dass Balu auf die Straße gerannt war. Tobias warf alles von sich, schmiss sich herum und prallte dabei wie eine Flipperkugel gegen beide Türrahmen.

»Balu!« Die Panik, dem Kleinen könne etwas passiert sein und Hannah gar dessen blutige Überreste sehen, trieben ihn mit einer affenartigen Geschwindigkeit auf die Straße. Wo er erneut mit etwas Spitzem, Knochigem zusammenprallte. Ein schmerzhafter Aufschrei ließ ihn erschrocken nach Halt suchen. Er bewahrte sein Hindernis zwar vor dem Stürzen, dafür wirbelten sie walzerartig über das Kopfsteinpflaster, ehe beide ihr Gleichgewicht wiederfanden.

»Das kann ja wohl nicht wahr sein! Sie ungehobelter Klotz!«

Bevor Tobias überhaupt begriff, mit wem er zusammengeprallt war, spürte er ein heftiges Brennen auf der linken Wange.

»Was fällt Ihnen ein, mich über den Haufen zu rennen!«

Wutentbrannt, mit zorngerötetem Gesicht und wildem Haar stand sie wie eine Rachegöttin vor ihm. Balu auf dem Arm, ihre Rechte zur Faust geballt. So als wolle sie sich umgehend auf ihn stürzen. Erst jetzt erkannte Tobias in diesem Racheengel die Traumfrau von vor zwei Tagen wieder. Und wieder pöbelte sie herum wie ein Bierkutscher. Nur dass er diesmal ihr auserkorenes Opfer war.

»Sie müssen vielmals entschuldigen, aber der Kleine ist einfach hinausgestürmt. Ich wollte Sie …«

»Dann sorgen Sie gefälligst dafür, dass es dem armen Tier nicht möglich ist, Sie … Sie Tierquäler, Sie!«

Als wenn Balu ihre Vorwürfe noch unterstreichen wollte, bedachte er das Kinn seiner Lebensretterin mit Hundeküsschen. Dieser Verräter! »Hören Sie, ich kann ja verstehen, wie sehr Sie sich erschrocken haben …«

»Sie Hohlpfosten sehen nicht danach aus, als würden Sie überhaupt etwas verstehen.«

Ja, konnte dieses Weib einen nicht ausreden lassen! »Eines verstehe ich sehr wohl.« Nun war das Maß der Geduld auch bei Tobias überschritten. »Dass Sie eine selbstherrliche alte Krawallschachtel sind!«

»Krawallschachtel!?!«

»Meinetwegen auch Gewitterziege, Scharteke oder wie man Sie sonst noch zu nennen pflegt.« Er trat bestimmt auf sie zu und streckte verlangend die Hand aus. »Ich entschuldige mich ein letztes Mal für mein „stürmisches“ Verhalten. Doch nun geben Sie mir endlich den Hund zurück und schwingen sich wieder auf ihren Besen.«

Ihre Empörung schlug in Verwirrung und Schnappatmung um, registrierte er zufrieden. So etwas hatte sich Madame – oh Gott, sah sie toll aus – bisher bestimmt nicht oft anhören müssen. Er nahm ihr das Tier ab, ohne dass sie dagegen erneut aufbegehrte. Ein trauriges Lächeln war sein Dank. Mit den Worten »Es tut mir leid, dass man sich auf diese Art kennenlernen musste« wandte er sich ab und kehrte mit Balu zum Haus zurück.

»Einen Moment, bitte.«

Er blieb stehen, als würde er gegen eine Wand laufen. Was für eine Stimme … Wenn sie denn nur normal sprach oder gar wie jetzt flehend klang. Er sah über seine Schulter. »Ja?«

»Darf ich erfahren, wie er heißt?«

»Ich?«, kam er nicht umhin, sie zu foppen und schickte ein hoffnungsvolles Lächeln hinterher. Ihre sinnlich-verrucht geschminkten Augen leuchteten gefährlich auf.

»Den Hund meine ich.«

»Balu.« Es war ihr anzusehen, wie sie grübelte. »Versuchs mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit«, sang er die erste Strophe von Balu, dem Bären aus Disneys Dschungelbuch und setzte gehässig hinzu: »Das würde Ihnen auch gut stehen.« Gleich schreit sie wieder los, arbeitete es in ihm – Gehör dämmen!

»Vielleicht haben Sie sogar recht«, überraschte sie ihn mit ungewohnt milder Stimme.

»Ich habe immer recht«, bestätigte er ihr mit ernstem Nicken. »Schönen Abend noch.« Er wandte sich endgültig ab, ohne eine weitere Entgegnung ihrerseits abzuwarten. Im Grunde hatte er Angst davor, sie könne bemerken, wie sehr ihn ihre plötzliche Freundlichkeit faszinierte.

Tobias warf die Haustür extra kräftig ins Schloss und übergab Balu an Hannah. »Das nächste Mal passt du auf deinen Hund gefälligst besser auf, sonst wird er doch noch überfahren!«

Hannah zuckte bei dem wütenden Unterton ihres Vaters erschrocken zusammen und verkrümelte sich mit Balu auf ihr Zimmer.

Tobias sammelte die im ganzen Flur verstreuten Pläne auf, deponierte diese im Büro und begab sich im Anschluss in die Küche.

»Meinst du nicht, dass du Hannah gegenüber ein wenig zu harsch warst?« Jutta, die damit beschäftigt war, für ihre kleine Familie das Essen zuzubereiten, hielt sich wohlweislich zurück, Tobias auf das anzusprechen, was eben auf der Straße geschehen war. Die Blicke und Reaktionen ihres Schwiegersohnes hatten etwas an sich, das sie in den letzten Jahren so sehr an ihm vermisst hatte.

***

Das Opfer der Rempelattacke hatte derweil noch immer Mühe, ihre Fassung zurückzugewinnen. Nicht allein, dass ihre Schulter, gegen die dieser Berserker geprallt war, immer noch schmerzte. Es waren diese Blicke, die Christin verwirrten und die so gar nicht zu seinem kindischen Gehabe passten. Diese dunkelgrünen Augen, die doch so unendlich traurig wirkten. Sie hatte sie schon einmal auf sich ruhen gespürt. Nur, wo war das?

Als Christin die große Freitreppe des historischen Rathauses erreichte, hatte sie den Vorfall erfolgreich verdrängt. Was für ein Pomp, beurteilte sie die Kulisse, die sich ihr bot. Fehlte nur noch ein livrierter Page, der sie empfing, oder der Haushofmeister. Ein gut gelaunter Bürgermeister tat es aber auch. Nils-Ole begrüßte sie auf eine herzliche, aber betont offizielle Art. Keineswegs so innig, wie er sie in ihrer ersten Nacht empfangen hatte. Ein wohliger Schauer durchrieselte Christin bei dem Gedanken, wie sehr er sich freuen würde, wenn sie ihm ihre Überraschung präsentierte. Seine fantasievollen Wünsche der letzten Nacht waren nicht ungehört geblieben.

***

In den folgenden Stunden genoss es Christin, der Star des Abends zu sein. Zum ersten Male seit Langem gelang es ihr, zur Höchstleistung aufzulaufen und ihrer Rolle gerecht zu werden. Da waren viele neue Gesichter aus Wirtschaft, Politik und Presse, die ihr durch die Bank weg Hilfe und Unterstützung für ihre Arbeit anboten. Ganz zu schweigen von den Visitenkarten zweier Herren mittleren Alters mit besonders schwerem Bankkonto. Beide hatten sich wie selbstlos angeboten, ihr zur Seite zu stehen, sollte sie sich einsam fühlen.

Es ging bereits auf Mitternacht zu. Die Gesellschaft war zwischenzeitlich auf eine kleine, illustre Runde geschrumpft, als dem Herrn Bürgermeister einfiel, dass er noch etwas in seinem Büro zu erledigen habe. Auch Christin sah auf ihre zierliche Armbanduhr. Cartier, nur wer besaß hier schon ein Auge dafür. Erschrocken stellte sie fest, dass es längst an der Zeit war aufzubrechen. Heinrich – sein Nachname war ihr längst entfallen, aber er hatte irgendetwas Leitendes bei diesen Geschichtsfreunden – erbot sich lauthals, sie heimzugeleiten. Weitere Herren schlossen sich an, die schöne Chronistin selbstlos heimzubringen.

»Meine Herren, Sie werden Frau Thorstraten in den nächsten Wochen und Monaten noch genug mit Rat und Tat zur Seite stehen«, sprach Nils-Ole Händler ein unerwartetes Machtwort. »Doch heute Abend wird es mein Privileg sein, Frau Thorstraten zu begleiten.« Er wandte sich ihr zu. »Wenn Sie mir bitte kurz in mein Büro folgen wollen. Es dauert nicht lang, dann werden ich Sie heimbringen.« Er bot ihr elegant den Arm, den sie dankbar ergriff, während sie sich mit einem entschuldigenden Lächeln von ihren Galanen verabschiedete.

Sie gingen einen kurzen Flur entlang. Hinter sich hörte Christin den feierlichen Abgesang auf eine wunderschöne Frau. »Ihr seid hier allesamt ganz große Schwerenöter«, stellte sie Nils-Ole gegenüber heiter fest.

»Bei solch einer Frau läuft „Mann“ zu Hochtouren auf«, erwiderte er trocken und öffnete eine der Türen. »Wie man mitkriegt, sammelst du bereits Visitenkarten mit Privatnummern.«

Christin stutzte bei seinem Tonfall und sah ihn verwundert an. »Das hast du mitbekommen?«

»Markus Winter und Hans-Walter Puls. Ja, das habe ich sehr wohl mitbekommen!« Der Griff, mit dem er sie mit sich ins Büro zog, war hart. »Mir entgeht selten etwas. Das solltest du dir ein für alle Male einprägen. Und vor allem ernst nehmen.«

»Es ist ja wohl meine Sache, wenn ich mich auch mit anderen netten Herren unterhalte.« Christin befreite sich energisch aus seinen Griff. »Oder willst du mir etwa drohen?«

»Sieh es als gut gemeinte Warnung an. Solange ich dich bezahle, wirst du das tun, was ich von dir verlange. Das ist unser Deal, sollte es dir entfallen sein?«

»Ich weiß sehr wohl, was unser Geschäft ist.« Sämtliche Weinseligkeit war ihr abhandengekommen. Ließ Nils jetzt seine Maske fallen?

»Das freut mich zu hören.« Er trat hinter sie und ließ seine Hand über ihren Nacken und den Hals in Richtung des Ausschnitts gleiten. »Vielleicht ist es nicht einmal verkehrt, wenn du Puls und Winter ein wenig den Kopf verdrehst. Die beiden hätte ich gern ein wenig mehr unter Kontrolle.«

Es dauerte einen Moment, ehe Christin begriff, wie er es meinte. Ein Eimer kaltes Wasser hätte sie nicht besser aus den Überresten ihres Wohlgefühls reißen können. Sie löste sich von ihm. »Willst du damit sagen, dass ich mit diesen Männern ins Bett gehen soll, wenn es dir in dein Konzept hineinpasst?«

Nils-Ole Händler erwiderte ihren wutsprühenden Blick mit einem abfälligen Lächeln. »Solange ich dich bezahle …« Er ließ keinen Zweifel daran, wie seine Worte aufzufassen waren.

Ein eiskalter Hauch kroch ihr über den Rücken, als sie ein weiteres Mal in kürzester Zeit feststellen musste, wie sehr sie sich in diesem Mann getäuscht hatte. Nein! So nicht!

»Nils, ich bin eine Konkubine, Geliebte, oder nenne es, wie du willst. Aber ich bin nicht deine Hure; dein Pferdchen, das du zum Anschaffen auf den Strich schickst!«

»Nein, das bist du nicht.« Die Maske kehrte an ihren Platz zurück. Mit einem liebevollen Lächeln trat er auf sie zu und umarmte sie, was sie zögerlich geschehen ließ. »Ich mag nur keine Überraschungen. Und ja, ein wenig eifersüchtig bin ich auch. Doch nun lass uns über ein schöneres Thema sprechen. Oder besser, handeln.« Er schob sich hinter sie und drängte sie mit wachsender Erregung in Richtung des überdimensionierten Schreibtisches.

Christin, die noch immer mit den verwirrenden Eindrücken von zuvor zu kämpfen hatte, spürte, wie er bestimmt ihren Oberkörper auf das glänzende Furnier der Tischplatte zwang und den Saum ihres Kleides hinaufschob. Mit einem Male fühlte sie sich überhaupt nicht mehr überlegen und sicher, dass sie alles fest in der Hand hatte.

»Ich finde, es ist eine schöne Idee von dir, dich gleich gebrauchsfertig zu liefern«, stellte er mit zufriedener Lüsternheit fest. »Deinen Slip darfst du gern öfter fortlassen.«

Nils-Ole war nie der zärtliche Typ gewesen. Als er sie nun in Besitz nahm, zerriss nicht nur der Wunsch in ihr, dass er vielleicht doch der Traumprinz war.

***

Apathisch stand die junge Frau am Fenster ihrer dunklen Küche und sah auf die nächtliche Straße hinaus, die mit ihrer Retro-Mittelalter-Beleuchtung so weit ausgeleuchtet war, dass man gerade die Hand vor Augen sah. Der Kaffee in ihrer Hand hatte längst von lauwarm zu eiskalt gewechselt. Selbst das wurde ihr nicht bewusst. Wie alles, was um sie herum und ganz besonders in ihr vor sich ging. Erst als der kleine Hundewelpe mit seinem Herrchen auf der anderen Straßenseite erschien, kehrte so etwas wie Leben in die tränenverschleierten Blicke zurück.

»Balu«, kam ihr der Name leise und zärtlich über die Lippen, während sich ein vergebliches Lächeln auf ihnen festzusetzen versuchte.

Sein Herrchen blieb mit leichtem Schwanken stehen, als der kleine Wicht eine für ihn interessante Stelle näher beschnupperte. Mit einem herzhaften Gähnen ergab er sich in sein Los und starrte verloren in den Nachthimmel.

»Und wie heißt du, Herrchen?« Christin sah verblüfft neben sich. Doch dort stand niemand, der diese Frage gestellt hatte.


Kapitel 5

Nun lebte sie bereits seit geschlagenen zwei Wochen in Gernhausen. Hätte man sie – wie wohl all ihre Nachbarn – gefragt, was das bisherige Fazit war, würde man eine einstimmige Meinung finden. Viel zu lange! Doch darüber hatte sich Christin Thorstraten längst in ihrem Tagebuch ausgelassen. Sogar sehr selbstkritisch, wie sie fand.

Das Einzige, was ihr erstaunlicherweise sehr viel Spaß bereitete, waren die Arbeiten an der Chronik und ihre häufigen Besuche im hiesigen Stadtarchiv. Hier in dem kleinen, aber feinen Lesesaal, in dem die Archivarin Amelie Gruber uneingeschränkt herrschte, fühlte sie sich wie in ihrer zweiten Wohnstube. Fräulein Gruber, auf dieser althergebrachten Formulierung bestand die Dame, hatte auf ihre bärbeißige Art entschieden, diese junge Frau in ihr Herz zu schließen. Etwas, das auf Gegenseitigkeit beruhte, resümierte Christin. Nicht erst seitdem Amelie Gruber der schluchzenden „Fachfrau“ half und sie lehrte, diese alte deutsche Schrift zu lesen, zu verstehen und sie letztendlich auch auszuwerten.

Heute nun hatte sie zum ersten Mal die Erlaubnis erhalten, einige der alten Akten nach Hause mitzunehmen, um sie übers Wochenende auswerten zu können. Wie schön, fand Christin und klemmte sich ihre Aktenmappe noch fester unter den Arm. So hatte sie wenigstens etwas um die Ohren, während Nils mit der Familie das Wochenende über fort war. Sie war eine richtige Strohwitwe.

Bitterkeit überflutete das vermeintliche Hochgefühl. Wie falsch das plötzlich klang. Nils-Ole hatte sich zwar am folgenden Tag für sein eifersüchtiges Verhalten entschuldigt, doch der Traum, Teil von etwas Besonderem zu sein, war verflogen. Zumindest bis jetzt. Es war also gar nicht schlimm, drei Tage und Nächte lang einmal nicht „zur Verfügung zu stehen“.

Christin kehrte heim und verschloss die Archivalien sorgsam im feuerfesten Schrank, den ihr die Geschichtsfreunde gleich in den ersten Tagen zur Verfügung gestellt hatten. Erst dann machte sie sich erneut auf den Weg, um fürs Wochenende einzukaufen. Sie würde sich so richtig verwöhnen. Ein schöner Wein, dazu Parmaschinken, erlesenen Käse und alles, was sie sonst noch bei Feinkost-Hagen entdeckte und wonach ihr der Sinn stand. Dieses Wochenende würde sie schlemmen und leben. Scheiß auf Kalorientabelle und Fitness. Fehlte nur noch der Wagemut, alles auf Nils-Oles Namen anschreiben zu lassen.

Sie trat aus dem Haus und blinzelte aufatmend in die Sonne, die sich langsam anschickte, hinter den alten Ziegeldächern zu verschwinden. Herrlich! Manchmal, wenn sie ehrlich zu sich war, genoss sie es, nicht mehr im lauten, stinkenden und immer hektischen Großstadtdschungel zu leben. Hier konnte man nur mal eben auf einen Sprung zum Kaufmann am Unteren Markt oder in die Wallhofstraße gehen. Sie liebte diese kleine, aber exklusive Shoppingmeile. Oder, so wie jetzt, zurück zum Obermarkt zu Feinkost-Hagen. Beschwingt verschloss Christin ihre Haustür und machte sich auf den Weg. Sie entschied sich für den Weg durch die Bergwallgasse. Das war bedeutend kürzer als der Weg über König-Albrecht-Wall, Diagonalstraße und Kramergasse, aber doppelt so anstrengend. Doch wenn sie ehrlich war, waren es die liebevoll restaurierten Häuser in dieser Gasse, die es ihr angetan hatten. Dazu die Unmengen an Blumenkästen vor den Fenstern, die diese Straße so bunt und lebenswert machten. Zudem hatte sie sich bei ihren täglichen Wegen durch die mittelalterliche Altstadt längst stramme Waden antrainiert. Was selbst Nils-Ole aufgefallen war, erinnerte sie sich. Wie meinte er das eigentlich? Fand er sie zuvor etwa fett und unförmig?

Ein helles Bellen riss Christin aus ihren selbstkritischen Betrachtungen. Plötzlich waren die Erinnerungen wieder da. Der kleine Hund und dieser freche Kerl mit seinen so grünen Augen. Unbewusst suchte sie nach ihm, entdeckte aber nur ein kleines Mädchen, das auf den Eingangsstufen eines Hauses saß und den kleinen Hund an einer Leine hielt.

»Balu.« Ja, so hieß der Kleine, der nun, als er seinen Namen hörte, wie wild an der Leine zog, um zu ihr zu kommen. Christin näherte sich dem ungleichen Paar, ging vor den beiden in die Hocke und streichelte den Hund über das seidige Fell. »Hallo, Balu.«

Dieser warf sich umgehend auf den Rücken und präsentierte ihr den Babybauch.

»Hallo.« Sie sah lächelnd zu dem Mädchen auf. Hübsch sah die Kleine aus. Sie mochte vielleicht sechs Jahre alt sein, schätzte Christin. Schulterlanges, goldgelocktes Haar. Und lustige Sommersprossen tanzten ihr ums Näschen herum. Nur die dunklen, ernst dreinschauenden Augen, die sie stumm musterten, zerstörten das Bild von etwas Zartem, Reinen. »Du musst Balus Frauchen sein.«

Die Kleine nickte trotzig und zog Balu an seiner Leine zu sich heran, als befürchte sie, die Fremde wolle ihr das Tier fortnehmen.

»Ich heiße Christin«, stellte sie sich vor. »Ich wohne hier ganz in der Nähe und musste Balu letztens retten. Als dein …«, sie verschluckte gerade noch „blöder“, »… großer Bruder ihn auf die Straße laufen ließ.«

»Bist du die Stadttorhexe?«, taute die Kleine auf.

Aber wie!!! »Wie kommst du dazu, mich Stadttorhexe zu nennen?« Christin unterdrückte den Drang aufzustehen und beleidigt fortzugehen. Die dunkelbraunen Augen des Mädchens hielten sie gefangen und musterten sie interessiert.

»So nennen dich die anderen. Die sagen, dass du eine Hexe bist.«

»Ach, sagen sie das? Ja, dann muss es wohl stimmen, oder?«

»Nein, Hexen sind doch immer böse. Außerdem sind die immer alt und hässlich.«

Christin schmunzelte, konnte sich aber nicht vom Wahrheitsgehalt lösen. »Wer weiß, vielleicht habe ich mich nur jung und schön gezaubert.«

»Ne!« Das Mädchen schüttelte überzeugt ihr Lockenköpfchen. »Du bist ganz bestimmt eine gute Fee.«

»Bin ich das?«, Christins Herz tat einen kleinen Sprung, ehe ihr Gewissen sie einfing und mit Ehrlichkeit strafte. »Dann wohl eher eine schwarze Fee … oder zumindest eine ganz dunkelgraue.«

»Wie heißt du?«

»Christin. Und du?«

»Ich habe einen Namen, den kann man vorwärts und rückwärts sprechen und schreiben.«

»Otto«, kam Christin nicht umhin, die kleine, altkluge Dame ein wenig zu foppen.

»Ne Mensch, ich heiße doch Hannah!«

»Oh, das ist aber ein wirklich schöner Name. Und er passt zu dir, finde ich.«

»Dein Name ist aber auch schön. Du, darf ich dich Tini nennen?«

»Nicht wenn du eine Antwort von mir erwartest.«

»Ist gut«, entschied Hannah für sich und blickte mit einem strahlenden Lächeln an Christin vorbei. Hin zu der Frau, die sich bis auf wenige Schritte unbemerkt genähert hatte. »Jutta, guck mal, wen ich kennengelernt habe.«

Hannah stand behände auf, drückte ihrer neuen Freundin Balus Leine in die Hand und sprang der attraktiven, nicht mehr ganz taufrischen Frau entgegen. Diese hatte Mühe, ihre Einkauftaschen in Sicherheit zu bringen und das Mädchen zu halten, das ihre zarten Arme um deren Hüften schlang.

Jutta musterte die junge Frau reserviert. Das musste die Neue sein, diese Stadttorhexe, über die man sich bereits in der Nachbarschaft das Maul zerriss. Allein dieser Umstand ließ die Fremde gleich doppelt so sympathisch erscheinen. »Hallo, ich hoffe, Hannah hat Sie nicht zu sehr mit Beschlag belegt?«

Die junge Frau hatte sich mittlerweile von den Treppenstufen erhoben. Ein verlegener und dennoch trotziger Blick brandete ihr entgegen.

»Entschuldigen Sie, dass ich mich einfach so zu Ihrer Tochter gesetzt habe. Es wird nicht wieder vorkommen.« Christin wandte sich der Kleinen zu und reichte ihr die Hand zum Abschied. »Tschüss Hannah, es war wirklich nett, dich kennengelernt zu haben. Also, dann mach es gut.«

Auch Balu bekam eine liebevolle Streicheleinheit. Ein letzter herausfordernder Blick an die Adresse von Hannahs Mutter. Dann wandte sie sich brüsk ab und ging in Richtung Obermarkt davon, ohne sich nochmals umzuschauen.

Unweigerlich entging der jungen Frau dabei der Blick, den Jutta Kellermann ihr nachsandte. Respektvoll und mit der Frage behaftet, warum sich ihre Enkelin und diese Frau so ähnlichsahen. Jutta Kellermann war verwirrt. Und das nicht nur, weil sie feststellen musste, mit welch einer Herzlichkeit Hannah auf diese völlig fremde Frau reagierte.

***

Als sich Christin schließlich auf den Heimweg machte, waren die Stofftaschen gut gefüllt. Sie hatte wieder einmal viel zu viel eingekauft. Als hieße es, eine ganze Familie zu versorgen. Ihr Blick ging hinüber zu dem Haus, vor dem sie Hannah kennengelernt hatte. Ein wehmütiges Lächeln glitt ihr über die Lippen, als sie sich an das kleine, ein wenig altkluge Mädchen erinnerte »Bist du wirklich eine Hexe?« Ja, die war sie wohl in der Tat, dachte Christin mit seltener Ehrlichkeit. Wie lange man wohl an ihr schrubben musste, um aus ihr zumindest eine dunkelgraue Fee zu machen?

»So ein Blödmann«, kehrte sie mit einer Verwünschung in die Realität zurück. Nun musste sie über das unebene Straßenpflaster stolpern, nur um diesem Yuppie-Geländewagen auszuweichen, der mitten auf dem Gehweg vor Hannahs Haus stand und trotzdem die halbe Straße blockierte. Aus den Augenwinkeln heraus las sie das an sich geschmackvoll gestaltete Firmenlogo auf der Beifahrerseite „Tobias Herder – Architekt für Historisches Wohnen und Leben“.

War dieser Herder mit dem Chaoten identisch, der vor Tagen so schmerzhaft mit ihr zusammengeprallt war? Sie war so sehr mit sich und dieser existenziellen Frage beschäftigt, bis es plötzlich fürchterlich knallte und knackte. Da war ein Schatten, registrierte etwas in ihr im Nachhinein, der sich als offen stehende Heckklappe erwies.

Heftiger Schmerz, Schrecken und aufsteigende Übelkeit. Sie ließ ihre Last fallen und taumelte in Richtung Hauswand. Übelkeit, die rasend schnell den Hals hinaufstieg. Schwärze wollte den tränenverschleierten Blick vollends verdunkeln, als sie plötzlich aufgefangen wurde. Eine besorgte Stimme drang zu ihr durch. Sie fragte etwas, ohne dass sie den Sinn begriff. Erneuter Schwindel, als sie sich emporgehoben fühlte und kurz darauf den Kontakt zu einem weichen Ledersitz fand. Nur langsam wich die Übelkeit und machte dem rasenden Schmerz Platz, der sich schließlich auf einen großen Bereich ihrer rechten Stirnseite konzentrierte.

»Hallo! Können Sie mich verstehen?«

Langsam konzentrierte sich ihre Aufmerksamkeit auf die besorgten, schuldbewussten Blicke eines Mannes, der ihr seltsam bekannt vorkam. Grüne Augen … Schlagartig waren die Erinnerungen an diesen unschönen Streit von vor ein paar Tagen da. Dieser ungehobelte Kerl … Und erneut sah es so aus, als habe dieser Idiot Schuld an ihrem Schmerz und dieser ganzen peinlichen Situation, in der sie sich wiederfand.

»Sie schon wieder!!!« Christin schoss von ihrem Platz hoch und stieß sich erneut den Kopf, diesmal an der Dachschiene des Wagens. Doch das war nebensächlich bei dem heftig überkochenden Zorn auf diesen Tölpel, der es sich offenbar zur Lebensaufgabe gemacht hatte, sie über kurz oder lang umzubringen! »Sind Sie des Wahnsinns fette Beute! Was zum Henker habe ich Ihnen getan, dass Sie mir ständig auflauern und versuchen mich umzubringen?«

Spätestens als sie ihn jetzt so verzagt und schuldbewusst vor sich stehen sah, hätte sie lachen und ihn trösten müssen. Doch der anhaltende Schmerz, ihr Schrecken und vor allem der Ärger über ihre eigene Tollpatschigkeit mussten heraus. Sonst würde sie an ihren Worten ersticken. »Sie sind einfach nur gemeingefährlich! Oder ist das Ihre Art, Frauen anzumachen? Ja, das wird es sein! Sie bekommen keine Frau ab, wenn Sie sie nicht fluchtunfähig machen!« Sauerstoffmangel ließ ihr die Stimme versagen. Sie presste stöhnend ihre Handballen gegen die Stirn und versuchte, der erneut aufsteigenden Übelkeit Herr zu werden.

»Nun halten Sie mal fünf Minuten lang ihre süße, aber tödliche Kodderschnauze.« Ohne eine wirkliche Gegenwehr gelang es Tobias, sie zurück auf den Sitz zu verfrachten. »Ich denke, ich werde Sie ins Krankenhaus bringen müssen. Eine Gehirnerschütterung haben Sie sich ganz bestimmt zugezogen … und einen Tobsuchtsanfall. So wie Sie mich nun wieder niedermachen, kann es nur so sein«, machte sich Tobias seinerseits Luft und sparte dabei nicht an der nötigen Portion Sarkasmus. »Oder sind Sie von Natur aus eine Emanze und Menschenhasserin?«

»Ach, lecken Sie mich doch …«

»Einen dicken blauen Fleck wird es auf jeden Fall geben.« Beinahe zärtlich zog er ihren Kopf zu sich heran, um die Verwüstungen an ihrem Haaransatz zu begutachten. »Aber wer weiß, so mancher Dämon freut sich vielleicht sogar über ein weiteres Horn.«

Sein heiteres Lachen erstickte, als er – wie Tage zuvor – ein erneutes heftiges Brennen auf der Wange verspürte. Sie stand plötzlich wieder auf eigenen Beinen und funkelte ihn wie eh und je vernichtend an.

»Okay, das habe ich verstanden.« Schlagartig ernüchtert holte er seine Börse hervor und entnahm ihr eine Visitenkarte. »Wenn es um die Arztrechnung geht oder Ihren Anwalt. Ich bin haftpflichtversichert.«

Tobias drückte ihr das Stück Papier in die Hand und begann, die auf der Straße liegenden Dinge einzusammeln. Nur Feinkostzeugs. Typisch, passte irgendwie zu dieser … Schnepfe? Er gab es auf, nach einem passenden Namen für sie zu suchen, und musste dreimal zupacken, bis er diese Konserve mit der feurigen Hummercremesuppe erwischte. Drachen, das war es! Er richtete sich wieder auf, zwang ihr ihre Taschen förmlich auf und flüchtete sich an die eigene Haustür. »Ach, noch ein gut gemeinter Rat mit auf den Weg. In diesen engen Straßen hier ist es für Drachen, wie Sie es sind, schier unmöglich, ihre Schwingen ganz auszufahren. Denken Sie das nächste Mal dran.«

Christin erfasste plötzlich ein ganz anders geartetes Schwindelgefühl. Nicht nur, dass er sich als Mann – okay, zugegebenermaßen als attraktiver Mann – herausnahm, sie mit plumpen und gar herablassenden Sprüchen zu traktieren. Nein, jetzt ließ er sie einfach stehen und gab ihr zudem noch das Gefühl, dass sie völlig unter seiner Würde war. Er ließ sie stehen wie eine Straßenhure, die ihm zu teuer und auf den zweiten Blick auch noch zu unattraktiv war. Na warte! Dafür wirst du mir bezahlen, mein Lieber, schwor sie sich und verscheuchte vehement das Bild eines kleinen Mädchens, das sich vor ihrem inneren Auge aufbaute. Nein, dieser ungehobelte Kerl konnte unmöglich der Vater dieses süßen Kindes sein. So wie er sich aufführte, war er der spätpubertierende oder geistig zurückgebliebene ältere Bruder, den sie ihm bereits angedichtet hatte. Ja, das war es, brachte sie ihn mit Hannahs Mutter in Verbindung, die sie ebenso herablassend gemustert hatte. Der ungeratene Bengel aus erster Ehe! Sie erwachte aus ihren wütenden Betrachtungen und musste feststellen, dass dieser Unmensch längst im Haus verschwunden war. Wenn sie ein Drache wäre, würde dieses Haus längst in Schutt und Asche liegen, verwünschte sie es und seine Bewohner. Ihre Hände umkrampften die Henkel der Taschen. Nur die kochende Wut in ihr gab ihr die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um heimzukommen. Heim – mit einem unendlichen Gefühl von Versagen in sich, das so heftig war, dass es ein Brennen in ihren Augen hinterließ.

***

»Dieses vermaledeite Weibsstück.« Leise fluchend trat Tobias in die Küche und bediente sich an der Kaffeekanne. Mit dem Becher in der Hand trat er ans Fenster und sah auf die Straße hinaus, wo er soeben seine letzte Chance zu Grabe getragen hatte, diese wunderschöne Frau kennenzulernen.

»Mit eurem Theaterstück solltet ihr auf Tournee gehen.« Jutta, die ungewollt Zeugin des Vorfalls geworden war, würde diesmal nicht mit Schweigen darüber hinweggehen. »Wie ein altes Ehepaar, kann ich nur sagen.«

»Ach, hör doch auf! Wenn dieses Flintenweib einmal tot umfällt, muss man ihr Schandmaul noch extra erschlagen.«

»Ich sehe das anders, das ist nämlich endlich mal eine, die dir richtig Kontra gibt.«

Tobias blickte sie fassungslos von der Seite her an. »Wie …?« Er winkte zweifelnd ab und stellte den halb vollen Becher in die Spüle. »Ach, lasst mich doch in Ruhe! Ich fahre den Wagen in die Garage und gehe dann auf einen Schoppen zu Ulli ins Krameramtsstübchen.«

»Tue das«, riet Jutta ihm und drohte, »aber besauf dich nicht wieder, nur weil dir eine Frau mal richtig die Meinung gesagt hat.«

***

Obwohl es noch früh am Abend war, war die kleine, urig wirkende Weinschänke am Obermarkt gut besucht. Doch für Tobias waren immer ein Platz und ein Schoppen Wein übrig. Heute hatte er den Stammtisch, der etwas abseits vom Trubel stand, für sich allein.

Ulrich Töpfer, Wirt in dritter Generation, setzte sich für einen Augenblick zu dem alten Schulfreund. Wer sich so lange kannte und miteinander befreundet war, spürte, wenn es um den anderen mies bestellt war. »Sieht ganz danach aus, als wäre der „Weinpastor“ gefordert?«

Tobias schenkte ihm ein verunglücktes Lächeln. »Was würden wir ohne den machen.«

»Und? Magst du darüber reden? Du weißt ja, ich habe Schweigepflicht.«

Tobias hob unschlüssig die Schultern und schien durch ihn hindurch zu sehen.

»Eine Frau.« Was für andere eine Spekulation war, war für Ulli ersichtlich. Mit Grauen erinnerte er sich an die schlimme Zeit damals. Als Sina, Tobias Frau ums Leben kam und ein schreckliches Erbe aus Rufmord und Schadenfreude hinterließ. Der Blick seines besten Freundes hatte ihm unmissverständlich verraten, dass eine neue Frau in das Leben des Tobias Herder getreten war. Eine, die längst begonnen hatte, alles an ihm erneut auf den Kopf zu stellen.

»Sieht man mir mein Glück so sehr an?«

Ulli nickte bedächtig. »Ist es noch immer die Verheiratete?«

»Nein, du kennst mich. Ich würde mich nie bewusst in eine andere Beziehung mischen. Selbst wenn diese noch so beschissen sein mag.«

»Nun sage mir nicht, dass es diese Stadttorhexe ist, von der alle reden.« Ulrich Töpfer lehnte sich zurück und musterte seinen Freund mit verschränkten Armen. Herr im Himmel, das war schon in der Schule so. Tobi war immer DER Aspirant gewesen, wenn es galt, sich in die unmöglichsten und unerreichbarsten Frauen zu verlieben. Der verunsicherte Blick bestärkte ihn in seinen Befürchtungen.

»Stadttorhexe? Wen meinst du damit?«

»Du gibst wohl gar nichts auf den neusten Tratsch in Gernhausen, oder?«

»Ne, nicht wirklich. Aber wie kommst du darauf, mir eine … Stadttorhexe anzudichten?«

»Ich habe sie zwar noch nicht persönlich kennengelernt«, gab Ulli ehrlich zu. »Doch sie soll innerhalb kürzester Zeit nicht nur ledigen Herren den Kopf verdreht haben. Darüber hinaus soll sie mit einer herzlichen Direktheit gesegnet sein, die es einem schwer macht, sie zu mögen. Ansonsten ist sie die neue Stadtchronistin, die ein Jahr lang an irgendeinem Buch über Gernhausen schreiben soll.«

Tobias starrte sinnend an ihm vorbei. Zumindest der Mittelteil von Ullis Charakterisierung traf wie die Faust aufs Auge. »Und was empfiehlt der Herr Weinpastor?«

Der Wirt lachte humorlos und stellte seine nachdenkliche Diagnose. »Dir jetzt noch etwas über die Vorzüge des Zölibates zu erzählen, scheint für die Katz zu sein. Aber wer weiß, meist wird ja mehr Schauerliches über die Leute erzählt, als dass es wirklich so ist.«


Kapitel 6

An das Gespräch mit Ulli und dessen unkenhafte Äußerung musste Tobias erneut denken, als er Tage später nichts ahnend den Lesesaal des Stadtarchivs betrat. Dort saß seine Traumfrau, wie er sie noch immer nannte, an einem der Tische und blätterte in uralten Büchern. Hexensprüche, stellte seine blitzartig erwachende Ironie genüsslich fest. Er schüttelte unbewusst den Kopf und hoffte darauf, dass sie ihn in seinem edlen Aufzug nicht erkannte. Denn um nicht nur allein mit Können und neuen Ideen für den Umbau eines zukunftsoptimierten Stadtarchivs zu glänzen, hatte er sich extra in Schale geworfen. Es konnte nicht schaden, die Frau Stadtkämmerer und den Ausschuss für die Sanierung des Zeughauses zu bezirzen.

Rückblickend wusste er nicht, was ihn dazu getrieben hatte, doch noch den Lesesaal zu durchqueren und sich ungefragt neben sie zu setzen.

»Hallo Fuchur.« Ja, der Name passte eindeutig zu ihr, gratulierte Tobias sich. Ob Michael Ende sie vor sich gesehen hatte, als er Die unendliche Geschichte schrieb? Schade, dass nur er allein über diese Metapher schmunzeln konnte. Ihre Blicke dagegen pendelten sichtlich zwischen Überraschung und Abscheu. Als wäre er gerade einmal ein Pickel an ihrem Allerwertesten. Viel verkehrt machen konnte er wirklich nicht mehr. Er griff sich einen der uralten Schinken, die sie wie eine Mauer vor sich aufgebaut hatte, und entzifferte mühelos die verblichenen Goldlettern. »Bürgerbuch Gernhausen 1570 bis 1683.« Ein jungenhaftes Grinsen übertünchte letzte Unsicherheiten. »Der Speiseplan für die nächste Woche, Fuchur?«

Fuchur – Speiseplan – Drachen. Dem war kein Witz zu schräg, oder? Ein Kindskopf! Und doch war sein verpackter Zynismus heute wie Balsam auf Christins geschundener Seele. Ihr helles Auflachen brachte ihr einige erboste Blicke ein. Inklusive Amelie Grubers ungeteilte Aufmerksamkeit vom anderen Ende des Saales.

»Hören Sie«, unterbrach er ihre Gedanken, »ich möchte mich ehrlich dafür entschuldigen, wie wir die ersten Male aneinandergeraten sind. Wie ist es, mögen Sie italienisch essen? Ich kenne natürlich auch andere gute Restaurants.«

Ein hochmütiges Kopfschütteln und doch klang ihre Stimme, als wolle sie der Ablehnung zumindest etwas Bedauern mitgeben. »Danke für den Versuch. Ich ahne, welche Überwindung es Sie kosten muss, aber es tut mir leid. Ich nehme grundsätzlich keine Einladung von Männern an. Schon gar nicht von Leuten, bei denen man unten durch ist, ehe man richtig Guten Tag sagen kann.«

»Ich verstehe nicht?«

Er verstand es wirklich nicht, überzeugte sie sein Blick. »Sollten Sie wirklich so begriffsstutzig sein, fragen Sie einfach ihre Mutter.«

Tobias Herder blieb in seiner Verwirrung gefangen. Ehe er ihrer rätselhaften Äußerung auf den Grund gehen konnte, stand die Archivarin plötzlich neben ihnen.

»Guten Tag, Herr Herder. Für Unterhaltungen jeglicher Art nutzen wir die Cafeteria im Erdgeschoss. Außerdem erwarten Sie die Herrschaften vom Ausschuss.« Amelie Gruber zeigte keine Anzeichen dafür, dass sie gewillt war, auch nur ein weiteres Wort zu dulden.

Tobias erhob sich, stellte den Stuhl akkurat an seinen Platz zurück und wandte sich erneut den beiden Damen zu. Drachen unter sich, murmelte die frustrierte Seele eines Mannes in ihm.

»Dann entschuldigen Sie bitte mein ungebührliches Ansinnen, Ihnen meine Aufwartung zu machen, Gnädigste.« Er vollendete seinen Abgang, indem er einen imaginären Hut zum formvollendeten mittelalterlichen Gruß schwenkte. »Sollte Ihnen dennoch einmal der Sinn danach stehen, oder Sie meinen Rat benötigen …«

Was für eine eingebildete Schnepfe, dachte er bei sich und begab sich in Richtung des Treppenhauses, ohne den Frauen noch einen Blick zu gönnen.

Mit einem herzerweichenden Seufzen nahm Christin ihren Stift wieder auf.

Amelie Gruber ergriff den Stuhl, auf dem der junge Mann zuvor gesessen hatte, und setzte sich neben ihre Elevin, wie sie sie liebevoll für sich nannte. »Ist das nicht ein toller Mann? Ach, hätte es doch nur so einen zu meiner Zeit gegeben …« Sie versank für einen Moment in der Vorstellung des verpassten Möglichen und fuhr schwärmend fort, ohne sich um ihre eigene Anordnung zu kümmern oder zu fragen, ob es die junge Frau interessierte. »Ich bewundere ihn so sehr. Und dass er nach all dem, was ihm damals widerfuhr, so ganz der Alte dabei geblieben ist.«

»So schlimm kann es ja wohl nicht gewesen sein«, fuhr Christin ihr barsch über den Mund. Erneut hatte dieser Herder sie hochnäsig abblitzen lassen! »Sonst würde dieser Herr wohl kaum noch seinen Kopf auf den Schultern tragen und seine Machosprüche schwingen.«

»Na, heute sind wir aber mal wieder auf Krawall gebürstet.« Amelie Gruber erhob sich und strebte pikiert ihrem Platz und ihrer Arbeit zu.

Wie auch Christin, die sich erneut dem Studium der alten Bürgerbücher widmete. Nicht wenige der hiesigen Honoratioren würden sich geschmeichelt fühlen, wenn sie deren Ahnen als kleinen Gimmick über Jahrhunderte hinweg in der Chronik Revue passieren ließ. „Bernardus Händler, civis filius, Majus 1417, Tobias Herder, Majus …“ Shit! Ungläubig brannte sich ihr Blick auf den letzten Eintrag fest. Steff Moller war das! Verdammt, wie kam sie nur auf Tobias Herder? Sie vermied es bewusst, sich darauf einen Reim zu machen.

***

Das Gespräch mit dem Bauausschuss war nicht wirklich so verlaufen, wie Tobias es sich erhofft hatte. Zu hochtrabend, zu teuer, zu visionär. Das waren nur einige der Begründungen, mit denen man ihn nach Hause schickte. Er möge bitte alles noch einmal einer genauesten Überprüfung unterziehen und seine Berechnungen erneut vorlegen. Sie wollten einen Jumbojet zum Preis eines Segelfliegers. Blödes Pack!

Sein Weg hinaus führte ihn erneut durch den Lesesaal. Er hatte vergessen, Fräulein Gruber eine Nachricht seiner Schwiegermutter auszurichten. So beruhigte er sein Gewissen, dass SIE nicht der Grund war. Die Enttäuschung über ihren geräumten und verwaisten Platz reichte bis zum Pult der Archivarin. Von hier aus konnte er erkennen, dass Fuchur hinter der Glastür des Eingangs stand und sich mit einem Mann unterhielt.

»Herr Herder, was kann ich für Sie tun?« Amelie Gruber behielt mit einem milden Lächeln für sich, dass sie dem Mann mit den glänzenden Augen bereits zum dritten Male diese Frage gestellt hatte.

»Fräulein Gruber, ich soll Ihnen von Jutta ausrichten, dass der Mädelsabend diesmal bei Sabine Hagen stattfindet.« Vorhin, als Jutta ihn um die Übermittlung der Nachricht gebeten hatte, waren ihm einige Fragen dazu durch den Kopf gegangen. Doch jetzt spulte er sie wie ein ausgeleiertes Tonbandgerät ab.

»Danke, Herr Herder.« Amelie folgte seinen Blicken, die noch immer Richtung Ausgang gingen. »Fräulein Thorstraten ist schon eine ganz Patente und Nette, was? Vor allem sollte man wirklich nichts auf dieses ganze Gerede geben.«

»Was? Über wen?« Der junge Mann vereinte nur mit Mühe Geist und Körper.

»Christin meine ich. Frau Thorstraten.« Sie deutete auf den Mittelpunkt seines ungebrochenen Interesses. »Glauben Sie nur nicht dem ganzen Gerede, das über sie im Umlauf ist. Die Leute sind nur neidisch auf diese selbstbewusste Frau.«

»Nein, das tue ich nicht. Einen schönen Tag dann noch.« Tobias sog scharf die Luft in sich hinein und begab sich dann zum Ausgang. Dem einzigen Weg aus einem Haus voller Niederlagen; wobei ihn die größte noch ereilen sollte.

Jetzt erkannte Tobias auch den Mann, der bei seiner Traumfrau stand. Bürgermeister Händler, ein elender Aufschneider und sonst noch was, ersparte er sich eine Aufzählung. Bis auf den widerwärtigen Schürzenjäger, ergänzte er. Selbst jetzt hatte dieser bestimmt doppelt so alte Mann seine manikürte Pratze wie selbstverständlich auf ihrer Hüfte geparkt, während sie ihn wie ein Backfisch anschmachtete.

***

Christin hatte es gestern nicht leicht gehabt. Auch in der vergangenen Nacht war ihr nicht viel Schlaf vergönnt gewesen.

»Sage du mir noch einmal, dass ein Mittfünfziger keine Ausdauer hat«, knurrte sie ihr Spiegelbild an und streckte ihre müden und zerschlagenen Knochen, ehe sie sich unter die Dusche begab. Viertel nach zwölf. Fürs Archiv war es eh zu spät. Also würde sie das Beste aus diesem verqueren Tag machen und ihn für sich genießen. Ausgiebig spazieren gehen, etwas Schönes kochen und Tagebuch schreiben. Ihr Erlebnis vom gestrigen Tage ließ sie einfach nicht los. Der ernüchterte Blick dieses Chaoten, als er an Nils-Ole und ihr vorbei das Archiv verließ. Als würde das Wort Hure auf ihrer Stirn gemeißelt stehen! Tobias Herder hieß er, das wusste sie nun. Ein Blödmann, wie er im Buche stand, und dennoch schlug ihr Herz schneller. So, als würde sie bereits vor ihrem Tagebuch sitzen. Christin stellte das Wasser der Dusche kälter, um sich die aufbrandenden Gefühle vom Leib zu spülen.

***

Frisch geduscht, gestylt und apart geschminkt fühlte sie sich zwei Stunden später wie ein neuer Mensch. Jetzt noch das übrig gebliebene Sushi aus dem Kühlschrank holen, dann konnte der Tag in Ruhe starten.

Das Klingeln an der Haustür machte ihr Vorhaben zunichte. Sah man von den Gören aus der Nachbarschaft ab, die sich in der ersten Woche ihre Finger wund geklingelt hatten, hatte sie bislang keinen Besuch bekommen. Nils-Ole besaß einen Schlüssel und würde kaum um diese Zeit hier auftauchen. Wer also stand dort draußen? Es klingelte ein weiteres Mal und diesmal dringlicher. Christin überhörte ihre warnende Stimme, schloss den Kühlschrank und begab sich an die Haustür.

»Hannah?« Vor ihr stand das schluchzende, von einem Bein aufs andere tretende Mädchen. Der Schatten auf vier Pfoten an ihrer Seite. »Kind, was ist mit dir?«

»Christin, bitte … Ich muss so sehr auf die Toilette und ich habe meinen Hausschlüssel verloren.«

»Aber natürlich.« Christin holte sie in den Flur und öffnete die Tür zum Gäste-WC, in dem die Kleine wie der Blitz verschwand.

Balu schaute irritiert von der geschlossenen Tür hin zu der Frau, bei der er bereits so einige Streicheleinheiten ergaunert hatte. Eindeutig Zeit für eine Erneuerung ihrer Freundschaft.

Als das Wasser der Spülung rauschte, beendete Christin ihren Versuch, den wilden Gesellen niederzuschmusen, und mühte sich angestrengt auf die Beine.

Hannah trat in den Flur. »Danke, Tini. Du warst meine Rettung.«

Christin unterdrückte ihre Empörung über diesen grässlichen Spitznamen, als sie die nächsten Tränen in den Augen des Mädchens wahrnahm. »Warum bist du eigentlich allein zu Haus? Du bist doch noch viel zu jung!«

»Sonst ist Jutta doch da.« Hannahs schmächtiger Oberkörper erbebte, als sie schluchzend gestand. »Aber die musste zu einer kranken Freundin. Und Tobi musste ganz schnell weg, da ist irgendwo Wasser geplatzt. Und ich hab meinen Schlüssel verloren … Oder im Haus gelassen. Und ich weiß jetzt nicht, was ich machen soll.«

Christin ging erneut in die Hocke und nahm das weinende Mädchen in die Arme. Was konnte man von solch einer Familie erwarten, wo sich alle beim Vornamen nannten und sich offenbar niemand für den anderen zuständig fühlte, schimpfte sie in sich hinein. Behutsam streichelte sie Hannah den Rücken und suchte nach tröstenden Worten. »Was hältst du davon, wenn wir zwei uns einen schönen Nachmittag machen? Hast du schon etwas gegessen? Wir können uns Spaghetti machen, die habe ich im Haus. Und dann können wir ein wenig arbeiten. Magst du vielleicht etwas malen, während ich an meinem Buch über die alten Ritter schreibe?« Aus Christin sprudelten nur so die Ideen heraus. Dabei wusste sie doch gar nicht, was sich ein Mädchen von sechs Jahren heutzutage wünschte.

»Ja, das wäre schön«, kam es bereits weniger leidend. »Und können wir vielleicht auch ein Eis essen gehen? Luigi hat wirklich das schönste Eis von allen.«

***

Gesagt, getan, die beiden Frauen verbrachten einen wunderschönen Nachmittag. Selbst zum Eisessen blieb noch Zeit, nachdem sie erfolglos festgestellt hatten, dass Jutta oder ihr „missratener“ Sohn noch immer aushäusig waren.

Luigi war nicht nur der beste Eismann weit und breit, fürchtete Christin bereits jetzt um ihre Figur. Nein, er war auch ein sehr aufmerksamer Mann, der Mama und Figliola umgarnte und verwöhnte. Diese Aufmerksamkeit, die Art, wie sie wie Mutter und Tochter behandelt wurden, tat ihr so unsagbar gut. Christin schwor sich, dieses schöne Gefühl nicht einmal ihrem Tagebuch anzuvertrauen. Erst das Brummen ihres Smartphons zerstörte ihre kleine Flucht vor dem Alltag. »Thorstraten.«

»Hallo, Frau Thorstraten. Entschuldigen Sie, wenn ich ungelegen anrufe. Hier ist Jutta Kellermann. Ich bin ein wenig verwirrt. Sie haben mir ihre Visitenkarte unter die Tür geschoben. Ist Hannah bei Ihnen?« Die Stimme der Frau klang, als stünde sie gerade sämtliche Tode aus.

»Ja, Hannah geht es gut. Wir sind gerade bei Luigi und essen ein Eis. Ich denke, sie hat sich daheim ausgeschlossen.«

»Ja, ich habe ihren Schlüssel hier auf der Kommode gefunden und mir Sorgen gemacht.«

»Das müssen sie nun nicht mehr.« Christin winkte dem aufmerksamen Kellner zu. »Hannah hat gleich ihre zweite Portion auf. Dann kommen wir ohne Umwege zu Ihnen. Ist das in Ordnung?«

»Ja natürlich! Und Frau Thorstraten … Haben Sie vielen Dank, dass Sie für Hannah da waren.«

»Dafür nicht, vielleicht können wir ja nachher noch ein wenig miteinander reden.«

»Ja, das wäre schön. Ich setze uns einen Kaffee auf und Kuchen werde ich …«

»Kaffee ist gut, aber bitte nichts mehr mit Kalorien«, unterbrach Christin sie mit einem stöhnenden Lachen.

»War das Jutta? Ist sie wieder zu Hause?«

»Ja, mein Spatz.« Sie nahm von Luigi die Rechnung entgegen und bedankte sich mit einem Lächeln sowie einem großzügigen Trinkgeld.

»Signora, kommen Sie und Ihre Tochter gern wieder zu mir. Ich werde immer einen Tisch für Sie reserviert haben. Fragen Sie nur nach Luigi.«

»Grazie di cuore mio piccolo passerotto e tornerò con immenso piacere.« Christin strich ihm mit einem schmelzenden Lächeln, das den charmanten Mann bis in seine Träume begleiten würde, über den Handrücken und auch Hannah bedankte sich mit einem strahlenden Hofknicks.

»Du?« Hannah ergriff die Hand ihrer großen Freundin, sobald sie die Eisdiele verlassen hatten. »Der hat wirklich geglaubt, dass du meine Mama bist. Ist das nicht toll!«

Christin klopfte das Herz bis zum Hals hinauf, als sie mit völlig zittriger Stimme entgegnete: »Das lass lieber Jutta nicht hören. Das würde sie sicher traurig machen.«

»Wieso? Jutta ist doch nur meine Oooomama.« Hannah ließ ihre Hand fahren und rannte Balu hinterher, der nach dem langen Liegen seine lustigen fünf Minuten bekam.

Je näher sie der Burgwallgasse kamen, umso nervöser wurde Christin. Ihr war schmerzhaft in Erinnerung geblieben, wie skeptisch diese Jutta sie letztens gemustert hatte. Und nun sollte sie sie näher kennenlernen.

»Was ist mit dir, Tini?«

»Spatz, du sollst mich nicht immer Tini nennen.« Wie sensibel war die Kleine nur. »Außerdem spüre ich, dass ich zu viel Eis gegessen habe.«

»Macht nix, das löscht Jutta schnell mit Kaffee.« Hannah polterte die Treppe hinauf und klingelte Sturm.

Die Tür wurde ihnen umgehend geöffnet. Die Frau, die vor Tagen noch so herablassend auf sie gewirkt hatte, begrüßte sie sichtlich erleichtert. »Hallo, da sehen aber zwei ziemlich zufrieden aus.«

»Sind wir auch.« Hannah hüpfte glücklich an ihrer Großmutter vorbei ins Haus. Während man es von innen her »Kekse« jubeln hörte, standen sich die beiden Frauen anfänglich verlegen gegenüber.

Es war Jutta, die das Eis brach und die Hand ausstreckte. »Frau Thorstraten, haben Sie nochmals vielen Dank, dass sie für Hannah da gewesen sind.«

»Das habe ich gern getan. Es galt, ein Malheur zu vermeiden. Und wo Hannah schon mal bei mir war und ich nichts Wichtiges vorhatte, haben wir uns einen Mädelstag gegönnt.«

Christin wurde von Hannahs Großmutter in eine geschmackvoll eingerichtete Küche geführt. »Oh, ist das schön hier«, entwich ihr ein begeisterter Ausruf, als sie mit einem Blick sah, was hier an exklusiver Technik und Ausstattung auf kleinem Raum eingebaut war. Wie billig kam ihr da ihre eigene Küche vor.

»Ja, diese Küche ist mein Traum«, gestand Jutta Kellermann voller Stolz. »Ich brauchte mir nur wünschen, was ich wollte, und Tobias hat alles geplant und eingerichtet.«

Ein Kribbeln raste Christin über den Rücken, als die Ältere den Namen des wohl einzigen Mannes in diesem Haus nannte. »Ich hoffe, diese Kunst hat er sich zum Beruf gemacht.« Wieder dieses verräterische Zittern in der Stimme, das sie selbst so gar nicht akzeptieren wollte.

»Kennen Sie sich nicht bereits?«, tat Jutta überrascht, vermied es aber wohlweislich, mit der Tür ins Haus zu fallen. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Hannah kehrte zu ihnen zurück. Geschäftig hielt sie Balus Wassernapf unter den Spülhahn. »Wartet ihr auf mich, bis ich Balu gefüttert habe? Haben wir auch Cola?«

»Balu hat heute schon etwas bekommen. Er soll nicht zu viel essen.«

»Meinst du nicht, dass zwei Portionen Eis und nun auch noch Cola zu viel für dich sind?«

»Och Mann, ihr klingt immer so erwachsen«, stöhnte die Gemaßregelte wie eine Alte und trug die Schale zu Balus Platz in den Flur.

Die Erwachsenen rollten mit den Augen und hielten sich beide die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen.

»Wenn wir nicht aufpassen, übernimmt der Krümel spätestens in einem Jahr das Regiment«, stöhnte Jutta und schenkte ihrem Gast eine Tasse herrlich duftenden Kaffees ein.

»Ja, sie redet auch gern nur von Jutta und Tobias«, brachte Christin an und überlegte für einen Moment, ob sie nicht fragen sollte, ob solch eine Parität in Sachen Erziehung ratsam war.

»Ja, so ist Hannah nun mal.« Es klang trauriger, als es eigentlich hätte klingen dürfen. »Menschen, zu denen sie vollstes Vertrauen hat, nennt sie eben nur beim Vornamen. In Hannah steckt viel zu oft eine reife Frau, die mit uns auf Augenhöhe sprechen will. Gerade Sie scheint sie wohl sehr zu mögen. Sagen Sie Bescheid, wenn es Ihnen zu viel wird. Aber wo wir schon einmal dabei sind, ich heiße Jutta.«

»Christin.« Über ihr Gesicht huschte ein Schatten, der sich in einem trotzigen »Oder besser gesagt, die Stadttorhexe« manifestierte.

Jutta winkte ab und schickte ein verstehendes Seufzen hinterher. »Ärgere dich nur nicht über das blöde Volk hier.«

»Die tun so, als hätte ich sonst etwas verbrochen. Als würde ich es darauf anlegen, ihnen ihre Männer ausspannen. Und die Herren hier …« Christin verbiss sich den Rest.

»Sie sind so. Hier reicht es schon aus, wenn ein Mann bei einer alleinstehenden Frau an der Tür klingelt. Selbst wenn es der Postbote ist. Wir können ein Lied davon singen, was es heißt, Aussätzige zu sein.« Es klang abgeklärt und doch schwang ein Hauch von Bitterkeit in Juttas Stimme mit. »Trage deinen Titel Stadttorhexe erhobenen Hauptes. Das zeichnet dich als eine besondere und einmalige Person aus.«

»Wenn du das so sagst, klingt es wirklich wie eine Auszeichnung.«

»Das ist es auch.«

»Nur sieht das dein Sohn wohl nicht so.« Christin sprach die bedauernden Worte mehr zu sich, als dass es an Juttas Ohren gelangen sollte.

»Du meinst Tobi?« Nun war es an Jutta, ungläubig dreinzuschauen. »Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, dem Gerüchte verhasster sind als ihm.«

Hannah unterbrach mit ihrem Auftritt die für Jutta wirklich interessante Wendung des Gesprächs. Doch das, was sie aus dem Seufzen der jungen Frau herausgehört zu haben glaubte, gab ihrer heimlichen Hoffnung neuen Auftrieb. Nicht nur Tobias hatte „verliebte Aussetzer“. Mit einem Male bekamen seine vehement vorgetragenen Wutausbrüche über eine gewisse „Dame“ oder den „Drachen“ einen völlig neuen Sinn. Doch sie würde den Teufel tun und noch einmal in ihrem Leben die Kupplerin spielen. Dass Tobias nicht ihr Sohn und Hannah nicht ihre Tochter war, würde diese kluge Frau bald von ganz allein herausfinden.


Kapitel 7

Christin freute sich auf ihren gemeinsamen „Feierabend“. Der Moment, wenn sie auf dem Heimweg vom Archiv bei ihren neuen Freundinnen vorbeischaute. Das ging zwar erst seit drei Tagen so und doch hatten die beiden Frauen, unabhängig voneinander, den Eindruck, als würden sie sich seit Jahren kennen.

Mittlerweile hatten sich auch die Herder’schen Familienverhältnisse geklärt. Jutta war Hannahs Großmutter und Tobias war leider Gottes doch Hannahs Vater. Noch immer konnte Christin nicht fassen, dass die Kleine solch ein patentes Mädchen war. Bei diesem … diesem rüpelhaften Chaoten. Nur der Verbleib von Hannahs Mutter – Sina, so weit wusste sie den Namen – war offensichtlich ein Tabu. Sobald sie zaghaft versuchte, das Gespräch darauf zu bringen, blockten Jutta und selbst Hannah instinktiv ab. Dabei hatte diese Frau im Grunde ihres Herzens ihr vollstes Verständnis. Wer hielt es auf Dauer mit solch einem Mann aus. Vergiss es, versuchte sie sich immer wieder einzureden. So lange Hannahs Vater ihr nicht bei den nachmittäglichen Besuchen über den Weg lief, war alles in bester Ordnung.

Frohen Mutes klingelte sie an der Tür, die sofort aufgerissen wurde. Sie konnte gerade noch ihren Wirbelwind auffangen, als dieser sich ihr in die Arme warf.

***

»Och bitte, kannst du nicht mal das Wochenende mit uns zusammen verbringen?«

Hannahs bettelnder Blick nagte an ihrer Selbstbeherrschung. Etwas, was Christin selbst unter Folter nicht zugegeben hätte. Dabei hätte sie ihr so gern den Wunsch erfüllt. Sie war wirklich interessiert, diesen „anderen“ Tobias kennenzulernen, von dem Jutta und Hannah in den letzten Tagen immer wieder „unauffällig“ schwärmten. Sie hätte dem längst einen Riegel vorschieben müssen. Wenn … ja wenn da nur nicht seine grünen, liebevollen Augen wären, die sie noch immer bis in ihre Träume hinein verfolgten. Nicht zu vergessen sein lausbübisches Lächeln. Wäre sie nur einmal sich selbst gegenüber ehrlich gewesen, hätte sie sich eingestehen müssen, dass sie die letzten Tage über immer darauf gehofft hatte, ihn ganz zufällig anzutreffen. Diesen anderen Tobias …

»Hallo, Erde ruft Christin!« Hannah rüttelte sachte am Arm ihrer Freundin. »Wir können doch alle gemeinsam einen Ausflug machen.«

Sie und ihre Tagträumereien! Christin spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Jutta sah sie freundlich, aber mit wissendem Blick an. Verdammt, diese Frau war so feinfühlig, dass sie sich in ihrer Nähe immer wie die ertappte Klosterschülerin vorkam.

Der Zufall wollte es, dass Christin zwar von einer Antwort erlöste wurde, zugleich aber in die nächste Situation stolperte. Beziehungsweise stolperte diese knurrend und fluchend in die Küche hinein.

Hannah sprang auf, um ihren Paps zu begrüßen, und stockte plötzlich erschrocken. »Papa, wie siehst du denn aus?«

»Tobi, mein Gott!« Auch Jutta fuhr der Schrecken in die Glieder.

»Alles halb so schlimm.« Die schmerzunterdrückende Stimme strafte seine Worte Lüge. Einzig die überraschende Anwesenheit der Fremden schien ihm die Kraft zu geben, die Zähne zusammenzubeißen. »War nur ein morscher Balken und ’ne Bütt voll Kalk.«

Jutta nötigte ihn, sich zu setzen, befahl ihm, dort zu bleiben, und huschte mit der Enkelin hinaus, um den Verbandkasten zu holen.

Plötzlich saßen sie sich allein gegenüber. Ihre beiderseitige Unsicherheit über die befremdliche Situation stand im Raum.

»Hallo Fuchur. Verflogen?«

Er betastete seine Platzwunde an der Stirn und verteilte das gerade eben geronnene Blut erneut. In Kombination mit den Kalkspuren sah er in der Tat aus wie ein frisch geschlüpfter Zombie. Der Vergleich gab Christin endlich die Kraft, ihren eigenen Schrecken zu kompensieren. »Wie mir scheint, haben Sie diesmal von ganz allein eine glatte Bilderbuchlandung hingelegt?«

Er musste lachen, auch wenn es ihm höllische Schmerzen bereitete. »Wie habe ich mich die letzten Tage nach Ihrer Kodderschnauze gesehnt.« Ihr besorgter Blick war ihm Balsam auf der Seele.

Jutta und Hannah kehrten wie aufgescheuchte Vögel in die Küche zurück. Christin erhob sich und nahm die Befehlsgewalt an sich, ehe die zwei dem armen Kerl noch den Rest gaben. »Jutta, heißes Wasser und du Hannah, sieh zu, dass Papas Schuhe nach draußen kommen. Der saut sonst alles voll. Ach, und Handtücher kannst du auch besorgen.«

»Ich sag ja …«

»Zuckerschnute halten, Trümmervogel.« Christin begann seine Blessuren zu untersuchen, nahm von Jutta die Schüssel mit dem heißen Wasser entgegen und fing an, die Wunden ruhig und sicher zu versorgen. »Sie können sich wirklich freuen, dass ich nur Drache und nicht Vampir bin. Der würde bei Ihrem Anblick augenblicklich in einen Blutrausch verfallen.«

Tobias sog scharf die Luft in die Lungen, als das Jod an seine Wunden gelangte. Dennoch konterte er mit lausbübischem Grinsen. »Was nicht ist, kann ja noch werden.«

Ihre Hände sanken für einen Moment herab. »Wie soll ich das nun verstehen?«

Er stand gefühlt machtlos neben sich, als dieser Höllenhund dort auf dem Küchenstuhl trocken entgegnete: »Dann könnte ich mit mehrfachen nächtlichen Besuchen rechnen.«

»Spinner!« Herr im Himmel, verfluchte Christin sich. Wie schaffte sie es nur, diesem kurzen Wort solch vibrierenden Unterton mitzugeben?

»Aber der Gedanke wäre reizvoll.«

»Dann bleibe ich lieber Ihr Drachen«, setzte sie burschikos hinterher und tat, als schaue sie auf ihre Uhr. »Der jetzt seine Schwingen entfaltet und davonzischt.« Christin flüchtete sich förmlich zur Tür. »Den Rest schafft Jutta auch allein.«

»Frau Thorstraten!« Tobias missachtete den Protest seines Körpers und quälte sich in die Senkrechte. »Ich würde mich gern für Ihre Hilfe … Ich meine, der Italiener ist wirklich eine Wucht.«

»Wie ich Ihnen bereits sagte, Herr Herder. Ich nehme grundsätzlich keine Einladung von einem Mann an. Zudem bekomme ich heute Abend Besuch. Sie haben mich mit Ihren kleinen Wehwehchen lange genug aufgehalten.«

Seine Reaktion tat ihr in der Seele weh. Fast schien es so, als würde ihm ihre erneute Zurückweisung mehr Schmerzen bereiten als der Rest seiner Blessuren. Lieber jetzt, als wenn er begann, sich Chancen bei ihr auszurechnen, rief Christin sich zur Ordnung. Sie wandte sich den Frauen zu, die der Auseinandersetzung atemlos gefolgt waren. »Danke für den netten Nachmittag. Es war schön bei euch. Aber nun muss ich wirklich zusehen.«

»Ich bringe Sie noch zur Tür.« Tobias bedeutete ihr voranzugehen, warf seiner Familie einen Blick über die Schulter zu und schloss die Tür hinter sich.

»Nein, Hannah. Du gehst den beiden nun nicht hinterher.« Jutta hielt ihre Enkelin zurück. Hatte sie doch den unendlich enttäuschten Ausdruck im Gesicht ihres Schwiegersohnes wahrgenommen. Auch wenn sie mutmaßte, dass Christin nur mit ihm spielen, ihn herausfordern wollte, waren ihre letzten Sätze eindeutig fehl am Platze.

Christin spürte, wie er sich hinter ihr mehr über den Flur schleppte, als dass er ging. Sie ahnte, was kam, was unweigerlich kommen musste. Wie sagt man einem verliebten Mann, dass er sich keine Hoffnungen machen durfte? Wo ihr Kopfkino doch weiß Gott andere Szenen in Dauerschleife abspielte. Er würde sie an ihrer Schulter berühren, sie zu sich herumdrehen und selbstbewusst an sich reißen. Dieser Kuss würde alles besiegeln. Sie würde in seinen Armen liegen und alles um sich herum vergessen. Das musste nun aber endlich geschehen! Ihre Hand lag doch längst auf der Türklinke.

»Frau Thorstraten.«

Ein frischer Luftzug wirbelte durch die offene Tür zu ihnen in den Flur hinein, spielte mit dem Saum ihres edlen Rockes, sodass dieser herausfordernd an seine Beine klopfte. Ihr wurde schwindelig bei dem Gedanken, was jetzt unweigerlich geschehen würde. Sollten diese grässlichen Nachbarn ruhig sehen, in wessen Armen sie lag. Sie sah ihn voller Erwartung an.

»Bitte nehmen Sie es mir nicht übel. Aber ich finde, Sie sollten sich mit meiner Familie nicht zu sehr verbrüdern.« Tobias biss die Zähne zusammen. »Ich meine, Ihr ganzes Wesen … Sie passen einfach nicht in unsere Welt hinein.«

In ihren Blicken loderte ein Feuer, das vom Mittelpunkt der Erde kam. Und doch dauerte ihr Schweigen länger als die Erkenntnis über das, was er eben von sich gegeben hatte.

»Sie haben recht, Herr Herder. Danke, dass Sie mich daran erinnern. Es wäre die größte Schande für eine Frau wie mich, in den Verdacht zu geraten, ich könnte mich mit einem Versager wie Ihnen abgeben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einen erotischen Abend.«

Würdevoll schwang sie herum und ging hocherhobenen Hauptes die Burgwallgasse hinab. Dabei hätte sie vor Wut und Ärger schreien können. Über seine beschissene Arroganz und ihre hirnverbrannte Blauäugigkeit – zu gleichen Teilen!!!

»Weißt du Idiot eigentlich, was du da eben vom Stapel gelassen hast?« Tobias sah sich um. Doch außer dem alten Wandspiegel, aus dem ihm ein zerschlagener, völlig verstörter Mann ansah, war niemand in der Nähe. »Ja«, fauchte er trotzig.

Der Balken musste mehr in ihm kaputt gemacht haben. Christin war zumindest der festen Überzeugung. Christin, Christin, Christin! Warum nur hatte er sie so abgefertigt? Gerade als sie ihn so zuvorkommend wie nie zuvor behandelt hatte. War es denn nur seine Angst davor, sich noch einmal zu verlieben? Seine Angst, ein weiteres Mal enttäuscht zu werden und die gleichen schmerzhaften Erfahrungen zu machen. War es Eifersucht? War er etwa eifersüchtig, dass sie sich blendend mit Hannah verstand? Was an sich schon bemerkenswert war. Ärgerte er sich darüber, dass Jutta und sie sich längst duzten, für ihn aber nur Spott und Hohn übrig blieb. Egal was es war. Nach seiner unverblümten Abfuhr hätte er bei Christin Thorstraten bis in die Steinzeit verschissen.

»Ist echt gut gelaufen, Alter.« Sein Spiegelbild nickte anerkennend. Wenigstens einer, der ihn verstand. »Leg dich bloß hin, ehe du bei den anderen auch noch unten durch bist.«

»Magst du mir erzählen, mit wem du dich so andächtig unterhältst?« Jutta trat in den Flur und versperrte einen ehrenvollen Rückzug.

Verschränkte Arme, energisches Klacken eines Absatzes auf dem Dielenboden. Da war jemand mächtig wütend. »Mit meinem Gewissen.«

»Oh, das ist gut. Wenn es gerade zufällig bei dir zu Besuch ist, kannst du bitte gleich mal fragen, wie es mit Christin und dir weitergehen soll? Ich meine, es geht mich ja nichts an, aber ich würde schon gern von euch selbst und nicht von den Klatschmäulern erfahren, dass ihr trotz eurer Inszenierung längst ein Paar seid.«

»Jutta! Nun komm mal wieder runter! Diese Frau ist wirklich kein Umgang für euch.« Etwas explodierte in ihm. »Ich habe dieser unmöglichen Person gesagt, dass ich sie hier nicht mehr sehen will. «

Jutta fiel der Unterkiefer herunter. »Tobias Herder, wenn ich deine leibliche Mutter wäre und Hannah nicht nebenan lauschen würde, hätte ich dir jetzt nach Strich und Faden den Hintern versohlt. Nein! Jetzt rede ich«, unterbrach sie den leisesten Ansatz von Widerrede. »Ich bin alt genug, mir meine Freundinnen selbst auszusuchen. Statt uns irre Vorschriften zu machen und dein eigenes Glück zu verspielen, sollte dir bewusst werden, wie sehr Hannah in Christins Nähe aufblüht und ein völlig anderes Kind geworden ist. Was ist nur in dich gefahren? Ich sehe dir doch an, wie sehr du dich in sie verliebt hast.«

Tobias ließ ihre heftige Schelte über sich ergehen. Als ihr die Luft zum Schimpfen ausging, nahm er sie in die Arme. »Du hast recht Mama. Ja, ich habe mich in sie verliebt.« Er schloss die Augen und presste diese Eiseskälte aus sich hinaus. »Aber ich habe eine Verantwortung meiner Familie gegenüber. Diese Frau würde nicht nur mich verbrennen.«

»Junge, was redest du nur für einen Blödsinn zusammen! Wie willst du das wissen? Christin ist nicht Sina.«

Er löste sich von ihr und schleppte sich die Treppe hinauf. »Ich weiß es einfach. Und nun möchte ich nicht mehr gestört werden.«

***

Mit gemischten Gefühlen blickte Tobias aus dem Fenster. Noch erlaubten die neu aufgestellten Spaliergitter einen Blick auf den Balkon, den man an das alte Torschreiberhaus angepfropft hatte, um ihm etwas mehr Flair zu verleihen. Nach ihrem Einzug hatte sich diese „Bausünde“ zu einem wirklich schönen Farbtupfer zwischen Hinterhofbebauung und Stadtmauer gemausert.

Es schien, als wolle ihm das Schicksal einen Wink geben, als die Frau im roten Kleid auf eben diesen Balkon hinaustrat. Sie trug ihr Haar hochgesteckt; so weit konnte er es erkennen. »Christin«, kam ihm ihr Name leise über die Lippen. Er spürte, dass sie es war. Gott, was hatte er nur mit seinen Worten zerstört!

Ob sie spürte, dass er hier am Fenster stand? Oder waren ihr die Blumen einfach wichtiger? Es sah aus, als wolle sie jede von ihnen einzeln zu Bett bringen. Tobias musste schmunzeln. Aber es stimmte. Kann ein Mensch, der sich so liebevoll um Blumen kümmert, so hart und gefühlskalt sein? Oder war ihre Unnahbarkeit nur eine Rolle, die sie spielte? Eine Rolle, die auch er sich einmal auferlegt hatte. Bloß keinen Menschen zu nah an sich heranlassen. Nur um nicht ein weiteres Mal bis in die Grundfesten der Seele zerstört zu werden. Was verbarg diese Frau? Tobias’ Gedanken zerfaserten, blieben an ihren zarten Händen hängen. So weit weg und doch spürte er sie noch immer auf seiner Stirn.

Mit einem Seufzen wandte er sich ab. Eines war sicher. Er löste das Rätsel nicht, indem er hier stehen blieb und sie von Weitem anhimmelte. Er musste sich entschuldigen, musste ihr gestehen, dass ihn ihre lammfromme Art von vorhin völlig aus dem Konzept gebracht hatte. So sehr, dass er sich nur noch mit Verachtung wehren konnte. Nein, verwarf er die aufbrandenden Ausflüchte. Er würde jetzt zu ihr rübergehen, klingeln und sagen, dass er eifersüchtig war und sich ausgeschlossen gefühlt hatte. Ehrlichkeit kam an. Sie würde ihn lachend in die Arme schließen und sagen: »Endlich, mein Geliebter. Endlich kommst du zu mir. Wo ich doch so lange auf dich warte.«

»Das mag ja alles gerade so sein«, stimmte ihm sein Unterbewusstsein verständnisvoll zu und schickte die Bilder, die es soeben von den Augen empfing, in Richtung Verstand. »Nur dass du wieder mal nicht der männliche Part bist«, brachte es die Logik auf den Punkt.

Die Frau in Rot war nicht mehr allein. Ihr Besucher schien sich keineswegs fremd zu fühlen; er strotzte gar vor Selbstsicherheit. Mit zwei Sektgläsern in der Hand bewegte er sich lässig in ihre Richtung. Sie nahm eines entgegen und schlang ihm ihren freien Arm um den Hals; suchte seine Nähe, bis sie sich lachend wieder von ihm löste. Sie nahm einen großen Schluck und stellte seines und ihr Glas auf einen kleinen Tisch ab. Der Mann folgte ihr und zog sie besitzergreifend in die Arme. Eine Szene, wie sie inniger nicht sein konnte. Nach langer Trennung endlich vereint, so ausgehungert empfingen die beiden ihre gegenseitigen Zärtlichkeiten …

»Ach, hier bist du.«

Erschrocken fuhr Tobias herum. Der aufbrandende Schmerz in seiner linken Körperhälfte katapultierte ihn in die Realität zurück. Kalt, aber wenigstens ertragbar.

»Störe ich?« Jutta blieb an der Tür stehen.

Warum sagte ihm ihr Blick, ihre ganze Haltung, dass sie ihn von vornherein durchschaute? Sie konnte doch nicht wissen, was für ihn plötzlich traurige Gewissheit war. »Was denn?«

»Ich fragte dich, ob ich dich störe. Und danach, ob du noch etwas benötigst.«

»Nein.« Er biss die Zähne zusammen und versuchte sich zu konzentrieren. »Oder doch. Haben wir noch ein paar von diesen Schmerztabletten?«

»Ich habe dir vorhin einen ganzen Streifen gegeben. Nur sechs am Tag«, fügte sie streng hinzu.

»Sind alle.«

»Dann solltest du besser ins Krankenhaus fahren.«

»Keine Zeit, wichtige Termine.«

Sie winkte genervt ab. »Wenn du sonst weiter keine Probleme hast, dann gute Nacht.«

»Ja … gute Nacht«, sprach er gegen die längst geschlossene Tür. Er wollte es nicht, wollte lieber diese Tür anschauen, als dass er dem Wunsch nachgab, erneut hinauszuschauen.

Die Akteure hatten ihre Bühne verlassen. Einzig ein sich bewegender roter Fleck kroch vom Wind bewegt über die Terrakottafliesen in Richtung Spalier. Die Stadttorhexe litt nicht an Einsamkeit, verbuchte seine Logik gehässig und lehnte sich zufrieden zurück. »Alter, da haben wir echt Glück gehabt, dass wir zwei das vorher bemerkt haben. Stell dir mal vor, dein romantisches Herz hätte bereits auf Empfang geschaltet.«

***

»Christin, Liebling.« Nils-Ole Händler verbog sich, um an das Glas Champagner zu gelangen, das er vorhin gerade noch auf dem Nachttisch hatte abstellen können. Bevor sie wie eine Bestie über ihn hergefallen war. Überhaupt kam ihm seine Geliebte heute wie ausgehungert vor, und erfüllt von einer aggressiven Erotik. »Du warst so einmalig gut.« Die Erinnerung an das eben Erlebte ließ seinen Körper ein weiteres Mal unkontrolliert erbeben.

»Ja, wirklich?« Das fragwürdige Lob des Mannes dümpelte an Christin vorbei. Der Rausch der Leidenschaft war längst in ihr verklungen. Statt einer natürlichen Ermattung hatten sich erneut die Erinnerungen an das Zusammentreffen mit Tobias Herder in ihrem Kopf breitgemacht. Sie versuchte sie zu verdrängen, sich mühsam auf den Herzschlag des Mannes in ihrem Bett zu konzentrieren. Ihr verschleierter Blick folgte ihren rot lackierten Nägeln, wie sie sich ihren Weg durch seine füllige Brustbehaarung suchten. Nils-Ole hatte alles, was man sich als Frau nur wünschen konnte. Und doch war alles so vorhersehbar. Je länger sie mit ihm liiert war, umso unpersönlicher wurde es. Dabei lag es nicht einmal an ihm. Auf seine Art vergötterte er sie sogar. Sie war es, die nicht mehr funktionierte. Sie fing an, Gefühle zu entwickeln, und Nils war nicht wirklich ihr Empfänger.

»Was ist mit dir, Schatz? Du wirkst ein wenig neben der Spur.«

Protest bäumte sich in ihr auf. »Drei Höhepunkte!« Von denen eineinhalb hervorragend gespielt waren, ergänzte sie für sich. »Das nennst du neben der Spur?«

»Nein, darin warst du wie immer eine Wucht. Aber ich spüre, dass dich etwas beschäftigt. Dass du Sorgen hast.« Händler stürzte den Rest des Glases in sich hinein und ließ es achtlos neben das Bett fallen. »Nicht erst seit heute, meine ich.«

Was wäre, wenn ich ihm mein Herz ausschütte, fragte sie sich und verwarf den Gedanken sogleich. Die Erinnerung an seine Eifersucht beim Empfang war ihr eine Lehre. »Vielleicht habe ich Angst, dass deine Frau etwas bemerkt. Ich befürchte, die Leute machen sich bald ihre Gedanken, weil wir uns zu häufig „zufällig“ treffen.«

»Du bist ein kleines Dummerchen.« Er lachte und machte eine wegwerfende Geste, die ihr in den ohnehin verspannten Nacken jagte. »Meine Alte kann mich kreuzweise. Bestimmt hat sie längst ihren eigenen Liebhaber. Und was das Gerede über dich angeht: Die Leute neiden dir alles. Das liegt in ihrer einfältigen Natur. Du bist hübsch und ledig. Du bist weltgewandt und selbstsicher. Vor allem beachtest du diese Kriecher nicht. In vier Wochen, vertraue mir, gucken die dich nicht einmal mehr mit dem Allerwertesten an.« Sein Lachen vertiefte sich. »Und was die Männer dieser Stadt betrifft. Der größte Teil dieser Versager hat längst begriffen, dass du eine streitbare Emanze oder gar eine Kampf-Lesbe bist.«

Christin spürte, wie er sich halb über sie schob und sein Bein hart zwischen die ihren zwängte. Sie hatte wenig Lust auf eine neuerliche „Runde“. Doch sie wusste auch, wie er drauf war, wenn er in dieser Verfassung nicht zu seinem Recht kam. Er war der Beste, der Herr, der Größte. Das Alphatier, das er wirklich war und auch auslebte. Sie öffnete sich ihm und seinem unnachgiebigen Drängen. Hart verdientes Geld.

»Diese Geschichten, die man sich über dich und diesen Kerl erzählt. Wie heißt der doch noch?«

Seine wie beiläufig gestellte Frage riss sie aus ihrer Fantasiewelt hinaus, in die sie sich zumeist flüchtete, wenn sich ein Mann bei ihr sein vermeintliches „Recht“ nahm. Sämtliche Alarmglocken schlugen an. »Du meinst diesen Herder?«

»Ja, so heißt der wohl. Läuft da etwas zwischen euch?«

Er klang gefährlich belanglos. Die Erinnerung an den Abend im historischen Rathaus war ihr eine Lehre geblieben. Es geschah nichts, von dem Nils-Ole nicht wusste. Sei vorsichtig mit dem, was du sagst, die Stimme in ihr flüsterte nicht, sie schrie.

»Ich bitte dich, Nils. Was soll ich an solch einem Idioten finden.« Das Adrenalin in ihr explodierte und schleuderte ihren Geliebten neben sich auf das Laken. »Dieser Typ ist einfach nur unter aller Kanone!« Christin musste sich nicht extra darum bemühen, aufgebracht zu klingen. Die herablassende Art, mit der Herder sie aus dem Haus gejagt hatte, reichte vollauf. »Den kannst du mir nackt vor dem Bauch binden; da passiert nichts.« Ein wenig Ehrlichkeit konnte nicht schaden. »Aber seine Tochter, die ist schon ein aufgewecktes, liebes Mädchen und mit Jutta, ihrer Großmutter, kann man ein paar nette Worte wechseln.«

»Jutta? Du meinst Jutta Kellermann?«

Ihr Name schien unangenehme Erinnerungen in ihm zu wecken. Verdammt, irgendetwas lief da, von dem sie nicht wusste. Nur eines war gewiss, sie musste Nils unbedingt auf andere Gedanken bringen. Sie mochte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn er sich auf die drei einschoss. Nur weil er Angst um sein Eigentum hatte. »Wolltest du mir nicht noch eben irgendwelche Gipfel zeigen?«

Er tat ihr nicht den Gefallen. »Dieser Herder und du, das gefällt mir überhaupt nicht.«

»Nils-Ole Händler, ich werde es dir jetzt nur einmal sagen.« Energisch erhob sie sich vom Bett und sah mit funkelnden Blicken auf ihn hinab. »Tobias Herder ist hochnäsig, beleidigend und frauenfeindlich. Und ja, er macht mir mein Leben derzeit zur Hölle. Er ist ein kleiner Junge, der es dringend nötig hat, dass ihm jemand den nötigen Respekt beibringt. Wenn ich dieser jemand bin, dann soll es so sein! Er weiß es noch nicht, aber bei mir wird er lernen, was Demut heißt. Nein, Nils«, kam sie seinem Einwand zuvor, »das ist allein mein Ding. Sollte ich wirklich nicht mit ihm fertig werden, weiß ich, dass du mir hilfst. Aber erst dann! Und damit zu dir, mein Lieber. Wir sind weder ein Ehepaar, noch bin ich dein Eigentum. Wir haben ein Geschäft am Laufen. Ich sage es, damit du dich ab und an daran erinnerst und dich nicht wie ein Pascha aufführst. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Du musst ihn anders beschäftigen, jetzt sofort!, hörte sie erneut die drängende Stimme in sich. Wie von Zauberhand saß sie auf ihm und deponierte seine Hände auf ihrem Körper. Bringe ihn endlich auf andere Gedanken!

»Klar und deutlich, kleine Gewitterziege.« Er lachte, nur nicht wirklich überzeugt.

Ihr heftiges Zusammenzucken führte er hoffentlich darauf zurück, dass es die Lust war, die er mit seinem harten Freudenspender bei ihr auslöste.

Hätte Christin zu diesem Zeitpunkt geahnt, wie Nils-Ole Händler wirklich dachte, fühlte und plante, wären ihre Befürchtungen längst in Angst umgeschlagen.

***

Heute war ein Tag, den ich am liebsten aus dem Kalender streichen möchte. Es gab ein ständiges Auf und Ab der Gefühle. Auch wenn ich im Nachhinein weiß, dass ich es ganz gut gemeistert habe, so hat es mir gezeigt, wie sehr einem die eigenen Gefühle ein Bein stellen können. Selbst wenn man glaubt, man besäße einen meterdicken Panzer aus Stein. Ich habe den Fehler gemacht und Hannah in mein Herz gelassen. Ach, was schreibe ich da. Das ist die Christin, die ich jedem weismachen will. Hannah ist kein Fehler! Aber sie weckt etwas in mir, das ich nie wieder erleben wollte. Und sie kommt nicht allein in mein sonst so strukturiertes Leben. Wenn ich dabei auch an Jutta denke. Sie ist so lieb, so besorgt und sie behandelt mich wie einen richtigen Menschen, der auch seine Fehler haben darf. Sie ist wie eine Mutter. So wie ich sie mir immer vorgestellt, aber nie besessen habe. Und Tobias … Dieser Mann macht mich irre. Ein großes Kind! Ein Junge, der jemanden zum Balgen und Toben braucht. Das hatte ich gedacht – bis heute. Bis zu dem Moment, an dem er mir herzlos den Platz gezeigt hat, an den eine Frau, wie ich es bin, gehört. Raus auf die Straße. In diesem schmerzhaften Moment habe ich begreifen müssen, dass er mir gegenüber nur eine Rolle spielt. Dass er vom Herzen her so unbeschreiblich kalt ist. Ich war so enttäuscht, so wütend auf ihn … und bin es noch immer. Tobias ist ein Idiot und ich werde einen Weg finden, um mich zu revanchieren und ihm seine Grenzen aufzuzeigen. Und doch habe ich Angst um ihn. Angst, dass Nils-Ole in seiner Eifersucht Dinge tut, die ich so nicht gutheißen kann. Habe ich mich ihm gegenüber zu sehr über Tobias beschwert? Ich hoffe nur, dass Nils-Ole bald auf andere Gedanken kommt. Überhaupt habe ich bei ihm immer mehr ein ungutes Gefühl. Er wird zu besitzergreifend und ist sich meiner zu sicher. Und er ist gefährlicher, als ich jemals zuvor gedacht habe. Ist es das ganze Geld wert, das er mir zukommen lässt? Kann es sein, dass ich längst meine Seele verkauft habe und aus diesem Sumpf nicht mehr herauskomme? Ich habe Angst vor dem, was die nächsten Tage bringen werden.

Christin legte den Stift beiseite und starrte in die Flamme der Kerze. Gab es überhaupt Worte, mit denen sie das Chaos in ihr beschreiben konnte? Worte, die auch nur annähernd das widerspiegelten, was sie fühlte.


Kapitel 8

Liebes Tagebuch. Ja, ich gestehe, ich habe dich in den letzten Tagen wenig beachtet. Warum soll ich all die ungelösten Fragen, die mich quälen, auch noch hier zu Papier bringen, wo ich sie im Traum längst herunterbeten kann?

Was ist geschehen? Natürlich habe ich mich über Tobias’ Verbot hinweggesetzt und Hannah, Jutta und Balu fast jeden Tag besucht. Allein um das Schicksal herauszufordern. Nur um mit ihm richtig aneinanderzugeraten. Dabei scheint es fast so, als würde er mir bewusst aus dem Wege gehen und stillschweigend meine Freundschaft zu seiner Familie akzeptieren. Ja, ich bin immer noch unendlich wütend auf ihn. Und doch muss ich mir eingestehen, dass ich immer öfter an ihn denke. Selbst wenn Nils-Ole bei mir ist und sich auf mir austobt. Tobias nimmt immer mehr Platz in meinen Gedanken ein. Manchmal kotzt es mich richtig an. Leider ist es so, dass ich es so drastisch ausdrücken muss. Letztens wäre mir beinahe sein Name herausgerutscht, als ich einen leibhaftigen Höhepunkt bekam. Nein, ich darf ihn nicht mehr an mich heranlassen. Nicht einmal mehr an ihn denken.

Christin las ihren, im Grunde genommen, völlig diffusen Tagebucheintrag. Selbst ausgeschlafen brachte sie nichts mehr zustande. Sie dachte daran, die Seite herauszureißen und zu verbrennen. Aber war ein Tagebuch nicht auch dazu da, um die verqueren Gedanken niederzuschreiben? Irgendwie hatte es der Therapeut doch so ausgedrückt. Ach, was soll’s, irgendwann würde es eh den Weg all seiner Vorgänger gehen. So wie sie eben geschrieben hatte, war es nur dazu da, um sich mal richtig auszukotzen.

Sie schlug das Buch zu und versteckte es wie immer zwischen den Büchern über hessische Geschichte. Zeit, um sich mal wieder zu verwöhnen und etwas Gutes zu tun. Elf Uhr Kosmetikerin. Danach wollte sie zwei Schaufenster weiter noch einmal einen Blick auf das gute Stück werfen, das ihr seit zwei Nächten im Kopf herumspukte.

***

Der aufgeregte Anruf von Herrn Niedermeyer hatte Tobias auf der Baustelle, keine drei Straßen entfernt erreicht. Er hatte zwar versprochen, so schnell als möglich vorbeizuschauen, aber der alte Herr klang so aufgeregt, als täte sich gerade in diesem Moment ein Krater unter seinem Dessousgeschäft auf, um die halbe Wallhofstraße in den Abgrund zu reißen. Dabei war es bestimmt nur ein Setzriss in einer der neu eingezogenen Mauern. Tobias seufzte herzerweichend, aber er wollte auch nicht schuld am Herzkasper des Alten sein.

»Christian!«

»Schrei doch nicht so! Und setz vor allem deinen blöden Helm auf. Du solltest langsam deine Lehren daraus gezogen haben.« Der Maurermeister, mit dem Tobias häufig zusammenarbeitete, stand plötzlich hinter ihm und drückte ihm seinen Helm in die Hand, den er wieder irgendwo hatte liegenlassen.

»Also, was ist los?«

»Ich muss rüber in die Wallhofstraße und mir eine Reklamation anschauen. Haben wir so weit alles besprochen?«

»Eigentlich ja. Nur denk bitte daran, dass der Typ vom Landesdenkmalamt vorbeikommt und sich das freigelegte Tonnengewölbe ansehen will.«

Tobias nickte ergeben, wobei ihm der Helm erneut auf den Nasenrücken rutschte. Im nächsten Leben, schwor er sich, würde er Friseur werden oder sonst was. Nur nichts, bei dem er etwas auf dem Kopf tragen musste! »Okay, ich geh dann mal zu Opa Niedermeyer.«

Er klopfte sich den Staub aus seiner Kleidung und feuerte den Helm auf ein paar Packen Dämmmaterial. Dorthin, wo Christian ihn irgendwann finden und ihm wie ein treuer Hund hinterhertragen würde.

Um die Mittagszeit war wenig los in der Stadt. Dennoch wurde er dreimal mit irgendwelchen Gesprächen aufgehalten. Es nervte, zumal er die Sache mit Niedermeyer im Kopf hatte. Eine Christin Thorstraten hätte sich mit so was nicht abquälen müssen. Sie wurde verachtet und in Ruhe gelassen. Dachte er gerade jetzt an sie, weil er sich immer noch schuldig fühlte? So wie er sie behandelt hatte, war es wirklich kein Meisterstück gewesen. Alles nur, weil die Eifersucht an ihm nagte.

»Eh, Logik, wo bleibst du?« Diese rekelte sich verschlafen und suchte orientierungslos nach dem, was sein Mensch offenbar brauchte. Mit einem leidenden Seufzer kommentierte sie lahm. „Tobi, denk doch nur an die Frau in Rot. Die braucht keinen Stümper wie dich und ist gut versorgt.“ „Danke Logik, leg dich wieder hin.“

»Idiot!«, verfluchte er sich und seine merkwürdige Art der Selbstreflexion.

»Herr Niedermeyer, wo fallen die Wände um?« Sein theatralischer Auftritt hinterließ jedes Mal die richtige Wirkung. Der Kunde fühlte sich verstanden. In diesem Falle war es so, dass sich der Senior vom Kassentisch löste, wo ihn zwei hübsch anzuschauende Verkäuferinnen umsorgten. Dessousverkäufer werde ich, erfasste Tobias seinen neuen Traumjob. Ohne Helm!

»Herr Herder, wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Bei den Umkleidekabinen tun sich plötzlich Risse auf.«

»Ich vermute mal Setzrisse«, sagte Tobias im Tonfall des verständnisvollen Seelsorgers. »Wollen wir uns das einmal anschauen?«

Er folgte dem nervösen Senior in Richtung der Umkleidekabinen, während sein Handy zugleich Juttas Melodie anstimmte.

»Tobi, bist du heute pünktlich daheim? Es wäre schade, wenn das Essen kalt wird.«

»Hey Mom, ich hatte es so geplant«, versprach er mit halbem Ohr hörend und den Gedanken ganz woanders. Im Eiltempo flitzte er hinter dem erstaunlich agilen Alten her und segelte kurz vor dem Ziel an ihm vorbei.

Ein empörter Schrei ließ ihn zusammenfahren und wie paralysiert auf das starren, was sich seinen überraschten Blicken offenbarte.

»Natürlich! Sie schon wieder!«

Hinter sich hörte er Niedermeyers aufgelöstes Jammern, »Ohgottohgottohgott!«, dann hatten seine völlig überlasteten Synapsen endlich eine Andockstation im Gehirn gefunden. »Mein Gott, Fuchur. Hör auf Feuer zu spucken. Ich hab schon weitaus mehr Frauen mit weniger am Leib überlebt.«

»Das ist ja wohl das Letzte! Jetzt vergleichen Sie mich auch noch mit einem Ihrer Pin-up-Girls!«

Er schien in der Tat die Frechheit zu besitzen, sie daraufhin abschätzend zu mustern und zu begutachten.

»Ne, Sie sehen definitiv hübscher aus. Obwohl … Miss Februar …«

»Herder, es reicht!!!« Christin Thorstraten hatte drohend ihre Rechte erhoben. »Wo tut es Ihnen derzeit am wenigsten weh?«

Er schenkte ihr erneut sein gefürchtetes Lausbubenlächeln und deutet auf seine rechte Schulter. Heldenhaft empfing er ihren mäßig ausgeführten Boxhieb und quittierte es mit einem leisen, lang gezogenen »Auuuua«.

Christin kämpfte mutig gegen ihr Lachen an. Konnte man diesem Tölpel denn gar nicht mehr böse sein? Während sie noch mit sich und ihren im Widerstreit liegenden Gefühlen kämpfte, spürte sie plötzlich, wie sich seine Hände auf ihre Hüften legten. Dort, wo sie nur von dem sündhaft anzuschauenden und genauso teuren Body bedeckt waren. Wie schwerelos fühlte sie sich angehoben und gleich darauf ein Stück weiter neben der Trennwand abgesetzt.

»Jetzt lassen Sie mich mal an die wichtigen Dinge des Lebens«, murmelte er, ohne sie dabei anzuschauen. »Nicht dass uns noch die Hütte über dem Kopf zusammenbricht.«

Sie verfolgte, ihre aufreizende Blöße mit viel zu kleinen Händen bedeckend, wie seine Finger – die, die eben noch auf ihrem Körper geruht hatten – beinahe zärtlich über einen dünnen Haarriss im Mauerwerk glitten.

»Kein Problem, Fuchur.« Mit einem theatralischen Aufatmen sog er die Luft in seine Lungen. »Die nächsten dreihundert Jahre kannst du hier in aller Ruhe die Drachenschuppen wechseln.«

»Ich bin nicht Fuchur, verdammt!«, beschwerte sie sich und boxte ihn erneut gegen die Schulter, was er diesmal mit einem Zähneknirschen empfing.

»Nein, das sind Sie nicht.« Er richtete sich auf und blieb vor ihr stehen. Mit einem Male wirkte er sehr ernst. »Christin … das, was ich letztens zu Ihnen gesagt habe … es tut mir wirklich leid. Aber ich war da plötzlich in einer Situation … Bitte, seien Sie mir nicht bis ans Lebensende böse. Ich würde wirklich alles gern zurücknehmen.«

Ihr Herz tat einen Hüpfer. Einen kleinen zumindest, versuchte sie sich einzureden. »Ich werde darüber nachdenken. In den nächsten hundert Jahren.«

»Na, das ist doch ein guter Anfang.« Tobias schien sich langsam bewusst zu werden, wo er sich befand und mit wem er hier sprach. »Nächstes Mal klopfe ich auch an, versprochen.« Er rieb zur Bekräftigung die Knöchel am schweren Vorhangstoff und ließ diesen dann doch wieder fahren, statt sich durch ihn hindurch zu verflüchtigen.

Wie selbstverständlich berührten seine Fingerspitzen ihren Oberarm und strichen sanft über das gehäkelte Garn des sündigen Kleidungsstücks. Was ihr – verflucht noch einmal – so gar nicht unangenehm war.

»Es steht Ihnen wirklich gut. Ist wie für Sie gemacht.«

»Wenn ich jemals mitbekommen sollte, dass Sie Ihr Abenteuer hier an Ihrem Stammtisch breittreten, dann bringe ich Sie um.«

»Würden Sie mir das wirklich zutrauen?« Er lächelte weiterhin, doch in seiner Stimme schwang mit einem Male eine tiefe Traurigkeit mit. »Nein, ich werde vielleicht nachts davon träumen. Ich werde dann aufwachen und es selbst nicht glauben wollen. Zumindest werde ich versuchen, mir das einzureden.«

Als eine Entgegnung ausblieb, war es für ihn das Signal, den Rückzug anzutreten.

»Tobias.« Sie sah ihn in der Bewegung erstarren. »Wo tut es Ihnen sonst noch nicht weh?«

Er wandte sich ihr erneut zu. Äußerst verunsichert wischte er sich über die rechte Wange. »Hier geht es, glaube ich.«

Christin überwand den Abstand, der sich zwischen ihnen aufgetan hatte und drückte ihm einen impulsiven Kuss drauf. »Verschwinde bloß, du Chaot.«

Endlich tat er einmal das, was sie von ihm verlangte. Und doch dauerte es eine geraume Zeit, bis sie sich angekleidet und ihr Zittern soweit unter Kontrolle gebracht hatte, um unter die Leute zu gehen.

»Diese Teile hier hätte ich gern.« Christin räusperte sich und legte zwei sündige Tangas sowie den Häkelbody auf den Tresen. »Ich weiß nur nicht, wo ich das Preisschild vom Body gelassen habe. Ich habe wirklich alles abgesucht.«

»Das hat schon seine Richtigkeit«, sagte die junge Verkäuferin mit einem zurückhaltenden Schmunzeln und scannte den Preis der beiden Höschen ein. »Den hat Herr Herder bereits für Sie bezahlt.«

»Wie? Herr Herder? Wie kommt der dazu?« Christin spürte beinahe schmerzhaft, wie ihr eine kochende Röte ins Gesicht schoss.

»Das hat er nicht begründet. Ich soll nur ausrichten, wenn Sie fragen, dass seine Träume zumindest optisch wahr werden sollen. Mehr kann ich nicht dazu sagen«, tat sie vornehm zurückhaltend kund.

Wie benebelt wankte Christin aus dem Geschäft hinaus. Sie hatte bei der Anprobe, wie so oft, nicht auf den Preis geschaut. Aber eine sehr große „Zwei…“ hatte bestimmt darauf gestanden. Wie kam Tobias dazu, ihr ein solch sündhaft teures Geschenk zu machen? Jede Lösung, die sie darauf fand, stürzte sie nur in weitere Gewissensbisse. Oh Gott, was hatte sie nun schon wieder angerichtet?

***

»Hallo Jutta.« Christin überging den überraschten Blick der Freundin. »Ist er da?«

»Tobias? Nein, der kommt erst am späten Nachmittag.« Herr im Himmel, werden die denn nie erwachsen, ergänzte Jutta für sich und sah zweifelnd auf die Jüngere herab. Wie einen Schild hielt sie eine exklusive Niedermeyer-Tüte vor der Brust. Dabei fiel Jutta ein, dass sie auch noch einen Gutschein für dieses Geschäft besaß. Sie und in ihrem Alter Dessous! Am besten war, sie drückte ihn Christin gleich in die Hand. Die Glückliche war sogar so selbstbewusst, solch eine Tasche in aller Öffentlichkeit mit sich herumzutragen. »Magst du nicht mit hineinkommen? Ich meine, es wäre ein guter Zeitpunkt, um in Ruhe über tiefer gehende Gedanken zu sprechen.«

»Was sollte das an der jetzigen Situation ändern? Du kannst mir ruhig hier sagen, dass dein lieber Herr Tobias schizophren ist.«

»Schiz…«, setzte Jutta an und musste herzhaft auflachen, als ihr Christins Worte bewusst wurden. »Nein, dieser kleine Blödian ist alles, nur nicht schizophren! Und du kommst jetzt mit hinein und dann reden wir Tacheles miteinander. Die Nachbarn müssen ja weiß Gott nicht alles mitbekommen.« Sie packte die völlig überraschte Frau am Arm, zog sie zu sich herein und grüßte über die Straße hinweg. »Tag, Frau Hartmann. Grüßen Sie mir Ihren Vater.« Die Haustür flog ins Schloss.

Christin fühlte sich energisch in die Küche geschoben und auf ihren Platz drapiert. »Jutta, wenn du ihn mir jetzt als wundervollen Ehemann verkaufen willst, dann spare dir bitte deine Luft. Dafür habe ich ihn bereits genug kennengelernt. Nimm es mir nicht übel, aber ich kann deine Tochter wirklich verstehen, dass sie es nicht mehr bei ihm ausgehalten hat und stiften gegangen ist. Ich will nicht das gleiche Schicksal teilen. Überhaupt können mich die Männer aber so was von kreuzweise!«

»Bist du fertig?« Jutta schob ihr einen Becher frischen Kaffee zu. »Ich frage dich jetzt eines, meine Liebe. Bist du dir wirklich sicher, dass Tobias der Psychopath ist, den du in ihm sehen willst?«

»Ehrlich? Ja! Ich verstehe nur nicht, warum du noch hier bei ihm bist und warum deine Tochter Hannah nicht gleich mit sich genommen hat.«

»Du weißt es wirklich nicht?« Juttas Gesicht versteinerte. »Hat Tobias es dir nicht gesagt? Oder zumindest diese grässlichen Klatschweiber dort draußen.«

»Du weißt, dass Tobias und ich kaum ein anständiges Wort miteinander wechseln. Und dass Hannah und du, vielleicht noch Amelie Gruber die Einzigen sind, die sich dazu herablassen, mit mir zu sprechen. Ich weiß nur, dass deine Tochter irgendwann abgehauen sein muss.« Irritiert registrierte Christin, wie Jutta förmlich in sich zusammensank. Aus der sonst so resoluten Löwin schien plötzlich alle Kraft gewichen.

»Meine Sina ist nicht abgehauen. Und sie hätte auch niemals ihre geliebte Hannah zurückgelassen. Meine Tochter ist vor etwas mehr als zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« Trotzig wischte sich die um Jahre gealterte Frau eine Träne aus dem Augenwinkel. »Und auf ihre Art hat Sina auch Tobias innig geliebt.«

»Jutta … Das habe ich nicht …« Christin blieben die Worte im Halse stecken, als sie die wahre Tragweite von dem begriff, was Jutta ihr gestand. Dafür rasten ihr alle möglichen und unmöglichen Gedanken durch den Kopf. Jutta ließ die ergriffene Berührung ihrer Hand zu und doch dauerte es, ehe sie sich gefasst hatte. Zeit, die Christin für sich nutzte, um zu einem Entschluss zu kommen.

***

»Hallo, wir sind daaaa!« Tobias fühlte sich wirklich pudelwohl an diesem Nachmittag. Er hatte auf dem Heimweg Hannah und ihren Balu von einer der wenigen Freundinnen abgeholt. Nun freute er sich auf zwei ganz besondere Menschen, die sicher wieder in der Küche beisammensaßen. Wie Christin wohl auf seine erneute „Untat“ reagierte? Er bedauerte nur, dass er nicht ihr Gesicht gesehen hatte, als sie an die Kasse kam. Ja, in einer seiner wildesten Fantasien trug Christin den Body bereits auf der Haut. Sie würde ihn zur Seite ziehen und ihm fürchterlich die Hölle heißmachen. Was ihm einfiele und so. Und dann …

»Hallo Omama, ist Tini gar nicht da?« Hannah ahnte nicht im Mindesten, wie sehr ihre Feststellung den Vater aus seinen verwegensten Träumen riss.

Jutta versuchte ein fröhliches Gesicht aufzusetzen. Er kannte diesen Blick, wenn das Lächeln nicht ihre Augen leuchten und die kleinen Fältchen drum herum tanzen ließ. Dieser Blick, der ein „Mach dir nichts daraus. Wir werden es gemeinsam durchstehen“ verkündete.

»Sie hat dir einen Brief geschrieben.«

Tobias nickte verstehend und bemühte sich, seine Rolle als fröhlicher Familienmensch aufrechtzuerhalten. »Gut, und hat es sonst etwas Besonderes gegeben?«

»Nichts«, Jutta erhob sich mit einem matten Lächeln, »In einer guten Stunde gibt es Mittag.«

Die Tüte von Niedermeyer stand auf dem kleinen Tisch am Fenster. An sie gelehnt fand er das Kuvert, von dem Jutta gesprochen hatte. Es war Juttas exklusives Briefpapier. Das, das er ihr vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Andächtig öffnete Tobias den unverschlossenen Umschlag und zog zwei Blätter hervor. Sie trugen eine Handschrift, wie er sie schöner nie zuvor hatte lesen dürfen. Die Worte, die sie für ihn gefunden hatte, würden weit weniger angenehm sein.

Lieber Tobias, eigentlich hätte ich dir diese Worte von Angesicht zu Angesicht sagen müssen. Du weißt ja, ich bin sonst nicht auf den Mund gefallen. Und doch hat mich unser Zusammentreffen heute Mittag so sehr aufgewühlt, dass ich es für richtiger halte, dir zu schreiben. Ich möchte nichts vergessen. Gedanken, Gefühle und Worte, die mir wichtig sind, von denen du wissen und die du akzeptieren musst.

Ich habe Angst, dass wir uns auf einen Weg verirren, den keiner von uns beiden so wirklich will. Solange wir uns an die Kehle gegangen sind, war alles in bester Ordnung. Wie habe ich mich immer darauf gefreut, wieder einmal mit dir zusammenzurasseln und mich mit dir zu fetzen. Du warst irgendwie nie … Ach, vergiss es. Es hat sich etwas verändert zwischen uns. Ich denke plötzlich anders über dich, und ich sehe einen Mann, dem es ganz offensichtlich ähnlich ergeht. Er sieht mich zärtlich an und scherzt plötzlich. Er macht mir Komplimente und überrascht mich mit Geschenken. Teuren Geschenken, die ich nie und nimmer annehmen kann. Denn das würde für mich heißen, dass ich ihm Hoffnungen mache. Ich spüre sehr wohl, dass ich dir, menschlich gesehen, nicht ganz unsympathisch bin. Ich komme sehr gut mit Hannah und Jutta zurecht, und ja, ich habe auch dich sehr gern. Doch das alles reicht nicht aus, um sich auch nur annähernd darüber Gedanken zu machen, eine feste Beziehung einzugehen. Zumindest nicht so, wie du sie dir vorstellen magst. Ich bin nun mal keine Frau, die man „an die Leine legt“. Ich stehe fest auf meinen eigenen Beinen und ich mache immer, was ICH will. Andere Menschen sind für mich nur Mittel zum Zweck. Auch mein Gastspiel hier ist nur von begrenzter Dauer. Spätestens wenn mein Stipendium ausläuft, bin ich fort.

Bitte, Tobi, ich will ehrlich zu dir sein. Du bist ein toller Mann, der irgendwann die Richtige finden wird. Die, die für Hannah eine wirkliche Mutter sein kann. Ich kann und will das nicht. Mehr als eine gute Freundin der Familie WILL ICH NICHT SEIN! Ich weiß, im Grunde deines Herzens wirst du mir nur zustimmen können. Bitte, sei einfach so wie bisher. Ein netter Nachbar, oder ein Freund, mit dem man sich mal so richtig zoffen kann. Mehr kann und will ich mir nicht wünschen. Christin.

Er ließ den Brief sinken und starrte vor sich hin. Dabei war er sich so sicher gewesen, dass es der Anfang von etwas ganz Besonderem war. Wie unterschiedlich man die unvergesslich schöne Szene im Dessousladen auslegen konnte … Sein Verstand suchte nach einer Erklärung. Sie spielte einfach nur mit offenen Karten. Wie sollte er da enttäuscht sein, sagte er sich. Und doch tat es weh.

»Jutta, ich gehe mit Balu noch eine Runde um den Block.«

»Hannah war gerade mit ihm los«, kam es aus Richtung Küche.

»Macht nichts. Ich denke, er hat gelbe Augen.« Tobias stahl sich förmlich aus dem Haus.

***

Jetzt schon? Christin blickte auf ihre Cartier, die sie gerade angelegt hatte. Eine halbe Stunde vor der Zeit. Und warum klingelte Nils-Ole? Er hatte einen eigenen Schlüssel. Sie ließ sich Zeit und schlüpfte in die neuen, edlen Pumps, die Herr Hagen extra für sie in Mailand bestellt hatte. Ein letzter Blick in den Spiegel. Die Ohrringe!

Erneutes Klingeln.

»Sie?« Sie hätte es wissen müssen. Tobias stand am Fuße der Treppe. In der einen Hand Balus Leine, in der anderen diese vermaledeite Tüte. Er wirkte nicht, als würde er vor Freude überschäumen. Echt mieses Timing. Sie sandte einen kühlen Blick – hoffentlich fasste er es so auf – zu ihrem Handgelenk.

»Sorry, Frau Thorstraten. Es wird nicht lange dauern.«

Balu sah das anscheinend anders. Er sprang die Stufen hinauf und wollte sich seine fälligen Streicheleinheiten vom großen Frauchen abholen. Tobias zog ihn an der Leine zurück, ehe er ihren Seidenstrümpfen den Garaus machen konnte.

»Der Brief«, setzte er verhalten an.

»Was ist damit?« Erneuter Blick zum Zifferblatt. Diesmal gelang es ihr sogar, eine kühle Hochnäsigkeit zu demonstrieren. »Ich denke nicht, dass es darüber etwas zu diskutieren gibt.«

»Diskutieren«, murmelte Tobias nachdenklich. Wenn man erst damit anfing, über Gefühle zu diskutieren, war längst alles im Eimer. »Nein, ich wollte Ihnen nur sagen, dass alles okay ist. Danke, dass Sie uns vor einer Riesendummheit bewahrt haben.«

Hatte sie wirklich geglaubt, er würde ihr hinterherbetteln? Christin schluckte ihre aufsteigenden Beklemmungen runter. »Tobias, kommen Sie damit zurecht?« Shit, warum musste sie ihn das jetzt fragen? Warum!?! Sie hatte ihn doch da, wo sie ihn haben wollte!

»Ja klar. Alles roger. Wir machen einfach weiter wie zuvor. Ich habe da schon ein paar tolle Ideen, wie ich Sie auf die Palme bekomme.« Er schickte sich an sich abzuwenden, als ihm noch etwas Wichtiges einfiel. »Ach ja, der Body.«

»Ja?« Sie blickte mit verschränkten Armen auf ihn herab. Diese verfluchte Tüte schwebte zwischen ihnen. »Ich denke, ich habe mich auch darin deutlich ausgedrückt.«

»Stimmt. Nur erwarten Sie nicht von mir die Plattheit, dass ich einer anderen Frau etwas schenke, das ich für eine ganz besondere Frau gekauft habe. Das wäre doch wohl wirklich unter aller Sau, oder? Machen Sie mit ihm, wonach Ihnen der Sinn steht. Altkleider, Putzlumpen oder einfach in den Müll.«

»Tobias, ich …«

»Bitte, Christin. Tun Sie es für mich. Er kommt immer noch von Herzen. Ich verspreche Ihnen auch hoch und heilig, dass ich nie wieder solch eine Kurzschlusshandlung begehen werde.« Tobias drückte ihr die Tüte in die Hand und kehrte um, ehe sie es sich ein weiteres Mal überlegte.

»Dann man viel Spaß im Theater.« Mann, war er froh, dass er sogar ein cooles Lächeln schaffte. Durchatmend blickte er seinen Kumpel an. »Komm Balu. Zeit, um ein paar Bäume zu schubsen und Bären zu jagen.«

»Oper.«

»Wie bitte?«

»Ich gehe in die Oper. Turandot.«

»Oh, Desdemona. Wie treffend.«

»Herr Herder!«

»Kommen Sie«, er grinste herausfordernd, »bei Ihrer Steilvorlage! Ist nicht fein, aber ein ziemlicher Brüller, oder?«

»Es ist nicht einfach, in gewohnte Bahnen zurückzufinden, oder?« Christins schlechtes Gewissen brach sich mit aller Macht seinen Weg.

Und wieder war es ihr gelungen, ihn zu verunsichern! »Nein.« Tobias senkte den Blick. »Nicht wenn man zuvor im Lichtstrahl des Glückes baden durfte.«

Ihm gelang erneut das, was er ihr gegenüber perfekt beherrschte. Einen Spruch bringen, der sie wie ein Unmensch aussehen ließ, um sie dann einfach stehen zu lassen. Ohne sich noch einmal umzuschauen.

***

Hier im Stadtpark, auf der anderen Seite der Mauer und unter jahrhundertealten Bäumen, hielt sich noch ein großer Teil der Frühjahrskälte. Trotzdem kühlte es nicht das kochende Blut in seinen Adern. Warum das alles? Wieso wurde die Sache immer verwirrender? Ihren Brief hätte er vielleicht noch akzeptieren können. Aber ihre Haltung eben, ihre Blicke sagten doch etwas ganz anderes aus.

»Sie ist mit einem anderen zusammen, du Traumtänzer. Mit so einem alten Knacker.« Er dachte an die Frau in Rot zurück. »Einer, der ihr alles bietet; nicht nur Oper.« Tobias stöhnte gequält auf. Hatte er nicht erst vor Kurzem heldenhaft herumgetönt, dass er sich nie in eine bestehende Beziehung hineindrängte? Er sah auf Balu hinab, der ihn fest im Blick hatte. »Ja Hund, so ist das bei den Menschen. Manch einer ist auch nur ein armer Hund.« Das leise Winseln klang wie ein kollegialer Seufzer. »Ja, du bist ein schlauer Hund. Einseitige Liebe tut wirklich nicht gut.«

***

Der vergangene Abend und die Nacht waren das bislang Schönste, das sie miteinander verbracht hatten, spürte Christin dem Beben nach, das ihr Herz durchflutete und in den Erinnerungen der letzten Stunden baden ließ. Ganz sicher lag es daran, dass sie in Frankfurt geblieben waren. Dort, wo niemand den Bürgermeister Nils-Ole Händler kannte. Hier durfte er ganz er selbst sein. Ohne befürchten zu müssen, dass ihn einer seiner lieben Mitbürger erkannte. Frederik Zander, sein Chauffeur und engster Vertrauter, würde Stein und Bein schwören, dass der Bürgermeister sich den ganzen Freitag und auch den Samstag mit Investoren und ansiedlungswilligen Unternehmern getroffen hatte.

Stattdessen lag sie hier mit Nils-Ole in einem wirklich luxuriösen Bett, in einer First-class-Suite, in einem ebensolchen Hotel und bei einem formidablen Frühstück.

»Ich bin so voll, das ich gleich platze.« Christin ließ sich mit einem wohligen Seufzen in die Kissenflut sinken und betrachtete mit einer gehörigen Portion Stolz den wirklich gut gebauten Körper ihres Geliebten. Trotz seiner Mitte Fünfzig war Nils besser in Schuss als so manch ein Mann, der sein Sohn hätte sein können. Erneut durchrieselten sie wohlige Schauer, als sie daran dachte, wie sehr dieser Mann sie heute Nacht auf Höhen gebracht hatte. Höhen, wie sie sie selten zuvor erklommen hatte. Es war wie das erste Mal nach einer langen Trennung gewesen. Liebevoll, achtungsvoll, als hielte er ein filigranes Kunstwerk in Händen, und doch so kraftvoll und ungestüm, wenn sie es am nötigsten hatte. »Nils, könntest du vielleicht noch ein klein wenig lieb zu mir sein? So wie in der letzten Nacht.«

Er schaute über die Schulter hinweg auf sie hinab. Mit dem Lächeln eines Siegers, der er zweifellos war. Der Mann mit dem kleinen Hund, der kurz hinter ihren geschlossenen Augen aufflimmerte, verschwand in ein bodenloses Nichts.

»Gern, kleiner Nimmersatt.« Nils-Ole Händler schob den Frühstücksaufsatz von sich und schickte seine Hand unter ihr Laken. »Aber nur, wenn du mir versprichst, dich zurückzuhalten. Ich will dich endlich einmal erobern können. Meinst du, du könntest dich mir verschließen?«

»Was?« In ihrem verführerischen Lachen schwang Hochmut mit. »Ich soll für dich das Fräulein Unnahbar von Auster spielen? Nun, dann mal viel Spaß, mein Lieber.«

***

Hätte sie an diesem Morgen mit sich gewettet, hätte sie nach Strich und Faden verloren. Mit einem letzten Blick zurück auf das völlig zerwühlte und mitgenommene Bettlaken ergriff Christin den kleinen Koffer und folgte ihrem „Gatten“ auf den Hotelflur hinaus.

Seit dieser Nacht hatte sich etwas in ihr verändert, spürte sie ihrer neuen Gewissheit nach. Auch wenn sie nicht wusste, wohin sie dieser Weg führen würde, sah die Zukunft rosiger denn je aus. Mit einer Mischung aus Stolz und Herzklopfen sah sie dem vorausgehenden Mann nach. Wie sicher und selbstbewusst er sich bewegte. Als könne ihn nichts, aber auch gar nichts aus der Bahn werfen. Ja, die Karten wurden neu gemischt. Neuerliche Glücksschauer durchrasten sie. Nils-Ole hatte sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, irgendwann einmal seine Frau zu werden. Mit Ring und Urkunde. Nach seiner Scheidung und den nötigen „Anstandsmonaten“ versteht sich, hatte er augenzwinkernd durchblicken lassen. Zuerst hatte sie an einen seiner Scherze geglaubt, hatte herausfordernd gekontert, ob er noch wisse, wie ihr Traummann beschaffen sein müsse. Da hatte er sie selbstbewusst unterbrochen und ihr ihre damalige „Wunschliste“ mit beinahe dem gleichen Wortlaut zitiert. Und dass er es an der Zeit fände, ihr zu beweisen, dass er derjenige sei, der all diese Voraussetzungen erfülle. Spätestens als er ihr vorschlug, eine „Ehe auf Zeit“ zu probieren, war ihr der Ernst seiner Absichten bewusst geworden. Nils-Ole wollte mit ihr für eine knappe Woche nach Mallorca verreisen. Ein sehr guter Freund habe in der Nähe von Sóller eine kleine Villa und im Hafen eine Jacht, die er ihnen selbstlos für diese Zeit überließ. Sie hatte sich erst überrumpelt gefühlt. Wie so oft in solchen Situationen, in denen sie nicht mehr Herrin ihrer eigenen Entscheidungen war. Für einen Moment dachte sie daran, dass Hannah sie vielleicht vermissen würde. Egal, Jutta und die Kleine würden ihr diese einmalige Gelegenheit nicht missgönnen. Ob sie aber auch genauso viel Verständnis dafür aufbrachten, dass sie mit einem anderen Mann dorthin fuhr?

Der Fahrstuhl setzte sich mit einem leichten Rucken in Bewegung und schleuderte Christin in die Gegenwart zurück. Sie spürte den tiefgründigen Blick des Mannes, für den sie sich entscheiden wollte.

»Ich hatte nicht beabsichtigt, dich mit meiner Überraschung unter Zugzwang zu setzen«, setzte Nils-Ole nachdenklich an und berührte zärtlich ihre Wange. »Diese Gelegenheit musste ich beim Schopfe packen. Angela selbst ist für zwei Wochen fort und die Amtsgeschäfte erlauben mir gerade jetzt eine kurze Auszeit.«

Christin hatte sich entschieden. »Ich werde sehr gern mit dir kommen.«

»Als meine zukünftige Frau?«

»Mal sehen, wie du dich machst. Du bist zumindest der aussichtsreichste Kandidat.«

»Ich weiß, du willst es romantisch verpackt.«

Der Fahrstuhl kam plötzlich zwischen den Etagen zum Stehen. Fünfmal Nils-Ole, vor ihr und in den verspiegelten Wänden um sie herum. Doch nur das Original trat vor sie und ließ seine zärtlichen Hände über ihr Gesicht, ihren zitternden, vor Verlangen bebenden Körper wandern.

»Liebling, wir haben uns gesucht und gefunden. Du wirst sehen, wir werden ein Dream-Team sein. Ohne all dieses Gewäsch von Verpflichtungen, Sitte und Anstand. Keine bucklige Verwandtschaft, keine Gören oder sonst was. Einfach nur wir beide auf der Überholspur des Lebens.« Seine Hand verschwand in den Falten ihres weit schwingenden Rockes und fand blind ihr Ziel auf der nackten Haut. »Du wirst sehr bald erkennen, dass ich für dich der Richtige bin. Und vor allem, dass ich die Möglichkeit habe, uns unser neues Leben perfekt einzurichten.«

Seine Worte gingen ihr wie Öl herunter. Nils-Ole versicherte nichts, was er nicht halten konnte.

»Wir werden die Tage für uns nutzen«, versprach er und gönnte sich einen seltenen Moment, seinen Wünschen die Zügel freizugeben. »Wenn wir dort sind, schauen wir uns nach einer eigenen Villa um. Wir werden aufs Meer hinausfahren, in einsamen Buchten ankern und dabei nicht nur nahtlos braun werden.«

Christin lächelte zufrieden in sich hinein. Ja, es war eine schöne Vorstellung. Nie wieder Sorgen haben müssen und mit einem Mann an der Seite, der die Macht, das Geld und die Power hatte, sie glücklich zu machen. Oh ja, sie würde ein neues Tagebuch beginnen müssen. Eines, das nie mehr enden würde.


Kapitel 9

Hannah und Balu tobten fröhlich und ausgelassen um Tobias herum, als dieser auffallend früh heimkehrte.

Jutta, die sich bereits den ganzen Tag über mit einer ausgewachsenen Migräne quälte, kam langsam die Treppe herunter. »Du bist schon hier?«

»Ja. Es hat sich ergeben, dass ich heute eine Menge Zeit habe.«

Tobias’ aufgesetzte Heiterkeit, die er ihnen gegenüber an den Tag legte, erreichte kaum seine Augen, registrierte Jutta besorgt. Ärger, konstatierte sie. »Soll ich mich dranmachen, das Mittagessen vorzubereiten?«

»Nicht wegen mir. Ich habe wenig Appetit. Vielleicht sollten wir heute Abend alle gemeinsam essen gehen?«

»Ja, das wäre schön. Wenn sonst nichts weiter anliegt, lege ich mich noch etwas hin.« Sie machte kehrt und schleppte sich mehr die Treppe hinauf, als dass sie ging. »Übrigens, die Post ist schon durch. Ich habe sie dir auf deinen Schreibtisch gelegt.«

Tobias nickte. Er musste nicht fragen. Ihr Migränegesicht ließ sich nicht verleugnen. Mit einer Ermahnung an die jungen Herrschaften, alles ein wenig ruhiger angehen zu lassen, begab er sich in sein Büro. Mit seinem Ärger über den nächsten abgesagten Auftrag behaftet ging er die Post durch. Mehr Werbung als alles andere. Bis auf den großen braunen Briefumschlag mit dem Absenderstempel der Stadt Gernhausen. Sein Gefühl trog ihn nicht. Wenn es dicke kam, dann aber auch richtig.

Sehr geehrter Herr Herder, leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass die Ausschreibung für die Sanierung, Renovierung und innovative Ausgestaltung des Stadtarchivs an einen anderen Bewerber vergeben wurde. Anbei die eingereichten Unterlagen an Sie zurück. Wir bedauern es außerordentlich, Sie diesmal nicht an den geplanten Maßnahmen beteiligen zu können, und verbleiben mit freundlichen Grüßen soundso.

Tobias biss die Zähne zusammen. Zwei Absagen von fest eingeplanten Aufträgen an einem Tag. Konnte es noch schlimmer kommen?

Er war immer noch damit beschäftigt, all seine Pläne, Berechnungen und Vorarbeiten zu den abgesagten Aufträgen auf Nimmerwiedersehen zu verpacken, als es klopfte und Jutta das Büro betrat. »Störe ich?«

»Nein, komm ruhig rein.« Tobias drückte sein schmerzendes Kreuz durch und ließ sich schwer in den Schreibtischstuhl fallen. Voller Bedauern bemerkte er, dass sie am Türrahmen gelehnt stehen blieb. Die Arme quälte sich offenbar noch immer. »Setz dich doch.«

»Ich wollte dich bitten, ob du heute zu Christin rübergehen könntest, um nach dem Rechten zu sehen und ihre Blumen zu gießen.«

»Nein, Jutta. Bei aller Liebe, nein!« Er sah seine Schwiegermutter an, als hätte diese ihn dazu aufgefordert, sich in ein loderndes Feuer zu stürzen.

»Warum nicht? Nenne mir nur einen einzigen plausiblen Grund.« Sie stieß sich vom Türrahmen ab und strebte nun doch dem Besucherstuhl entgegen. In dem kurzen Augenblick veränderte sich ihre Haltung vom Leiden Christi hin zur Generalanklägerin. »Ich warte.«

Tobias wollte vermeiden, dass Jutta Christins Brief zu lesen bekam. Er wusste von der wahren Freundschaft, die zwischen den beiden bestand, und wollte nicht, dass diese seinetwegen belastet wurde – oder gar zerbrach. Das würde Christin von ganz allein fertigbekommen, quatschte seine Logik wieder einmal ungefragt dazwischen.

»Es wird bereits genug über die Stadttorhexe und mich hergezogen. Da will ich den Klatschmäulern nicht noch weiter Vorschub leisten. Außerdem haben Christin und ich ein Abkommen geschlossen, das solche Nettigkeiten nicht berücksichtigt.«

»Du Blödmann hättest Politiker werden sollen und deine Christin gleichfalls. Was ihr bei euren kindischen Dementis nur immer wieder vergesst, sind eure verliebten Dackelblicke, mit denen ihr euch beinahe auffresst!«

»Mensch, Jutta, du gibst wohl nie auf, was?« Tobias musste wider Willen lachen. »Okay, ich will dir gegenüber ehrlich sein. Ich träume von Christin. Tag und Nacht denke ich an sie. Ich weiß, was sie liebt – mich nicht – und was sie verabscheut – mich auch nicht. All das reicht nicht aus, um eine Garantie für ewig zu bekommen.«

»Garantie für ewig! Was für eine gequirlte Hühnerkacke!«, explodierte Jutta. »War es das? Hast du dich nun genug ausgeheult? Wenn du es nicht für dich versuchen willst, dann tue es für die Menschen, die du liebst und die euch lieben.«

Jutta ging bei ihrer Brandpredigt ab wie der sprichwörtliche Kastenteufel, erkannte Tobias erschrocken. So fuchsteufelswild hatte er sie bisher nur ein einziges Mal erlebt. Und an diese dunklen Momente in seinem Leben wollte er sich nun gar nicht erinnern.

»Wenn du letztens mitbekommen hättest, wie Hannah zu Christin Mama gesagt hat.« Juttas Stimme vibrierte zitternd.

»Sie hat was?«

Zum ersten Mal spielte sich in Tobias trotzigem Gesicht so etwas wie eine menschliche Reaktion ab, registrierte Jutta für sich. »Ja, hat sie. Übrigens ist dein kleiner Engel ein ganz ausgekochtes Aas. Als Hannah feststellte, dass Christin das nicht bemerkt haben wollte, hat sie keine drei Sätze später ihr „Mama“ nochmals kunstgerecht eingeflochten.«

»Und…?« Tobias suchte unsicher nach Worten.

»Christin zeigte die gleiche Verwirrung, die du nun an den Tag legst. Sie ist keine, die schnell das Wasser in den Augen stehen hat. Habe ich recht?«

Tobias schloss die Augen und biss sich fest auf die Lippen, bis er den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge spürte. Er hatte sich vorgenommen, die Sache wie ein Mann durchzustehen. Aber Jutta fand auf all seine Argumente eine noch bessere Antwort. Er erhob sich mit einem Seufzen und begab sich an den Tresor. Mit Christins Brief kehrte er zurück. »Eigentlich ist es egal, ob du es jetzt oder erst in ein paar Monaten erfährst.«

Jutta zog den Inhalt hervor und faltete das Briefpapier auseinander. Es war ihres, das, welches sie Christin letztens gegeben hatte. Sie hatte die Szene längst vergessen, doch nun erinnerte sie sich, dass die Freundin damals weinend das Haus verließ. Kopfschüttelnd las sie die Zeilen, die diesen sonst so mutigen Mann hatten verzagen lassen. Wie Christin ihre eigene Zukunft sah, war nicht schön. Aber bei solch einem Weichei wie dem, das gerade am Fenster stand und im Selbstmitleid schwelgend gen Himmel starrte, würde sie auch an Flucht denken. Andächtig steckte sie den Brief ins Kuvert. »Und? Was ist daran nun so schlimm?« Seinen Blick hätte man für die Ewigkeit einfrieren sollen. »Sie schreibt sogar, dass sie dich gern hat.«

»Womit wir wieder beim Anfang wären.«

»Quatsch. Solche Briefe habe ich den Jungs damals auch geschrieben. Weitaus schlimmere noch, glaube ich mich zu erinnern.«

Tobias vermied es, gehässig nachzufragen, ob das der Grund war, dass sie an dem Idioten von Exmann hängen geblieben war.

»Auch wenn du mich jetzt aus Trotz nicht fragen wirst, werde ich es dir sagen. Diejenigen, denen wirklich etwas an mir lag, haben sich erst recht ins Zeug gelegt, um mich zu erobern. Das waren keine Weicheier, die hatten wenigstens Mumm.«

»Jutta, ihr wart Teenager«, knurrte Tobias das Fenster an, »Christin hat einen Freund. Er ist weitaus älter und wohl auch sonst für sie … sehr interessant.« Er drehte sich um und sah sie herausfordernd an. »Mich wundert, dass dir das entgangen ist.«

Das war etwas, mit dem Jutta nun wirklich nicht gerechnet hatte. Dementsprechend verlor ihre Stimme bedeutend an Durchsetzungskraft. »Bist du dir da sicher?«

»Letzten Freitag bin ich zu ihr, um sie noch einmal auf den Brief anzusprechen … und ihr den Body zu bringen. Christin hatte sich für die Oper aufgebrezelt und hat mich wohl im ersten Augenblick für ihn gehalten.«

»Ja und, was ist dabei? Ich gehe auch mit Harry Wilke ins Theater. Uns hat noch niemand etwas nachgesagt. Oder glaubst du, ich würde mit Harry gehen?«

Zum ersten Mal lachte Tobias herzhaft auf. »Ne, altes Mädchen, du hast schließlich Geschmack. Und doch …« Er wurde schlagartig wieder ernst. »Wie erklärst du dir, dass sie nur wenige Tage später nur mal eben nach Malle fliegt? Bestimmt nicht aus Furcht vor mir.«

»Tobi …«

»Nein. Diese Frau schreibt, was sie meint. Sie ist frei, sie ist unabhängig, sie weiß, was sie will und wie sie es kriegen kann. Ich kann verstehen, dass ein liebestoller Witwer mit Kind nicht wirklich zu den wahren Zielen einer solchen Lebenseinstellung zählt.«

»Christin liebt Hannah …«

»Jutta, zum letzten Mal! Genießt eure Zeit und Freundschaft, so lange sie hält. Aber bitte höre endlich damit auf, mich mit einer Frau zu verkuppeln, gegen die deine Tochter ein lammfrommes Licht war. Wenn ich aus meiner Ehe mit Sina etwas gelernt habe, dann ist es den Charakter einer … einer … Ach, scheiß drauf! Ich gehe jetzt zu Ulli und du gießt ihre Blumen.«

***

Christin wandte ihren Blick von der finsteren Wolkenwand ab, die sich in der letzten Stunde über den gesamten Horizont hinweg aufgebaut hatte. So schön die letzten Tage auch waren, der heutige Tag trug genau das Gegensätzliche im Gepäck.

Mache einfach immer das Beste aus einer Situation, hatte die alte Herta früher immer gesagt. Christin stutzte, verwundert darüber, was ihr gerade durch den Kopf ging. Warum dachte sie gerade jetzt an die alte Nachbarin aus Kindertagen – die sicherlich längst unter der Erde lag? Als Kinder waren sie sich sicher gewesen, dass die Alte eine Hexe war. Und heute? Heute war sie selbst eine Hexe.

Sie streckte der wunderschönen Frau im Spiegel die Zunge heraus. Es wirkte kindisch. Gerade bei dieser Frau in ihrem exklusiven Abendkleid und mit diesem perfekten Make-up, das keine wahre Regung zuließ. Kalt wie eine Hundeschnauze. Sollte das wirklich sie sein? Die zukünftige Frau Händler? Nils-Ole hatte sich die letzten Tage wirklich sehr um sie bemüht. Er hatte ihr ein Leben auf der Überholspur versprochen und war, das musste sie eingestehen, ziemlich erfolgreich darin gewesen, sie zu überzeugen. Ausgelassen, ausdauernd und vor allem spendabel war er mit ihr durch die Boutiquen und exklusive Geschäfte in Sòller und Umgebung gezogen. Christin betastete das goldene Collier, das einer maurischen Prinzessin würdig war, und genoss den Schauer der Erregung. Bei ihrer Hochzeit würde Nils ihr den Rest dieses Sets schenken.

Ja zum Teufel! Sie hatte es geschafft … Ein mächtiger Blitz flammte über den nachtschwarzen Himmel und trug einen noch gewaltigeren Donner mit sich. Erschrocken ließ Christin ihre Hand fallen, als der grelle Flammenstrahl ihr Spiegelbild durchbohrte. Die Strafe und das Verbrennen der Hexe, die sie im Grunde war. Das himmlische Feuerwerk entzündete eine Flamme, der sie sonst nur beim Schreiben ihres Tagebuches die Gelegenheit gab zu brennen. Tagebuch. Erschüttert von ihrer Vision und dem Abbild dieser gefühllosen Frau trieb es sie hinaus in den Schlafraum. Der Stuhl vor dem antiken Sekretär fing sie auf. Nur langsam kehrte ihr Geist in die Gegenwart zurück. Erneut ihr Antlitz; diesmal aus einem jahrhundertealten Spiegel.

Tagebuch schreiben, war in ihr hängen geblieben. Solange sich Nils-Ole unten im Mediaroom den Boxkampf ansah, würde sie ihre Ruhe haben, um sich Stichworte für ihr Tagebuch zu notieren, das sie Schusseltier daheim vergessen hatte. Aber ein einfacher Notizblock tat es auch. Daheim würde sie ihre Eindrücke und Gefühle dann in Ruhe nachtragen können. Augen schließen – das Abbild einer geläuterten Frau – ungewohnt.

In mir tobt ein einziger Widerstreit. Ich kann mich einfach nicht mehr belügen – so gern ich es auch täte. Wenn ich ehrlich bin, sind alle Einträge der letzten Tage Makulatur. Zumindest muss ich sie schweren Herzens infrage stellen.

Christin zerkaute das Ende ihres Stiftes. Ihr Herz flehte sie an, in dem Palast zu bleiben und die Augen zu verschließen. Aber es ging nicht anders. Nicht, wenn sie sich nicht den Rest ihres Lebens weiter belügen wollte.

Immer wieder frage ich mich, welches Nils-Oles wahres Gesicht ist? So zärtlich und zuvorkommend er sich mir gegenüber gibt, so erschüttert mich seine heftige Eifersucht über die Maßen. Dabei war es ein nichtiger Anlass. Der Hausgärtner – ich weiß nicht einmal seinen Namen – war mir vorgestern Abend dabei behilflich, meinen Pareo aus der Absauganlage des Pools zu befreien. Wir haben zusammen über meine Schusseligkeit gelacht und über die Geräusche, die das Teil machte. Ja, er hatte seine Hand auf meinem Oberschenkel liegen. Aber doch nur, um sich besser abzustützen. Und ja, ich war oben ohne. Doch wenn solche Zufälligkeiten allein ausreichen, dass Nils-Ole ausflippt, wie soll es erst sein, wenn ein Mann wirklich mit mir flirtet und ich darauf auch noch eingehe? Dieser Gedanke macht mir Angst. Und das Schlimmste daran ist seine subtile, nachtragende Art. Wie mir ein Hausmädchen hinter vorgehaltener Hand verriet, hat Nils noch am gleichen Abend den Besitzer der Villa angerufen und darauf bestanden, dass dieser dem Gärtner fristlos kündigt. Ich muss ihn darauf ansprechen. Er muss begreifen ….

»Hier treibst du dich also rum.«

Erschrocken zuckte Christin zusammen, als der Mann, über den sie gerade ihre Gedanken niederschrieb, so plötzlich inmitten des Schlafzimmers stand. »Wie, ist dein Boxen schon vorbei?«

»K. o. in der dritten Runde. Was für ein erbärmlicher Versager.« Nur einem aufmerksamen Zuhörer fiel auf, dass Nils ein Gläschen zu viel über den Durst getrunken hatte. »Ich dachte, du kommst herunter?«

»Du weißt, wie sehr mich dieses Boxen anwidert. Was soll ich dir und mir also den Abend verderben. Wir müssen ja nicht jede Minute aufeinander hocken.« Sie unterdrückte ihr Seufzen und schloss den Block.

Nils-Ole trat zu ihr. Der Stuhl, auf dem sie saß, schwang zu ihm herum. Seine Finger strichen zärtlich und doch verlangend an den Gliedern ihres Colliers entlang und blieben in ihrer empfindlichen Halsbeuge liegen. »Und, was stellst du Geheimnisvolles an?«

»Ich? Nichts Besonderes. Ich mache mir nur Notizen.« Christin kämpfte gegen das Gefühl von Schwäche und Ekel an. Über ihr schlug eine Fahne aus Branntwein und Kartoffelchips zusammen. Zudem klaffte auf Höhe ihrer Nasenspitze sein nur lässig zusammengeknoteter Bademantel auf. Gerade als sie sich damit abgefunden hatte, dass er eine bestimmte Handlung von ihr erwartete, bewegte er sich zur Seite.

»Was ist das?« Er hielt den Block in Händen.

»Notizen.«

»Was für Notizen?«

»Für mein Tagebuch«, kam es ihr mit einem Anflug von Beklemmung über die Lippen. »Ich habe es daheim vergessen und will mir zumindest ein paar Stichworte machen.«

»Du führst Tagebücher?« Er löste sich vollends von ihr und trat an einen der auf Antik getrimmten Wandleuchter heran. Weitere, gespenstisch weiße Blitze leuchteten zu ihnen in den Raum hinein. Als wollten sie die folgende Szene nur noch gruseliger untermalen.

»Nils, würdest du mir bitte den Block wiedergeben. Es ist zu persönlich, als dass ich andere Leute darin lesen lassen möchte.«

»Ich bin ja wohl nicht „andere Leute“. Oder siehst du das so?« Er fasste ihr verkniffenes Schweigen als Einladung auf, in den Seiten zu lesen.

Er würde sehr bald auf ihren heutigen Eintrag stoßen. Viel Zeit blieb ihr nicht, sich eine passende Entgegnung einfallen zu lassen.

»Interessant. So siehst du also die Geschichte mit diesem kleinen Wichser.« Nils-Ole Händler sah kühl auf die verschlossen dasitzende Frau hinab. Ein abfälliges Lachen rollte aus der Tiefe seines Körpers hervor. »Ich hätte diesen Kerl eigenhändig vom Hof prügeln sollen. Vielleicht hätte dir das besser gefallen.«

»Das ist doch wohl nicht dein Ernst.« Christin sah ihn nur noch entsetzt an. War dieses Verhalten seine wahre Natur, oder hatte ihn der Alkohol zu sehr enthemmt? »Nils, du kannst nicht jeden Mann verdammen, entlassen, verprügeln oder sonst was mit ihm machen. Nur weil er mit mir flirtet oder einfach nur nett ist.«

»Warst du es nicht, die inbrünstig gefordert hat, dass dein Supermann um dich kämpfen solle?«

»Ja, er soll um meine Liebe kämpfen. Aber das heißt noch lange nicht, dass du jeden vermeintlichen Konkurrenten verprügelst oder ihm sonst wie schadest.« Christin hatte mit ihrer Enttäuschung zu kämpfen. Zumal wenn er sie, wie jetzt, stumm anstarrte. In einer Art, die wenig von Verständnis oder gar Einsicht sprach. Sollte das ihre Zukunft sein? »Ich bin keine Trophäe, geschweige denn dein Besitz. Das verstehst du doch wohl, oder?«

»Was ich verstehe, ist, dass wir unsere Beziehung langsam auf ein neues Level stellen sollten.«

Christin schwieg. Machtlos, seine Stimmung zu analysieren. Betrunkene Männer waren ihr seit frühester Kindheit ein Graus. Vor allem hatte sie lernen müssen, dass sie unberechenbar waren.

»Irgendwie bin ich etwas enttäuscht von dir.« Sein kühler Blick, mit dem er sie maß, zerbröselte ihren Widerstand im Keime. »Habe ich dir nicht alles gegeben, wonach dir der Sinn stand?« Er sah beleidigt auf das Papier in seinen Händen. »Ein Tagebuch. Was für ein Humbug! Nein, ich denke, wir vertagen unsere Versuche auf wahre Liebe und Ehe, bis du in der Realität ankommst. Deinen Traumprinzen wird es so nicht geben.« Er trat an den erkalteten Kamin und zerriss die Blätter in Hunderte von kleinen Schnipseln. Einfach so, den ganzen Block. »Wir klären besser noch einmal ausführlich, was dein eigentlicher Job ist.«

***

»Papa, darf ich noch ein wenig bei dir bleiben?« Hannah, Balu und Teddybär standen an der Tür zum Wohnzimmer.

Das zum Thema Tatort-Krimi. Tobias nahm die Fernbedienung zur Hand. »Klar, wenn es nicht wieder bis in die Puppen geht.«

»Neee, ist kein abendfüllendes Thema«, kam es unglaublich altklug. »Wenn du zu allem okay sagst, bin ich in fünf Minuten im Bett.«

»Ach, so ist das.« Tobias hatte damit zu kämpfen, nicht laut aufzulachen. »Schickt Oma dich?«

»Nein, die hat ’nen dicken Kopf, sagt sie. Aber ich finde es sowieso besser, wenn wir erst einmal allein darüber sprechen.«

Sie kamen alle drei zu ihm aufs Sofa und kuschelten sich an ihn. Hannah, Balu und Teddy.

»Dann mal los. Was gibt es Weltbewegendes, das dich nicht schlafen lässt?«

»Ich vermisse Christin so sehr.«

»Sie wird schon bald zurückkommen. Ich meine, Jutta sagte so etwas.«

»Werdet ihr euch dann wieder streiten?«

Tobias schluckte seine aufsteigenden Beklemmungen hinunter. »Wir streiten doch nicht. Zumindest nicht wirklich doll.«

»Das finde ich trotzdem echt blöde von euch.«

»Was sollen wir denn tun? Deiner Meinung nach.« Shit, jetzt hatte sie ihn da, wo sie ihn haben wollte. Sechs Jahre! Und bereits genauso ausgekocht wie ihre Großmutter … Oder steckte Christin dahinter?

»Heiraten«, kam gleich der trockene Vorschlag.

»Wollten wir nicht das Dschungelbuch gucken? Oder Drachen zähmen …«

»Papa!!!« Selbst Balu bellte seinen Protest hinaus. »Ich bin doch kein kleines Kind mehr.«

»Okay, das befürchte ich auch langsam.« Trotz des sich anbahnenden Themas hatte er Mühe, ernst zu bleiben. »Hannah, ich kann Christin nicht heiraten. Selbst wenn ich sie gern habe.«

»Aber wieso denn nicht? Die meisten Leute, die Christin und mich sehen, glauben eh, dass sie meine Mama ist. Und als Mama ist sie einfach nur toll.«

»Das glaube ich dir ungeprüft.« Tobias seufzte schicksalsergeben. Es konnte nicht anders sein, Hannah und Jutta hatten sich gegen ihn verbündet. Zwei Seelenmassagen an einem Tag waren kein Zufall. Genau wie seine beruflichen Misserfolge, oder? »Hör mal, Hannah. Um zu heiraten, da muss man …. Nein, da sollte man sich zuvor erst einmal lieben lernen. Da geschehen Dinge bei uns Großen, die du später auch erleben wirst, jetzt aber nicht verstehen kannst. Die machen einen völlig verrückt und man wird wirr im Kopf.« Er sah in ein Paar dunkle, wissbegierige Augen, hinter denen ein weittragender Entschluss längst getroffen war. »Schatz, da sind dann Dinge in einem, dass man immer nur an den geliebten Menschen denkt, und so vieles mehr. Dinge, die ich längst verlernt habe.«

»Aber du kannst das doch wieder lernen. Du musst doch nur ein wenig netter zu ihr sein. Wenn Tini nicht mehr wegen dir weinen muss, dann kommt das auch bei ihr. Das weiß ich ganz genau.«

»Was redest du da, Mäuschen? Christin muss doch nicht wegen mir weinen!«

»Doch, hat sie!«, begehrte Hannah fast zornig auf. »Ich habe es doch selbst mit angehört, als sie und Oma über dich und meine Engelmama geredet haben. Die haben geglaubt, dass ich draußen spiele, aber ich habe alles mit angehört!« Hannah bekam kaum noch Luft, so sehr sprudelte es aus ihr hinaus. »Und … und dann ist Christin in dein Zimmer gegangen und erst nach einer ganzen Weile zurückgekommen. Und geweint hat sie auch noch immer. Ist das so, wenn man verrückt im Kopf ist? Papa, nun sag doch auch mal was!«

»Ich weiß es nicht«, tauchte Tobias aus seiner Verwirrung auf, in die ihn ihre Worte gestürzt hatten. »Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?«

Hannah blickte nachdenklich zur Zimmerdecke. »Hm, du solltest ihr Blumen schenken. Tini mag Blumen. Ach, und dass du sie lieb hast, das kannst du ihr auch gleich sagen.«

Tobias nickte ernst und wünschte sich, dass das Leben so einfach wäre, wie Hannah es sich vorstellte. »Ja Spatz, so werden wir zu einem guten Anfang finden. Aber das ändert nichts daran, dass du jetzt in dein Bett verschwindest.«

Er brachte Hannah in ihr Bett und Balu in sein Körbchen. Eine Umarmung und einen Gutenachtkuss später trat er an ihre Tür und schaute zurück. »Hannah?«

Sie blinzelte zu ihm herüber. Ein herzhaftes Gähnen folgte.

»Warum bist du eigentlich so erpicht darauf, dass Christin und ich ein Paar werden? Warum gerade sie?«

»Weil sie eine weiße Fee ist, Papa. Die können nämlich zaubern. Sie hat dir dein Lächeln zurückgegeben. Und deine Augen leuchten plötzlich so, wie ich sie noch nie gesehen habe.«

Ihre ehrlichen Worte schnürten ihm die Kehle zu. »Eine weiße Fee?«

»Ja, so eine werde ich auch einmal. Sie kommen immer nur zu ganz lieben Menschen, wusstest du das?«

»Nein, das wusste ich wirklich nicht.« Er schüttelte den Kopf und löschte das Licht. Hannah war viel zu reif für ihr Alter und es war nicht gut, wenn sie jetzt auch noch seine Tränen bemerkte. »Schlaf gut, mein Schatz und träume etwas Schönes.«


Kapitel 10

»Oh, wenn ich mir das auch mal gönnen könnte. Mal eben so nach Mallorca düsen und ein paar Tage abschalten«, schwärmte Jutta und blätterte durch die Bilder, die Christin in einem extra Ordner auf ihrem Laptop abgelegt hatte. Bilder, auf denen weder Nils-Ole, noch die Jacht oder gar die Villa erschienen.

»Ja, das war wirklich wunderschön. Diese Insel ist im späten Frühjahr so völlig anders. Alles ist grün und saftig. Herrlich!«, schwärmte Christin. »Wenn ich da erst einmal ein kleines Häuschen besitze, werden du und Hannah mich doch oft besuchen kommen, oder?«

»Ein eigenes Häuschen?«, horchte Jutta auf. Mit wehem Herzen dachte sie an den Brief, den Tobi ihr letztens zu lesen gegeben hatte. »Planst du etwas Konkretes?«

»Nein, es ist längst nicht spruchreif. Obwohl wir uns einige Immobilien …« Christins Enthusiasmus geriet plötzlich ins Straucheln. »Ach, du weißt ja, wie es ist. Man ist begeistert und möchte am liebsten gleich dortbleiben.«

Noch nie war sie so froh darüber, dass es hinter ihr auf dem Flur lebendig wurde. Nur, statt dem erwarteten blonden Lockenköpfchen schaute einer mit besonders grünen Augen um die Ecke.

»Hallo Fuchur, wieder gelandet?« Diese so grünen Augen entließen sie sogleich aus ihrem Bann und konzentrierten sich auf die Herrin des Hauses. »Jutta, ich bin spät dran. Meinst du, die Kleidung, die ich mir rausgelegt habe, ist gut fürs Gericht?«

»Ich habe dir noch eine andere Krawatte ausgesucht«, rief Jutta ihm hinterher und murmelte mehr zu sich selbst. »In Sachen Kleidung bleiben Männer irgendwie immer Kinder.«

»Tobias muss vor Gericht?« Es hatte gedauert, bis Christin ihren Schrecken so weit im Griff hatte, um diese Frage überhaupt zu stellen.

»Nur als Sachverständiger. Irgendein Rechtsstreit, wo er als Architekt gefragt ist.«

Christin nickte nur und sah nachdenklich durch Jutta hindurch. Was hatte sie erwartet? Ihr erstes Zusammentreffen, nachdem sie ihm den Brief geschrieben hatte. War es wirklich das erste Mal? Auf eine Art war es beruhigend, dass er sich ihr gegenüber so zurückhaltend und normal gab. Und doch wünschte sie sich eine seiner herausfordernden Bemerkungen, die ihr zeigten, wie sehr er sie noch mochte.

Jutta sah hinter die Maske ihrer jüngeren Freundin und registrierte für sich, wie Christin unbewusst ihre sorgfältig überschminkte Wange betastete. Die grünbläuliche Verfärbung darunter war ihr nicht verborgen geblieben. Sie wusste, was Christin ihr entgegnen würde, hätte sie sie darauf angesprochen. Von Schusseligkeit und dergleichen. Sie erinnerte sich aus eigener Erfahrung, wie „hilfreich“ manch ein Mann war, seine aufmüpfige Partnerin „gegen die Tür laufen zu lassen“.

»Kann man mich so unters Volk lassen?«, erlöste Tobias nichts ahnend die beiden Frauen vom verlegenen Schweigen, das eingetreten war.

»Was, so wollen Sie vor einen Richter treten? Das ist keine Krawatte, das ist ein Strick!« Christin erhob sich, erleichtert darüber, nicht mehr Juttas forschenden Blicken ausgesetzt zu sein. Seine Kombination ließ ihn wirklich attraktiv aussehen, aber die selbst gebundene Krawatte hing an ihm, als hätte man ihn gerade vom Baum geschnitten. Forsch löste sie den Knoten und begann ihn mit gewandten Griffen neu zu binden.

»So, nun machen Sie auch mit Ihrem Aussehen einen guten Eindruck.« Sie zog den Knoten an und schnüffelte übertrieben. »Sagen Sie nicht, dass das Ihr Rasierwasser ist? Oh Gott, vom Opa geerbt?«

»Wieso?« Er wirkte irritiert und betastete das Ergebnis. »Das Rasierwasser – es ist doch ganz gut, oder?«

Sein Blick irrte verunsichert zu Jutta, die sich gepflegt zurückhielt und mit einem gehässigen Schmunzeln zu kämpfen hatte.

»Gut um Mücken und Fliegen abzuwehren«, sagte Christin burschikos und zupfte energisch am Revers seines Sakkos. »Ich verstehe langsam, warum es keine Frau länger als fünf Minuten in Ihrer Nähe aushält.«

Sein sich plötzlich verdunkelnder Blick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht … demoralisieren.«

»Schon gut, Sie haben in der Tat meine Taktik den Frauen gegenüber aufgedeckt.« Er löste sich aus ihrer Nähe. »Verraten Sie mich nicht, sonst kann ich mich nicht vor dem Schwarm lüsterner Frauen schützen. Also, ich wünsche den Damen noch einen angenehmen Tag.«

Er flüchtete förmlich aus dem Haus, vor dem er Hannah antraf. »Hallo Spatz, bist du gar nicht drinnen, bei deinen Freundinnen?«

»Wie? Ist Tini wieder da?«

»Ja, und sie ist wieder gut drauf«, meinte er mehr zu sich selbst und sah zu, dass er Land gewann.

Tobias’ Ablösung kam derweil in die Küche gestürzt und fiel ihrer großen Freundin um den Hals. Weitaus glücklicher über die Ablenkung aber war Christin. Zusätzlich kam ihr die Idee, bei diesem schönen Wetter lieber einen ausgedehnten Bummel durch die Stadt und Wallhofstraße zu machen. Sie musste unbedingt noch in ihre Parfümerie und Luigi würde sie auch längst vermissen.

***

Der Termin vor Gericht hatte sich unendlich in die Länge gezogen. Und eigentlich alles für nichts. Danach hatte Tobias auf der Autobahn geschlagene zwei Stunden im Stau gestanden. Vollsperrung, weil sich ein paar Deppen gesucht und gefunden hatten. Dementsprechend genervt und müde kam er daheim an.

Aus dem Spiegel im Flur blickte ihn ein alter Mann an. Aber seine Krawatte saß wie eine Eins. Vorsichtig lockerte er den Knoten und nahm sich vor, ihn nie wieder zu lösen. Christin … Ihre Rückkehr hatte alles wieder aufgerissen. Ihre Nähe zu spüren, den Duft ihres Parfums. Ihren trockenen Humor über sich ergehen zu lassen und ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein, das selbst auf ihn abfärbte. Den Menschen neben sich zu haben, der einem das Gefühl gab, einfach alles zu schaffen. Der einen auffing und in die Arme nahm, wenn es Tage gab, an denen einen die Flügel nicht so hoch trugen. Er war bereit, für dieses Glück zu kämpfen. Nur überzeugte ihn die Realität immer wieder vom Gegenteil. Was tat man, wenn sich die andere Hälfte gar nicht helfen lassen wollte? Oder sich lieber mit anderen Männern in der Weltgeschichte herumtrieb. Es gab so viele schmerzhafte Parallelen zu Sina, dass es ihm nicht selten wie ein Dé-ja-vù vorkam.

Tobias betrat sein Zimmer und befreite sich von seiner Kleidung. Sie hatten gerade einmal Spätfrühling und doch war es sommerlich warm. Er erinnerte sich an eine Zeitungsmeldung von vor ein paar Tagen. Die Freibadsaison hatte vorzeitig begonnen und der Wetterbericht kündigte auch für die kommenden Tage Sonne und noch mehr Wärme an. Genau das Richtige, um sich einen freien Tag zu genehmigen und mit den Mädels ins Freibad zu gehen. Er trat an sein Fenster in der Hoffnung, dass sich die Abendluft in den Hinterhöfen abgekühlt hatte. Ein Blick auf den bunt blühenden Balkon, der verwaist im Schatten lag. Was gut war, verpasste ihm seine Erinnerung einen Seitenhieb.

Erst jetzt fiel ihm der besonders hübsch verpackte Gegenstand auf. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er das Post-it auf der verdammt teuer anzuschauenden Verpackung eines Herrenparfums entzifferte. „Damit der Frauenjäger auch mal Erfolg hat“, las er in ihrer schwungvollen Handschrift. Warum nur musste diese Frau immer wieder so penetrant zweideutig sein? Er sprühte sich den feinen Nebel aufs Handgelenk. Geschmack hatte sie.

Der Trubel, den seine heimkehrenden Damen veranstalteten, versprach unweigerlich, dass der seltene Moment von Ruhe und innerer Einkehr vorbei war. Ob Christin auch noch mit von der Partie war?

»Hallo, ist Fuchur gar nicht bei euch?«

»Papa! Du sollst nicht immer Fuchur sagen. Wenn ich nicht Tini zu ihr sagen darf, dann darfst du das erst recht nicht.«

»Die Zurechtweisung ist angekommen, Hannah Lena Sophie Herder.«

»Hast du ihr Geschenk gefunden?«, brachte sich Jutta ein.

»Ja.« Er hielt ihr sein Handgelenk unter die Nase. »Hättest du diese verrückte Nudel nicht bremsen können, mir so etwas Teures zu kaufen!«

»Das hätte ich vielleicht sogar. Aber als Christin mir von deinem Husarenstück mit dem Body erzählte, war ich ihrer Meinung. Übrigens verstehe ich nun, warum sie dir damals diesen Brief geschrieben hat.«

Sein mühsam zusammengekratztes Hochgefühl bröckelte. »Muss ich das jetzt verstehen?«

»Tobi, als du damals um Sinas Hand angehalten hast, habe ich sofort gewusst, was für ein Spätzünder du bist. Nur dass du seitdem nichts hinzugelernt hast …«

»Jutta! Schluss jetzt, sonst lege ich dich doch noch übers Knie.« Er hob drohend seine Hand und musste sich im Nachhinein fragen, ob sein Lachen wirklich so zwanglos war.

»Was denn für einen Brief?«

Luchsohr Hannah hatte wieder einmal etwas aufgeschnappt, was nicht für ihre Ohren bestimmt war. Nach der letzten Seelenmassage von vor ein paar Tagen war Tobias nicht erpicht, erneut seinen „Liebesstatus“ mit ihr zu diskutieren. Ablenkung war Trumpf. »Ich habe mir gedacht, dass der Tag morgen zu schön zum Arbeiten ist. Was hältst du davon, wenn wir ins Freibad gehen?«

»Au ja, Papa!« Ihre Augen leuchteten und hektische Betriebsamkeit ergriff sie. »Das wäre toll. Können wir auch die Luftmatratze mitnehmen? Und Geld für Pommes und Cola und Eis. Ach, und kann meine beste Freundin auch mitkommen? Darf ich sie anrufen?«

»Ja, ruf Luisa meinetwegen an.« Tobias fühlte sich wohl. Er sah noch, wie Hannah das Telefon ergriff und die Treppe hinaufpolterte. Mit Getöse fiel ihre Tür ins Schloss. Willkommen im wahren Leben, Herder. Die Zeit wird nahen, da wirst auch du eine Tochter mit Telefonitis haben.

***

Die Rückkehr in mein derzeitiges Leben war zum Glück nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Obwohl Jutta ahnt, dass es mir nicht wirklich gut geht. Sie ist so unheimlich feinfühlig. Ach, wenn ich doch nur den Mut aufbringen könnte, ihr mein Herz auszuschütten. Aber auch sie kann mir nicht bei der Lösung meiner Probleme helfen, in die ich mich so selbstsüchtig hineingeritten habe. Gerade sie nicht! Ich bete darum, dass Nils seine sanft verpackten Drohungen mir gegenüber nicht wahr macht. Ich muss immer wieder daran denken, wie sehr er mich … Nein, wie ich mich dermaßen in einem Menschen habe täuschen können. Ich hatte mir vorgenommen, die Tage auf Mallorca im Tagebuch nachzutragen. Doch wozu? Nils-Oles Eifersucht und seine Besitzansprüche haben alle positiven Gedanken an ihn in mir zerstört. Er hat mir zwar erst gestern beteuert, dass sein Ausrutscher durch den verfluchten Alkohol kam. Aber wie kann ich ihm vertrauen? Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich zuvor war. Und was noch schlimmer ist: All meine alten Selbstzweifel sind wieder präsent. Gerade jetzt, wo ich wieder daheim bin. Es ist komisch, das zu schreiben. Daheim! Aber irgendwie kommt es dem nahe. Ich habe Hannah um mich herum und gleichzeitig zerreißt es mir das Herz, wenn ich sie so fröhlich und unbeschwert sehe. Heute ist ihr wieder dieses „Mama“ in meiner Gegenwart herausgerutscht. Warum nur können Kinder so ehrlich und zugleich so grausam sein? Ich liebe die Kleine, als wäre sie mein eigen Fleisch und Blut. Dabei habe gerade ich es nicht verdient, dass mir ein Kind noch einmal seine Liebe und sein Vertrauen schenkt. Oder dass ich mir anmaßen darf, ein Kind mein eigen zu nennen. Dabei war ich doch schon so gut wie davor. Nicht mehr jede Nacht von diesem kleinen Würmchen zu träumen, dass ich unter meinem Herzen getragen habe, um es dann bei Nacht und Nebel auszusetzen. Ohne einen Namen, ohne Liebe. Einfach in dieser anonymen Babyklappe zu entsorgen und noch in der gleichen Nacht aus Lübeck – diesem grässlichen Kaff – zu verschwinden. Als könne ich so einfach vor meinem schlechten Gewissen fliehen. Was hat es geholfen, mir den Segen zu geben, dass dieses Balg kein Recht hatte, mir mein Leben zu versauen. Dass es von irgendeinem Kerl sei, an dessen Gesicht, geschweige seinen Namen, ich mich nicht erinnern kann. Jetzt wo ich Hannah lieben gelernt habe, sind sie wieder da. Diese kleinen, dunklen, so verletzlich wirkenden Augen, die mich nun jede Nacht verfolgen. Er war viel zu klein und zu schwach, als er sechs Wochen zu früh auf die Welt kam. So blau und so schrumpelig. Manchmal versuche ich mich damit zu beruhigen, dass er es nicht überlebt haben dürfte. Und ich habe ihm nicht einmal einen Namen gegeben. Oh Scheiße, warum schreibe ich mir hier meine Seele aus dem Leibe? Nicht einmal das Wissen, dass niemand diese Zeilen lesen wird, gibt mir die Absolution. Ich weiß nur, dass ich das Recht verwirkt habe, jemals so etwas wie eine Mutter für Hannah oder ein anderes Kind zu sein. Ob sie sich über ein kleines Brüderchen gefreut hätte? Im kommenden Dezember wäre er vier geworden.

Nein! Ich möchte jetzt von etwas anderem schreiben. Etwas, bei dem ich noch immer die Selbstsicherheit in Person bin. Aber da fällt mir nur Tobi ein. Jetzt nenne ich ihn sogar schon bei seinem Kosenamen. Selbst bei ihm spüre ich, dass es nicht mehr nur sein Lächeln und seine Augen sind, die mich verzaubern. Oder tut er mir nur leid? Jutta hat mir letztens vom schrecklichen Unfalltod ihrer Tochter erzählt. Und glaubt man nur einem kleinen Teil der Gerüchte, die ich mittlerweile über diese Sina aufgeschnappt habe, muss Tobias unendlich unter dem Getratsche gelitten haben. Langsam begreife ich seinen Sarkasmus und diese Unnahbarkeit, die er so oft – gerade mir gegenüber – an den Tag legt. Manches Mal, wenn er mich so ansieht, mit einem Blick, der sagt „Ich ahne, wer und was du bist“, dann bin ich wirklich so verzweifelt, dass diese Bestie in mir das Kommando übernimmt und alles und jeden fortbeißt. Gerade bei Menschen, die vielleicht so etwas wie Liebe zu mir empfinden.

***

Gleich nach dem Frühstück ging es los ins Freibad. Es war im Grunde kein weiter Weg. Aber mit all den Dingen, die Hannah für nötig erachtete, und der Tasche mit dem gesunden Essen, die Jutta ihnen auf den Weg mitgegeben hatte, dachte Tobias daran, den Wagen zu nehmen.

»Papa, wo willst du nun hin?«

»Wollten wir nicht deine Freundin abholen? Luisa«, fiel ihm der Name wieder ein.

»Die kommt von selbst da hin.« Hannah schulterte ihre Tasche und stiefelte los. Egal, ob ihr Packesel nun folgte oder nicht.

Als die Fluten über Tobias zusammenschlugen, war aller Stress von ihm abgefallen. Egal ob es nun der teure Eintritt war, dass er sein Buch vergessen hatte oder die Gewissheit, dass er zu feige war, Christin anzurufen, ob sie nicht den Tag mit ihnen gemeinsam verbringen wolle. Nein, heute wollte er sich über nichts ärgern.

Sie hatten einen schönen, ruhigen Platz zwischen Schwimmbecken und Waldrand für sich erobert und Hannah hatte schnell Anschluss zu einer kleinen Gruppe gleichaltriger Kinder gefunden. Vielleicht gelang es ihm ja hier in der Natur, ein wenig mehr zu sich zu finden und über den Spätzünder in sich nachzudenken.

Erschrocken fuhr Tobias auf, als Hannah ihn an den Füßen kitzelte.

»Guck mal, Paps. Meine Freundin ist endlich da!« Kichernd und voller Übermut deutete Hannah neben sich.

Tobias blinzelte gegen die hoch stehende Sonne an und sah doch nur Schatten und Sterne.

»Hallo. Ist es gestattet, dass ich mich hier mit ausbreite?«

Hannah, dieses ausgekochte Luder! »Fühlen Sie sich wie zu Haus, Frau Thorstraten.«

Er verfolgte, wie sie ihre Badetasche auf der anderen Seite von Hannahs Badelaken abstellte und geschäftig ihre Decke ausbreitete. Geschenkte Zeit, um die überirdisch anmutende Erscheinung ungeniert zu betrachten. In ihrem weißen, asymmetrisch geschnittenen Strandkleid wirkte sie wie eine dieser makellosen Statuen aus der griechischen Antike. Einzig die dunkelrote Rose, die sich mit einer grün changierenden Ranke um ihren rechten Fußknöchel wand, zerstörte die Utopie von Reinheit. Hübsch, aber auch irgendwie … verrucht. Der fallende Stoff lenkte Blick und Gedanken ab. Herr im Himmel! Ihr knapper schneeweißer Bikini stach grell von der – sicherlich nahtlosen – Bräune ab, die sie sich von Mallorca mitgebracht hatte. Wusste sie eigentlich, mit was für einem makellosen Körper sie gesegnet war?

»Christin, kommst du mit mir ins Wasser?«

Hannah rettete ihren Vater davor, in Ergriffenheit zu erstarren. Tobias registrierte gerührt, wie Christin ihrer kleinen Freundin liebevoll die Hand auf die Schulter legte und sie auf ein »Bald« vertröstete. »Ich bin noch vom Laufen erhitzt und muss erst auf Normaltemperatur kommen.«

Das herausfordernde Lächeln, welches ihre sinnlichen Lippen umspielte, war dabei eindeutig auf den Vater der Kleinen gemünzt.

»Oh, das Tattoo sieht wunderschön aus!« Hannahs begeisterter Aufruf riss die Großen aus einer Situation, in der sich die beiden mit Sicherheit irgendwann ganz fürchterlich verlaufen hätten. »Sind das Delfine? Papa, kann ich nicht auch so etwas bekommen? Bittebittebitte!«

Tobias stürzte von einer Verwirrung in die nächste. Er verfolgte, wie Hannahs Finger andächtig über das dreidimensional wirkende Bildnis auf Christins Hüfte strichen.

»Papa, mit dem Bikini – den ich auch gerne hätte – sieht es aus, als wollten die Delfine gerade über das Band springen. Oh, das ist ja sooo schön!«

Hannah hatte ganz sicher recht. Der Tattoostecher war ein begnadeter Künstler. Doch als Tobias das eindringliche Betteln seiner Tochter über sich ergehen lassen musste, schaltete sich ein Urprogramm ängstlicher Eltern ein. Kombiniert mit den Erfahrungswerten eines Mannes, der in konservativ-gesitteten Regionen aufgewachsen war. »Nein, meine Liebe! Solange du in meinem Haus lebst, wirst du kein Tattoo bekommen. Klebebildchen meinetwegen. Aber dass du dich als Prostituierte brandmarkst, kommt nicht infrage! Nicht mit mir«, redete er sich immer mehr in Rage und kam auf die Knie. »Schau sie dir doch an, diese Delfine. Noch sind es welche, aber in ein paar Jahren vielleicht schon fette Walfische.«

»Nun reicht es wirklich, Sie … Sie beschissener, ewig gestriger Moralidiot!« Christin stolperte auf ihn zu. Doch statt dass sie sich von ihm auffangen ließ, fing er sich von ihr einen Schlag mitten ins Gesicht ein. »Arschloch!«

Sie warf sich herum und rannte mit wehenden Haaren in Richtung Waldrand.

Hannah blickte entsetzt zwischen der Flüchtenden und ihrem Vater hin und her. Sie schien nicht wirklich zu begreifen, was geschehen war.

Dafür tat es Tobias umso mehr. »Hannah, bitte bleib hier«, hielt er sie gerade noch zurück. »Das ist meine Aufgabe. Ich muss mich jetzt wohl ganz doll bei ihr entschuldigen. Und das muss ich ganz allein fertigbekommen.«

Er folgte der jungen Frau. Wankend wie ein Verurteilter auf dem Weg zum Schafott.

»Christin?« Kaum hatte sie ihn bemerkt, wandte sie sich brüsk ab. Zumindest floh sie nicht mehr vor ihm, dachte er mit wenig Optimismus. »Was ich gesagt habe, war wirklich unter aller Sau.« Ihre Reaktion war ein einziges, heftiges Schluchzen. »Wieder einmal.« Ihm schnürte sich die Kehle zu. »Ich weiß nicht, warum ich gerade bei Ihnen immer wieder eine perfekte Bauchlandung ins größte Fettnäpfchen mache. Und ich kann mich nicht einmal damit herausreden, dass es nur so dahergesagt war.« Was er dadurch erreichte, war ein nur noch heftigeres Schluchzen. »Oh Mann, Fuchur. Wie soll ich das jetzt gestehen? Ich bin in solchen Dingen ein echter Hinterwäldler. Ich komme vom Dorf und ein Mädchen, das sich so was stechen lässt … Ich meine, die hat schnell den Ruf einer … Prostituierten weg.« Mein Gott, jetzt war es endlich heraus!

Sie wandte sich ihm zu. Auch wenn ihr wahre Tränenbäche über die Wangen liefen, kam die Stimme doch aus dem Gefrierschrank. »Und wenn es so wäre?«

Er schüttelte benommen den Kopf. »Was?«

»Was wäre, wenn ich eine Prostituierte bin? Würde das Ihre Sympathien für mich endlich umbringen?«

»Sie stellen vielleicht Fragen.« Er sah in ihrem auflodernden Blick, wie ernst es ihr mit dieser irrwitzigen Frage war. Die Zeit zum Scherzen war vorbei. »Ja, ich hätte an solch einer Situation sehr zu knabbern.«

»Verstehe, das passt dem selbstgerechten Herren natürlich nicht in seine heile Welt von Anstand und Sauberkeit hinein. Selbstgerechtes Arschloch.«

»Hören Sie bitte auf!« Nun waren es seine Blicke, die Feuer versprühten. »Sie haben ja keine Ahnung von dem, was Sie mir unterstellen. Ich habe erfahren müssen, wie es ist, wenn man mit seiner kleinen Tochter allein zu Haus sitzt, während sich die liebende Ehefrau nächtelang durch fremde Betten hurt. Sagen Sie mir also nicht, dass ich … Ach, lecken Sie mich doch!«

Nun war es Tobias, der sie stehen ließ und schnurstracks in Richtung der Schwimmbecken entschwand. In seinem Frust über all die verpassten Gelegenheiten, die nicht gesagten Worte und ihrer indirekten Bestätigung einer Wahrheit, die er gar nicht hatte wissen wollen, hatte er mehr von sich und seinen Schmerz preisgegeben als jemals zuvor.

Dreißig Bahnen zog er durch die Fluten, ehe er sich und seine Gefühle endlich so weit unter Kontrolle hatte, um ihr erneut gegenüberzutreten.

Christin saß auf ihrer Decke und blätterte unkonzentriert in einer ihrer Modezeitschriften, als ein Schatten auf sie fiel.

Tobias hockte sich vor ihr nieder, damit sie nicht zu ihm aufschauen musste. »Könnten wir das Thema von eben vielleicht ruhen lassen?« War es der Wind auf seiner nassen Haut, der ihn frösteln ließ? »Ich wollte wirklich nicht, dass es so sehr unter die Gürtellinie geht.«

Es tat so sehr weh, dass gerade Tobias der Mensch war, der ihr den Spiegel ihrer Unvollkommenheit vorhielt. Es hatte Momente gegeben, wo sie ihn für all seine Frechheiten hatte strafen wollen, ihn herausfordern und bloßstellen. Wieso nur gelang es ihr gerade bei ihm nicht?

»Fuchur, bitte hilf mir. Hilf mir, dass ich mich endlich wieder mit dir friedlich zoffen kann.« Ihr fortwährendes Schweigen verunsicherte ihn immens. »Das Tattoo sieht wirklich wunderschön aus. Dürfte ich es mir vielleicht noch einmal anschauen?« Er brachte ein fahriges Lachen zustande. »Ich behalte auch meine Hände in der Hosentasche.«

Christin ließ ihn zappeln, ehe sie sich stumm zurücksinken ließ. Kaum hatte sie die Augen geschlossen, jagten ihr die Schauer nur so durch den Körper. In welche Situation hatte sie sich nun wieder hineinmanövriert? Sie blendete all ihre unlösbaren Fragen aus und lauschte dem Konzert der Vögel in der mächtigen Linde über ihnen. Das Lachen und die Geräusche der Menschen um sie herum traten in den Hintergrund und machten dem Rauschen des Windes Platz, der sanft durch das Blätterdach und über ihren erhitzten Körper strich. Ja, sie war heiß, und sie konnte es kaum erwarten, dass sie seine starken Hände dort spürte, wo seine glühenden Blicke längst über ihre Haut strichen. Oh Gott, wann hatte sie solch einen Moment erleben dürfen? Jedes noch so kleine Härchen richtete sich an ihrem Körper auf und fiel knisternd in das Konzert der Natur mit ein. Gleich … Gleich wird er dich das erste Mal berühren. So ganz anders. Schüchtern … forschend, dann mutiger, schließlich fordernder. Das Blut begann in ihren Ohren zu rauschen. Herzrasen, so laut wie Buschtrommeln. Für jeden hörbar. Ein Blitz durchraste ihren Körper und brachte das Meer, in dem sich ihre Delfine tummelten, zum Sieden. Hannah!!!

Christin schlug die Augen auf. Der Moment war vorbei. Er hatte sein Versprechen gehalten, erkannte sie beschämt und wütend auf sich selbst. »Zufrieden? Sieht auf den zweiten Blick nicht nach Hure aus, oder?«

Sein milder Blick verkroch sich erschrocken hinter einem ausdrucklosen Nicken.

Nein!!! Sie biss sich auf die Lippen. Wieder einmal hatte sich ihr be … scheidener Trotz durchgesetzt.

»Christin, bitte. Das, was ich vorhin von mir gegeben habe … Es ist nun einmal geschehen. Ich habe Ihnen Dinge an den Kopf geworfen und geäußert, die ich nie zuvor zu einem anderen Menschen gesagt habe. Es tut mir wirklich aufrichtig leid.«

Er verzog sich auf seine Decke und ließ – indem er sich auf den Rücken legte und die Augen schloss – keinen Zweifel daran, dass das Thema für ihn tabu war.

Christin tat es ihm nach. Im festen Glauben, dass sie ihm ein weiteres Mal Grenzen gesetzt hatte, die sie so eigentlich längst nicht mehr wollte.

***

Die nächste Gelegenheit, endlich zu einem vernünftigen Miteinander zu kommen, ergab sich für Christin am folgenden Tag. Silke, eine von Juttas ältesten Freundinnen, hatte Pech gehabt – Beinbruch. Für Jutta war es selbstverständlich, der Freundin zu Hilfe zu eilen. Wusste sie ihre Lieblinge doch bestens versorgt.

Der Tag hatte es in sich gehabt. Fordernde Bauherren, selbstgerechte Mitarbeiter im Bauamt und kompromisslose Denkmalschützer hatten Tobias das Leben schwer gemacht. Dazu die Erlebnisse des gestrigen Tages, die ihn noch immer nicht hatten zur Ruhe kommen lassen. Das Rauschen der Dunstabzugshaube und ganz besonders der Duft nach Gebratenem versprach etwas Linderung. Er stellte seinen Koffer ab und schlich sich in die Küche. »Hallo?«

Der lärmende Abzug, eine Batterie von Töpfen und Pfannen sowie die Anspannung, nicht zu patzen und etwas Schmackhaftes auf den Tisch zu bringen, hatten die wirbelnde Köchin und ihren Lehrling so sehr in Beschlag genommen, dass beide erschrocken zusammenzuckten.

»Hallo Papa, wir bekommen heute Frikadellen und grüne Bohnen! Und Tini zeigt mir ganz genau, wie alles geht.«

»He, du Fratz sollst nicht immer Tini zu mir sagen!«, protestierte Christin schwach und senkte errötend den Kopf, als sie die Blicke von Hannahs Vater auf sich ruhen spürte. »Ich bin hier die Vertretung. Jutta musste dringend zu einer Freundin und hat mich gebeten, ihre Löwen zu versorgen.« Musste er sie nun so ansehen und dabei fortwährend schweigen? Er macht dich nervös, du dumme Nuss. Geschäftig wandte sich Christin zum Herd um. »Ich hoffe, es ist für euch okay?«

»Ja, natürlich.« Tobias trat neben sie und hielt seine Nase in Richtung der verlockenden Düfte. Erst hatte er sie damit reizen wollen, ob sie überhaupt kochen könne, doch die Zeit des Neckens war vorbei. »Das finde ich wirklich lieb von Ihnen. Und dann auch noch unser Lieblingsessen.« Er schenkte ihr sein Lausbubenlächeln und tippte völlig schmerzlos auf einen der lustig vor sich hinbrutzelnden Fleischklopse.

»Nun ist aber gut!« Sie klapste ihn lachend auf die Hand und scheuchte ihn mit den Worten »Gibt’s nicht noch was im Büro zu tun?« hinaus.

Tobias flüchtete sich in der Tat dorthin. Mit all seinen verstörten Gedanken, die sich an ihn hefteten wie Teer und Honig. Wie lange hatte er es vermisst? Und doch war alles so neu, so schön und doch so richtig. Er kam heim und seine Familie …

»Hallo!« Christin mühte sich, ihre Stimme im ganzen Haus erschallen zu lassen. Irgendwo dort oben rumorte Hannah herum und rief, dass sie gleich käme. Sie sah zur Tür, an der ein buntes, von Hannah gemaltes Bild auf Tobias’ Büro hinwies.

Er hatte ihr Eintreten offenbar nicht bemerkt. Die Ellenbogen auf den Schreibtisch gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben, wirkte er unendlich verzweifelt. Diese Erkenntnis schnürte ihr die Kehle zu. Mit einem Blick auf den glänzenden Ehering an seiner feingliedrigen Hand fragte sie. »Störe ich?«

Er sah auf, blinzelte sich in die Realität zurück. »Nein. Nein, auf keinen Fall! Ich … Was halten Sie von Dé-jà-vu-Erlebnissen?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie würden mir Angst machen.«

Er schwieg und spielte gedankenverloren mit der Fotografie auf seinem Schreibtisch.

»Habe ich jetzt etwas Falsches gesagt?«

»Wie? Nein … Sie erinnern mich manchmal so sehr an meine Frau.«

Seine ehrliche Antwort zog ihr beinahe den Boden unter den Füßen hinfort. Nur mit Mühe brachte sie ein zittriges »Ist das jetzt gut oder schlecht?« über die Lippen.

»Ich werde darüber nachdenken müssen.«

Das Klingeln des Telefons ersparte ihr eine Erwiderung, deren Tragweite sie nicht ansatzweise ergründen wollte. Stattdessen befahl sie ihm burschikos: »Machen Sie nicht zu lang. Nicht dass es nachher heißt, ich würde Ihnen kaltes Essen servieren.«

»Mama, was ist mit dir?« Hannah ergriff die Hand ihrer großen Freundin, als sie sie so abwesend an der Tür zu Papas Büro stehen sah. »War Papa wieder blöde?«

Christin öffnete die Augen und erwiderte fest den Druck der kleinen Hand. »Nein, er war sogar lieb zu mir.« Ein mildes Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Glaube ich, zumindest.«

Sie hatten gerade am Tisch Platz genommen, als Tobias ihnen folgte. Sein Blick verhieß nichts Gutes. »Was habe ich nun wieder ausgefressen?«

»Wie?« Irritiert sah er sie an. »Nein, es ist wegen des Anrufes.« Tobias zauberte ein verunglücktes Lächeln auf die Lippen und bemühte sich, das Thema zu wechseln. »Hannahs und mein Lieblingsessen. Womit haben wir das verdient?«

Sein Hunger schien von gesunder Natur, registrierte Christin und verfolgte, wie er sich bediente. »Hat es Ärger gegeben? Ich meine, der Anruf.«

Er atmete tief durch und hob schicksalsergeben die Schultern. »Wieder einen Auftrag verloren. Angeblich wäre ich zu teuer.« Ihm schien aufzufallen, dass es nicht Jutta war, die ihm gegenübersaß. »That´s life. Ist ja erst der fünfte in sieben Tagen.«

»Das ist ärgerlich.« Christin reichte ihm die Schüssel mit den in reichlich Butter geschwenkten Bohnen. »Aber ist es nicht so, dass manch einer seine weniger lebenswichtigen Projekte nervös storniert, wenn der DAX wieder ein paar hundert Punkte verliert?«

»Daran hatte ich noch nicht einmal gedacht.« Sein Lächeln wirkte diesmal herzlich und doch schüttelte er den Kopf. »Nein, die meisten dieser Leute könnten ihre Aufträge aus der Portokasse zahlen. Ich befürchte, da macht jemand Stimmung gegen mich.«

»Konkurrenten?« Christin registrierte ein weiteres Schulterzucken. Sie hatte den drängenden Wunsch, ihn aufzumuntern. »Vergessen Sie diese Idioten. Ich habe gesehen, was für eine tolle Arbeit Sie abliefern. Sie werden immer Kunden finden, die Ihre Bemühungen zu schätzen wissen.«

»Danke, dass Sie versuchen wollen, mich wieder aufzuheitern.«

»Das ist kein Aufheitern. Ich sehe, was Sie aus diesem Haus hier gemacht haben. Ich kenne Niedermeyers Boutique und sehe auch in und an anderen Häusern Ihre ganz besondere Handschrift. Das Torschreiberhaus, in dem ich wohne, gehört nicht zu Ihren Arbeiten, stimmt’s?«

»Seiberl und Hartenstein. Zwei meiner Aufträge haben sie mittlerweile übernommen.«

»Stümper sind das! Und die, die sich haben abwerben lassen, werden sich noch über den Schund freuen, den die abliefern.«

»Jutta sagt immer, dass wir beim Essen nicht so viel reden sollen.«

»Das stimmt, Spatz.« Christin wechselte einen tiefgründigen Blick mit Tobias. »Jutta sagt aber auch ganz bestimmt, dass du Balu nicht vom Tisch füttern darfst. Schon gar nicht mit gewürzten Frikadellen.«

Hannahs Hände zuckten hoch. »Das hast du gemerkt?«

»Hexen bemerken alles. Das solltest du wissen.«

»Und weiße Feen erst recht.« Tobias zwinkerte Christin verschwörerisch zu. »Besonders wenn sie die besten Frikadellen zaubern, die ich jemals gegessen habe.«

Christin hatte insgeheim befürchtet, sich mit den Gewürzen vertan zu haben. Doch sein Blick sagte in diesem Moment nur eines. Liebe ging durch den Magen. Errötend gestand sie ihm: »Es ist das erste Mal, dass ich sie so zubereitet habe. Jutta konnte mir nur zwischen Tür und Angel erzählen, wie Sie sie gern haben.«

»Sagen Sie es ihr bitte nicht, aber Jutta fabriziert nur halb so schmackhafte«, schwärmte Tobias und hielt ihr bittend den Teller entgegen.

»Ja Mama, Oma macht nur halb so gute.« Hannah tat es ihrem Vater gleich und wunderte sich, warum die Großen plötzlich so verstört wirkten.

***

»Manchmal kann Hannah einen ganz gewaltig in Verlegenheit bringen«, brach Christin mutig das Schweigen, das zwischen ihnen bis zum Abwasch hin angehalten hatte. Sie blickte über ihre Schulter hinweg. »Sie müssen doch sonst was denken.«

»Mein Töchterlein hat in ihrer Karriere schon einige Stilblüten fertig gebracht. Aber ich wüsste jetzt nichts, was uns peinlich sein sollte.«

»Dass sie mich vorhin Mama genannt hat, ist Ihnen entgangen?«

»Nein, beileibe nicht.« Er räusperte sich und schaute zu, wie sie bemüht war, das Blumenmuster vom Teller zu schrubben. »Ich befürchte, Hannah und Jutta sind auf die Idee gekommen, dass ich mit zwei Frauen im Hause unterfordert sein könnte.«

»Soso, das befürchten Sie also?«

»Ja. Man sollte den beiden zugutehalten, dass sie unser Geheimabkommen nicht kennen.«

»Wir haben ein Geheimabkommen?«

»Nun tun Sie nicht, als wüssten Sie das nicht mehr.« Er nahm ihr den Teller ab, ehe sie ihn doch noch weiß bekam. »Ihr Brief an mich.«

Christin schwieg einen weiteren Teller lang. »So wie ich Sie kennengelernt habe, so provokant und destruktiv, mag ich mir kaum vorstellen, dass gerade Sie sich an Regeln und Vorschriften halten.«

»Oh doch, besonders, wenn sie von einer Hexe aufgestellt wurden.«

»Weiße Fee«, verbesserte sie ihn. Ihr Lachen war eine einzige Verunsicherung.

»Noch schlimmer! Eine Hexe ist nur nachtragend und zänkisch, wenn ihre Gesetze gebrochen werden. Eine Fee dagegen vergisst wohl nie, oder?«

»Ja, das stimmt.« Christin ließ das Besteck in die Schüssel gleiten und wandte sich ihm zu. »Dürfte ich ihn trotzdem zurückbekommen?«

»Wen? Den Brief?« Zum ersten Mal, spürte Tobias, bekam er ein wenig Oberwasser. »Nein, ich kenne Sie. Sie schreiben nur neue Gesetze und Regeln hinein. Jetzt, wo ich die alten endlich begriffen habe.«

»Und wenn es bessere Gesetze und weniger Regeln wären?« Christin spürte, wie ihr die Knie weich zu werden drohten.

Tobias erging es nicht besser. Es knisterte nicht nur zwischen ihnen, es brannte lichterloh. Doch die Bilder, die vor seinem inneren Auge vorbeirasten, sprachen wenig von einer Zweisamkeit, nach der er sich so sehr sehnte. Als er sich seiner Existenz wieder bewusst wurde, hatte ein anderer Mann die Kontrolle in ihm übernommen. »Ich denke, ich kann gut mit den alten Regeln leben.«

Christin sah ihn ungläubig an. Es dauerte gefühlt Jahrhunderte, ehe sie aus ihrer Erstarrung erwachte und sich der Erkenntnis stellen musste, dass er ihr tatsächlich einen Korb gegeben hatte. »Ja, gut. Das kann ich wirklich gut verstehen.«

»Christin, bitte …«

»Nein, es ist gut. Ich habe verstanden.« Sie streifte die Haushaltshandschuhe ab und kehrte ihm den Rücken zu.

»Ich glaube nicht, dass Sie wirklich verstanden haben, was ich damit sagen wollte.« Er atmete tief durch. »Ich habe einen guten Wein geschenkt bekommen. Wie wäre es, wenn …«

»Herr Herder, Sie wollen mir wieder nicht zuhören!« Christin fuhr herum und drängte sich resolut an ihm vorbei. »Den Rest werden Sie bestimmt allein schaffen. Und was den Wein betrifft, setzen sie sich vor einen Spiegel und diskutieren Sie mit sich selbst, bis sie schwarz werden.«

»Nein! Christin, bitte warte«, flehte er gegen die sich schließende Tür an.

***

… Und immer wieder gibt mir dieser blöde Kerl das Gefühl, dass ich unter seiner Würde bin. Sei es damals, als er mir verbot, Hannah und Jutta wiederzusehen, gestern im Freibad und jetzt, als ich mir so sicher war, dass … Christin schauderte bei dem Gedanken, den sie beinahe niedergeschrieben hätte. Sie holte tief Luft und setzte neu an. Vielleicht bin ich es sogar? Unter seiner Würde! Immer wieder spielen sich in meinem Kopf die Szenen aus dem Freibad ab. Seine tiefe Verachtung und doch zugleich diese unendliche Verzweiflung, die ihn zu zerfressen droht; bei der ich mir bis heute nicht sicher bin, ob oder warum ich das Ziel bin. Ahnt er, wer ich bin und was ich auslebe? Oh Gott, ich weiß, dass wir nie zusammenkommen dürfen. Es würde uns beide zerreißen. Nichts anderes wollte er mir heute zu verstehen geben. Und doch erwische ich mich immer wieder dabei, dass ich nur an ihn denke. Nicht nur, wenn ich allein in meinem Bett liege und mir vorstelle, wie diese so zarten und doch so starken Hände über meinen Körper streicheln. So sanft und einfühlsam. So wie sie über die Wand in der Umkleidekabine geglitten waren. Mein sogenannter Verstand rät mir immer wieder, einfach mit ihm ins Bett zu gehen. Dann würde ich sehr schnell erkennen, dass auch er nur ein Versager und Aufschneider ist. Wie all die anderen vor ihm. So würde es mir sofort gelingen, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen. Und wenn nicht? Was, wenn mein blöder Verstand endlich den Mann für sich findet, den er immer gesucht hat? Mein ganzes Leben müsste sich ändern. Bin ich dazu bereit? Was ist mit meiner Vergangenheit, die mich immer wieder einholen wird? Und schon wieder bin ich am Anfang. Ich müsste Tobias alles gestehen. Wenn er nicht längst ahnt, wer und was ich bin. Wie sonst hätte er mir das mit seiner Frau an den Kopf werfen können. Und dann die anderen! Die würden mich und Tobias nie in Ruhe lassen. Nicht nur Nils-Ole, der an sich schon schlimmer ist als drei eifersüchtige Ehemänner. Auch meine beiden anderen „Sponsoren“, die ich mir hier nicht ganz freiwillig angelacht habe, würden ausflippen, wenn sie voneinander und erst recht von Tobi erführen. Eben kommt mir dieser verrückte Gedanke, mit Hannah, Jutta und Tobi von hier fortzugehen und woanders neu anzufangen. Frau Thorstraten, du wirst langsam irre. Du wirst nie einen Mann fürs Leben finden. Und wenn es doch so sein sollte, wird er es sein, der irgendwann schreiend Reißaus nimmt.


Kapitel 11

Noch nicht einmal neun Uhr durch! Müde und zerschlagen warf sich Christin ihren Morgenmantel über und wankte die Treppe hinab. Erneut klingelte es an der Tür; wenn auch viel zaghafter als zuvor. Das würde dem Störenfried dennoch nicht das Leben retten. Sie würde ihn ungespitzt in den Boden rammen.

»Darf ich zu dir reinkommen?«

Christin erschrak heftig, als sie die Tränenbahnen in Hannahs Gesicht gewahrte. Sie fand gerade noch Halt am Türrahmen, als die Kleine stürmisch ihre Hüften umschlang und ihren Gefühlen freien Lauf ließ. Alle möglichen und unmöglichen Schreckensszenarien rasten Christin dabei durch den Kopf, während sie auf die Knie sank und Hannah in die Arme nahm.

»Papa ist ja so blöde!«, grimmte und zornte es hinter wirrem, ungekämmtem Haar.

»Das ist ja nichts Neues«, kommentierte Christin sarkastisch die Feststellung ihrer kleinen Freundin. »Komm, mein Spatz. Wir machen uns ein Frühstück mit heißer Milch und Kakao und dann erzählst du mir, was passiert ist.« Die Erleichterung, dass Hannah nichts Schlimmes geschehen war, ließ Christin ihre weichen Knie spüren. »Magst du mir erzählen, warum ihr euch gestritten habt?«

»Er will nicht, dass du meine Mama wirst. Und nun … nun will er nicht einmal mehr mit uns in den Freizeitpark fahren!«

Christin stürzte von einem Gefühlschaos ins nächste. »Hannah, warum nur hast du ihm gesagt, dass ich deine Mama werden soll? Das kann ich doch nicht, mein Schatz. Und das weißt du auch.«

»Nein, das weiß ich nicht! Warum kannst du nicht meine Mama werden?« Hannahs Mundwinkel verzogen sich gefährlich abwärts. »Ich habe die ganze Nacht davon geträumt. Ich habe geträumt, dass du meine Mama bist und dass du und Papa, dass ihr euch immer lieb habt. Und Geschwister habe ich auch gehabt. Franzi hat auch einen kleinen Bruder!«, sprudelte es atemlos aus ihr hinaus.

»Hannah, bitte komm wieder herunter!« Christin verschüttete das halbe Kakaopulver, so sehr zitterten ihr die Hände. »Das sind alles nur Träume.«

»Die wahr werden, wenn man nur ganz fest daran glaubt«, begehrte Hannah trotzig auf. »Das hast du selbst zu mir gesagt.«

»Das geht trotzdem nicht. Um deine Mama zu werden, dafür müsste Tobias mich erst einmal lieb gewinnen. Aber für ihn bin ich nur eine Hexe, vor der er sehr viel Angst hat. Zu recht …«

»Du bist keine Hexe! Das habe ich dir hundertmal gesagt! Du bist eine weiße Fee und ich werde auch einmal so werden. So wie du!«

»Nicht, wenn ich das verhindern kann!«, drohte Christin überzeugt. »Selbst wenn ich dafür deine Mutter werden müsste.« Oh Gott, flehte sie das oder die höheren Wesen dort oben an. Was habe ich nur verbrochen, dass du mir auf solch grausame Weise zeigst, was für eine schöne Zukunft ich hätte haben können?

»Tini, bitte rede du doch mal mit Papa. Ich meine, ihr müsst ja vielleicht nicht gleich heiraten, oder? Ich kann warten, ein wenig.«

»Heiraten!« Christin lachte sich ihren Kummer fort und schloss ihre kleine Freundin fest in ihre Arme. »Oh Hannah, was bist du nur für eine verrückte Nudel. Aber ja, jetzt frühstücken wir und dann werde ich mir Tobias zur Brust nehmen.«

***

»Ich möchte aber mit zu Papa und dabei sein, wenn du ihn fragst«, zeigte Hannah kurz darauf wenig Bereitschaft daheimzubleiben.

»Nein, diesmal werde ich mit deinem Vater allein reden.« Christin klingelte, weil Hannah ihren Schlüssel partout nicht hervorholen wollte. »Kinder sollten nicht dabei sein, wenn ihre Eltern laut miteinander zu reden haben.«

Christin selbst hatte ihre Freud’sche Fehlleistung nicht einmal bemerkt, aber für Hannah stand fest: Christin dachte ganz bestimmt daran, ihre Mama zu werden.

Jutta sah in einer Mischung aus Erlösung und Überraschung auf die Besucher herab. »War Hannah bei dir? Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, als sie nach dem Streit mit ihrem Vater fortgerannt ist.«

»Ist Tobias da?«

»Nein.« Jutta wand sich verlegen und beschwor ihre Freundin. »Es ist im Moment wohl besser, wenn du nicht gerade mit ihm zusammentriffst. Ich weiß auch nicht warum, aber momentan sieht er in dir ein dunkelrotes Tuch.«

»Gut, dann weiß er wenigstens, wer ihn bei den Hörnern packt. Wo ist er?«

»Christin …«

»Nein, Jutta. Ich will und werde ihn jetzt sprechen! Es geht nicht an, dass Hannah darunter leiden muss, wenn wir das Bedürfnis haben, uns anzuzicken. Also, wo finde ich ihn?«

***

Christin huschte wie eine Gämse über Stock und Stein, nachdem sie – das Verbotsschild missachtend – die Baustelle betreten hatte. Die Entkernung der Innenräume war bereits weit vorangeschritten, bis auf Bereiche im ersten Stock, die sorgfältig konserviert waren. Alte Tapeten oder gar Malereien? Doch das sollte und durfte sie nun nicht ablenken. Sie hatte eine andere Mission zu erledigen. Der Lärm, den die beiden Bauarbeiter im Parterre machten, verklang, als sie die mit Latten gesicherten Treppen weiter hinaufstieg und sich den Stimmen aus dem obersten Stockwerk näherte.

»Hören Sie, Herr Herder. Wir müssen uns da unbedingt etwas einfallen lassen. Meine Frau hat sich nun einmal in den Kopf gesetzt, die oberste Etage als Atelier einzurichten. Diese Finzelfensterchen, die Sie eingeplant haben, will sie so nicht akzeptieren.« Werner Leisner, der Bauherr, verzog die Mundwinkel. Man sah ihm an, wie unwohl er sich in seiner Lage fühlte. Hatte er damals doch selbst die Pläne, die Herder ihm vorgelegt hatte, abgesegnet.

»Das geht beim besten Willen nicht, Herr Leisner. Das Bauamt steigt uns wortwörtlich aufs Dach und die Denkmalschutzbehörde erst recht. Es gibt Auflagen, die wir nicht umgehen können. Dachfenster in den Dimensionen, wie sie sich Ihre Frau vorstellt, bekommen wir nie und nimmer genehmigt. Vom Kastell und vom Bürgerpark her ist alles in der Blickachse und würde den homogenen Eindruck sämtlicher Dachstrukturen in der Nachbarschaft zerstören.«

»Irgendetwas müssen Sie sich einfallen lassen. Nicht umsonst haben wir den fähigsten Architekten damit beauftragt. Man hat uns gesagt, dass Sie alles möglich machen können«, versuchte Edith Leisner, seine Gattin, es mit Schmeicheln und Flehen.

»Ich würde Ihnen wirklich gern all Ihre Wünsche erfüllen. Doch bei den Entscheidungsträgern helfen nicht einmal „kleine Geschenke“. Allenfalls Hexerei, aber da muss ich passen.«

Das war für Christin, die den Großteil des Gespräches mit angehört hatte, ihr Stichwort. Das und die Idee, die ihr beim Lauschen gekommen war. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich so hineinplatze.« Sie räusperte sich verhalten und trat zu der kleinen Gruppe, die unter einer Dachschräge stand, in der die Dachdecker winzig kleine Löcher geschaffen hatten. Christin konnte diese Frau Leisner nur zu gut verstehen. »Ich wollte eigentlich nur kurz mit … meinem Gatten sprechen. Dabei musste ich ungewollt die bestehende Problematik mit anhören.« Ein gefälliges Lächeln in Richtung der Geschlechtsgenossin. »Ich weiß, ich bin darin ein völliger Laie. Aber wäre es nicht machbar, wenn man ein ausreichend großes Fenster einbaut, aber nach außen hin kaschiert? Ich meine, so, dass es nicht gleich als Fenster wahrgenommen wird.« Christin kassierte irritierte Blicke von allen Seiten und ging ins Detail. »Letztens bin ich mit einem Bus durch Frankfurt gefahren, der von oben bis unten mit Werbung beklebt war. Beim Einsteigen habe ich mich noch gefragt, wie die Leute da hinausschauen sollen. Ich war wirklich überrascht, wie viel Licht und Sicht man dennoch hatte. Wenn man nun solch eine Folie in Dachziegelbedruckung auf einen Teil der Fenster aufbringt?« Christin kassierte das hoffnungsvolle Nicken des älteren Ehepaars, das sich mit dieser Lösung anscheinend arrangieren konnte. Ganz besonders ging ihr aber Tobias’ bewundernder Blick unter die Haut.

»Herr Herder, sagen Sie uns, dass das geht!« Die Leisners hatten nicht erst beratschlagen müssen, um zu einem Entschluss zu kommen.

Tobias hob unsicher die Schultern. »Wir können es auf einen Versuch ankommen lassen.«

Während Werner Leisner und sein Architekt über die weitere Vorgehensweise diskutierten, unterhielten sich die Damen über die künftige Nutzung des Hauses und wie die Räume am besten zu nutzen wären. Hierbei geriet Christin heftig ins Schwärmen. In farbigen Tönen schilderte sie der wie gebannt zuhörenden Edith Leisner, welche Ideen ihr beim Aufstieg gekommen waren. Sie unterbrach sich erst, als die Herren zu ihnen traten und feststellten, dass fürs Erste alles geklärt war.

»Waaas!«, monierte Christin Tobias’ Blick. Ihre Stimme schwankte zwischen Humor und Herausforderung. »Habe ich nun auch noch Ihre Fähigkeiten als Architekt untergraben?«

Er schüttelte den Kopf und sah sie wieder mit diesem verschmitzten Lächeln an, über das sie sich bereits mehrmals in ihrem Tagebuch „beschwert“ hatte. Auch jetzt vollführte ihr Herz wieder diese komischen Hüpfer.

»Sie haben mir eher das Leben gerettet«, seufzte er und sah den Leisners hinterher.

»Also wieder einmal«, stimmte sie ihm atemlos zu.

»Wieso wieder einmal?«

»Habe ich Sie nicht erst vor ein paar Wochen notverarztet. Und gestern habe ich Sie sogar durchgefüttert.«

»Stimmt. Und ich habe mich nicht einmal dafür bedankt, sondern Sie noch vor den Kopf gestoßen.«

»Das ist bei Ihnen ja nichts Neues.«

»Dabei kann ich mir bis heute nicht erklären, warum ich so reagiere.« Sie schwieg ihn an, registrierte er. Wenn ihre Blicke dabei auch Bände sprachen. Gott, was würde er darum geben, all seine Worte ungeschehen zu machen. Er musste dringend das Thema wechseln. »Wie kommen Sie eigentlich auf diese Ideen? Ich meine, das mit dieser Folie und der Innendekoration.«

»Ich bin eben eine Frau mit Visionen.«

»Ach so … Und das, dass Sie sich als meine Frau ausgeben?«

Shit! Er hatte ihren kleinen Affront also doch bemerkt. »Was hätte ich in dieser Situation sagen sollen? Etwa Ihre Geliebte? Oder noch besser, Ihre Heimsuchung?«

Ehrlicher wäre es wohl, dachte er bei sich und spürte seinen Puls bis in den Hals hinauf. Tobi, sie will dich nur herausfordern. Also spiel mit! »Sekretärin … zur Not Verlobte, vielleicht?«

»Mit solch niederen Jobs gebe ich mich gar nicht erst ab.« Sie lachte herausfordernd. »Wenn, dann will ich alles in vollen Zügen genießen!«

»Ich frage Sie jetzt lieber nicht, wie Sie das nun wieder meinen.«

Seine Blicke krochen ihr unter die Haut. Welcher Teufel ritt sie nur, dass sie so mit dem Feuer spielte? Ihm schien es ebenso zu ergehen. Er wäre Butter in ihren Händen, wenn sie denn nur wollte. Aber nein, zu viel stand zwischen ihnen. Von seiner Seite, wie von ihrer. Eine Erkenntnis, die ihr nie so bewusst war wie in diesem Moment. Tobias war ein ganz besonderer Mensch, den sie nicht verdiente, geschweige denn in alle Ewigkeit versauen durfte.

Tobias wusste nicht zu sagen, wie lange sie sich schweigend gegenüberstanden. Es lag wohl an ihm, etwas Geistreiches zu sagen. »Sie sind jetzt nicht wirklich vom Himmel gestiegen, um mich vor meinen schwierigsten Kunden zu bewahren, oder?«

Seine völlig aus dem Kontext gelöste Frage riss Christin aus ihren gefährlichen Träumen. Beinahe dankbar entgegnete sie. »Nein, denn das können nur Engel. Und solch einer bin ich definitiv nicht. Aber Sie können Hannah und mir trotzdem einen Herzenswunsch erfüllen.«

»Daher weht also der Wind.« Er lehnte sich mit seinem Knackhintern gegen einen der vielen Holzböcke, die hier oben zuhauf herumstanden und sah sie schmunzelnd und mit blitzenden Augen an. »Shoppen gehen?«

»Nein. Obwohl, das wäre auch eine gute Idee. Später einmal, vielleicht. Danke schön. Nun aber möchten Hannah und ich gern, dass Sie mit uns in diesen Freizeitpark fahren. Hannah spricht schon so lange davon. Sie wollen doch nicht, dass ihre Lieblingsfrauen an Seele und Geist verkümmern …« Oh Gott, jetzt forderte sie ihn erneut heraus. Und doch überwand sie mit wiegendem Schritt die knappe Lücke, die sie voneinander trennte. Eine dunkle Wolke vertrieb sein Lächeln und hinterließ eine Spur von Traurigkeit in seinen Mundwinkeln. »Habe ich nun wieder etwas Falsches gesagt?«

»Nein … Sie umgarnen mich nur wie meine verstorbene Frau. Damals … als ich sie noch geliebt habe.«

Christin schluckte ihr Entsetzen herunter, während ihre Hand ein Eigenleben entwickelte und beinahe zärtlich verirrte Holzspäne von seiner Schulter wischte. »Bitte erfüllen Sie Hannah und mir den Wunsch.« Leise, fast flehend. »Ich verspreche Ihnen auch hoch und heilig, dass ich Sie nicht weiter umgarnen werde.«

»Sie sollten nur etwas versprechen, was Sie auch halten können.«

Christin hielt inne und versank in seinen Blicken. Er war nur ein Mann, aber er hatte sie längst durchschaut, erkannte sie mit seltener Offenheit. Aber was war so verwerflich daran, wenn sie sich eine Auszeit von ihrer Rolle nahm? Eine Rolle, die sie sich damals in ihrem einsamen Schmerz auf den Leib geschrieben hatte. Was war so schlimm, wenn sie einmal einen Mann nicht als Einnahmequelle sah und jede „Dienstleistung“ in Euro und Cent aufrechnete?

»Wann soll es denn losgehen?«, brachte er sich in Erinnerung.

»Samstag? Ich meine, wenn es Ihnen passt.«

»Gut, dann will ich mich bemühen und meine Damen glücklich machen.«

Christin gab ihren Gefühlen endlich die Zügel frei. Was dazu führte, dass sie ihm mit einem mädchenhaften Jauchzer um den Hals fiel und einen Kuss auf die Wange gab.

Als sich Tobias ihres Überfalls bewusst wurde, hatte sie sich bereits mit einem hellen Lachen zur Treppe geflüchtet und entschwand mit einem »Bis Samstag dann!«

An diesem Tag gelang Tobias wirklich nicht mehr viel Produktives. Christin dagegen hatte nach Tagen sehr viel Gelegenheit und Muße, ihr Tagebuch mit den ausführlichsten Gedanken zu füllen.

***

Samstag, Spätnachmittag. Warum nur war dieser Tag wie im Fluge vergangen, fragte sich Tobias und verstärkte den Griff um den erschöpften Plumpsack, der ihm halb auf der Schulter, halb in den Armen hing. Dabei konnte er kaum seinen Blick von der Frau vor sich lassen. Ihr knackiges Fahrgestell, das in dem engen Minirock erst recht zur Wirkung kam. Die luftige Baumwollbluse, darüber ihr kecker Pferdeschwanz, der lustig auf und nieder tanzte. Heute, wo Christin nicht aufgebrezelt war, wirkte sie nur noch anziehender auf ihn.

Es schien, als hätte sie seine Gedanken gespürt. Ein Blick über die Schulter, ein Lächeln. »Manchmal beneide ich Hannah ja so sehr.«

Es bereitete ihm eine diebische Freude zu sehen, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss und sie sich stotternd zu verbessern suchte.

»Ich meine damit, dass meine Füße wie Hölle brennen. Deine Tochter hat eine bemerkenswerte Energie.«

Sie hatten den Wagen erreicht. Christin öffnete sämtliche Türen, um die stickige Luft herauszulassen. Danach half sie ihm, Hannah abzusetzen. Über den Kopf der Kleinen hinweg trafen sich ihre Blicke. Einem weiteren Lächeln, das sie nur für ihn hatte, spürte Tobias nach; und das war das Schönste an diesem Tag. Zwischen Schinderhannes-Schaukel, Luna-Loop und Wasserbob war sein Herz wachgerüttelt worden und hatte dem Schisser in ihm endgültig einen Tritt in den Allerwertesten verpasst.

Es war ungewohnt, nach all den Schutzbügeln und Haltestangen ein richtiges Lenkrad in der Hand zu halten und den Wagen heil durch den fließenden Verkehr zu lenken. Im Rückspiegel betrachtete Tobias seine Tochter, die zusammengesunken den Rücksitz für sich in Beschlag nahm. Kein Wunder, der kleine Wirbelwind hatte sie den ganzen Tag über auf Trab gehalten. Jedes Fahrgeschäft wollte ausprobiert werden. Unnötig zu sagen, dass Christin und Papa jedes Mal mitfahren mussten.

Ein herzhaf­tes Gähnen riss ihn aus seinen Gedanken. Christins Lächeln wirkte glücklich und gelöst. So zart, so schutzbedürftig, dass er sie am liebsten in die Arme genommen hätte. Wieder diese Schauer, die ihn durchrasten.

»Kannst du überhaupt noch fahren?« Ihre Hand berührte wie zufällig seine und hielt sie fest. »Du tust mir so leid.«

»Befehlt, meine Königin, und ich chauffiere euch bis ans Ende der Welt.«

Meine Königin? Christins Herz tat einen weiteren Hüpfer. Nicht mehr Fuchur oder Hexe? Viel war nicht mehr übrig von diesem selbstgerechten und chaotischen Kerl. Alles andere als das. Den ganzen Tag lang waren sie wie eine glückliche Familie herumgetollt.

Viel zu schnell gab sie seine Hand wieder frei, stellte Tobias bedauernd fest. Doch in ihrem Blick glaubte er weiterhin eine verständnisvolle Wärme zu erkennen. Diese Vertrautheit zwischen ihnen, die einfach nie wieder enden durfte.

Genervtes Hupen riss ihn aus seinen Träumen und zwang ihn dazu, sich auf den Verkehr zu konzentrieren und das Gewühl hinter sich zu lassen.

Schweigen kehrte ein. Ab und zu ein kurzer Blick, ein schüchternes Lächeln. So als wisse niemand von ihnen, wie es weitergehen solle. Wortlos verfolgte Tobias Christins fürsorgliches Handeln. Auf dem Sitz­ kniend mühte sie sich ab, Hannah aus ihrer verdrehten Schlafposition zu retten. Wie liebevoll sie dabei war. Er gönnte sich den Luxus, seine Blicke über ihre sonnengebräunten Beine, ihre schlanken Fesseln gleiten zu lassen. Diese ungemein plastische Rose mit ihren zarten, grünen Blätterranken. Herrgott …

Diesmal war es der empört hupende Gegenverkehr, der ihn aus seinen Träumereien riss. Ruckartig korrigierte Tobias seine wirre Fahr- und Gedankenrichtung, während Christin mit einem erschrockenen Ausruf auf ihren Sitz rutschte. Missbilligende Musterung.

»Entschuldigung.« Er lachte nervös. Nur schnell etwas Unverfängliches sagen. »Ich habe von einem Lokal gehört, das sehr gut sein soll und das zufällig auf unserem Heimweg liegt.«

Sie blickte zweifelnd an sich herab, zupfte an ihrer luftigen Bluse und wischte erfolglos an einem dicken Schokoladefleck, den sie mit Sicherheit Hannah zu verdanken hatte.

»Ich komme natürlich für die Reinigung auf.«

»Wie?«

»Die Flecken.« Er berührte zaghaft die dunkle Stelle auf Höhe ihrer Hüfte; ungefähr dort, wo sich die Delfine tummelten. Was würde geschehen …

»Jetzt hör aber auf!«, verscheuchte sie nichts ahnend seine Gedanken, die daraufhin wie eine aufgescheuchte Hammelherde in alle Richtungen davonstoben. »Das gehört doch wohl zu einem Abenteuertag wie dem unseren dazu! Die Sachen kommen in die Wäsche und damit hat es sich.«

»Dann mach ich es aber mit einem schönen Abendessen wieder gut.«

»Tobi, ich bin völlig genudelt. Eis, Zuckerwatte, Pommes, Liebesäpfel«, zählte sie seufzend auf und betastete ihren flachen Bauch. »Wenn das öfter vorkommt, gehe ich auf wie ein Hefekloß!«

»Das glaube ich dir ungesehen.« Er warf ihr vielsagende Blicke zu und legte ein weiteres Mal seine Hand auf ihren Bauch.

»He, du Schlingel.« Lachend bremste sie seinen Übermut und hielt seine übermütigen Finger gefangen.

Das erneute Schweigen, das entstand, öffnete einer knisternden Spannung Tür und Tor. Im Radio spielten sie romantische Oldies. Hintergrundmusik für erneute Erinnerungen. Wie gelöst sie miteinander umgegangen waren. Ihr Lachen bei den wilden Fahrten, die sie unternommen hatten. Den Schutz, den sie in seinen Armen gesucht hatte, wenn es wieder einmal zu kribbelig wurde. Kein Spielgerüst war für sie zu hoch, keine Hängebrücke zu schauklig, wenn es darum ging, mit Hannah herumzutoben. Diese Christin war so ganz anders als die, die er sich immer versucht hatte einzureden. Wie lange mochte sie schon so dasitzen und ihn beobachten?

»An was denkst du jetzt?«

»So viel Spaß wie heute hatte ich lange nicht mehr.« Er hoffte, dass sie ihm das abnahm. Schließlich war es ja die Wahrheit – wenn auch nur die halbe.

»Ja, es war wirklich eine tolle Idee von Hannah und Jutta, uns endlich aus der Reserve zu locken«, gab sie zu erkennen, in das Komplott ihrer beiden Freundinnen eingeweiht zu sein. »Den Tobias von heute mag ich sehr gern.«

Nun war es an ihm zu schweigen. Dabei hätte er ihr so gern gestanden, dass sich etwas in ihm verändert hatte. Vielleicht ergab sich ja noch die Gelegenheit, dachte er und steuerte den Parkplatz des gut besuchten Lokals an.

Geschäftstüchtig kam ihnen der Wirt entgegengeeilt, begrüßte sie wie gute alte Freunde und führte sie an einen freien Tisch. Wo sich die Damen sogleich entschuldigten.

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge sah Tobias ihnen hinterher. Wie ähnlich sich die zwei doch waren. Selbst auf den zweiten Blick gingen sie als Mutter und Tochter durch. Unweigerlich musste er an Christins Bitte denken, ihr den Brief zurückzugeben. Bessere Gesetze und weniger Regeln. Dachte sie wirklich daran zu bleiben? Hier bei ihnen?

***

»Oh Tini, der Tag war ja sooo schön!« Hannah verließ die Kabine und trat neben ihre große Freundin an den Waschtisch. Aufmerksam verfolgte sie, wie Christin mit geschickten Handgriffen ihr Make-up ausbesserte. »Können wir nächste Woche nicht wieder zur Lochmühle fahren?«

Christin lächelte ihr durch den Spiegel hindurch zu. »Das würde wohl bald langweilig werden, Spatz. Ganz bestimmt können wir bald etwas anderes unternehmen.«

»Wirklich!« Hannahs Lippen umspielte ein zufriedenes Lächeln. »Ihr habt euch endlich lieb, oder? Ich habe gesehen, wie ihr euch immer angeguckt habt. Ja, und Papas Hand hast du auch ganz fest gehalten.«

»Ja, aber nur, damit ich nicht aus dem Karussell falle«, dementierte Christin mit einem Schmunzeln und war froh, dass ihr Smartphone gerade jetzt zum Leben erwachte. Das Lächeln gefror ihr auf den Lippen.

»Willst du denn nicht rangehen?«

»Nein, das ist nicht so wichtig.« Sie vergrub das Gerät in die tiefsten Abgründe ihrer Handtasche. »Der Tag heute gehört euch. Da will ich mich von niemandem stören lassen.«

»Darf ich auch ein wenig von deinem Lippenstift probieren?«

Würde das ihre Zukunft sein? Völlig unpassende Anrufe und eine Tochter, die viel zu selbstbewusst für ihr Alter war. »Was glaubst du, wird dein Papa sagen, wenn du dich geschminkt an den Tisch setzt?«

Als Tobias seine Damen zurückkehren sah, steckte er sein Handy fort. Jutta hatte ihm eine SMS geschickt. Ein blinkendes Herzchen, ein fettes „UND“ und viele Fragezeichen. Er hatte ihr ein „Besser als je zuvor“ zurückgeschickt und ein „Gehen jetzt schön essen.“

Hannah und Christin strahlten ihn um die Wette an. Lippenstift, ergänzte er für sich. Ihm war plötzlich sehr wohl bewusst, dass er – wenn die beiden zusammenhielten und Jutta dazu – nie wieder einen Fuß auf den Boden bekam.

»Einen Pfennig für deine Gedanken«, murmelte Christin und ergriff die Speisekarte, ehe sie ihn vollends in Verlegenheit brachte.

Ihr kleines Double tat es ihr nach und brachte ihren Vater erneut zum Schmunzeln. Ob Christin das bemerkte? Ob sie seine Gedanken las? Natürlich! Als weiße Fee sah sie in sein Innerstes. Er war fest davon überzeugt. So wie sie ihn über den Rand der Speisekarte hinweg musterte.

»Die Jagdhauspfanne hört sich gut an. Würdest du mir eventuell dabei helfen?«

»Ja, Papa. Jagdhauspfanne«, schloss sich Hannah mit wichtiger Miene an.

»Hattest du nicht eben erst von Schnitzel und Pommes gesprochen?«, kam es von Christin. »Du kannst von mir etwas abbekommen, sollte es dir schmecken.«

»Du hast gehört, was Mama sagt«, kommentierte Tobias die herunterrutschenden Mundwinkel seiner Tochter. »Außerdem sind da Pilze drin, die du nicht magst.«

»Ups, dann doch lieber Schnitzel.« Hannah erstarrte mit einem Male und sah ihren Papa an. »Du hast eben zu Christin Mama gesagt.«

»Habe ich das? Tja, dann ist das wohl gerade ein schöner Traum, in dem ich mich befinde.«

Der Wirt entband ihn vor weiteren Erklärungen; zumindest vorerst.

»Was war das eben mit dem schönen Traum?«

Tobias sah zu Hannah, die andächtig damit beschäftigt war, aus den Bierdeckeln ein Haus zu bauen. Christins Blicke forderten weiterhin eine Antwort ein.

»Ich weiß, ich habe in den letzten Wochen sehr, sehr viel Müll geredet und mir dabei wohl alle Chancen auf ein Happy End verdorben. Doch heute ist ein Tag, an dem ich es mir einfach herausnehme und von einer Welt träume, in der ich kein Tollpatsch bin.« Beredtes Schweigen. »Wäre das für dich in Ordnung?«

Christin spürte, was sie hier und jetzt taten, würde ihrer beider Zukunft verändern. Am vernünftigsten wäre es, ihm knallhart zu sagen, dass er mehr als eine Chance verspielt hatte und sich gehackt legen könne. Ein Blick in seine so bemerkenswerten Augen. Liebevoll, mit einem Hauch von Wagemut, den sie so an ihm noch nicht bemerkt hatte.

»Du warst es, der mir meinen Brief nicht zurückgeben wollte.« Langsam schob sie ihre Hand über die weiße Tischdecke. Ein Friedensangebot, das er ergreifen konnte.

Er nickte zurückhaltend und schickte seine Hand ebenfalls vor. Zögerlich, bis sich ihre Fingerspitzen sachte berührten. »Es gibt Dinge, da stehe ich mir selbst im Wege. Manchmal habe ich Angst davor, mich aus meinem Schneckenhaus zu befreien und neue Wege zu gehen.«

»Und plötzlich hast du sie nicht mehr?«

»Ich würde mich wirklich über neue Gesetze und Regeln freuen.«

»An die du dich dann nicht halten wirst?«

»Ach, du bist aber eine höfliche junge Dame.« Die Stimme der älteren Frau am Nebentisch befreite das Paar aus einer Situation, die erneut sehr schnell in einer Sackgasse hätte enden können.

Hannah war aufgesprungen und hatte der Dame die Gabel aufgehoben, die ihr zu Boden gefallen war. Mit den Worten »Ich besorge Ihnen schnell eine neue, diese ist bestimmt schmutzig«, stob sie in Richtung Küche davon.

»Ihre Kleine ist ein richtiger Sonnenschein!«, richtete die Tischnachbarin ihre Worte an Christins Adresse. »Solch Gefälligkeit sieht man sonst bei den jungen Leuten von heute überhaupt nicht mehr. Aber ich habe ja gleich zu meinem Mann gesagt, dass Sie eine glückliche Familie sein müssen. Nur so, sage ich, kann ein Kind richtig gedeihen. Herzlichkeit und Liebe, habe ich zu meinem Mann gesagt, sind das A und O in einer glücklichen Familie. Sie können wirklich stolz auf Ihre Tochter sein.«

Der Lobgesang, den die fremde Frau so plötzlich über sie ausschüttete, ließ Christin irritiert zu Tobias schauen. Doch der schien die Ruhe selbst.

»Es ist schön zu sehen, dass es auch heute noch etwas anderes gibt als diese fruchtlose antiautori­täre Erziehung«, fuhr die Tischnachbarin unbeirrt in ihrem Monolog fort. »Sie müssen wissen, ich war selbst einmal Erzieherin und weiß, worüber ich rede.«

»Ja, unsere Hannah ist für ihr Alter sehr vernünftig«, stimmte Tobias ihr mit zuckenden Mundwinkeln zu. »Meine Gattin hat ein begnadetes Talent, unserer Tochter zu zeigen, wie man im Leben vorankommt. Ohne seine Mitmenschen zu verärgern.«

Christin glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Ohne die Spur eines Errötens ließ er die Alte im Glauben, sie wäre Hannahs Mutter.

»Hannah ist wirklich die Krone und Vollendung unserer Liebe.« Schmachtend ergriff Tobias Christins Hand und streichelte sie liebevoll.

Nur das schelmische Funkeln in seinen Augen verriet ihr, wie sehr er diese groteske Szene genoss. Na warte, mein Lieber.

»Ach, wissen Sie«, räusperte sich Christin und fing seine vorwitzigen Finger ein. »Mein Mann hat weitaus mehr Verdienst an der Erzie­hung, als er zugibt. Stimmt es nicht, Schatzi?« Sie spitzte die Lippen zu einem Kuss, während ihre Schuhspitze unter dem Tisch wie zufällig sein Schienbein traf. »Hannah ist unser Ein und Alles.«

»Ja, das habe ich gleich zu meinem Mann gesagt. Die Zufriedenheit, die Sie ausstrahlen, beschwingt einen selbst.« Die Frau überschüttete das vermeintliche Ehepaar mit weiteren Ratschlägen über Erziehung und Eheglück, während ihr Gatte ihnen nur schulterzuckend zuprostete.

Erst als Hannah, die Bedienung und ihr Essen erschienen, wurden Christin und Tobias erlöst. Verschwörerisch blickten sich die vermeintlich Liebenden tief in die Augen und mussten sich ein unpassendes Lachen verkneifen.

»Lass es dir schmecken, mein Schatzi. Aber bitte nicht wieder treten«, hauchte Tobias flehend und bedachte sein Gegenüber mit liebevollen Blicken.

»Ich hoffe, du weißt, wofür das war, Schatzi.« Ihr strahlendes Lächeln versprach ihm den Himmel auf Erden.

»Worüber redet ihr denn?« Hannahs Blicke huschten von einem zum anderen, ohne dass sie eine Antwort erhielt. Komisch, hatten die beiden etwa Geheimnisse vor ihr? Und dieses Schatzi, Mensch, waren die heute aber albern!

***

Das Erlebnis mit ihren Tischnachbarn hatte eine Leichtigkeit bei ihnen hinterlassen, die selbst noch anhielt, als Tobias den Wagen vor dem Haus abstellte.

»Du stehst hier ziemlich im Wege«, tadelte Christin ihn leise. »Arme kleine Drachinen rennen sich ganz bestimmt den Kopf ein.«

»Ich weiß, aber das ist nun mal meine Art, wunderschöne Frauen zu Fall zu bringen und einzufangen.« Beide dachten sie an eines ihrer ersten Zusammentreffen.

»Das hat wirklich wehgetan.«

»Das glaube ich dir.« Es war nicht einfach, ein Grinsen zu verbergen. »Seitdem habe ich aber auch ungeheuer Angst vor dir. Dein Donnerwetter klingt mir noch immer in den Ohren.«

»Blödmann«, kommentierte sie liebevoll seine Herausforderung und stieg aus, um die tief schlafende Hannah vom Gurt zu befreien.

Jutta erwartete sie bereits an der Tür und nahm Tobias die Sachen ab. Vielsagende Blicke wechselten miteinander und konzentrierten sich auf die beiden Damen, von denen die jüngere wie ein nasser Sack in den Armen der älteren hing.

»Tobi, hab den Mut. Sie gehört einfach zu euch.«

»Ja, das hoffe ich so sehr.«

»Und wie sieht sie es?« Juttas Frage blieb unbeantwortet.

»Komm, ich nehme sie dir ab.« Tobias trat Christin entgegen und streckte die Arme aus. Unweigerlich geschah es, dass er sie dabei berührte wie nie zuvor.

»Sind wir schon da?« Hannahs Erwachen zerstörte den besonderen Moment. Ein Eimer kaltes Wasser hätte nicht wirkungsvoller sein können.

»Ja, sind wir.« Tobias setzte seine Tochter ab und schob sie vor sich her ins Haus. »Wir rauschen nun auf dem schnellsten Weg ins Bett, Madame.«

»Papa, wo sind die Bilder vom Freizeitpark?« »Mama, bitte noch eine Geschichte.« »Muss ich denn wirklich die Zähne putzen?« Hannah versuchte mit allen Mitteln, den Augenblick des Schlafengehens hinauszuzögern. »Das war so schön mit euch. Machen wir das morgen wieder?«

»Ob die Frau Oberstudienrätin Hannah noch immer als Engelchen sähe, wenn sie sie jetzt erleben würde?« Christin und Tobias verdrehten gespielt die Augen und mussten sich ein Lachen verkneifen. Schließlich hatten sie Hannah so weit, dass sie gewaschen und mit geputzten Zähnen im Bett lag.

»Tini, magst du mir nicht die Geschichte von dem Mädchen mit den goldenen Haaren weitererzählen?«

»Und ich soll dir keine Geschichte erzählen?« Tobias klang beileibe nicht, als würde er sich deswegen grämen.

»Morgen wieder«, vertröstete Hannah ihn und hatte eine plötzliche Eingebung. »Wenn Tini zu uns zieht, könnt ihr euch immer dabei abwechseln, mir eine Geschichte zu erzählen.«

Jetzt nur nicht zu Christin sehen, die neben ihm auf dem Bettrand saß und leise etwas vor sich hingrummelte. Stattdessen beugte sich Tobias grinsend über seine Tochter und gab ihr einen Kuss. »Gute Nacht, du kleine Quasselstrippe. Und hör auf, Christin ständig in Verlegenheit zu bringen.«

»Mache ich doch gar nicht, Paps! Ich glaube, du kannst nun gehen«, entließ sie ihn zufrieden aus der Audienz.

»Herrgott, die wird später immer das letzte Wort haben.« Er erhob sich seufzend und strich Christin dabei sachte über ihre Schulter. »Viel Spaß mit der Besserwisserin. Ich bin unten.«

Kaum hatte Tobias das Zimmer verlassen, erklang aus den Tiefen ihrer Handtasche erneut die ganz bestimmte Melodie. Diesmal war der Anrufer hartnäckiger. »Entschuldige, Schatz. Da werde ich rangehen müssen. Ich mache es aber kurz«, versprach sie Hannah und huschte hinaus auf den still daliegenden Flur.

»Nils, was ist los! Warum rufst du ständig an?«

»Wo bist du?«

Christin knirschte mit den Zähnen, als sie seine Stimme vernahm. »Ich habe heute einen Ausflug unternommen. Das wusstest du!«

»Ich warte hier seit geschlagenen drei Stunden auf dich«, quoll sein wütendes Zischen aus dem Gerät.

»Das ist nicht mein Problem! Wenn du mir einmal zuhören würdest …«

»Ein Problem wirst du haben, wenn du nicht bald hier bist!« In die alkoholgeschwängerte Stimme mischte sich wachsender Zorn.

Am liebsten hätte Christin laut aufgeschrien. Aber was sollte sie machen? »Ich bin in einer halben Stunde da.« Sie drückte sein Gespräch fort und ließ sich schwer gegen den Türrahmen fallen. Die Realität hatte sie im Sturzflug auf den Boden der Tatsachen aufprallen lassen.

»Tini, kommst du?«

»Ja, mein Schatz. Ich bin sofort da.« Christin wischte sich die Tränen fort und versuchte sich an einem Lächeln.

***

Christin traf Jutta im Wohnzimmer an. »Ist Tobias nicht bei dir?«

»Er wollte in den Garten.« Jutta sah von ihrem Buch auf und deutete auf den Platz neben sich. »Magst du dich zu mir setzen?«

»Sonst sehr gern. Aber nun hat Tobi es verdient, dass ich mich für den schönen Tag bei ihm bedanke.«

»Dann geh doch hin, zu deinem Tobi«, erlaubte sich Jutta ein Lästern. Statt eines verliebten Lächelns empfing sie einen Blick, der alle Alarmglocken in ihr läuten ließ. Das war bei Christin beileibe nicht das erste Mal, doch nun schien es, als würde die Freundin das Leid der ganzen Welt auf ihren schmalen Schultern tragen. Bevor sie sie darauf ansprechen konnte, winkte diese ihr zu und verschwand in Richtung Garten.

Christin traf Tobias unter dem Kirschbaum an, wo er die Äste zu sich herunterzog und nach ersten reifen Früchten suchte.

»Hallo Geschichtenerzählerin.« Er ließ den Zweig fahren und wandte sich ihr zu. »Schläft sie?«

»Wie ein Murmeltier.« Sie blieb vor ihm stehen und fühlte sich dabei so verunsichert wie nie zuvor. Ihm schien es nicht anders zu ergehen. »Sind schon welche reif?«

»Ein paar habe ich gesehen.« Er deutete in für ihn unerreichbare Höhen. »Warte, gemeinsam schaffen wir es vielleicht.«

Ehe Christin sich versah, hatte er ihre Hüften gepackt und hob sie vorsichtig an. Als wäre sie ein Federgewicht „schwamm“ sie sanft und schwerelos durch Blätter und Zweige.

»Hast du sie?« Nicht einmal ansatzweise atemlos stiegen seine Worte zu ihr hinauf.

Das wohlige Prickeln ließ sie nur noch stumm nicken. Was er von seiner Warte aus wohl kaum sehen konnte. Doch die intensiven Bilder, die ihrem Bauchgefühl folgten, verboten jegliche Worte. Er sollte nicht erkennen, wie es wirklich in ihr aussah. Dabei konnte ihre Fantasie es gar nicht erwarten, dass er sie langsam an sich herabgleiten ließ. Nur noch ein klein wenig Zeit klauen. Bitte, bitte, liebes Schicksal. Er war ihr so nah und doch so fern, wenn sie daran dachte, was unabwendbar schien.

»Vier Stück haben wir erwischt«, zählte sie ihre Beute und wandte sich zu ihm herum. Seine Hände hielten noch immer ihre Hüften umfangen. Beileibe nicht fordernd. Nein, beschützend. Glücklich fütterte sie ihn mit dem schönsten Paar Kirschen. Seine Lippen schlossen sich zart um ihre Fingerspitzen, sandten einen sanften Kuss durch ihre Nervenbahnen. Zu viel! Christins Arme schlangen sich um seinen Hals und zogen ihn sachte zu sich herab. Die Zeit verschwamm und pochte allein im Gleichklang zweier Herzen, die sich so lange, so sehnsüchtig gesucht und endlich gefunden hatten.

Der zarte Druck gegen seine Brust reichte, um Tobias zu signalisieren, dass ein Mehr zu viel war. Er spürte die Veränderung, noch bevor er in ihrem Blick die Wahrheit – ihre Wahrheit – las. Ein Gefühl von Leere schlich sich in die offene Flanke seines eisernen Panzers, den er sich nach Sinas Tod zugelegt hatte.

»Tobi, wir dürfen so nicht weitermachen.«

»Ich habe deinen Brief hier bei mir.« Seine Hand hatte das Gewicht von Blei, als er sie in Richtung Gesäßtasche schob.

»Verstehe doch, ich kann nicht mit dir schlafen.« Nein, er würde es nie verstehen! Er würde nie Verständnis für ihr wahres Leben haben und letztlich daran kaputtgehen.

»Ich will auch nicht nur mit dir schlafen. Ich würde mir wünschen, dass aus uns mehr …«

»Nein, es geht nicht! Wir sind schon viel zu weit gegangen.«

»Dann wird es auch nicht schlimmer werden, den Rest zu gehen.« Alles in ihm schrie, dass er längst auf verlorenem Posten kämpfte. War das ihre Art, ihn für seine bisherigen Handlungen zu strafen? Idiot, verwarf er diesen unmöglichen Gedanken. Zumindest sollte sie wissen, zu was er bereit war. »Es ist noch viel zu früh, um darüber zu sprechen, und ich will dich dadurch nicht verjagen. Hannah liebt dich. Und auch ich … Ich meine …«

»Versteh es endlich, ich gehöre einem anderen Mann!« Sie flüchtete sich in Richtung Haus und verharrte, als sie bemerkte, dass er ihr nicht folgte. Er stand an seinem Platz; festgenagelt und weiß im Gesicht, wie eine frisch gekalkte Wand. »Es tut mir wirklich leid.«

Er schwieg, sah sie einfach nur stumm an. Oh Gott, warum nur hatte sie ihn nicht damals, vor all diesen schlimmen Jahren kennengelernt? Dicke, stumme Tränen schossen ihr in die Augen und fanden ihren Weg über kochend heiße Wangen. Sein letzter Blick, ehe er sich abwandte, riss ihr das Herz entzwei.

Jutta vernahm die leichten Schritte, die über den Flur eilten. Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss. Seit Christins vielsagenden Blicken ging ihr nur die eine Frage durch den Kopf. Was sagte man einem Mann, dessen Welt ein weiteres Mal in Scherben lag? Das Knarren der Treppenstufen verriet ihr, dass eine Lösung dieser Frage auf sich warten ließ.

***

»Ich gehöre einem anderen Mann.« Es waren ihre Worte, die ihm immer wieder in einer Endlosschleife sagten, dass er zu lange gewartet hatte. Zu sehr stillgehalten. Und nun? Sollte er wieder – zum ungezählten Male – den Kopf in den Sand stecken? Sollte er ein weiteres Mal seine strahlende Ritterlichkeit bewundern dürfen und dafür leer ausgehen? Oder hatte er endlich den Mumm, um seine Liebe zu kämpfen? Statt darauf zu hoffen und sich einzureden, dass der andere ein anständiger Kerl war.

Hannah hatte im Schlaf ihre Decke von sich gestrampelt. Leise trat Tobias an ihr Bett und deckte sie zu. Dabei bemerkte er die Bilder, die sie um ihre Nachttischlampe drapiert hatte. Er setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und nahm eines nach dem anderen, um sie zu betrachten. Sie waren eine glückliche Familie; so wie es die Alte in ihnen gesehen hatte. Tochter, Mama und Papa. Wie sie sich glücklich anschauten, sich gegenseitig Halt gaben, wenn es hoch herging. Nur zu gut erinnerte er sich an die Momente, die die Schnappschusskamera eingefangen hatte. Christin hatte über ihre Schulter hinweg zu ihm aufgeschaut. Blicke, die ihm alle Glückseligkeit auf Erden versprachen. Es war dieser magische Augenblick, als er nach gefühlten Jahren endlich befreit aufatmen konnte. Als er sich sicher war, dass Christin die Frau war, mit der er ein Leben lang glücklich sein könne. Und nun? Nein, verscheuchte er den ewigen Zauderer in ihm, diesmal würde er um seine Liebe kämpfen. Egal, mit wem sie zusammen war.

Mit neuem Mut erhob er sich und schickte sich an, Hannahs Zimmer zu verlassen. An der Tür angelangt sah er zu der Schlafenden zurück. »Spatz, du wirst deine Mama bekommen. Und wenn es das Letzte ist, was ich zustande bringe.«

***

Christin war keineswegs auf direktem Wege heimgekehrt. Diese Frau, die längst verlernt hatte, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, war an ihrem Haus vorbei, durch das alte Tor hindurch in den abendlichen Stadtpark gelaufen. Vergeblich versuchte sie sich damit zu beruhigen, dass sie nur vermeiden wollte, dass Nils-Ole ihr tränennasses Gesicht bemerkte.

***

»Was für ein seltener Besuch!«, wurde Tobias vom Stammtisch im „Krameramtsstübchen“ her begrüßt. Die alten Freunde rückten ein wenig zusammen.

Tobias versuchte sich an einem zuversichtlichen Lächeln, das auf einer Skala von Eins bis Zehn gerade einmal eine Zwei eroberte. »Ulli, magst du mir einen trockenen Roten bringen«, rief er zum Wirt herüber und zirkelte sich auf seinen Platz neben Tarek, seinem besten und wohl einzig wahren Freund.

»Tobi, altes Haus, gar nicht daheim bei der holden Angebeteten?«

Die Geier waren nicht träge. Tobias hatte nichts anderes erwartet. Wenn man beim Begriff Freunde und Freundschaft verweilte, gehörte Sebastian Hagen – der momentane Wortführer – nicht wirklich dazu. Dessen glasiger Blick zeugte von dem einen oder anderen genossenen Viertel. »Wie soll ich das verstehen?«

»Komm schon, Tobi, du brauchst nichts zu dementieren. Ich sage nur Stadttorhexe!«

»Stadttorhexe? Basti, ich habe heute keinen Nerv für Wortspielereien. Wenn du Frau Thorstraten meinst, dann sage es auch!«

Tobias’ ruhige, aber humorlose Stimme ließ die Gespräche nach und nach verstummen.

»Ich mein ja nur. Was man so über diese Frau hört … Wir machen uns Sorgen und wollen dich nur vor einer weiteren schlechten Erfahrung bewahren. Sie soll … ich meine, sie soll Geld nehmen für … Na, du weißt schon wofür«, stammelte Sebastian Hagen und suchte nach Zustimmung im Kreis der Gäste.

»Hagen, es reicht!« Tobias kämpfte mit sich, nicht aufzustehen und zu gehen. Doch das würden sie ihm als Schwäche auslegen. Auch die, die er noch immer als Freunde bezeichnete. Früher oder später musste er Farbe bekennen. Warum nicht jetzt, wo er den nötigen Frust in sich trug. »Selbst wenn es so sein sollte, dann wäre sie doch wohl schlau, oder?« Tobias sah herausfordernd in die Runde. »Ich meine, Geld dafür zu nehmen.« Die Verblüffung, die er mit seiner harschen Äußerung schuf, war in die Gesichter der anderen gemeißelt. Er ließ seinen speziellen Widersacher nicht mehr aus den Augen. »Wenn ich mich recht erinnere, sind das Einzige, das du von deinen Eskapaden mit anderen Frauen heimbringst, Alimenteforderungen oder Krankheiten mit unaussprechlichen Namen.«

Es dauerte, bis der Düpierte begriff, welch einen Affront Tobias soeben losgelassen hatte. Sebastian Hagen sprang wütend auf. »Das muss ich mir nicht sagen lassen. Nicht von solch einem erfolglosen Flittchenbändiger.«

Niemand überredete ihn zu bleiben, als er wutschnaubend davonstürmte.

»Und morgen will er mir nicht glauben, was auf seinem Zettel steht«, versuchte Ulli, der Wirt, die Stimmung zu lockern. Wobei sein Blick, den er Tobias dabei zuwarf, deutlich sagte „Mach keinen Ärger, sonst bist du der Nächste“.

Tobias sah dennoch herausfordernd in die Runde. »Sonst noch jemand mit weisen Ratschlägen?«

Kopfschütteln. Schweigen.

Erst als das Gespräch langsam wieder zum Leben erwachte, war es Tarek, der seinem besten Freund entschuldigend zuraunte »Nimm es nicht so tragisch, Mann. Basti hat es auf seine Art nur gut gemeint. Natürlich machen wir uns alle unsere Gedanken und Sorgen.«

»Ach, meinst du.« Tobias verfolgte verbissen die Lichtreflexe, die Glas und Rotwein auf der hölzernen Tischplatte erzeugten.

»Wir wollen nicht den Fehler von damals wiederholen und dir verschweigen, was man sich über euch erzählt.«

»Das finde ich wirklich lieb.« Der Sarkasmus rann Tobias wie zähes Pech über die Lippen. »Lass dir eines gesagt sein. Das Gerede über uns interessiert mich einen Dreck! Selbst wenn Christin die Prostituierte ist, die Sebastian so liebevoll umschrieben hat.« Er wartete auf Widerworte, die nicht kamen. »Du kannst den Leuten gern sagen, dass ich ein Faible für solche Frauen habe. Dann sind sie vielleicht beruhigter.«

***

Im Haus war es still. Dennoch mochte sich Christin nicht der irrigen Hoffnung hingeben, dass Nils-Ole das Feld geräumt hatte. Ihre Handflächen wurden schlagartig feucht, als sie sich daran erinnerte, welch eine Szene er ihr auf Mallorca gemacht hatte. Sollte er ruhig kommen. Heute war sie auf alles gefasst und vorbereitet. Auf dem halben Weg die Treppe hinauf vernahm sie die Musik aus ihrer Stereoanlage. Howard Carpendale in seinen besten Zeiten. Nils-Ole gehörte definitiv der Generation ihrer Eltern an. Je mehr sie darüber nachdachte, umso deutlicher wurde ihr bewusst, wie sehr er sie in Momenten wie diesem an ihren verhassten Vater erinnerte. Sie sah sich aufmerksam um. Das Wohnzimmer lag verlassen da. Ihr Blick strich über das Bücherregal. Es wirkte unordentlicher als sie es für gewöhnlich duldete, ebenso der Schreibtisch. Ihre Ausarbeitungen über Gernhausens Geschichte waren nur flüchtig aufeinandergestapelt. Sie musste sich nicht fragen, was er gesucht hatte.

»Das wirst du nie finden«, murmelte sie leise vor sich hin, ehe sie sich abwandte, die flackernde Kerze auf dem Wohnzimmertisch löschte und nach oben ging.

Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen, dennoch suchte sie zuerst das Bad auf. Nils-Ole gönnte ihr diese Viertelstunde. Wohl wissend, dass sie ihm für den Rest der Nacht zur Verfügung zu stehen hatte.

***

Christin bedachte ihn mit einem stummen Blick. Der Champagner, den er ihr stumm gereicht hatte, schmeckte warm und abgestanden. Wie ihre Beziehung, ergänzte sie für sich. Angewidert trat sie an das Erkerfenster. Das edle Gesöff rann träge die Dachpfannen hinab.

»Wo warst du?«

Ruckartig fuhr sie zu ihm herum und bedachte den selbstgefällig daliegenden Mann mit glühenden Blicken. »Ich habe einen Ausflug unternommen. Der war lange geplant und das wusstest du!«

Er richtete sich halb auf dem zerwühlten Bett auf. Ein Teil seines Bademantels folgte der Schwerkraft. Scheinbar nicht genug, denn mit einer herrischen Handbewegung fegte er den Stoff beiseite. »Ich merke mir im Allgemeinen nicht, wann sich meine Angestellten ihre Freizeit nehmen.«

»Ach!« Hatte sie ihn wirklich einmal sportlich und attraktiv gefunden? Oder war es nur das Geld, was sie wieder einmal gereizt hatte, ging sie hart mit sich ins Gericht. »Jetzt führst du mich bereits als Angestellte?«

»Hör mir mit deinen Haarspaltereien auf.«

Händler erhob sich mit unerwarteter Eleganz und Geschwindigkeit. Wie ein Fels stand er vor ihr und überragte sie fast um Haupteslänge. Christin kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, wie sich dieser Abend gestalten würde.

»Muss ich mir Gedanken darüber machen, mit wem du ausgeflogen bist?«

Christin konnte nichts mehr gegen ihren spöttischen Blick unternehmen. Ihre Augen verrieten sie – wie so häufig. Da half es auch nicht mehr, dass sie ihren Morgenmantel verführerisch über die Schultern gleiten ließ.


Kapitel 12

… Irgendwann werde ich wieder vor die Tür gehen müssen. Allein der Gedanke daran bereitet mir Schmerzen. Körperlich nicht. Aber seelisch. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass es einem Mann gelingt, mich so sehr einzuschüchtern. Oder wie schnell man erpressbar wird! Ohne dass man diesem Menschen etwas nachweisen kann. Ich kenne Nils gut genug, um zu wissen, dass er keine leeren Versprechungen macht. Und ich kann mit niemandem darüber reden. Am wenigsten mit Tobias. Oh, wie sehr ich mich danach sehne, dass er mich einfach in seine Arme nimmt und dass alles wieder gut wird. Nur wie soll gerade Tobi wissen, dass ich mich so nach ihm sehne. Wo ich ihm doch glaubhaft vermittelt habe, wie utopisch eine gemeinsame Zukunft ist.

Christin schloss ihr Tagebuch und verstaute es an dem Platz, an dem Nils-Ole nie suchen würde. Ihr Entschluss stand fest. Auch wenn sie dadurch alles verlor, was sie sich so sehr wünschte und von dem sie gerade eben geschrieben hatte. Warum schrieb sie eigentlich noch? Wo sie das Buch in einigen Tagen doch eh verbrennen würde.

Als Erstes würde sie ihren alten Vermieter anrufen, nahm sie sich vor und stockte sogleich. Nils-Ole wusste, wo sie in Frankfurt gewohnt hatte. Es verbot sich von allein, ihr altes Leben einfach wieder aufzunehmen. Nils würde sie nie und nimmer in Frieden ziehen lassen. Sie wusste zu viel. Zu viel über ihn, über seine Machenschaften und Verbindungen. Dagegen waren sein Besitzdenken und die Herrschsucht das geringere Übel. Wurde ihr eigentlich erst jetzt bewusst, in welch aussichtsloser Situation sie sich befand?

Christin griff zum Telefon und wählte mit bebendem Finger die einzige Nummer, die ein Hauch von Ruhe und Ablenkung versprach. Ohne dass sie gleich einen Offenbarungseid abzulegen hatte.

»Christin? Du?«

»Ja, ich.« Sie meinte, Reserviertheit aus der Stimme ihrer Freundin herauszuhören. Jutta hatte allen Grund, böse zu sein. Nach ihrem Abgang letztens. Tobi war für sie weit mehr als ein Schwiegersohn. »Hättest du ein wenig Zeit für mich?«

»Was für eine Frage, natürlich!«

»Ich war mir nicht sicher«, druckste Christin verlegen. »Nach letztem Samstag. Und wie es zwischen Tobi und mir …« Die Erinnerungen schnürten ihr die Kehle zu.

»Nun hör aber auf! Ich weiß zwar nicht – wieder einmal –, was sich bei euch abgespielt hat, aber das soll doch unsere Freundschaft nicht belasten.«

Jutta schien auf irgendeine Zustimmung zu warten, doch die stummen Tränen ließen sie förmlich ersticken.

»Magst du nicht vorbeikommen? Wir wären jetzt allein und ungestört.«

»Danke, Jutta. Das bedeutet mir wirklich sehr viel.«

»Bis gleich, Tini.«

Nun fing auch schon Jutta damit an, sie so zu nennen. Christin ließ ihre angestaute Luft und all ihren Kummer entweichen und legte mit einem verunsicherten Lächeln auf. Dem ersten seit Tagen.

***

»Na, wieder Ärger mit der Treppe gehabt?«

Man konnte viel von Jutta behaupten, dass sie mit ihrer Meinung hinter dem Berg hielt, gehörte nicht dazu. Christin setzte sich mit einem unterdrückten Stöhnen. Nils-Ole hatte sich diesmal wirklich bemüht, seine „Zärtlichkeiten“ nicht sichtbar anzubringen. Sie verbarg den Ausschnitt ihrer Bluse mit den Händen. Und doch sah Jutta alles.

»Du weißt, dass es keine Treppe war.« Verdammt, in ihrem Hals steckte ein Kloß und sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

»Mädchen, ich war selbst mit einem gewalttätigen Mann verheiratet«, kam es trocken von Jutta. Emotionslos fuhr sie fort. »Du wirst allein von diesem Kerl loskommen müssen. Sonst wird er nie aufgeben.«

Keine Frage nach dem, wer es war, keine wutentbrannten Predigten. Es tat so gut, dass Jutta so distanziert blieb. Aber es half ihr auch nicht wirklich bei ihrem dringendsten Problem. »Ich will nicht, dass Tobi in diese Sache hineingezogen wird. Er darf von all dem nichts erfahren.«

Zum ersten Male brachte Jutta ein herzhaftes Lachen zustande. »Ist das etwa der einzige Grund, warum du dem armen Jungen immer wieder einen Korb gibst?«

»Was soll er denn, bitte schön, ausrichten können?« Christins Lippen krausten sich verdächtig. »Du kennst ihn viel besser als ich. Entweder er macht sich wegen mir unglücklich oder ich bringe ihn in Gewissensnot.«

»Tobias dürfte alt genug sein, um für sich selbst zu entscheiden.« Jutta ergriff die fahrig über die Tischplatte wischende Hand der Freundin und drückte sie fest. Christins Besorgnis war nicht von der Hand zu weisen. Und doch durfte man sich seinen Ängsten nicht ergeben. »So wie ich ihn in den letzten Tagen erlebt habe, hat er das.«

»Und wie …?«

»Das, meine Liebe, wirst du selbst herausfinden müssen. Am besten sofort.«

»Ich kann einfach nicht mehr gegen meine Gefühle ankämpfen.« Christin verbarg ihr Gesicht hinter den Händen, dass ihre Worte kaum zu verstehen waren.

»Dann mache endlich Nägel mit Köpfen!« Jutta horchte auf und ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Hallo zusammen.« Tobias schien freudig überrascht, als er die Besucherin erkannte. Der Rest seines Körpers folgte dem Kopf in die Küche. »Fuchur, das ist ja eine Überraschung.«

Wie sehr konnte man bei einem geliebten Menschen spüren, dass er gewillt war, dem anderen zuliebe zu gewohnten Handlungssträngen zurückzukehren. Nur um diesen nicht vollends zu verlieren.

Jutta brach das verlegene Schweigen, das sich zwischen den jungen Leuten auftat und das wie ein schleichendes Gift wirkte. »Hat sich etwas bei dem Gespräch mit den Kaminskys ergeben? Haben sie ihre Absage zurückgenommen?«

Ein Schatten huschte über Tobias’ Gesicht. Er setzte sich müde und ließ sich von Jutta einen Kaffee einschenken. »Das Übliche eben. Ich sei zu teuer und man habe ihnen von mehreren Seiten dringend davon abgeraten, mit mir zusammenzuarbeiten.«

Christin ergriff impulsiv seine Hand und sah ihn mitfühlend an. Nur zu gut erinnerte sie sich an seine Niedergeschlagenheit, als er ihr von seinen beruflichen Problemen erzählt hatte.

Sachte erwiderte er den Druck. Sofort war sie wieder da, diese Innigkeit, die er so oft in ihrer Nähe spürte. Dieses stumme Einverständnis. Allein ihr Lächeln, das sie ihm, wie in diesem Moment schenkte, war ein Versprechen, dass man gemeinsam alles schaffen würde. „Ich gehöre einem anderen!“ Ihre Worte hatten sich tief in jede Faser seiner Empfindungen gegraben. Er gab ihre Hand frei, als hätte er sich an ihr verbrannt. Nur um sich gleich darauf maßlos über sich selbst zu ärgern. War das etwa sein ganzer Plan, um sie zu kämpfen? Er fing ihre Hand ein, bevor sie sie zurückziehen konnte. Ein erschrockener, dann verwunderter Blick.

»Ja, alles wird wieder gut«, fasste er ihre ungesagten Gedanken in Worte und zauberte ein verlegenes Lachen hervor. »Das erinnert mich daran, dass die Bilder fertig sind.«

»Welche Bilder?« Christin blickte auf ihre ineinander verschlungenen Finger. Was für ein Gefühl. Weit intensiver als alles zuvor erlebte.

»Die von uns, aus dem Freizeitpark. Hannah hat mir tagelang in den Ohren gelegen.« Tobias’ Blicke streiften Jutta, die sich am liebsten klein und kleiner gemacht hätte. »Wo ist der Zwerg eigentlich?«

»Sie wollte mit Balu und einer Freundin in den Wallanlagen spielen gehen.«

»Meinst du, Hannah wäre sehr enttäuscht, wenn ich sie Christin gebe?«

»Ich glaube schon. Aber du kannst Christin ja einmal draufschauen lassen.«

»Oh ja!« Christin sprang auf und zog ihn mit sich. »Komm! Bitte, ich bin ja so gespannt. Du musst sie mir zeigen.«

Plötzlich standen sie sich im Halbdunkel des Flurs gegenüber. Allein, unfähig sich zu rühren. Irgendwann räusperte er sich verlegen. »Ich hatte wirklich nicht gewusst, dass du einen … Partner hast.«

»Hätte es etwas an deinem Verhalten mir gegenüber geändert?« In ihrer Stimme schwang die kühle Herausforderung mit, wie er sie kennengelernt hatte.

»Früher vielleicht. Aber nun …« Er schüttelte den Kopf und sah sie ernst an. »Christin, ich bitte dich. Beantworte mir nur diese eine Frage. Liebst du ihn wirklich?«

»Liebe? Ich weiß nicht, was das ist. Nein… Es ist etwas anderes.« Sie gab ihrer Andeutung ein desillusioniertes Lachen mit auf dem Weg. »Aber das hat dich nicht zu interessieren.«

Tobias lagen so viele Entgegnungen auf den Lippen. Aber Christin war nicht die Frau, die mit sich diskutieren ließ. Zumindest nicht beim jetzigen Stand ihrer Beziehung.

»Ich denke, du solltest die Bilder sehen.« Er wandte sich ab, damit ihn seine Blicke nicht verrieten.

Sie lagen obenauf, die Bilder. Auf einem ziemlich aufgeräumt wirkenden Schreibtisch. Es waren nur Bilder, und doch war er ein einziges Nervenbündel.

»Oh, die sind wirklich schön geworden!« Christin betrachtete verzückt die Fotos. »Ich habe so wenige Bilder von mir. Und dann noch mit euch zusammen. Das ist so schön!«

Tobias spürte dem wohligen Gefühl nach, das sich bei ihrer ehrlich empfundenen Freude in ihm ausbreitete. »Hannah möchte sie dir schenken.«

»Ich freue mich schon darauf«, flüsterte Christin und legte die Bilder vorsichtig zurück. Der neue Bilderrahmen war ihr bereits beim Eintreten aufgefallen. Nun war die Gelegenheit da, ihn wie zufällig in die Hand zu nehmen. Die Fotografie von Hannah mit ihrer leiblichen Mutter hatte den beiden schönsten Bildern vom letzten Samstag Platz gemacht.

Sie sah ihn tiefgründig an und fing zum ersten Mal an diesem Tage sein so einnehmendes Lausbubenlächeln ein.

»Es hat sich etwas verändert.« Er wurde plötzlich wieder ernst. »Auch wenn ich nicht weiß, wohin uns unser Weg führt, so werde ich doch von etwas Schönem träumen. Das darfst du mir nicht verbieten.«

»Warum sollte ich das?« Sie stellte den Bilderrahmen auf seinen Platz zurück und sah zu ihm auf. »Vielleicht wünsche ich mir ja nichts sehnlicher, als mit dir gemeinsam träumen zu dürfen.« Sie unterdrückte ihr erlöstes Schmunzeln, als sie seinen wenig geistreichen Blick gewahrte. Ein letzter Schritt auf ihn zu. Es war einfach richtig so.

Seine starken Arme umfingen sie. Zärtlich und doch selbstbewusst. »Lass uns träumen.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich herab. Es war wie in einem dieser kitschigen Liebesromane, über die sie sich bislang so amüsiert hatte, verglich ein letzter Funke Logik, ehe er sich zufrieden zurückzog und die Schwester Zurückhaltung gleich mit sich nahm.

Tobias nahm das Geschenk, das sie ihm darbot, wie ein Ertrinkender an. Die Hitze! Seine aufsteigende Erregung. Die monatelange Abstinenz und der selbst auferlegte Verzicht drängten brodelnd an die Oberfläche. Er wollte sie nie wieder loslassen, nie wieder freigeben. Sie würden hier an Ort und Stelle verwachsen, miteinander verschmelzen …

Ihr heftiges Zusammenzucken, begleitet von einem unterdrückten Stöhnen, riss ihn aus den kühnsten Träumen. Christin drängte sich weiterhin an ihn, aber auch sie schien aufs Heftigste aus ihrer Innigkeit herausgerissen.

»Schatz, was ist?« Hatte er sie etwa so sehr gepackt, dass ihr die Knochen brachen? Er gab sie vollends frei, als er ihre schmerzverzerrte Miene bemerkte.

»Ist schon gut. Du konntest ja nicht wissen, was für ein Pechvogel ich bin.« Christin lehnte sich an ihn und schmiegte ihren Kopf an seine heftig pochende Brust. Jetzt nur nicht ansehen. »Wie ich diese engen, steilen Treppen hasse.«

Er hielt sie von sich fort und wurde plötzlich ernst. Nahm er wirklich erst jetzt die blauen Flecken wahr, die sie unter ihrem Make-up versteckt hatte? Vorsichtig schickte er seine Finger zum obersten Knopf ihrer Bluse. Bereits beim zweiten gewährten ihm ihre Hände Einhalt. Ihr flehender Blick sagte alles. Für den Rest überzeugten ihn die grünbläulich schimmernden Flecken, die durch die reinweiße Spitze ihres BHs nur noch deutlicher hervor traten. Er wusste nicht zu sagen, was schlimmer war. Zu sehen, dass diese tagealten Hämatome von allem stammten, nur nicht von einem Sturz her. Oder ihre scheinbar stoische Akzeptanz des Geschehenen.

»Du sagst nichts?«

Ihre brüchige Stimme trug dennoch die ganze Bandbreite an Auflehnung mit sich. Als erwarte sie, dass er in die Luft ginge oder sie drängte, ihm zu sagen, wer ihr das angetan hatte. Eben etwas, auf das sie mit ihrer gewohnten Ablehnung würde reagieren können. Wie gern hätte er ihr diesen Gefallen getan, aber es würde nichts am Ergebnis ändern und sie nur erneut entzweien. Dafür kannte er sie bereits zu gut.

»Was soll ich dazu sagen?« Das Vibrieren in seiner Stimme klang alles andere als ausgeglichen. »Ich denke, du bist nicht die Frau, der daran gelegen ist oder der damit geholfen wäre, wenn ich herumpoltere und Mord und Totschlag schreie. Wenn du mir sagst, es ist eine Treppe gewesen, dann werde ich es dir glauben müssen.«

»Tobi …« Ihr versagte die Stimme. Ungeachtet des nur langsam abebbenden Schmerzes presste sie sich an ihm. »Ich glaube, ich habe dich ganz doll lieb.«

»Wenn du so fauchst, Fuchur, dann glaube ich es dir sogar«, flüsterte er ihr ins Ohr und erwiderte behutsam ihre Umarmung.

»Hallo, da seid ihr ja!« Hannah kam wie ein Wirbelwind über das eng umschlungen dastehende Paar. »He, was macht ihr denn da?!«

Erlöst lächelnd ließen die beiden voneinander ab und nahmen Hannah in ihre Mitte, während Balu aufgeregt bellend um sie herumsprang. So, als freue er sich über Tobias’ Worte.

»Wir haben endlich angefangen, uns lieb zu haben.«

»So wie du es immer schon geplant hast«, ergänzte Christin und spürte ihrem heftig pochenden Herzschlag nach. Oh Gott, konnte es denn sein, dass sie sich wie ein Backfisch verliebte?

»Das wird aber auch endlich Zeit, ihr Spätzünder.«

Christin und Tobias schauten sich an und konnten kaum noch an sich halten. Er ergriff die Hand seiner … Ja, was war sie jetzt? Frau? Freundin? Frau! … und murmelte mit einem herzerweichenden Seufzer: »Was soll ich dazu noch sagen? Es ist deine Erziehung eben.«

Ja, Christin sah in seinen Blicken, dass es kein Scherz war. Er sah in ihr die Mutter seiner Tochter. Mit einem Male waren sie wieder da! Diese Ängste, ihre Furcht und das Erinnern daran, dass sie eigentlich hierhergekommen war, um Abschied zu nehmen. Oh Gott …

***

Wenn Tobias in diesen Tagen an ihren ersten Moment von Innigkeit zurückdachte, überkam ihn noch immer ein Herzrasen. Er sehnte sich nach den Momenten, in denen sie sich sahen. Manchmal zufällig, selten geplant. Jeder von ihnen hatte schließlich seinen Job. Und auch so hatte Christin einiges an privaten Dingen zu klären. Zumindest hoffte er es und erklärte sich so ihr manchmal zwiespältiges Verhalten ihm gegenüber. Und schon war er wieder bei seinen insgeheimen Befürchtungen, die ihn seit ihrem ersten Kuss verfolgten. Wie brachte es ein Mann nur fertig, ein solch zartes Wesen zu schlagen? Noch schlimmer war für ihn die aufgezwungene Akzeptanz, mit der sie ihm unmissverständlich zu verstehen gab, dass es ihr ureigenes Ding war und er sich in keiner Weise darin einzumischen habe.

»Herr Herder, Sie sind wirklich ein Ass!« Werner Leisner riss den jungen Mann aus seinen Gedanken. Der Bauherr hatte die neuesten Baufortschritte in Augenschein genommen und klopfte seinem Architekten anerkennend auf die Schulter.

»Vor allem die Lösung mit den Dachfenstern!«, übernahm dessen Frau den Staffelstab der Huldigungen und fügte pragmatisch an, wann sie denn damit beginnen könne, die Inneneinrichtung in Angriff zu nehmen.

»In zwei Wochen sollten wir so weit durch sein«, versprach Tobias und hielt inne, als eine wohlbekannte kindliche Stimme ihr »Hallo!« erklingen ließ.

Ein Lockenkopf tauchte über dem Rand des Treppengeländers auf. Kaum war Tobias seiner Überraschung Herr geworden, nahte Christin in Hannahs Gefolge. Sein Herz vollführte Purzelbäume. Wie schön sie heute aussah.

»Bitte verzeihen Sie die Störung. Wieder einmal.« Christin begrüßte die Bauherren wie alte Bekannte und entschuldigte sich mit einem hinreißenden Lächeln. »Sie müssen ja bald denken, dass Herr Herder mindestens zwei Wochen eher fertig wäre, wenn ich ihn nicht immer von der Arbeit abhalten würde.«

Die beiden verneinten lachend und widmeten ihre Aufmerksamkeit dem kleinen aparten Mädchen, das sich aufgeregt zwischen sie drängte und allen verkündete: »Mama will mit mir ein Kleid für die Einschulung kaufen. Ein richtiges Kleid!«

Tobias zuckte unmerklich zusammen und auch Christin schien irritiert, dass Hannah so frei und offen damit herausplatzte und vor anderen von ihrer Mama sprach.

»Hast du nicht schon genug Kleider«, überging Tobias den Überschwang seiner Tochter.

»Mensch, Papa! Ich bin doch jetzt richtig groß. Da brauche ich doch auch richtige Kleider. Nichts mehr für kleine Mädchen!«

So viel weiblicher Logik hat Tobias nichts entgegenzusetzen. »Und nun braucht ihr Geld.«

»Und den Wagenschlüssel.« Christin hielt ihre Hand auf und sah ihn fröhlich, aber auch herausfordernd lächelnd an.

»Wie? Das Kaufhaus Heinmann liegt keine zwei Minuten von hier.«

»Richtige Kleider, Tobi. Jutta wartet ebenfalls unten. Und für mich ist doch auch etwas Kleines drin, oder?«

Tobias stöhnte gespielt auf und sah seine Auftraggeber mit verdrehten Augen an. »Jetzt wissen Sie, warum meine Preise durch die Decke gehen.«

»Auf ein kurzes Wort, Frau Herder«, mischt sich nun Edith Leisner ein.

»Thorstraten«, entfuhr es Christin. Im ersten Moment wunderte sie sich über die erstaunten Blicke. Mit wachsender Scham erinnerte sie sich daran, dass sie in ihrer Leichtsinnigkeit und um Tobias eins auszuwischen, das liebe nette Paar damals im Glauben gelassen hatte, sie seien ein Ehepaar. »Thorstraten, ich habe meinen Mädchennamen behalten.«

»Siehst du, das nenne ich Gleichberechtigung!«, kam es belustigt von Edith Leisner an die Adresse ihres Gatten, bevor sie sich erneut Christin zuwandte. »Mein Mann und ich waren von Ihren Vorschlägen und Ideen sehr angetan. Wie Sie sehen, ist es uns nach einigem Hin und Her gelungen, diese annehmbar umzusetzen. Sie haben wirklich Visionen, meine Liebe. Und da Ihr Mann uns verraten hat, welch begnadete Innendekorateurin Sie sind, möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht mit mir zusammen die Innenausstattung des Hauses in Angriff nehmen wollen.«

Christin blieb der Mund offen stehen. Besonders als sie Tobias’ schüchternes Lächeln registrierte und sein verhaltenes Murmeln neben sich hörte.

»Irgendwie wirst du wohl für die Kleider mitarbeiten müssen.«

Edith Leisner hakte sich bei Christin ein und zog sie beiseite. »Können wir uns gleich morgen zusammensetzen, um alles in Ruhe durchzusprechen?«

»Ja … ja, gern.« Christin realisierte nur langsam, dass das Angebot kein Scherz war und welch ein Vertrauensvorschuss ihr hier gewährt wurde.

»Tini, wir wollten doch los«, drängelte Hannah ungeduldig und ergriff die Hand ihrer großen Freundin.

»Natürlich!«, fiel es Edith Leisner wieder ein. »Ihr wolltet ja Kleider kaufen gehen. Also, Frau Thorstraten, dann sehen wir uns morgen Vormittag? Neun Uhr, oder ist es Ihnen zu früh?«

»Nein.« Christin fühlte sich noch immer wie benebelt, als sie die Visitenkarte entgegennahm, die ihr die Ältere reichte. »Ich komme sehr gern. Ich hoffe nur, dass ich die Erwartungen, die Sie in mich setzen, auch nur annähernd erfüllen kann.«

»Wir werden sehen. Und nun viel Spaß beim Shoppen«, gab Edith Leisner die jungen Damen frei.

Im gleichen Moment stellte auch der Bauherr fest, dass sein Architekt gewiss Wichtigeres zu tun hätte, als Statiken zu prüfen. Bevor er sich jedoch verabschiedete, musste er sein Herz erleichtern. »Herr Herder, auf ein Wort unter Freunden.«

Tobias hielt darin inne, die Baupläne aufzurollen.

»Tragen Sie mir bitte nicht meine Direktheit nach. Aber wenn ich Ihnen irgendwie in Ihrer Situation behilflich sein kann … Sagen Sie es mir bitte.«

Mit allem hatte Tobias gerechnet, nur nicht mit diesem unerwarteten Angebot. Die Blicke des Älteren sprachen deutliche Worte.

»Da macht jemand gewaltig Stimmung gegen Sie.«

»Das ist leider nichts Neues.« Tobias versuchte weiterhin, an seinem Lächeln zu arbeiten.

»Ich weiß. Sie haben sich da jemand Großes zum Gegner gemacht. Selbst mich wollten die richtigen Leute einschüchtern«, er lachte beruhigend, »Aber da müssen die sich schon etwas Schlaueres einfallen lassen.«

»Wer es ist, können Sie mir aber nicht sagen, oder?«

»Nicht wirklich. Solch feine Herren machen sich selten selbst die Finger schmutzig. Ich vermute, dass Sie jemandem ganz weit oben im Rathaus auf die Füße gestiegen sind. Aus diesem Stall kamen nämlich die gut gemeinten Ratschläge an mich.«

»Ich finde es nett von Ihnen, dass Sie mich warnen und weiter zu mir halten.«

»Nein, Tobias. Ich bin von Ihnen überzeugt. Sie sind ein Mann mit Durchblick und Visionen, gradlinig und korrekt. Solche Menschen haben meinen vollsten Respekt. Also, lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen. Und wenn Sie meine Hilfe benötigen, wissen Sie, wo sie mich erreichen.« Leisner klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und folgte den Damen.

Das Rathaus also, ganz oben. Tobias begann sich den Kopf zu zermartern. Jedoch mit wenig Erfolg. Er kannte kaum jemanden dort. Außer dem Hausmeister und den Leuten vom Bauamt. Niemanden, der auch nur annähernd etwas zu sagen hatte. Und Politik … die war ihm mehr als ein Gräuel. Wem also hätte er auf die Füße treten sollen? Es kam ihm wieder in den Sinn. Alles hatte mit der Absage für den Umbau des Stadtarchivs angefangen.

»Papa!«

Hannah stand plötzlich vor ihm. Selbst Christins genervten Gesichtsausdruck kopierte sie mittlerweile so gut wie das Original.

»Wir brauchen Geld und den Autoschlüssel.«

Christin entdeckte er, wie sie sich schmunzelnd im Hintergrund hielt. Sein Entschluss stand fest. »Ich komme mit euch.«

»Wie?« Seine Damen wechselten untereinander irritierte Blicke.

»Ich fahre selbst. Schließlich weiß ich, was deine … große Freundin für ein Bruchpilot ist. Wir haben nur das eine Auto.«

»Bruchpilot!« Christin schob Hannah beiseite und baute sich drohend vor Tobias auf. Nur um ihm gleich darauf bühnenreif in die Arme zu sinken und seine ausgehungerten Küsse zu erwidern.

»Ja, du rennst mir Beulen in die Heckklappe, ohne den Wagen einen Meter zu bewegen. Also, meine Damen. Lasst uns shoppen gehen.«

***

Er musste wohl ein umgänglicher Shoppingbegleiter sein, dachte Tobias einige Stunden später erleichtert, mit einem ebensolchen Konto und wunden Füßen. Aber es hatte sich gelohnt. Christins Kommentar, dass er modischen Geschmack besaß und nicht, wie so viele Männer, einfach Ja und Amen sagte, war wie ein Ritterschlag für ihn. Als Dankeschön für diesen gelungenen Tag luden die Frauen Tobias zu einem Streifzug durch Sachsenhausen ein. Wo Christin sich als wahre Fremdenführerin erwies und die gemütlichsten Lokale fand. Das einzige Manko an diesem Tage war, dass er auserkoren war nüchtern zu bleiben, damit sie heil heimkamen.

Immerhin eroberten sie spät am Abend einen der wenigen offiziellen Parkplätze in der Burgwallgasse, sodass er den Wagen nicht noch in die Garage bugsieren musste. Er folgte seinen Damen, die sich nicht um die Nachtruhe scherten und lustig schnatternd mit ihren Einkaufstaschen die komplette Breite der Straße für sich in Anspruch nahmen. Dauerte es eigentlich immer so lange, bis Jutta den Schlüssel fand? »Wenn das noch länger dauert, kann ich mir gleich im Stehen die Hacken kraulen.«

»Was?« Christin wandte sich ihm leicht schwankend zu. »Zeigen der Herr bereits jetzt Schwäche?«

»Du geliebtes Lästermaul wirst noch sehen, was ich draufhabe.« Oh Gott, klang das zweideutig. Was wohl auch den beiden angeheiterten Grazien auffiel. »Ich meine nur, dass mir kühl wird.«

»Gibt es etwas, womit wir dem armen Kerl einheizen könnten?«

»Wir nicht!«, gluckste Jutta und kicherte dabei wie ein Schulmädchen. »Aber das wäre doch die Gelegenheit, deine neuen Dessous auszuprobieren.«

»Oh Mann, was habe ich mir mit euch bloß für Spottdrosseln eingefangen«, stöhnte er und schulterte seine schlafende Tochter. »Hört auf und lasst mich durch. Hannah hat Blei in den Knochen.« Er drängte sich durch die lachenden Frauen hindurch und flüchtete die Treppe hinauf.

Hannah war einfach nicht wach zu bekommen. Nicht einmal für fünf Minuten! Die hatte er allein dafür benötigt, um seiner Tochter die Schuhe auszuziehen.

»Kommt ihr klar?« Christin unterdrückte halbherzig ihr Lachen, als sie ihn so abgekämpft vor Hannahs Bett stehen sah.

»Dieser Plumpsack rührt sich überhaupt nicht mehr«, klagte er ihr sein Leiden und entschied sich für den kurzen Prozess. Beine hoch und Decke drüber.

»Du kannst sie doch nicht so schlafen legen«, kam es empört. Sie schob ihn beiseite und begann Hannah liebevoll auszukleiden. »So bekommst du wirklich keine Frau ins Bett.«

Tobias grinste. Jeder anderen hätte er den Spruch übel genommen. Bei ihr nicht. Da war es eine Steilvorlage. »Du meinst, du willst mir nun zeigen, wie es richtig geht? Das Ins-Bett-Kriegen, meine ich.« Seine Finger strichen zart über ihren nur mit einer dünnen Strickjacke bedeckten Rücken. Die dünnen Träger des sündigen Tops, das sie darunter trug, würden mit der Jacke zusammen an ihrem Körper hinabgleiten.

»He, mein Herr!«, protestierte sie gouvernantenhaft. Die Blicke, die sie ihm über ihre Schulter hinweg sandte, sprachen ihre eigene Sprache. »Geh duschen, das hilft. Und nun lass mich die Kleine ins Bett bringen.«

»Duschen? Ja, damit du könntest vielleicht recht haben.« Er gab sie frei und strich Hannah zärtlich übers Haar, ehe er sich von dannen schlich.

***

Er hatte geduscht und sich sogar rasiert. Was fehlte, war die Frau seiner Träume, die ihn – wollte er ihren Blicken Glauben schenken – ebenfalls ins Bett bringen wollte. Eine einzige Gänsehaut bedeckte seinen Körper. Die sich verhundertfachte, als er aus dem Fenster sah. Der blühende, dicht bewachsene Balkon dort unten bannte seinen Blick und jagte die Gedanken um viele Wochen zurück. Die Frau in Rot, der Mann, stürmische Umarmungen …

»Na, so in Gedanken versunken?«

Erschrocken fuhr er zusammen. »Christin? Ich dachte …« Der Albtraum ließ sich nicht so einfach abschütteln.

Sie trat an seine Seite, schmiegte ihren Kopf an seine Schulter und suchte dort draußen das Ziel seines Interesses. »An was dachtest du?«

»Dass du es mit der Angst zu tun bekommen haben könntest und heim bist.«

»Schwindle mich bitte nicht an.« Sie ergriff seinen Arm und zwang ihn sanft, sie anzuschauen. »Bitte lass das nicht bei uns zur Gewohnheit werden.«

Er nickte und sog die Luft, die ihren betörenden Geruch mit sich trug, tief in sich hinein. »Ich dachte an diese wunderschöne Frau. Die Frau, die dort unten wohnt. Und an den einen Abend, an dem sie ihren Besuch auf dem Balkon dort empfing.«

Ihr Blick folgte seinem sachten Nicken. Eine dunkle Wolke überschattete ihre Gefühle. »Diesen Mann gibt es nicht mehr.«

Tobias schwieg bei diesem Tonfall, den er so unmissverständlich hart noch nie an ihr vernommen hatte. Nur, wusste dieser Mann das auch? Er erwiderte ihren festen Blick, der immer noch nach einer Antwort verlangte. »Das ist gut zu hören.«

Nun war es an ihr zu schweigen. Äonen lang.

»Wie kommst du darauf, ich würde vor dir flüchten?«

Es war ihre Art von Friedensangebot. Er musste lernen, damit zu leben; oder wie wer weiß wie viele Verehrer vor ihm unterzugehen. Romantik war nicht wirklich Christins Ding. Sein Lausbubenlächeln kehrte zaghaft zurück. »Du hast dir viel Zeit gelassen.«

Seine Finger zogen an dem Gürtel, der ihren flauschigen Bademantel zusammenhielt. Sie folgten sachte dem Revers, spürten unter sich den seidigen Stoff des Negligés, das sich nicht länger seinen Blicken entzog. Tief in sich spürte Tobias, wie sich dieser Moment für alle Zeiten in seine Seele einbrannte. Bis zu dem Tag, an dem er für immer die Augen schloss, war er sich sicher, würde dieser Augenblick im Film des Lebens immer wiederkehren. Der Mantel glitt über ihre Schultern und sank zu Boden. Ein leiser, anerkennender Pfiff kam ihm über die Lippen. »Das Warten hat sich gelohnt.« Das Glänzen in ihren sinnverwirrenden Augen fing ihn ein. Es ließ die Goldsprenkel in ihrer Iris zu einem wahren Feuerwerk anwachsen. »Du bist so wunderschön. Wie …?«

»Wie ich in dieses Negligé komme?« Ihr siegessicheres Lächeln ließ sie nur noch begehrenswerter aussehen. »Jutta war so lieb und hat mir etwas geborgt.«

»Jutta? Ich wusste nicht, dass sie so«, er schluckte schwer, »heiße Sachen besitzt.«

»Du weißt anscheinend so einiges nicht über Jutta.«

Allein ihre dunkle Stimme mit diesem erotischen Vibrieren weckte in ihm wahre Schauer der Lust. Er sah auf ihre Fingerspitzen, die damit begannen, geheimnisvolle Kreise auf seinem nackten Oberkörper zu zeichnen. »Zumindest scheint sie zu wissen, worauf der kleine Tobi abfährt.«

»Oh Mann, was habe ich mir da für eine Quasselstrippe angelacht. Jetzt weiß ich auch, woher Hannah das hat.« Sie lachte gurrend und verschloss seine Lippen mit einem fordernden Kuss, den er sehnsüchtig erwiderte.

Seine Finger waren nicht unerfahren, realisierte die leise, unpersönliche Stimme in ihr. Christin hasste sie, diese Stimme; und doch hatte sie gelernt, mit ihr zu leben und ihr zu vertrauen. Wie sonst könnte sie mit einer Situation wie dieser umgehen. Das Hinabgleiten des Negligés an ihrem Körper holte sie aus dem nüchternen Lokalisieren zurück in die Gegenwart. Schluss jetzt, Tobias hatte mehr verdient.

Mit sanfter Gewalt versuchte Tobias sie in Richtung seines Bettes zu dirigieren. Ihre Füße verloren plötzlich den Kontakt zum Boden, als es ihm offenbar zu langwierig wurde. Auf seinen starken Armen trug er sie langsam zum Bett, wobei sie an ihren Lendenwirbeln den sanften Kontakt zu einer längst erwachten Männlichkeit spürte. Der Wunsch, ihn so zu sehen, wie ihn die Natur erschaffen hatte, wurde übermächtig in ihr. Die innere Stimme verabschiedete sich … Endlich. Nur schien Tobias nicht im Traum daran zu denken ihr die erhoffte Freude zu gönnen. Diesmal behauptete er sich und seine Wünsche. Das Bett, auf dem er sie sanft ablegte, gab federnd nach. Das würde als Erstes hinausfliegen, dachte Christin noch.

»Bitte, lass dich einfach nur verwöhnen.« Seine zarten Lippen glitten über ihr Gesicht und versetzten durch ihr leichtes Vibrieren jede einzelne Pore in Schwingungen. »Ich möchte dich kennenlernen, dich schmecken und erfahren.«

Erforschend, leichte Küsschen verteilend glitten seine Lippen über ihr Gesicht. Wanderten über geschlossene Augenlider, hinter denen Farbstürme zu toben begannen, Wangen, Lippen. Die kleinen Grübchen hatten es ihm angetan. All das ertastete, erschmeckte seine vorwitzig forschende Zungenspitze. Christin ließ sich fallen und begann seine Liebkosungen in sich aufzusaugen. Die Spur des Kribbelns und Erschauerns setzte sich den Hals hinab fort. Er entdeckte sensible Stellen, die selbst ihr unbekannt waren. Völlig überflüssig festzustellen, dass nicht nur ihr Körper mittlerweile in Flammen stand und sich nach seinem Gegenpart sehnte.

Als er an ihrer Hüfte anlangte – dort wo sich die beiden Delfine tummelten – konnte sie ein tiefes glückseliges Stöhnen nicht mehr unterdrücken. Nur der Anfang, verabschiedete sich der Rest ihrer Logik und begann zu zerfasern. Gleich würde er ihr Mäuschen … »Tobi, bitte quäle mich nicht länger.« Diese Stimme aus ihrem Körper klang so fremd, so abgehackt und klagend. War sie es, die bettelte? »Tobi, bitte!!!« Nein, sie flehte ihn an!

Ihre ruhelosen Finger ließen ab vom eigenen Körper, wo sie sich zusätzlich reizte, wenn sie nicht gerade mit seinen forschenden Fingern um die Herrschaft rangen. Die feuchten Innenflächen ihrer Hände erspürten seinen Haarschopf. Sie versuchte ihn zum Zentrum eines immer heftiger lodernden Feuers zu lenken. Damit er ihr endlich die so ersehnte Linderung verschaffte. Doch er entglitt ihr, tauchte tiefer hinab, um sich gleich darauf erneut an ihrem bebenden Körper hinaufzuschlängeln.

»So nicht, meine Liebe.«

Wie hochmütig er über ihr thronte. Es war nur ein schwacher Trost, dass auch er schwerer atmete und seine Blicke vor Verlangen sprühten. Mit einem leisen männlichen Lachen schob er sich über sie, bis ihre Herzen dicht beieinander lagen, um ihr heftiges Pochen miteinander zu teilen. Selbst dabei quälte er sie noch. Warum sonst verrenkte er sich derart. Nur damit sie nicht seinen Unterleib an sich … auf sich spürte. Sie drängte ihr Becken ungestüm dorthin, wo sich sein Gegenpart befinden musste.

»Nein. So nicht, mein Schatz.« Er lachte wieder dieses dunkle, selbstgefällige Lachen, das sie allein in eine unterwürfige Rolle zu drängen drohte. »Noch nicht.«

»Herder, du verfluchter Sadist.« Durch das Rauschen in den Ohren, das pochende Blut in den Schläfen erkannte sie nicht einmal mehr ihre eigene Stimme. Wieder dieses raue Lachen, das sie jeglicher Gegenwehr beraubte. Dafür würde er leiden müssen. Ihre langen Nägel krallten sich in das Laken unter ihr, ließen es wieder fahren und gruben sich in den Körper über sich.

»Kein Sadist, nur der Welt bester Drachenbändiger. Ich bin nur ein wenig aus der …«

»Tobi, bitte.« Es war ihr egal. Alles! Und wenn sie dafür winseln musste. »Bitte, komm und sei lieb zu mir! Ich fauche auch nicht mehr. Ich … Ich bin ganz … zahm. Aber verdammt noch mal, komm endlich zu mir!«

Es war eine Erlösung, zu spüren wie sich sein Oberkörper von ihr löste und hinabglitt. Das Rauschen in ihren Ohren und das Kochen ihres Blutes vermischten sich mit den leuchtenden Farben, die hinter ihren geschlossenen Augen loderten. Oh Gott, was musste sie nur anstellen, damit er sie endlich nahm? Aber nein, dieser Kerl beschäftigte sich stattdessen lieber mit einem Hauch von Cellulite. Es ließ sich nicht mehr zurückhalten. Gerade in dem Moment, als seine Zunge ihr ihren sehnlichsten Wunsch erfüllte, öffneten sich die Schleusen zu einem Höhepunkt, den sie so in seiner Intensität nie zuvor erlebt hatte. Alles in ihr trat zurück, als die geballte Kraft der Farbaura explodierte.

Er blieb ihr nahe. Streichelte sie liebevoll dort, wo sie es sich so sehr ersehnt hatte und verlängerte all die aufbrandenden Empfindungen.

»Auaausaua«, jammerte er lachend, als Christin endlich die Kraft aufbrachte und ihn an seinem Ohr zu sich hinaufzog.

»He, du Bandit. Wenn ich dir sage, dass du es mir endlich besorgen sollst, dann quäle mich nicht unnötig länger.«

Wieder dieses selbstbewusste Lachen, vor dem sie sich langsam zu fürchten begann, weil sie wusste, dass es sie willenlos unterliegen ließ.

»Ich verspreche es dir, mein Schatz. Beim nächsten Mal gehorche ich. Doch dieses Mal musste ich dich so kennenlernen. Außerdem …« Er glitt über sie und übersäte ihr Gesicht mit vielen kleinen Küssen. »Das Zölibat mag einige gute Aspekte für sich haben. Nur wollte ich ungern gleich mein ganzes Pulver verschießen. Du verstehst?«

Sie stutzte. Der Gedanke, der ihr kam, riss sie ein Stück aus ihrer zuckerrosa Gefühlswelt. »Du willst doch wohl nicht behaupten, dass du in den letzten Jahren keine Frau hattest? Nein, mein Lieber, das glaube ich dir nicht. Nicht nachdem du gerade das hier mit mir angestellt hast.« Sie strich ihm zärtlich über das Gesicht und küsste ihm die Zurückhaltung von den Lippen. »Denk dran, keine Lügen.«

»Keine Lügen«, flüsterte er leise. Für einen Moment umspielte ein bitterer Zug seinen Mund. »Es wäre nur unpassend, jetzt darüber zu sprechen, oder?«

»Ich möchte wissen, was du für ein Mensch bist. Kein Mann hat mich jemals so sehr …« Sie biss sich auf die Lippen und fühlte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg.

»Ja, es gab eine Frau zwischen Sina und dir«, überging er ihre unbedachte Wertung. »Nur hat diese mich nach Strich und Faden belogen. Damit konnte ich nicht leben.«

»Belogen?«

»Sie war verheiratet. Der arme Kerl wusste von nichts. Er hatte zwei Jobs, um seiner Frau ein tolles Leben zu ermöglichen, während wir … Auf so was stehe ich wirklich nicht.«

»Tobias Herder. Weißt du, dass du ein ganz besonderer Mensch bist?« Christin drückte seinen Rücken auf die Matratze und beugte sich über ihn. »Nein, das bist du«, unterband sie seine Ausflüchte und überschüttete ihn mit Küssen. »Ich wünsche mir so sehr, dass ich dich nie enttäuschen werde.«

Im gleichen Augenblick wurde Christin schmerzhaft bewusst, dass sie ihr Versprechen ihm gegenüber nie würde halten können. Dabei war sie es doch, die auf Ehrlichkeit bestand. Ihr Gewissen verkroch sich eingeschüchtert, als sie ihrer Lust gestattete, sich wie eine Droge über jeglichen Skrupel zu legen. Sie würde ihm beweisen, dass nicht nur er ein begnadeter Liebhaber war.

»Oh, Christin.« Seine Worte gingen in einem Stöhnen unter und mündeten allenfalls in einer enttäuschten Verwünschung.

Schöne Bescherung, dachte sie mit einem Schmunzeln, aber warum sollte ihr das allein passieren. »Nimm es nicht so schwer, du geliebter Mönch.« Sie schlängelte sich zu ihm herauf. »Ich bin eine weiße Fee, falls du es vergessen hast. Du sollst mal sehen, wie schnell wir dem kleinen Drachenbezwinger erneut Leben einhauchen werden. Vertrau mir und genieße es einfach nur.« Sie besiegelte ihr Versprechen mit einem Kuss, der allein ausreichte, um Tote zu wecken.

Die Sonne zog längst ihre Bahnen über den Himmel, als sie völlig verausgabt in den Armen des anderen einschliefen.

***

»Omama! Omama!« Hannah kam aufgeregt in die Küche geflitzt. Sie übersah das wissende Schmunzeln ihrer Großmutter und hielt sich kichernd beide Hände vor den Mund. »Tini ist bei Papa. Und sie schlafen zusammen in einem Bett. Ist das nun gut? Haben die sich jetzt richtig lieb?«

»Ich hoffe es«, sagte Jutta und ergänzte für sich mit einem unbestimmten Murmeln: »Sonst bin ich es, die die beiden übers Knie legt.«

Hannah war anscheinend doch nicht rücksichtsvoll leise gewesen. Kurz nach ihr erschien Christin auf der Bildfläche. Züchtig geschlossener Bademantel, wild zerzaustes Haar und eine überirdisch anmutende Gelöstheit.

»Ich hoffe, er hat sich wenigstens wie ein Gentleman benommen.«

»Doch. Zumindest so lange, bis es darum ging, wer zuerst unter die Dusche darf.« Christins Lächeln vertiefte sich zusehends. »Oh Jutta, hätte ich doch nur eher bemerkt, was für ein toller Mann …« Sie stockte errötend, als sie Hannahs neugierige Blicke gewahr wurde. »Hallo Spatz. Ich hoffe, du denkst nun nicht komisch von mir?«

»Wieso komisch?« Hannah grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Habt ihr euch jetzt richtig lieb? Ziehst du jetzt zu uns? Wann wirst du endlich meine Mama?«

Christin blies bei der ganzen Flut unwägbarer Fragen die Wangen auf und wurde durch Tobias’ Hinzukommen erlöst. Vorerst, wie sie zu Recht vermutete.

Tobias umfing die Hüften seiner Liebsten und war nicht unglücklich darüber, dass seine Tochter Dinge ansprach, die ihn ebenfalls den Rest der Nacht beschäftigt hatten. Als sie sich ihm zuwandte, ihre Arme um ihn schlang und ihn leidenschaftlich küsste, hatte er das Gefühl, sein Herz müsse zerspringen. Wie schön war es, einen Menschen im Arm zu halten, der all seine Gefühle, seine Liebkosungen erwiderte. Oder gar für sich einforderte.

»Iiiih, was macht ihr denn da!«, kam es von irgendwo hinter und unter ihnen.

Christin musste inmitten ihres Kusses losprusten und wusste kaum zu sagen, was lustiger kam: Hannahs entsetzter Ruf, Tobias’ verdatterter Blick oder ihr Kommentar, der ihr dabei über die Lippen kam. »Tja, mein Schatz, das ist nun dein Ding, dich da herauszureden. Ich gehe nun gepflegt ins Bad, wenn du gestattest.« Sie tätschelte seine Wange und gab ihm einen kleinen Kuss für unterwegs mit. Das war nun sein Job, den anderen zu erzählen, dass sich etwas geändert hatte.

Christin verschloss die Badezimmertür und ließ ihren Oberkörper schwer gegen das Türblatt fallen. Ja, es hatte sich etwas verändert! Wie war das, du dumme Nuss!?! Schlafe mit ihm und du wirst schnell feststellen, dass er auch nur ein Aufschneider und Versager ist. Wie oft hatte sie sich das gepredigt und sogar in ihr Tagebuch geschrieben! Und? Der Versager bei allem war einzig und allein sie!

Sie schloss die Augen und versuchte sich aus dem Sog der Selbstvorwürfe zu befreien. Denke an etwas Schönes. Die Dusche. Diese herrliche Dusche! Mit all ihren Funktionen, wie du sie noch nicht einmal in Frankfurt besessen hast. Sie hatte unangenehme Dinge schon bedeutend besser ausblenden können, monierte sie für sich und glitt aus Bademantel und Negligé.

Erst die warmen, auf ihren Körper prasselnden Strahlen vertrieben gnädig die unablässig heranmarschierende Dunkelheit und hüllten sie ein. Umfingen sie mit einem wohligen Gefühl, wie es auch die Menschen in diesem Haus taten. Sie nahmen sie mit offenen Armen auf. Oh, wenn sie doch nur den Mut aufbrächte, ihnen alles von sich zu erzählen. Tief, leider nur ganz tief in ihrem Herzen spürte sie, dass Tobias, Jutta und Hannah ihre Vergangenheit akzeptieren konnten. Dabei würde sie nicht einmal als Bittstellerin kommen. Nein, sie hatte ihr Geld, welches sie in den letzten Jahren verdient hatte, gut angelegt und ausgezeichnet vermehren können. Vielleicht würde sie ja mit ihrem Gatten – es klang fremd, aber irgendwie schön – gemeinsam arbeiten? Er gestaltete die Häuser um und sie würde die Ausstattung übernehmen …

»Meine Güte!« Christin riss die Augen auf und starrte auf ihr nacktes Handgelenk. Sie wollte sich doch mit Edith Leisner treffen! Das fing ja gut an.

***

»Was, schon fertig?« Jutta musterte ihre Freundin, die plötzlich in Jeans und mit einem von Tobias’ Hemden am Leib vor ihr stand. »Der Föhn sollte sich im Bad befinden.«

»Ist Tobi irgendwo? Ich kann ihn nirgends finden.«

»Ich habe ihn und Hannah zum Einkaufen geschickt.«

»Du, ich hätte beinahe einen wichtigen Termin verschwitzt. Magst du ihm sagen, dass ich heute Abend komme? Wenn er mich denn noch sehen mag.«

»Nun höre aber auf!« Jutta stemmte burschikos die Fäuste in die Hüften. »Sag mir nur, was du mit ihm angestellt hast? So verliebt habe ich den Jungen noch nie erlebt.«

»Das verrate ich dir nicht.« Christin gönnte sich einen Moment des Überschwangs und umarmte Jutta heftig. »Sag du mir, warum hat keine andere dieses Goldstück vor mir gefunden?«

»Weil du die einzig Richtige bist und die Zauberkraft besitzt, unser männliches Dornröschen zu wecken«, gestand Jutta ihr im vollen Ernst, bevor sie sie endgültig hinausscheuchte.

***

Der Tag mit Edith Leisner verging für Christin wie im Fluge. Es war, als würden sie sich gegenseitig in ihren Ideen und Vorschlägen übertreffen. Irgendwann stellte Edith Leisner fest, dass die Geschäfte zu schließen begannen und Christin – man hatte sich schnell auf das Du geeinigt – sicherlich längst von ihrer Familie vermisst wurde.

Mit Taschen voller Kataloge und ersten Skizzen kehrte Christin müde, aber zufrieden nach Hause zurück. Während sie darauf wartete, dass sie jemand einließ, gönnte sie sich den Luxus, diesen Gedanken auf der Zunge zergehen zu lassen und zu einem eindeutigen Schluss zu kommen. Hier fühlte sie sich weitaus mehr zu Hause, als in dem Kasten, den sie nur noch mit … mit ihrer baldigen Vergangenheit verband.

Der Abend verlief harmonisch. Eigentlich wie bei einer richtigen Familie. Gemeinsames Abendbrot, mit Hannah Spiele spielen und gemütlich beieinander sitzen, die Nachrichten verfolgen und ein Buch zu lesen. Oder in ihrem Fall Kataloge zu wälzen. Ob die anderen bemerkten, wie wohl sie sich bereits jetzt im Kreis „ihrer Familie“ fühlte?

Das Klingeln ihres Smartphones zerriss all diese Wunschgedanken mit einem Schlag. Die mittlerweile verhasste Melodie sagte alles. Wütend drückte sie den Anrufer fort. Tobias’ fragenden Blick ließ sie unbeantwortet und schrieb dem Anrufer stattdessen eine SMS. Kurz darauf klingelte es erneut.

»Entschuldigt bitte.« Christin fand die Funktion, den Fluch der Technik ganz abzuschalten. »Hasst ihr es auch, wenn man noch so spät angerufen wird?«

Tobias’ Blicke schienen ihre geheimsten Gedanken zu lesen. Statt ihre Ausflüchte zu kommentieren, bemerkte er trocken: »Apropos spät. Hannah, ich finde, wir sollten langsam zur Ruhe kommen. Wenn du bald zur Schule gehst, heißt es eh früher ins Bett zu gehen.«

»Okay.« Ihre sofortige Bereitschaft zauberte Verwunderung auf die Gesichter der Großen. »Lest ihr mir wieder eine Geschichte vor? Oder noch besser! Darf ich heute Nacht bei euch schlafen?«

»Nein, meine Liebe«, sprach Christin ein eindeutiges Machtwort, »Ein unruhiger Geselle reicht mir in der Nacht vollauf!«

Es sollte lustig klingen, die Situation etwas auflockern, doch Tobias rang sich nur ein nachdenkliches Schmunzeln ab. Eine Reaktion, die sie mehr verunsicherte, als sie vor sich selbst zugeben mochte. »Willst du überhaupt, dass ich bleibe?« Selbst hier schien er zu überlegen.

»Ich würde mich wirklich freuen.«

»Gut.« Christin atmete spürbar durch. »Dann lass uns unsere kleine Schnecke ins Bett bringen.«

»Ja, Schatz. Lass uns unsere Schnecke ins Bett bringen.«

Sie hatte es gehofft, doch als in diesem Moment all seine Anspannung von ihm fiel, war es für sie wie ein unerwartetes Geschenk.

Hannah war schneller als gedacht eingeschlafen, sodass sie ihre Zweisamkeit bald in vollen Zügen genießen konnten. Es schien dabei zu einer angenehmen Gewohnheit zu werden, sich anfangs schweigend in den Armen zu liegen, zärtlich zu küssen und sanft zu streicheln. Dort wo man gespürt hatte, wie sehr es der andere genoss.

»Du, ich könnte mich auf ewig daran gewöhnen.«

»Woran? Dass ich dir deine Hemden aus dem Schrank entführe?« Sie machte ihre Schultern schmal, um ihm dabei behilflich zu sein, ihr sein Eigentum vom Körper zu streifen.

»Auch daran.« Tobias hielt sie ein Stück von sich, um in ihren tiefgründigen Augen zu lesen. »Wenn du bei mir bist, scheint alles so einfach, so komplett. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst?«

Sie schenkte ihm ein Lächeln. Das ihr unendlich schwerfiel, da sie immer mehr eine Traurigkeit in sich aufsteigen spürte, die sie den ganzen Tag verdrängt hatte.

»Christin?«

»Ja«, sie seufzte schwer. »Ich spüre auch, dass wir ein tolles Team sein könnten. Nur, lass uns nichts überstürzen. Du weißt ja gar nicht, was für eine Hexe du dir mit mir angelacht hast.«

»Bist du wirklich schlimmer als dein Ruf?«

»Ich weiß nicht, was die Leute über mich reden und es ist mir auch egal.«

Tobias begann sie langsam von ihrer restlichen Kleidung zu befreien. »Dann ist es vielleicht an der Zeit, um mit mir darüber zu reden.«

»Ja. Nur nicht heute.« Ihre Augen sandten ihm ihre flehentliche Bitte, es zu akzeptieren. »Was hältst du davon, wenn du stattdessen ein wenig über dich erzählst?«

»Ich wüsste nicht, welch glorreiche Heldentaten ich bislang vorweisen könnte.«

»Sina?« Sie drückte ihn aufs Bett und spürte unter ihren Händen, wie er sich schlagartig verspannte. »Magst du mir erzählen, wie es damals wirklich war? Ich meine, nicht die Hannah-Version.« Ein Eimer Eiswasser hätte keinen geringeren Erfolg mit sich gebracht. Er lag starr da und sah an ihr vorbei. Einzig sein langsam schlagendes Herz unter ihrer Hand sprach davon, dass er noch lebte. »Bitte Schatz, ich möchte wirklich wissen, wie du zu diesem Mann geworden bist, den ich langsam lieben lerne.«

»Lieben?« Es klang wie ein sterbendes Echo. Er horchte in sich hinein und konnte nichts dagegen tun, dass sich seine Blicke verschleierten.

»Ja«, hauchte sie ihm ins Ohr und ließ zart ihre Zungenspitze folgen. »Ich fürchte, es läuft unweigerlich darauf hinaus, dass ich mich in dich verliebe. Nur möchte ich nicht die gleichen Fehler begehen, wie die Frau vor mir.«

Seine Hand ergriff die ihrige und bettete sie auf seiner Brust. Dennoch dauerte es, bis er zu ersten ungelenken Worten fand. »Sinas Lachen. Es hat mich damals gleich eingefangen. Wir sahen uns das erste Mal in einem Lokal, wo sie mit ihren Freundinnen feierte. Sie war immer fröhlich, so warmherzig und doch so selbstbewusst. Und sie wusste, was sie wollte.« Tobias horchte in sich hinein und fand dabei zum ersten Male nach langer Zeit den Mut, über sich und seine Vergangenheit zu sprechen. Sinas Unbeschwertheit, ihre Kunst, Menschen für sich einzunehmen und mit sich zu reißen. Dieses befreiende Gefühl, gemeinsam alles erreichen zu können. Als Hannah sich ankündigte, war es wie selbstverständlich, dass sie den Bund fürs Leben eingingen. Kurz nach Hannahs Geburt jedoch veränderte sich Sinas Gemütszustand. Besser, sie offenbarte ihr wahres Wesen, wie er sich ehrlich eingestand. Vielleicht war er damals auch nur blind; oder er wollte es sein. Oder sie war einfach nur eine gute Schauspielerin. Egal, Sina begann aus sich herauszukommen. Partys, Feiern, Feste. Ein Leben auf der Überholspur. Er hielt dieses Leben an ihrer Seite keine drei Wochen durch. Selbst in seinem Beisein scheute Sina sich irgendwann nicht mehr, mit anderen Männern zu flirten oder gar auf unbestimmte Zeit mit ihnen zu verschwinden. Sie besaß plötzlich ihr eigenes Geld, um sich an schöner Kleidung und diversen anderen Dinge zu erfreuen … Selbst jetzt, zwei Jahre nach ihrem Tod, ließen ihn all diese ohnmächtigen Erinnerungen zittern und beben. Aber Christin sollte … nein, sie musste es erfahren. Alles, nicht nur die Lightversion, die er für Hannah und selbst für Jutta parathielt.

Christins Tränen waren längst getrocknet, als ihr sein Schweigen bewusst wurde. Das Rasseln seines Atems hatte sich gelegt und war in eine sanftes Heben und Senken seiner Brust übergegangen. Was hatte Tobias alles erleiden müssen. Welche Scham und wie viel Spott hatte er über sich ergehen lassen müssen. Und doch hatte er um seine Familie, um seine Liebe gekämpft. Wohl wissend, dass er nie die Chance auf ein Happy End bekommen würde. »Wie hast du das alles nur so lange aushalten können?« Sie flüsterte leise. Wenn er fortgedämmert war, wollte sie ihn nun nicht wecken.

»Das habe ich mich danach jeden Tag aufs Neue gefragt«, kam es leise. Er versuchte sich an einem Lachen, das wie der Abgesang sterbender Wale klang. »Sina war krank, habe ich mir immer wieder eingeredet. Vor allem liebte sie Hannah abgöttisch … Wenn sie denn daheim war. Und sie war die Mutter meiner Tochter.«

Christin presste ihre Lippen aufeinander. Erneut drangen ihre Tränen aus einem schier unerschöpflichen, bislang unbekannten Reservoir hervor. »Tobi?« Sein stummes Nicken übertrug sich sachte auf ihr Haupt. »Ich … ich bin auch kein unbeschriebenes Blatt.«

Langes Schweigen, bis … »Ich kann es mir denken.«

»Und trotzdem willst du es mit mir versuchen?« Christin stemmte ihren Oberkörper auf und sah aus tränenverschleierten Augen auf ihn herab. In seiner Miene spiegelte sich bittere Machtlosigkeit wieder. Dabei wusste er nicht einmal einen Bruchteil von dem, was ihr Leben bislang geprägt und bestimmt hatte.

»Wie soll ich mich dagegen wehren können? Ich sehe dich mit Hannah. Sie liebt dich abgöttisch und auch du … Sage mir, dass ich mich täusche. Sage mir, dass Hannah, dass wir dir gleichgültig sind.«

»Das seid ihr nicht«, entfuhr es ihr voller Panik und ließ sie daran denken, wie schlecht sie sich damals gefühlt hatte, als Tobias ihr den Umgang mit Hannah und Jutta verbot. Sie musste endlich ehrlich sein. »Ich liebe Hannah, als wäre sie mein eigenes Kind. Auch wenn ich dir längst noch nicht sagen kann, dass ich dich liebe. Liebe ist etwas Einmaliges. Aber ich spüre wie nie zuvor, dass du vielleicht der eine bist, der sie in mir wecken kann.«

Der Weinkrampf, der sie nach diesem Geständnis richtiggehend durchschüttelte, irritierte Tobias mehr als alle ihre Worte, die ihm Himmel und Hölle versprachen.

»Du weißt nicht, mit wem du dich hier einlässt! Ihr habt es nicht verdient, dass ihr wegen mir nochmals solchen Spießrutenlauf erleben müsst«, würgte sie irgendwann schluchzend hervor.

»Dann sage es mir bitte.« Seine behutsamen Hände versuchten, ihr den letzten Rest der lähmenden Angst fortzustreicheln. »Was ist dein schreckliches Geheimnis, das dir so sehr den Mut raubt?«

»Mein Job hier im Archiv und als Stadtchronistin ist nur ein Alibi. Eine Tarnung, damit mein Sponsor mich ständig in seiner Nähe weiß. Ich bin eine Escort-Lady.«

Es war raus … Und die Zeit blieb stehen.

»Es gibt viele schöne Umschreibungen für das eine Bestimmte, stimmt’s?«

»Ja. Ich verdiene mein Geld, indem ich solventen Herren zur Verfügung stehe. Sei es als Alibipartnerin, als Gesellschafterin und ja, auch fürs Bett. Alles für gutes Geld.«

Sie spürte, dass sich dort, wo er sie eben noch berührt hatte, eine unwirkliche Kühle ausbreitete.

»Wie soll es mit uns nun weitergehen?« Es klang dumpf und verloren, als er ihr aus dem Versteck heraus, das ihm seine Hände boten, ein Flehen sandte. »Ich kann so etwas nicht noch einmal …« Der Rest seiner Worte ging in einem schmerzvollen Stöhnen unter. So als begreife er erst in diesem Augenblick die gesamte Tragweite ihres Geständnisses.

»Ich könnte auch nicht so leben. Jetzt wo mir bewusst wird, dass du mich nicht nur wuschig machst«, fügte Christin leise an. »Ich habe Angst vor dieser ungewissen Zukunft, die mein ganzes altes Leben auf den Kopf stellt.« Hoffentlich verstand er, was sie ihm soeben hatte sagen wollen. Von einer festen Überzeugung, mit dem alten Leben zu brechen, konnte sie noch nicht sprechen. Noch weniger von Liebe. Für ihn und für Hannah wollte sie es jedoch versuchen.

Christin spürte, wie seine Hände an ihren alten Platz zurückkehrten, und nicht nur diese. Tobias schob sich an ihre Seite und nahm sie sachte in den Arm. Sein Bein ruhte auf ihrer Hüfte, als wollte er eine Flucht von vornherein verhindern. Es kostete sie Überwindung, die Augen zu öffnen und ihn anzuschauen. Sein liebevoller und zugleich harter Blick fing sie ein.

»Verzeih mir den Moment meiner Schwäche.« All seine Zweifel, sein Kummer und Schmerz schienen wie fortgewischt. Er kam ihr noch näher und ließ seine Zungenspitze über ihre Lippen wandern. »Ich habe verstanden, geliebte Fuchur. Schon als ich deine blauen Flecken bemerkte. Ich wollte es nur nicht wahrhaben.«

»Was wolltest du nicht wahrhaben?« Sie verfluchte ihren Urtrieb, Böses von ihm als Mann zu erwarten.

»Dass du dich längst gegen dein altes Leben entschieden hast.« Tobias war sich gar nicht so sicher, was er sagte und was er hier tat. Ihr beharrliches Schweigen tat ein Übriges. Doch es musste aus ihm heraus. Er musste wissen, woran er war, oder ob er nur eine beliebig austauschbare Episode für sie war. »Dein Sponsor war nicht erfreut darüber, als du es ihm gesagt hast?«

Sie versteinerte in seinen Armen.

»Ich habe dir bereits schon einmal gesagt, dass Ni… dass es mein Problem ist!«

»Das hast du. Leider! Und auch wenn es mich quält, werde ich dein Stopp akzeptieren. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt.«

»Welchen?«

»Wenn er dich noch ein einziges Mal verprügelt, reiße ich ihm den Kopf ab.«

»Du bist nicht mein Zuhälter.«

»Auch das weiß ich.« Er verstärkte unbewusst den Druck auf ihren Körper, bis es ihm auffiel und er es in ein liebevolles Streicheln übergehen ließ. »Nur wenn jemand den Menschen, den ich liebe, quält und ihm Schaden zufügt, ist es aus mit meiner Zurückhaltung. Und nun …« Er strich ihr eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. »Lass das Vergangene ruhen. Egal, was es auch ist. Es hat uns zu diesen ganz besonderen Menschen werden lassen, den wir in dem anderen gefunden haben. Also kann es vielleicht nicht immer ganz verkehrt gewesen sein.«


Kapitel 13

Tobias dachte oft an diese schicksalhafte Nacht zurück. Vier Tage waren seitdem vergangen. Tage, an denen sie sich kaum gesehen hatten. Christin hatte sich, mit der schwachen Begründung, Ediths’ Haus einrichten zu müssen, in ihre eigenen vier Wände zurückgezogen. Tagsüber war es zu verstehen, aber auch nachts? Aber er war Manns genug, um zu erkennen, dass dieses Entfremden mehr von seiner Seite kam. Egal was er ihr zuletzt versprochen hatte, war es doch diese tiefe Angst davor, erneut einen Spießrutenlauf zu erleben. Gepaart mit der unergründlichen Furcht, dass er Christin nie das Leben würde bieten können, das sie gewohnt war. Immer wieder die Frage, wie lange es dauern würde, bis sie ihr altes Leben vermisste? Demgegenüber – was blieb von ihm übrig, wenn er sich erneut in sein Schneckenhaus zurückzog und aus Feigheit vor einer ungewissen Zukunft den Schwanz einkniff?

So sollte es nicht mehr weitergehen. Und der Feuerwehrball am kommenden Samstag wäre ihre Feuertaufe. Er hatte über Ulli Töpfers Beziehungen noch zwei der heiß begehrten Karten besorgen können, die er nun in Händen hielt. Der Weg zu Leisners Haus, in dem er hoffte, auf Christin zu treffen, war nicht weit. Die Tür stand offen. »Hallo!«

»Wir sind hier!«, kam es von irgendwo aus dem Stockwerk über ihm.

Es hatte sich seit seinem und dem Abrücken der Bauarbeiter einiges getan, stellte Tobias fasziniert fest. Bereits jetzt war zu erahnen, dass Christin und Edith Leisner ein aufeinander eingespieltes Team waren. In diesem Moment schienen die beiden gerade zu beratschlagen, welche Übergardinen zu den mannshohen Sprossenfenstern im zukünftigen Ballsaal – wie Edith Leisner diese Räume bereits während des Ausbaus getauft hatte – passten.

Christin stand auf einer ziemlich wackeligen Leiter und hielt Stoffmuster gegen die Wand in Fensternähe.

»Zu grünstichig«, erlaubte Tobias sich ein Urteil, und zu Edith Leisner gewandt: »Entschuldigen Sie bitte die Störung. Nicht nur meine Liebste beherrscht es perfekt, in wichtige Gespräche hineinzuplatzen.« Er trat mit einem hoffnungsvollen Lächeln an die Leiter und ergriff Christin bei den Hüften, damit sie unbeschadet zu ihm hinabschwebte. »Ich störe wirklich ungern, aber diese Sache lässt sich nicht aufschieben.«

»Tobi?« In einer Mischung aus Verlegenheit und Unsicherheit senkte Christin den Blick. Er sollte nicht merken, wie sehr sie seine tagelange Zurückhaltung getroffen hatte. »Was gibt es Wichtiges?«

Er zog die Karten aus der Brusttasche hervor. »Ich würde mich sehr freuen, wenn du mir deine Gunst erweist und mich am Samstag zum Feuerwehrball begleitest.«

Christin verfluchte das Zittern ihrer Finger, als sie die Karten an sich nahm und draufschaute. Ihr war sehr wohl bewusst, was es für Tobias bedeuten musste. Und nicht nur für ihn. Der Augenblick der Entscheidung rückte näher. Sie hatte Nils-Oles Einladung zu genau diesem Ball bereits ausgeschlagen und nun …?

»Ich weiß, ich bin dir eine Erklärung schuldig«, setzte er verlegen an. »Diese Karten sollen ein Anfang sein. Ich würde mich wirklich sehr freuen, mit dir den Abend gemeinsam zu verbringen. Und ich möchte dich einigen wirklichen Freunden und ihren Frauen vorstellen.«

Christin biss sich auf die Lippen und sah unschlüssig an ihm vorbei. Edith hatte sich wie wild entschlossen über ihre Farbmusterkarten gebeugt und tat, als höre sie nicht, was um sie herum geschah. Ihr Blick traf auf seinen erwartungsvollen Gegenpart. All die ungestellten Fragen tobten zusammenhanglos durch ihren Kopf. Seine Zurückhaltung in den letzten Tagen hatte sie mehr getroffen, als sie bereit war, vor sich zuzugeben. Dabei war sie es gewesen, die ihm Grenzen gesetzt und weisgemacht hat, dass sie noch nicht über Liebe reden könne. Vor allem, wie würde Nils-Ole reagieren, wenn sie mit einem anderen Mann auftauchte? Wo sie ihm abgesagt hatte. Sie steuerten haltlos auf eine Katastrophe zu.

»Christin?«

Sie erwachte aus ihrem Dilemma und gab ihm mit zitternder Hand die Billetts zurück. »Das kommt alles so überraschend. Bitte gib mir Bedenkzeit.«

Er las in ihren Blicken das, was sie ihm verschwieg. „Keine Lügen mehr“, gingen ihm ihre Worte durch den Kopf. Ein stummes Nicken. Seine Linke, die noch immer irgendwie besitzergreifend auf ihrer Hüfte ruhte, glitt hinab und schlug hörbar gegen sein Bein.

»Ja, das verstehe ich.« Tobias atmete tief ein und streckte seine hängenden Schultern. Haltung bewahren. Er wandte sich Edith Leisner zu und schenkte ihr ein von Herzen kommendes Lächeln. »Entschuldigen Sie bitte nochmals die Störung, Frau Leisner. Und viele Grüße an Ihren Gatten.«

Sie winkte ihm freundlich hinterher und ließ dann ihren nachdenklichen Blick auf der zur Salzsäule erstarrten jungen Frau ruhen. »Ärger im Paradies?«

Christin schüttelte ihre Lähmung ab und sah die Freundin fragend an.

»Streit in der Ehe ist wie das Salz in der Suppe. Die Kunst ist nur, sich schnell zu versöhnen und immer wieder gute Kompromisse dabei zu finden.«

»Ach Edith …« Die Zeit des Kämpfens war vorbei. Sie konnte einfach nicht mehr. Weder schwindeln, noch lügen oder alles in sich hineinfressen. »Tobias und ich sind gar nicht verheiratet und es ist alles so … so … Ich weiß einfach nicht mehr weiter.«

Edith Leisner verstand. Sie trat an Christins Seite und führte sie zu dem einsam in einer Ecke stehenden, viele Jahrzehnte und die ganzen Bauarbeiten überlebenden Sessel. »So mein Kind, jetzt wirst du mir mal dein Herz ausschütten. Und wehe, du verschweigst mir etwas.«

Wider Erwarten befolgte Christin die Aufforderung, wenn sie auch versuchte, ihre Vergangenheit möglichst außen vor zu halten.

***

Tobias saß in seinem Büro und verbrachte seine selbst gewählte Klausur, indem er die restlichen Schreibtischarbeiten erledigte, die ihm verblieben waren. Drei Auftraggeber von ehemals mehr als dreißig hielten ihm die Treue. Noch? Nur wollte oder konnte keiner von ihnen seine Umbauvorhaben vor dem Herbst starten. Ihm würde in den nächsten Wochen sehr viel Zeit zum Nachdenken bleiben. Und um sich auszurechnen, wie lange er vor sich hin wirtschaften konnte, ehe er Konkurs anmelden musste.

Sein Handy erwachte zum Leben. Christin. Er ließ es klingeln. Wozu noch rangehen? Hatte sie ihm nicht eindeutig zu verstehen gegeben, dass er zu lange gezögert hatte? Schließlich nahm er das Gespräch in einem Anfall von Selbstzerstörung doch an.

»Tobi, störe ich dich bei etwas Wichtigem? Ich kann sonst nachher noch einmal anrufen.«

Ihre Stimme klang brüchig. Klar, auch sie hatte etwas anderes von ihrer Beziehung erwartet. »Nein, du störst nicht. Es tut mir wirklich leid, wenn ich dich in Zugzwang gebracht habe, und dann auch noch vor fremden Leuten.«

»Das hast du nicht. Nicht wirklich.« Ein unheilvolles Schweigen entstand. »Bist du zu Haus? Kann ich jetzt vorbeikommen?«

»Ja.« Er verschluckte ein „gerne“. »Hannah und Jutta sind nicht da. Ich versuche einen Kaffee aufzusetzen und Kekse zu finden.«

Der Kaffee war noch nicht einmal durchgelaufen, als es an der Haustür klingelte. Christin hatte Wort gehalten. Sie musste alles stehen und liegen gelassen haben. Selbst ein Bleistift blitzte aus ihrer wilden Mähne hervor.

Sie setzte sich an den lieblos gedeckten Tisch. Zwei Becher und auf dem ältesten Teller – noch aus Juttas Kindertagen – hatte er ein Sammelsurium von Keksen verschiedenster Machart drapiert. Der Schwall Kaffee, der sich in ihren Becher ergoss, zitterte merklich.

»Ich muss dir gestehen, dass ich mich in den letzten Tagen nicht gerade wie ein Held verhalten habe. Wieder einmal.« Tobias atmete auf. Es war endlich raus. Nur schien seine Beichte nicht gerade auf Verständnis zu stoßen. Eine Erkenntnis, die ihn nur noch mehr verunsicherte. Ein Teil seines Kaffees fand den Weg auf die Tischplatte.

»Ich habe dir wohl auch kaum die Chance dazu gegeben, dich wie ein Held zu benehmen«, fand Christin ihre Sprache wieder. »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich sehr gern mit dir zum Ball gehen würde. Auch deine Freunde würde ich gern kennenlernen. Ich hoffe nur, dass sie mich auch als deine Partnerin akzeptieren werden.«

»Das werden sie.« Über sein Gesicht huschte ein hoffnungsvolles Lächeln, das auf nicht erhoffte Gegenliebe stieß.

»Magst du mir nun ehrlich sagen, warum du mich die letzten Tage hast links liegen lassen?«

Er biss sich auf die Lippen und nickte bedeutungsschwer. »Ich frage mich, ob du mit mir auf Dauer glücklich werden kannst. Ich kann mir zwar im Traum nicht vorstellen, was man als Escort-Dame verdient. Aber es ist bestimmt mehr, als ich dir bieten könnte. Keine High Society, keine Drei-Sterne-Restaurants und auch keinen Champagner in irgendwelchen Suiten, in denen bereits der König von Eschnapur residierte.«

»Schätzt du mich so ein?« Ihre Hand fing ihr nervös herumwischendes Gegenstück ein. Fest schlossen sich ihre Finger um sein Handgelenk. »Glaubst du, ich hätte mir darüber keine Gedanken gemacht? Natürlich kann und will ich nicht abstreiten, dass es Zeiten gegeben hat, wo ich dieses Leben genossen und eine Menge Geld dafür bekommen habe. Aber viel lieber möchte ich endlich in der einzig wahren Währung entlohnt werden.« Sie konnte ein leises Lachen nicht unterbinden, als sie seinen Gesichtsausdruck wahrnahm. »Deine Treue, Hannahs Vertrauen, Juttas Freundschaft, eure Liebe. All diese Momente, die mir die Gewissheit geben, zu euch zu gehören. Ein Teil von euch zu sein. Lieben zu dürfen und ebenso geliebt zu werden. Selbst wenn es für uns alle ein schwerer Anfang wird.« Christin schloss die Augen und kämpfte gegen dieses schüttelfrostartige Zittern an, das ihren gesamten Körper vereinnahmte. »Nur musst du mir zeigen, dass du mir vertraust und dass ich es wert bin.«

»Ich bin ein ziemlicher Tölpel, hm?«

»Ja, manchmal schon.« Sie erhob sich mit einem verunsicherten Lachen, schob sich auf seinen Schoß und umarmte ihn. »Und nun erzähle mir, welches Kleid ich anziehen soll. Oder wolltest du mir noch eins kaufen?«

***

So aufgeregt wie heute war er noch nie gewesen, erinnerte Tobias sich, als er die drei Stufen zum Torschreiberhaus hinaufstieg. Nicht einmal auf seiner eigenen Hochzeit. Er horchte tief in sich hinein und stellte erlöst fest, dass die Vergangenheit über Nacht ihren Schrecken verloren hatte. Christin war die Zukunft und für sie wollte er ab jetzt leben.

Wie sie wohl aussah? Die Frau, die mit ihm auf eine der wohl wichtigsten Veranstaltungen Gernhausens gehen und gesehen werden wollte. Bereits am Vormittag hatte sie sich von ihm verabschiedet; mit der Begründung, einiges erledigen zu müssen, um für ihn am Abend die strahlende Begleiterin zu sein. Ihm stockte der Atem beim Anblick der Frau, die ihm ihre Tür öffnete. Sie hatte nicht zu viel versprochen.

»Schick siehst du aus. Magst du nicht noch kurz hereinkommen? Ich bin fast fertig.« Christin ließ ihn an sich vorbei eintreten.

»Schatz«, fand er langsam die Sprache wieder, »du siehst atemberaubend schön aus. Ich mag dir gar keinen Kuss geben. Aus Angst, ich könnte dich verunstalten.«

»Nun hör aber auf! Ich bin nicht aus Zucker.« Sie schenkte ihm einen Kuss und schmiegte sich zärtlich an ihn. »Warte bitte kurz im Wohnzimmer, während ich den letzten Schliff anlege.« Sie führte ihn die Treppe hinauf und in den großen Raum hinein, der beinahe die komplette Grundfläche des Hauses einnahm.

»Hübsch hast du dich hier eingerichtet«, stellte er anerkennend fest und bemerkte für sich, dass er zum ersten Mal hier weilte. »Wirklich toll. Du musst wissen, dass ich mir diesen Kasten damals im Rohausbau angesehen habe. Ich hätte es nicht für möglich gehalten.«

Sie errötete leicht und deutete auf einen der kunstvoll ins Fachwerk eingebetteten Schränke. »Wenn du etwas trinken magst … Ich beeile mich.«

Und schon entschwand sie nach oben aus seinen Blicken.

Tobias tat wie empfohlen und entdeckte wahre Schätze an erlesenen Getränken. Ein achtzehn Jahre alter Whisky versprach den Beginn eines gelungenen Abends. Er bediente sich mit einem schüchternen Schubs aus der Flasche, der gerade einmal den Boden des Glases bedeckte und trat an das Fenster, das zur Straße hinausging. Samstagabend und kaum etwas los. Entschleunigt, wie aus einer anderen Zeit. Die Leute gingen mit den Hühnern zu Bett und standen mit ihnen auf. Diese Stadt war ihm ans Herz gewachsen. Seine Einwohner weniger. Sie würden den Ausschlag geben in seinem Entschluss, zu bleiben oder bald – vielleicht sehr bald – fortzuziehen.

»Hast du dich sehr gelangweilt?«

Christin war die Treppe hinabgeschwebt, ohne dass er sie hatte kommen hören. Ihre High Heels mit mindestens zehn Zentimeter Absätzen hielt sie in der Hand. Fasziniert las er in ihrem Gesicht und in den Blicken die Vorfreude auf ihren gemeinsamen Abend. Dieser Smokey-Eyes-Effekt und das Glitzern ihres Make-ups gingen ihm unter die Haut. In ihm rührte sich mehr als nur ein heftig pochendes Herz. Später mehr, versprach er sich und seinen niederen Instinkten. »Habe ich dir schon verraten, wie wunderschön du bist? Ich glaube, wenn ich es nicht längst getan hätte, hätte ich mich in diesem Moment restlos in dich verliebt. Mylady.« Er bot ihr seinen Arm.

***

Der Gernhausener Feuerwehrball, eines der exklusivsten Feste der Stadt, war bereits im vollen Gange, als das junge, frisch verliebte Paar die Freitreppe zum historischen Rathaus hinaufstieg.

Die meisten der Tische im großen Rittersaal waren bereits besetzt, da erklomm Bürgermeister Händler selbstbewussten Schrittes das Podium und blickte mit dem Gebaren eines römischen Feldherrn über die versammelten Heerscharen.

Nils-Ole Händler war bislang immer stolz darauf gewesen, ohne Brille durchs Leben zu kommen. In diesem Augenblick jedoch wünschte er sich mit schmerzhafter Klarheit, dass er das Paar dort hinten im Foyer lieber nicht bemerkt hätte. Christin sah wunderschön aus. Nein, sie war atemberaubend schön. Eine Feststellung, die seinen aufbrandenden Schmerz, diese unendliche Enttäuschung nur noch verschlimmerte. Und er Idiot hatte ihren Beteuerungen, dass sie nur ihm allein gehöre, von ganzem Herzen glauben wollen. Er war es, der Frederiks mahnende Worte und all die eigenen Bedenken immer wieder über Bord geworfen hatte. Und nun …

»Herr Bürgermeister, ist Ihnen nicht gut?« Besorgte Blicke hinter dicken Brillengläsern. Der Gemeindewehrführer wedelte besorgt mit dem Programm in der Hand und bedeutete den dienstbaren Geistern in ihrer Nähe, für etwas Stärkeres zu sorgen, als es das Wasserglas am Rednerpult bot.

***

Mit strahlenden Blicken sah sich Tobias im festlich geschmückten Saal um, ehe er der Frau an seiner Seite mit einem sanften Händedruck bedeutete, dass sie voranschreiten möge. Es war ein berauschender Gedanke, dass sie für all die, die sie hier und jetzt erblickten, Anlass für deftigen Gesprächsstoff bieten würden. Sein Blick fing Ulli und Tarek ein, die sie ebenfalls entdeckt hatten und durch hektisches Winken bedeuteten, sich zu ihnen zu gesellen.

Er ergriff ihre Hand. »Na, nervös?«

»Nicht mit diesem Mann an meiner Seite.« Christins glänzende Lippen enthüllten zwei Reihen schneeweißer Zähne. »Also Liebling, dann führe mich bitte formvollendet in Gernhausens gehobene Gesellschaft ein.«

Tobias schenkte Christin ein schiefes Grinsen und begab sich mit ihr in Richtung ihres reservierten Tisches. Welch ein Unterschied zu sonst und ein Spießrutenlauf der ganz besonderen Art. Wie viele Leute ihn und seine wunderschöne Begleiterin plötzlich kannten und ansprachen. Einzig auf die Leisners zu treffen, war für die beiden eine erlösende Abwechslung und ein Bewegen auf sicherem Boden. Besonders als Edith Christin vor allen anderen herzlich umarmte. Irgendwann erreichten sie ihren Tisch, den sie für den Abend mit sechs weiteren Gästen teilen sollten.

»Christin, wenn ich dir Ulrich und seine Frau Inka vorstellen darf. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir überhaupt noch Karten bekommen haben. Und dieser ehrenwerte Gentleman hier ist mein bester und ältester Freund Tarek. Die wunderschöne Frau an seiner Seite ist seine Jasmina«, stellte Tobias die vier vor, die sich erhoben hatten, um die Neuankömmlinge zu empfangen. »Ja, und das meine Lieben ist die neue Frau in meinem Leben. Christin Thorstraten. Ich weiß nicht, ob ihr euch kennt.«

Christin trug ihr offenstes Lächeln zur Schau und trat auf die Vorgestellten zu. Sie musste nicht erst in deren Gesichter schauen, um zu wissen, dass ihr Ruf ihr längst vorausgeeilt war. Tobias’ Freunde gaben sich redlich Mühe, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, während ihre Frauen ihre geringschätzigen Blicke gar nicht erst verbargen. Ob Tobi wirklich wusste, auf was er sich mit ihr einließ?

Die Ankündigung des nächsten Redners hallte durch den Saal und brachte für einen Moment die Gespräche zum Stocken. Bürgermeister Händler richtete das Grußwort der Stadt aus. Man nahm Platz und tat, als würde man der Ansprache beiwohnen. Auch an Christin gingen die Worte ihres ehemaligen Gönners vorbei. Nur nicht seine Blicke erwidern, die sie ständig in einer bis hierher zu spürenden Eiseskälte studierten. Warum nur war sie in den vergangenen Tagen nicht zu ihm aufs Rathaus gegangen, wie sie es eigentlich vorhatte? War es wirklich nur, weil sie Tobias’ Verhalten zutiefst verunsichert hatte? Oder wollte sie einfach nur, wie gewohnt, ein weiteres Eisen im Feuer behalten? Eine Rückversicherung? Ja, das wäre die alte Christin gewesen.

»Ich habe gehört, Sie sind Historikerin und schreiben an einer Chronik über Gernhausen?«

Christin zuckte zusammen und versuchte in den Worten, die an ihr vorbeiflossen, einen logischen Zusammenhang zu finden. Jasmina, die Frau von diesem netten, aber ziemlich stillen Tarek, versuchte so etwas wie ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Nein, Christin, beschwor sie sich, du wirst ihr jetzt nicht die Antwort geben, die dir auf den Lippen liegt! »Ja, ich habe ein Jahresstipendium bekommen.« Durchatmen, mitspielen. »Und was soll ich Ihnen sagen, je mehr ich über die Geschichte dieser wunderschönen Stadt erfahre, umso mehr verliebe ich mich in sie. Dazu habe ich nun noch diesen tollen Mann gefunden.« Sie tätschelte Tobias’ Hand, den sie dadurch aus einem Gespräch mit seinen Freunden riss, und schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. Oh, wie sehnte sie den Augenblick herbei, dass die Musik begann und sie mit ihm durch diesen Saal tanzen würde. Endlich, mit ihm allein. Konnte Tobi überhaupt tanzen?

***

Und wie er es konnte! Christin brannten die Füße lichterloh, als sie irgendwann, weit nach Mitternacht, auf ihren hochhackigen Schuhen – ihre flachen hatte sie natürlich in der Garderobe vergessen – heimschlenderten. Ihr Ritter Tobias Drachenfänger gab ihr den sicheren Halt, den sie sich in letzter Zeit so sehr von ihm ersehnt hatte. War es das? Ein sicherer Halt, Trost, Verständnis, Liebe …?

»Schatzi, du bist mit einem Male so ruhig geworden?«

Es lag nicht ein Hauch von Besorgnis in seiner leicht angesäuselten Stimme, stellte sie fest. Die Antwort, die sie darauf fand, war so herrlich beruhigend. »Nicht ruhig, mein Schatz. Nur unendlich zufrieden«, gestand sie ihm und verkroch sich noch mehr in seine Schutz und Wärme versprechende Umarmung. »Ich denke daran, wie schön es wäre, wenn du mich den Rest unseres Lebens auf Armen trägst.« Oh Gott, was brabbele ich da nur? Also, auch bei ihr mindestens zwei Gläschen zu viel.

Er lachte so fröhlich, so befreit und laut auf, dass sich das Echo mehrfach in den altehrwürdigen Häuserfronten fing und wie ein losgelassener Ball hin und her sprang. Voller Übermut ergriff er sie und schon ruhte sie auf seinen starken Armen. »Schatz, lass uns gleich damit anfangen.«

Tobias trug sie den Rest des Weges und musste sie erst vor ihrer Haustür abstellen, damit sie ihren Schlüssel fand. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man sich dabei immer wieder heftig küssend in den Armen lag und nicht genug vom anderen bekam. Irgendwie gelang es ihnen doch, die Tür zu öffnen und ins Haus zu stolpern.

»Komm, Geliebter«, stöhnte Christin heftig und befreite sich aus seinen fordernden Umarmungen. Lachend eilte sie die Treppe hinauf und begann sich im Laufen auszukleiden.

Tobias schlug die Tür zu und folgte ihr. Erst im oberen Stockwerk holte er sie schwer atmend ein und umfing seine plötzlich wir zur Salzsäule erstarrte Frau.

Der Mann, der ihnen in einen langen weißen Bademantel gehüllt gegenüberstand, zerstörte allen Überschwang und schleuderte Tobias in eine Gefrierkammer. Das war er also, realisierte sein Verstand die für alle mehr als peinliche Situation. Christins Gönner. Zumal er jetzt in ihm den hiesigen Bürgermeister erkannte. Dessen flammender Blick ließ ihn eins und eins zusammenzählen. Tobias spürte nicht, wie seine Hände von Christins Armen herabglitten und sich zu Fäusten ballten.

»Nils…«, stammelte Christin. Jäh in einer Situation gefangen, die sie völlig überforderte. Dabei war es doch nur eine Frage der Zeit gewesen, dass es irgendwann zu dieser Begegnung kommen musste. Nils-Oles Eifersucht gegen Tobias’ enttäuschtes Begreifen. Dazwischen sie, die sich nie für etwas entscheiden konnte. Bestürzt suchte sie nach Worten, die diese Situation nicht weiter eskalieren ließen. »Nils-Ole, das ist Tobias. Er war so ritterlich und hat mich hierhergetragen. Ich habe mir meinen Fuß gestaucht und …«

Sie selbst konnte nicht glauben, mit welch einer Geschichte sie hier aufwartete! Dabei schienen die Männer sie in ihrem gegenseitigen Taxieren nicht einmal wahrzunehmen.

»Vielen Dank, dass Sie meiner Christin das Leben gerettet haben«, ergriff Händler kühl das Wort. »Von hier an werde ich nun übernehmen.«

»Ihre Christin?« Tobias verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den anderen abfällig. Betrachtete man unter dem aufklaffenden Bademantel dessen Blöße, konnte nicht deutlicher sein, was sie ihm bedeutete. Trotz der aufbrandenden Enttäuschung in ihm würgte Tobias hervor: »Es freut mich, dass ich endlich Christins Vater kennenlerne.«

»Irrtum, Herr Herder. Spielgefährte trifft die Sache eher.« Händler gönnte der Frau zwischen ihnen einen harten Blick, ehe er den seines Konkurrenten erneut einfing. »Ich sage es Ihnen einmal im Guten. Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man in meinem Revier wildert. Außerdem, meine ich, sollten Sie sich lieber um ihre hinfortbrechenden Aufträge kümmern. Damit Sie im nächsten Monat überhaupt noch etwas zu beißen haben.«

Sein selbstgefälliges Lachen schleuderte den Jüngeren in erste Zweifel.

»Nils, bitte nicht!« Christin, die langsam realisierte, in welche Richtung der Schlagabtausch ging, schob sich erneut zwischen die Kontrahenten. Ihre flehenden Blicke hielt sie dabei auf Tobias gerichtet, während hinter ihr Nils-Oles vor Verachtung triefende Stimme alles zerstörte.

»Herder, Sie sollen nicht glauben, dass Ihre fortwährenden Frechheiten Frau Thorstraten gegenüber ungesühnt bleiben. Jetzt, wo ich erkennen muss, dass Sie mir das nehmen wollen, was ich liebe und begehre, bestärkt es mich in meinem Entschluss, Sie endgültig aus dem Spiel zu kicken. Die Macht dazu habe ich.«

»Ist es an dem? Stimmt es, was dieser Mann sagt?« Tobias’ Worte waren ein leiser Windhauch. »Bist du es, die dafür sorgt, dass ich all meine Aufträge verliere?«

Christin schwieg erschüttert. Zu spät, um alles richtigzustellen. Was hätte sie auch sagen sollen? Alles was für sie sprach, wäre eine einzige Lüge.

»Was haben Sie denn gedacht?« Erneut füllte Händlers süffisante Stimme die Grabesstille. »Etwa, dass sich Christin mit einem Versager wie Ihnen abgibt? Einem Nichts, der nicht einmal seine eigene Familie im Griff hat. Ich könnte da Geschichten erzählen …«

»Es reicht!« Christin stellte sich mit ausgestreckten Händen vor Tobias, bevor er Nils-Ole womöglich an den Kragen ging und sich unglücklich machte. Dass ihre Haltung dadurch wirkte, als wolle sie Händler noch beschützen, wurde ihr im Traum nicht bewusst.

»Ja, es reicht.« Tobias trat einen Schritt zurück. Er fürchtete sich davor, dass ihn diese Hand, die ihn kurz zuvor noch so liebevoll gehalten hatte, in Flammen setzte. Alle Liebe, jede noch so kleine Spur von Vertrauen war aus seinen Blicken gewichen. »Sag mir nur eines, ist es wirklich so?«

Ihr neuerliches Schweigen, diese aufgesetzte Verletzlichkeit in ihren Augen, verriet ihm all das, für das sie zu feige war. Ein letzter bestürzter Blick, der an der hässlich grinsenden Visage des anderen hängen blieb. Dann ließ er das Pärchen zurück, das doch so gut zusammenpasste. Er fiel mehr die Treppe hinab, als dass er hinunterlief. Ein atonaler Trommelwirbel, der seinen unrühmlichen Abgang höhnisch begleitete.

»Tobias!« Sie wollte ihm folgen, doch der stahlharte Griff um ihren Oberarm riss sie unerbittlich zurück. »Nils, bitte nicht.«

Christin sah ihn flehend an. Doch sein Blick schien sie nicht einmal mehr wahrzunehmen. Fiebrig glänzend überstrahlte er ein Antlitz, in dem einzig und allein eine siegreiche Selbstgefälligkeit geschrieben stand. Oh Gott, wie konnte sie nur Tobias folgen und all die Missverständnisse klären? Dabei war ihr bereits jetzt bewusst, wie er fühlen und handeln würde. Er musste doch wirklich denken, dass alles auf ihrem Mist gewachsen war. So wie sie geschwiegen und Nils-Ole sich aufgeführt hatte.

»Nils, bitte.« Kraftlos zupften ihre Finger an der Hand, die ihren Arm fortwährend in ihrem schmerzhaften Griff behielt.

Nils-Ole Händler dachte nicht im Traum daran, seine Trophäe freizugeben. Sein Konkurrent hatte feige und mit fliegenden Fahnen das Schlachtfeld verlassen. Selbst ihre nur schwache, eigentlich gar nicht vorhandene Gegenwehr war ein Indiz seiner Macht, seines Einflusses und ihrer Erkenntnis, dass er für sie der einzig bestimmende Faktor in ihrer Liebe und Hingabe blieb. Eine unendliche Freude durchströmte ihn, als er seine halb nackte künftige Braut sanft zu ihrem Bett dirigierte.

»Wir müssen miteinander reden, Nils.« Christin erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder.

»Ja, mein Liebling, dass müssen wir.« Ihr trauriges, ja ängstliches Wesen eroberte Händlers Herz im Sturm. Diese Unterwürfigkeit bestärkte ihn, dass seine vor Tagen gefasste Entscheidung die richtige war; und notwendiger als je zuvor. Zärtlich versuchte er sie auf ihr Bett zu lotsen, wo sich ein erster Widerstand regte. »Christin, Liebling, ich habe Verständnis für dein Handeln und werde dir verzeihen. Du standest in letzter Zeit zwischen den Stühlen. Daran bin ich nicht ganz unschuldig. Aber das wird sich nun grundlegend ändern.«

Irgendwo zwischen Weltuntergang und einem Leben im falschen Film nahm sich Christin wieder wahr. Nils-Ole stand vor ihr. Beklemmung, Panik, Herzrasen. Angst davor, dass er sie erneut schlug. Wo war Tobi nur? Alles schien so fremd, so unwirklich … so verkehrt! Nils-Ole wirkte mit einem Male so anders. Anders als sie ihn in Erinnerung hatte.

»Ich habe meinen Anwalt beauftragt, dass er für mich die Scheidung einreicht.« Händler atmete heftig durch und verdrängte den Gedanken, dass er seinen Rechtsverdreher gerade einmal angewiesen hatte, auszuloten, wie teuer ihn eine Scheidung käme. »Schon bald werde ich für dich frei sein!«

»Nils, du darfst dich nicht scheiden lassen! Nicht wegen mir.« Seine Worte gaben ihr eine erste Kraft aufzubegehren.

»Doch, mein Liebling. Ich will unserem Leben einen neuen Sinn geben. Du sollst dich nie wieder mit solchen Versagern wie diesem Herder abgeben müssen.«

Christin stemmte sich gegen seinen Annäherungsversuch. Aber so halbherzig, dass ihn ihre Reaktion nur noch weiter ermutigte. »Nein, Nils. Es ist nicht richtig. Weder dass du dich wegen mir scheiden lässt, noch dass wir miteinander so weitermachen wie bisher. Ich … ich habe mich entschieden. Du bist nicht der Mann, mit dem ich leben und mit dem ich alt werden will. Bitte verstehe das.«

»Ich verstehe, dass du verunsichert bist. Ja, dass du vielleicht sogar Angst vor mir hast. Doch das alles war einmal. Ich habe dem Alkohol abgeschworen, nachdem ich begriffen habe, wie sehr ich dich gequält und verängstigt habe. Es soll nie wieder vorkommen.« Seine Hände umfingen ihre Hüften. Langsam, sehr langsam begann er sich mit ihr zärtlich kreisend hin und her zu bewegen. »Es war schrecklich. Aber das war nicht ich.«

»Bitte, Tobias …«

»Tobias wird dir nie das bieten können, was ich dir biete«, erstickte er ihren neuerlichen Einwand. Seine leise, zärtliche Stimme schlich sich wie Gift in ihren Kopf. »Er ist ein Weichei. Ein hilfloser Versager, der dich zwar anbetet, dir aber nie den richtigen Kerl ersetzt, den du an deiner Seite benötigst wie die Luft zum Atmen. Das weißt du genau. Sonst hättest du dich längst für ihn entschieden. Herder ist in wenigen Monaten pleite. Er hat ein rotzfreches Gör und steht zudem unter der Fuchtel dieser schrecklichen Schwiegermutter. Wenn du dir selbst gegenüber ehrlich bist, weißt du längst, was dich mit ihm erwartet. Du wirst in diesem Kaff verrecken. Als alte, frustrierte Frau, die innerhalb weniger Jahre einen Stall voller Bälger hat und erkennen muss, dass er sich seine Liebe woanders holt.«

»Und was erwartet mich, wenn ich bei dir bleibe?« Sie brachte ein zynisches Lachen hervor. Zumindest sollte es so klingen.

»Sòller, erinnerst du dich?« Er setzte sich auf die Bettkante und zog sie sanft zu sich herab. »An die Villa.«

»Ja, was ist mit ihr?«

»In etwa zwei Wochen fehlt nur noch deine Unterschrift unter der Besitzurkunde.«

»Meine Unterschrift? Wie …?«

»Ja, mein Freund hat für sich erkannt, dass er zu alt ist, um ständig hin- und herzujetten. Wir sind uns schnell handelseinig geworden.« Er las in ihrem skeptischen Blick, dass sie ihm diese Begründung nicht abnahm. Dafür war sie ihm zu ähnlich. »Schatz, überlege doch einmal. Wenn ich die Immobilie kaufe und im Grundbuch stehe, wird meine zukünftige Exfrau die Hälfte verlangen. Außerdem soll die Villa mein Hochzeitsgeschenk an dich sein.«

Christin sandte ein verzweifeltes Stöhnen in die Welt hinaus. »Ich kann dir nicht das geben, was du dir von mir erhoffst. Tobias ist für mich …«

»Nein, ich werde dich nicht in dein Unglück laufen lassen. Was hast du nach diesem Abend noch von ihm zu erwarten?« Er legte seinen Arm beschützend um sie und spürte seiner Befriedigung nach. Sie war seinen Einflüsterungen längst erlegen, wusste es nur noch nicht. Ihre Logik und erst recht seine zärtlich vortastende Hand würden sie schnell an den wichtigen Stellen von sich und seiner Aufrichtigkeit überzeugen. »Dieser Mann ist ebenso aggressiv wie ich es unter Alkohol war. Nur heißen seine Drogen Ehrgeiz und Anerkennung. Wenn er erst realisiert, dass du diejenige bist, die für seine ganzen Misserfolge verantwortlich ist, wird er dich im günstigsten Fall sofort erschlagen.«

»Ich bin doch nicht wirklich schuld daran!«

»Nicht?« Händler gönnte sich den Luxus, leise zu lachen. »Wie oft hast du über ihn gewettert! Ja, du hast mich förmlich bekniet, ihm einen Dämpfer zu versetzen. Daran erinnere ich mich sehr wohl.«

»Nils, du musst es klarstellen. Bitte.«

»Ich?« Sein Erstaunen war nicht einmal gespielt. »Das kann ich nicht. So gern ich es täte. Die Sache ist längst zu einem Selbstläufer geworden. Ich sage nur, die Geister, die ich rief.«

Zufrieden registrierte er, dass ihr scheinbar erst jetzt bewusst wurde, was ihr damaliger Wunsch nach sich zog. Stumme Tränen zogen langsam ihre Bahnen. Sieg! Sieg auf ganzer Linie. »Sieh es ein. Dieser Mann wird dich verfluchen und nie wieder anrühren.« Seine Rechte hatte ihr Ziel erreicht und wanderte zärtlich und behutsam ihren Oberschenkel hinauf. »Ich verspreche dir hoch und heilig: Du sollst nicht länger leiden. Vergiss ihn, wie auch ich diese schlimmen Tage vergessen werde.«

Wie einfach alles klang. Sich fallen und von Nils auffangen lassen. Christins Gegenwehr erstarb. Es war der Weg, ihre gepeinigte Seele zu besänftigten, versuchte sie sich einzureden. Und doch spürte sie zutiefst die Erschütterung, dass der eigentliche Verrat an Tobias war, dass Nils-Ole sie in dieser Nacht erneut in Besitz nahm und sie es auch noch geschehen ließ.

***

In Tobias war etwas zerrissen. Wie in einer Endlosschleife zogen die Erlebnisse in Christins Wohnung an ihm vorbei. Sein größter Albtraum war wahr geworden. Weitaus gravierender noch war ihr kaltblütiger Verrat. Sie war die ganze Zeit über die treibende Kraft gewesen, die seine Zukunft und Existenz vernichtete. Reichte es ihr nicht, dass sie ihn um den kleinen Finger wickelte, ihn anzog und von sich stieß? Ganz wie ihr beliebte! Hasste sie ihn so sehr, dass sie ihn völlig zerstören wollte? „Von ganz oben aus dem Rathaus…“, kamen ihm Werner Leisners Worte in den Sinn. Dazu Händlers dreckiges Grinsen, als er vor ihm stand. Wie gern hätte er Christin von all dem freigesprochen, doch die Realität sagte etwas anderes. Von allein hatte Händler kein Interesse, ihm zu schaden. Vor allem, warum hatte sie das Missverständnis nicht sofort aufgeklärt? Warum war sie ihm nicht gefolgt? Die Antwort auf seine Fragen lag auf der Hand. Ja, Christin und dieser Bürgermeister waren wirklich ein wundervolles Paar.

***

Irgendwann am frühen Morgen hatte Tobias seine ruhelose Wanderung durch den schlafenden Ort beendet. Ohne auch nur einen Deut klüger zu sein. Er konnte einzig und allein nur auf Christins Glück hoffen, und für sich auf ein straffreies Leben, dass sie ihm fortan aus dem Wege ging.

»Du bist wach?« Er fühlte sich so ausgebrannt, dass er es nicht einmal fertigbrachte, irritiert zu sein, als er Jutta im Halbdunkel des heraufdämmernden Tages gewahrte. Das Aufglimmen ihrer Zigarette untermalte den Teint ihres verzweifelten Gesichtsausdruckes. Es musste Jahre her sein, dass er die feste Größe in seinem Leben so gesehen hatte. Christin! Hatte sie Jutta angerufen? Hatte sie sie ebenso gedemütigt, sie ausgelacht, weil sie so blöde war, an das Gute im Menschen zu glauben? Auch dafür würde er dieses Weib erschlagen.

Jutta drückte ihre halb gerauchte Zigarette aus und erwiderte den stummen Blick ihres Schwiegersohnes. Sie spürte auch ohne Worte seinen Schmerz. Und doch würgte sich die zynische Frage hervor, ehe sie daran erstickte. »Hast du die Dame wenigstens heimbegleitet?«

Er nickte stumm und trat an einen der Hängeschränke. Ganz rechts, wusste er, gab es etwas für „medizinische Notfälle“. Wenn das keiner war, was dann! Der Achtzigprozentige füllte ein halbes Wasserglas. Verfolgt von Juttas missbilligenden Blicken verschwand ein Großteil des Gesöffs in seinem Inneren.

»Ich fasse es nicht!«, kam es desillusioniert und fassungslos. »Ich kenne niemanden, der sich häufiger trennt und wieder zueinander findet. Ihr seid wirklich guinessbuchwürdig!«

Tobias würgte ihre Standpauke mit einer herrischen Handbewegung ab. Zu mehr war er nicht in der Lage, als der Alkohol seine Speiseröhre verätzte.

Doch das störte Jutta herzlich wenig. »Weißt du, ich habe eure Faxen endgültig dicke! Ich schnappe mir jetzt Hannah und dann fahren wir irgendwohin und kehren erst heim, wenn ihr zwei euer Aufgebot bestellt habt.«

»Dann mal Lebwohl«, brachte die krächzende Säge in ihm zustande. Ein weiterer tiefer Schluck. Das Brennen war gar nicht mehr schlimm.

Jutta erhob sich und entsorgte den Ascher samt Inhalt im Restmüll. Nicht ohne sich im Selbstgespräch über dieses Pack zu beschweren, das sich erwachsene Menschen schimpfte. »Mach doch, was du willst. Ich gehe jetzt ins Bett.«

Er brachte ein leidendes Schnaufen heraus. »Ich weiß endlich, wer mir all meine Aufträge zerstört.«

Jutta fuhr herum und sah ihn entsetzt an. Doch er schwieg. Wozu Worte? Seine ganze Haltung zeigte, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr wurden. Er stand mit Tränen in den Augen vor ihr.

»Bitte Mama, pass auf, dass ich sie nicht erschlage.«

Jutta schloss ihn in die Arme und versuchte ihm das bisschen Wärme zu geben, zu dem sie noch in der Lage war.

***

Die Glocken von St. Sebastian trugen sie an das Licht des späten Vormittags. Christin schloss geblendet die Augen. Im selben Moment wurde ihr bewusst, dass der Mann, der neben ihr lag, nicht der war, von dem sie gerade noch geträumt hatte. Nur tröpfchenweise gelangten die Erinnerungen an die vergangene Nacht in ihr Bewusstsein. Bis die Wirklichkeit schlimmer war als sämtliche Albträume. Ihr war hundeelend, als sie sich der Realität ergab. Sie hatte Tobias auf ewig verloren und stattdessen nichts Besseres zu tun gehabt, als sich von dem Mann vögeln zu lassen, der für ihr ganzes Unglück verantwortlich war.

»Guten Morgen, Liebling. Du bist wach?« Nils-Ole, der gefühlte Stunden neben ihr wach ausgeharrt hatte, schob sich an ihre Seite und blickte liebevoll lächelnd auf sie herab. »Schön. Was hältst du von einem gemeinsamen Frühstück?«

»Hab nichts im Haus.« Ihre eigene Stimme zertrümmerte ihr die Schädeldecke.

»Dann fahren wir zum Brunch nach Hanau. Warte, ich rufe Frederik an.«

»Nils, bitte …« Christin rappelte sich umständlich auf und blieb am Bettrand sitzen. Sie fühlte sich fremd an, verkatert, ausgebrannt, besudelt. Die aufsteigende Übelkeit war beinahe wie eine Erlösung. »Bitte zieh dich an und lass mir meine Ruhe.«

»Bist du nicht ein wenig undankbar? Nach all dem, was ich heute Nacht für dich getan habe«, tat er besorgt und machte dabei nur einen kleinen Fehler. Er begab sich zwischen sie und die Badezimmertür.

Es ließ sich nicht vermeiden und es war peinlich. Doch irgendwie traf es den Richtigen. Christin torkelte weiter in Richtung Bad.

»Eigentlich habe ich mir unseren gemeinsamen Sonntagmorgen anders vorgestellt.« Händler war ihr gefolgt und sah angewidert an sich herab. Der Spaß war ihm restlos vergangen. Mühsam zwängte er sich an dem über die Toilette gebeugten Körper vorbei. Hinein in die viel zu enge Duschkabine. Er fand weitere, wenig schmeichelhafte Worte, ehe das Rauschen des Wassers seine Stimme verschluckte.

Christin schleppte sich zurück in ihr Schlafzimmer und starrte angestrengt auf das Bild, das sich ihr bot. Das zerwühlte Bett, verstreute Kleidung. Zudem stank es erbärmlich. Und doch hatte es etwas Symbolisches an sich. Sie würde nicht mehr aufräumen. Aber es gab noch etwas zu tun, was ihr wichtiger als alles andere erschien. Sie trat an den Stuhl, auf dem Nils-Ole seine Kleidung sorgsam abgelegt hatte. Sie ergriff alles auf einmal und schleuderte es mit einem unirdischen, alles vertreibenden Schrei durch den ganzen Raum. Zufrieden mit sich trat sie an das Fenster und schaute hinaus in die gleißende Helligkeit. Auf der Suche nach etwas Erleuchtung.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen! Was soll das?«

Christin blickte über ihre Schulter hinweg. Auf den Mann, der ihren Gedanken längst entflohen war. Wie er da am Fußende des Bettes stand und dabei weinerlich auf seinen Maßanzug deutete. Was an ihm hatte sie jemals veranlasst, in ihm einen strahlenden Ritter zu sehen?

»Das heißt, dass ich jetzt allein sein möchte.« Die apathische Stimme war ihre eigene, stellte sie mit einer Spur Verwunderung fest.

»Ich finde, dass es in deinem jetzigen Zustand keine gute Lösung ist«, begehrte er auf und fand entgegen seinem eigentlichen Vorhaben zu einer Lösung. »Ich schlage vor, du gehst unter die Dusche. Und dann fahren wir irgendwohin und lassen uns verwöhnen. Dieser Versager hat dir ja völlig den Kopf verdreht!«

»Nein! Ich will weder darüber diskutieren, noch will ich dich ein weiteres Mal darum bitten müssen. Verstehe mich bitte einmal. Ich will allein sein und wieder zu mir finden.«

»Gut, du sollst dich natürlich wohlfühlen.« Nur ein aufmerksamer Zuhörer hätte das Beben, den inneren Aufruhr in Händlers Stimme wahrnehmen können. Das feuchte Badelaken an ihm sank zu Boden, als er begann, seine Kleidung zusammenzusuchen. »Ich verstehe dich. Doch bedenke, dass ich nicht immer der Spatz in deiner Hand sein werde.«

»Das ist mir sehr wohl bewusst.« Christin verließ ihren Platz am Fenster und versuchte sich an einem einsichtigen Lächeln. »Ich werde mich bald bei dir melden, versprochen. Wenn wir uns wiedersehen, habe ich mich entschieden.«

Sie berührte sachte seine Schulter. Aber er schien von sich aus wenig Lust zu verspüren, die Nähe dieser besudelten, heruntergekommenen Frau zu suchen. Sie musste wirklich abgewrackt ausschauen. Egal, sie ließ ihn stehen und wankte ins Bad zurück, um gleich hinter sich abzuschließen.

Ihr blieb das Herz stehen, als sie das wahre Ausmaß ihrer selbst im Spiegel erkannte. Die Übelkeit, die noch immer anhielt, war das Eine. Dieses grässliche Weib dort im Spiegel. Mit all dem verwischten Make-up und zerlaufenem Mascara hatte nichts Anmutiges an sich. Wer konnte so etwas annähernd hübsch finden, geschweige denn lieben? Die Lippen ihres Gegenstückes begannen sich zu bewegen. »Frage dich erst einmal, wer diese Frau überhaupt lieben kann, die du wirklich bist.«

Das warme Wasser reinigte zwar ihren Körper. Aber was war mit ihrem Geist? Diese Frage würde sie über eine sehr lange Zeit begleiten, spürte sie ihrem Fluch nach. Hexen wissen das. Christin drehte den Temperaturregler weiter auf, doch das innere Frieren ließ sich dadurch nicht vertreiben. Ihr ganzes neues Leben lag in Trümmern. In einer halben Nacht war all das, was sie sich für ein kleines Glück ersehnt hatte, zerstört und ließ sich nie wieder kitten. Gerade sie, die bei Tobias ständig auf Ehrlichkeit gedrängt hatte, hatte gegenüber ihren eigenen Ansprüchen gänzlich versagt. Seine Blicke, diese bodenlose Enttäuschung in ihnen, hatte sich tief in ihre Erinnerung, ins Bewusstsein hineingegraben. Gerade bei ihm, der ihr so oft in den letzten Tagen signalisiert hatte, auch den steinigsten Weg gemeinsam gehen zu wollen. Vorbei!!! Christin ließ sich gegen die gekachelte Wand fallen und sank hemmungslos schluchzend daran herunter. Endlich konnte sie ihren Tränen die Freiheit geben. Jetzt, wo ohnehin alles vergebens war.

***

Die Leuchtziffern des Weckers sprachen von der sechsten Stunde des Tages. Sie wollte sich empört umdrehen, aber plötzlich war alles wieder da. Der Gedanke an Tobias wollte sie erneut herabziehen, sie lähmen wie den ganzen Tag zuvor. Nein, auch er würde Geschichte sein. Es sei denn … er gäbe ihr noch die eine Chance. »Die du nie und nimmer verdient hättest«, murmelte sie ins Halbdunkel hinein und schlug die Bettdecke beiseite.

Gähnend tapste Christin die Treppe hinab, um sich einen starken Kaffee aufzusetzen. Auf dem Weg zurück entdeckte sie ihr Smartphone. Keine neuen Nachrichten. So tot wie der Anrufbeantworter. Besaß sie wirklich die Dreistigkeit, zu hoffen, dass Tobi ihr eine Nachricht hinterließ? »Hör endlich auf herumzuheulen! In einem hat Nils-Ole recht. Dieser Typ hätte dir nur das Genick gebrochen, du dumme Nuss.«

Hart schlug das Plastikgehäuse auf die Ladestation auf.

***

»Haben Sie einen Termin beim Herrn Bürgermeister?«

»Er wird die Zeit für mich haben.« Christin erwiderte kalt die herablassenden Blicke des Vorzimmerdrachens. »Nennen Sie ihm nur meinen Namen, Thorstraten.«

»Frau Thorstraten!« Nils-Ole Händler erhob sich, als die beiden Frauen sein Büro betraten. Er gab seiner Sekretärin das unmissverständliche Zeichen, sich zu entfernen, und empfing die überraschende Besucherin mit einem förmlichen Händedruck. »Wie schön, Sie zu sehen.«

Bislang war es zwischen ihnen ein ungeschriebenes Gesetz gewesen, dass sie hier nicht zu erscheinen hatte. Vornehm aufgebrezelt stand sie nun vor ihm. Er musste nicht erst ihren Gesichtsausdruck studieren, um zu wissen, für wen sie sich entschieden hatte. Ohnmächtige Wut überschwemmte seine schwindende Selbstsicherheit. Er würde dafür sorgen, dass dieser Herder sich das Genick brach.

»Christin, bitte nimm Platz.« Nils-Ole deutete auf den bequemen Besucherstuhl und trat selbst an die vollverglaste Fensterfront. Der Blick auf den angrenzenden Stadtpark war für ihn bislang immer ein beruhigendes Element gewesen, doch heute versagte dieses Wissen darum vollends. »Dein Kommen überrascht mich. Möchtest du etwas zu trinken?«

»Nein danke.« Sie war stehen geblieben und stellte das schmale Aktenköfferchen auf die Kante seines ausladenden Arbeitsplatzes. »Ich hatte dir versprochen, mich zu entscheiden. Wie es mit unserer Beziehung und meiner Zukunft weitergeht.« Die Schlösser schnappten auf. »Ich wollte dich nicht unnötig länger warten lassen. Vielleicht bekommst du deinen Anwalt noch zurückgepfiffen.«

»Anwalt?« Er trat bis auf wenige Schritte auf sie zu. Doch ihre kühle, geschäftsmäßige Aura verbot es ihm, sich ihr weiter zu nähern. Oder war es einfach nur die ernüchternde Erkenntnis, dass er die Entwicklung der Lage völlig verkehrt eingeschätzt hatte?

»Deine Scheidung, Nils. Ich möchte nicht der Grund sein, zumal wir keine gemeinsame Zukunft haben werden.« Christin drehte den Koffer so, dass er hineinschauen konnte. Tiefes Durchatmen. »Das ist der Grund, warum ich hier bin.«

»Hör doch auf, Schatz. Was ist es, das dir fehlt? Mehr Geld? Mehr Aufmerksamkeit? Ich kenne dich mittlerweile zu gut. Du wirst es dir doch wieder überlegen.« Er schenkte ihr ein selbstsicheres Lachen und trat an den Schreibtisch. Der Inhalt des Koffers ärgerte ihn maßlos. Zumal er seine eben aufgestellte Behauptung ad absurdum führte. »Was soll das sein?«

»Ich war heute Morgen bei meiner Bank.« Sie trat einen Schritt zurück und betete darum, dass er es ihr nicht als Schwäche auslegte. »Ich möchte dir nichts schuldig bleiben. Das Geld ist die letzte Apanage von dir. Du hast in den letzten Tagen nicht viel von mir gehabt …«

»Du spinnst doch, Mädchen!« Händler war es egal, ob seine Stimme bis ins Vorzimmer drang. Die Maske des Goodwill-Menschen blätterte, als er sich wütend vor ihr aufbaute. »Was soll das mit dem Geld? Ausgerechnet hier! Und vor allem, warum gibst du mir das Collier zurück?«

»Weil ich es nicht verdiene. Außerdem gehört es zu einem Set, das man nicht auseinanderreißen sollte.« Christin strich sich selbstbewusst eine vorwitzige Harrsträhne aus der Stirn. »Ich denke, du wirst jemanden finden, der es steht und die es mehr verdient.«

»Nein, so haben wir nicht miteinander gewettet!« Seine Pranke schloss sich fest um ihren Unterarm. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich so einfach gehen lasse? Steckt dieser arme Wurm wieder dahinter? Ich werde mit ihm endgültig Schlitten fahren.«

»Das wirst du nicht«, kam es hart und bestimmt von ihr. Was sie nicht zu hoffen wagte, geschah. Er gab sie auf der Stelle frei. Weitaus milder fuhr sie fort. »Im Gegenteil. Wenn du wirklich noch etwas wie Liebe für mich empfindest, wirst du die Sache mit den abgesagten Aufträgen ins Reine bringen.«

»Du Traumtänzerin! Selbst ein Tobias Herder wird sich von dir nicht länger zum Hampelmann machen lassen. Er wird dich quer durch die Stadt prügeln.«

»Das muss ich in Kauf nehmen. Es ändert jedoch nichts an unserer Situation, Nils. Es ist aus. Bitte, lass uns als Freunde auseinandergehen.«

»Selbst wenn ich es wollte. Ich kann dich nicht gehen lassen. Du weißt zu viel über mich, und du steckst in zu vielem mit drin.«

»Nein, nicht auf diese Art.« Ein Ruck ging durch sie hindurch. Mit Eiseskälte fuhr sie fort. »Ich habe in meiner Karriere erlebt, wie weitaus mächtigere Männer, als du es bist, ganze Konzerne übernommen oder dem Erdboden gleichgemacht haben. Ganze Existenzen wurden vernichtet, Politiker geschasst und mehr. Niemand hat je etwas von mir erfahren. Deine kleinen Mauscheleien oder angeblich ganz großen Coups interessieren mich nicht. Mach dich also nicht lächerlich und klein, indem du mir jetzt drohst.«

Händler schien in sich hineinzuhorchen und schließlich zu dem Entschluss zu kommen, einen Gang zurückzuschalten. »Überlege es dir gründlich. Meine Tür könnte irgendwann auf ewig verschlossen bleiben.«

Christin trat mit einem Lächeln, das ihr so viel abverlangte, auf ihn zu. »Dafür habe ich vollstes Verständnis. Die Zeit mit dir war wirklich schön. Aber du bist leider nicht der Mann, den ich auf ewig lieben könnte. Und weniger … hast du nicht verdient.«

Er stand dort in einer hilflosen Haltung. Doch der liebevolle Blick, mit dem er sie entließ, war der von vorletzter Nacht.

***

Christin verließ das Rathaus gemessenen Schrittes. Dabei war ihr einfach nur danach zu laufen. Fort! Fort von hier und nicht umdrehen. Doch der Weg, der vor ihr lag, verhinderte es. Wäre es nicht besser, wenn sie Tobi erst anrief? Nein! Was sie ihm zu gestehen hatte, war keine Sache fürs Telefon. Die Alternative wäre, einfach zu verschwinden. So wie sie es schon oft zuvor getan hatte. Doch die neue Christin würde vor ihren Fehlern nicht mehr davonlaufen.

Christin war so sehr mit sich beschäftigt, dass sie nicht auf ihren Weg achtete. Als sie Edith vor ihrem Haus stehen sah, war es zu spät umzukehren. Die Frau, die ihr in den letzten Tagen zur Freundin geworden war, hatte sie längst entdeckt.

»Da bist du ja endlich! Hübsch sieht sie aus, die Ballkönigin, von der ganz Gernhausen spricht.« Edith schloss sie in die Arme und tat, als stutze sie. »Aber dein Arbeitsoutfit ist das nicht, oder?«

Edith konnte manchmal reden wie ein Wasserfall. Besonders wenn es etwas gab, was sie verunsicherte … oder wenn sie die Traurigkeit eines bewundernswerten Menschen spürte. Ehe Christin es sich versah, hatte die Freundin sie ins Haus geschleift.

Schweigen kroch zwischen die Frauen, das Edith erst brach, als die Jüngere betreten zu Boden schaute. »Wieder Ärger im Paradies?« Keine Antwort. »Dabei saht ihr am Samstag doch so glücklich aus.«

Ein letztes Aufbäumen von Stolz und Starrsinn. Ein aufgesetztes Lächeln, das niemanden überzeugte. Dabei war sie einmal sehr gut darin gewesen, die Menschen, die es gut mit ihr meinten, vor den Kopf zu stoßen. Doch all die Herzlichkeit, das ehrliche, offene Wesen, das Edith ihr entgegenbrachte – und nicht nur sie, dachte Christin an Jutta und Hannah –, zerstörten ihr so mühsam aufrechterhaltenes Bild der selbstsüchtigen Egomanin, das sie bislang so gut durchs Leben gebracht hatte. Christins Schultern fielen kraftlos nach vorn.

»Ich habe so vieles falsch gemacht. Es ist alles aus! Mit Tobias, mit meinen Träumen, meinem ganzen Leben. Ich habe die Menschen, die an mich geglaubt und mich trotz meiner Fehler geliebt haben, betrogen und ihnen so viel Leid angetan. Ich muss von hier fort.«

»So habe ich auch einmal gedacht.« Christins Beichte schien die Ältere kaum aus der Ruhe zu bringen. »Damals, als junge Frau, war ich ein wilder Feger und habe Werner mehr als einmal an allem verzweifeln lassen.«

Der plötzliche Ernst in Ediths Stimme ließ Christin aufhorchen. Doch wie sollte gerade sie ihr helfen können? Sicherlich bereute sie schon, was sie gesagt hatte. »Und? Was lief bei dir anders? Was lief besser?«

»Ich habe lernen müssen, dass es nur eine gemeinsame Zukunft geben kann, wenn der geliebte Mensch ein Recht auf deine Geheimnisse hat. Wer weiß, vielleicht hat gerade er die Lösung für all deine Probleme. So war es in meinem Fall.«

»Edith … Ich … Ich bin der Auslöser und der Anlass dafür, dass Tobias all seine Kunden und Aufträge verloren hat.«

Edith Leisner stockte der Atem. Christins Niedergeschlagenheit überzeugte sie davon, keinem makabren Scherz aufgesessen zu sein. »Christin, Kleines.« Sie trat auf das hemmungslos schluchzende Mädchen zu und schloss sie sanft in die Arme. »Komm, du schüttest mir jetzt dein ganzes Herz aus. Und dann sehen wir, was wir gemeinsam dagegen unternehmen können. Es wird nicht wenig sein, das verspreche ich dir.«

***

»Ich werde für den Rest des Tages unterwegs sein.«

Jutta schaute von ihrer Handarbeit auf und sah in ein paar dunkel umrandete Augen, die wer weiß wie lange keinen Schlaf und noch weniger Ruhe gefunden hatten. Den ganzen Tag über hatte sich Tobi in seinem Büro verschanzt. Nun stand er vor ihr. Frisch geduscht, adrett gekleidet und dennoch ein Schatten seiner selbst. Selbst Hannah war es nicht gelungen, ihren Vater aus seiner selbst gewählten Klausur zu befreien. Klausur? Hölle war treffender. Herrgottnochmal! Warum nur, Christin?

»Hörst du mir überhaupt zu?«, riss seine Frage sie aus ihrem heiligen Zorn.

»Nein, nicht wirklich. Vielleicht, wenn du mir endlich sagen würdest, was zwischen euch geschehen ist?«

»Ich bin in Seligenstadt. Mit Glück ein neuer Auftrag«, sagte er stattdessen und knurrte mit verzweifeltem Unterton. »Wenn dieses Weib ihn mir nicht auch schon zerstört hat.«

»Mit „diesem Weib“ meinst du nicht zufällig Christin?«

»Bitte, nicht jetzt! Sorge einfach nur dafür, dass sie mir nie wieder über den Weg läuft.«

Jutta packte ihn am Arm und riss ihn zu sich herum. »Weiß Christin das auch? Oder redet ihr wieder einmal gepflegt aneinander vorbei?«

»Wenn sie nur noch ein Fünkchen Anstand besitzt, wird sie nie wieder hier auftauchen!« Damit war für Tobias alles gesagt. Er befreite sich derb aus ihrem Griff und verließ fluchtartig das Haus.

***

Jutta sollte nicht lange warten müssen, bis die Haustür geöffnet wurde. Nur blieb Hannahs lebhafter Auftritt, den sie sich so sehr wünschte, aus.

»Hallo, Jutta.« Ihre Stimme war selbst für ihre eigenen Ohren kaum wahrnehmbar, spürte Christin ängstlich in sich hinein. Doch wenn sie darauf gehofft hatte, dass ihre liebste Freundin aufstand und sie, wie so oft zuvor, tröstend in den Arm nahm, wurde sie zutiefst enttäuscht. »Ist Tobi da?«

»Ich glaube nicht, dass er dich noch einmal … Dass wir dich noch einmal sehen wollen.« Ihre eigenen Worte schnitten Jutta tief in ihre Seele hinein. Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Die Kante der Arbeitsplatte war das Einzige, das ihr noch Halt versprach. Ansonsten spürte sie nur Enttäuschung und Leere in sich.

»Ich weiß, dass ich so vieles falsch gemacht habe.« Christin tat einen Schritt in den Raum hinein. Doch die deutliche Verachtung, die ihr entgegenbrandete, fraß allen Mut auf. »Ich weiß nicht, was er dir gesagt hat?«

»Du weißt genau, dass Tobi nie schlecht über andere redet. Nicht einmal über jemanden wie dich!«, fauchte Jutta sie mit einem Schluchzen an, das tief aus ihrer Seele kam. »Ich weiß nur, dass er leidet!«

»Jutta, ich brauche die Adressen derjenigen, die ihre Aufträge storniert haben. Ich will doch alles klarstellen und sie bitten, ihre Absagen zurückzunehmen.«

»Ach! Du meinst, du überzeugst auch nur einen von denen, die meinen Schwiegersohn seit Jahren kennen und die ihn dennoch im Stich lassen! Gerade die Frau, die für diesen ganzen Schlamassel verantwortlich ist!«

Trotz ihrer harschen Worte begab sich Jutta in Tobias’ Büro; gefolgt von einem zitternden Häuflein Elend, das schweigend neben dem Schreibtisch stehen blieb und darauf wartete, dass der Computer hochfuhr. Christins Blicke wanderten ziellos über die wenigen Gegenstände auf der Arbeitsplatte und blieben an der Fotografie hängen, die Hannah und sie zeigte. Ein hässlicher Sprung zog sich über die Glasfläche des Bilderrahmens. Wie sehr nur musste sie ihn enttäuscht haben. Sie riss sich von dem Gedanken los. »Weißt du, wann er zurückkehrt?«

»Ich glaube nicht, dass er dich noch einmal sehen will.« Juttas starrer Blick vergrub sich im Gewirr des aufklappenden Startbildschirms.

»Aber ich liebe ihn doch!«

»Nur hast du eine seltsame Art, ihm das zu zeigen!« Keine Antwort war genau die Antwort, die Jutta erwartet hatte. An den leidenden Gesichtsausdruck, den dieses Flittchen trug, mochte selbst sie nicht mehr glauben. »Was willst du ihm noch antun? Er liegt doch bereits am Boden. Sollte dich das nicht zufriedenstellen?«

»Nein, das tut es nicht!«, entfuhr es Christin plötzlich voller Wut. »Und ja! Damals, zu Beginn, da war ich maßlos wütend auf ihn. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass dieser eitle, selbstgerechte Kerl endlich Demut lernen möge.«

»Und dann?«

»Nils … der Mann, der mich für sich gebucht hatte. Der Mann, der mich besaß, versprach mir damals Genugtuung. Ich habe nie wieder danach gefragt – es schlichtweg vergessen.«

»Der Mann, der dich besaß?« Jutta musste nach einem festen Halt suchen.

»Ja.« Christin atmete tief durch und verspürte zum ersten Mal in Juttas Nähe so etwas wie Selbstsicherheit. Der Augenblick war gekommen, ehrlich zu sein. Auch auf die Gefahr hin, dass sie die letzten Sympathien verspielte. »Ich bin keine Historikerin, Stadtchronistin oder was man sonst von mir sagt. Ich bin ein Model, ein Luxus-Callgirl … Nenne es, wie du willst. Ich biete solventen Herren die Partnerin auf Zeit. Das allein war der Grund, warum ich Tobi damals immer vor den Kopf gestoßen und links liegen gelassen habe. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass sich dieser wunderbare Mensch in mich verliebt. Dabei bin ich es gewesen, die ihn nicht hat gehen lassen. Ich bin es, die ihn liebt. Und die doch weiß, dass ich ihn mit meiner Liebe umbringe … So wie es jetzt geschehen ist.«

»Schade, dass du das erst jetzt begreifst.«

»Jutta, ich weiß, dass ich ihn auf ewig verloren habe!« Heftige Tränenbäche begleiteten ihre seelische Bankrotterklärung. »Aber ich muss zumindest versuchen, ihm seine Zukunft zu bewahren. Ich will mit den Leuten sprechen, die ihm den Rücken zugekehrt haben.«

Warum nur habe ich den Eindruck, dass ihre Tränen ehrlich sind?, fragte sich Jutta verunsichert. Christin hatte in ihrem Leben bestimmt so einiges falsch gemacht, und doch war gerade sie es gewesen, die ihrer kleinen Familie das Lachen und die Hoffnung auf eine schönere Zukunft wiedergegeben hatte. Aber kann ich sie jemals wieder so gern haben wie zuvor? Egal, altes Mädchen, du spielst hier nicht die Hauptrolle!

»Wenn du Tobi wirklich von ganzem Herzen liebst, wie du behauptest, dann solltest du dazu stehen und dein Leben endlich in den Griff bekommen. Wenn nicht, dann helfen auch keine weiteren Entschuldigungen oder gar halbherzige Beteuerungen. Dann gehe bitte durch diese Tür und kehre nie wieder zu uns zurück«, empfing Christin zitternd Juttas Strafpredigt.

Ihre Härte tat so sehr weh und doch ahnte sie, dass sie an Juttas Stelle nicht anders gehandelt hätte. Ein zögernder Blick zur Tür. Es war so verlockend. Die eigentliche Christin wäre längst an der Haustür und auf und davon. Hier aber stand die Frau, die ihrem Tagebuch entsprungen war und sich standhaft weigerte, dorthin zurückzukehren. »Und wenn Tobias mich nicht mehr will? Was ist dann?«

»Dann wird er es dir sagen«, knurrte Jutta kompromisslos und kehrte an ihre Arbeit zurück, um mit verbissener Miene all die Adressen zu notieren.

»Oh Gott. Ich habe nicht gewusst, wie viele es sind«, sprach sie irgendwann mehr zu sich selbst. »Herr im Himmel, was hat er dir nur getan, dass du ihm so sehr schadest?«

Christin wurde selbst angst und bange bei der Länge der Liste, die in den letzten Minuten wuchs und wuchs. »Tobias hat mir nichts getan. Es ist der Mann, der meint, mich zu besitzen. Er hat geschworen, Tobias fertigzumachen, wenn ich nicht bei ihm bleibe und ihm zu Diensten bin.«

»Wer ist dieser Mann?«

»Nein! Ich will nicht, dass du dich auch noch unglücklich machst. Er ist mein Problem, und ich werde es auf meine Art lösen.« In Christin ging in kürzester Zeit ein erschreckender Wandel vor sich. Kalt und unpersönlich streckte sie Jutta die Hand entgegen. »Ich wäre froh, wenn du mir jetzt die Liste geben könntest.«

***

Jutta verfolgte, wie Christin in einen Wagen stieg, dessen Fahrer offenbar auf sie gewartet hatte. War das dieser unbekannte Gönner?, fragte sie sich ängstlich. War es richtig, dass sie Christin die Adressen mitgegeben hatte? Im Laufe des Tages gelang es Jutta, diese Fragen zu verdrängen. Hannah, die ahnte, wie sehr es wieder zwischen den Menschen, die sie am meisten liebte, kriselte, erforderte all ihre Aufmerksamkeit und ihren Zuspruch. Irgendwann erwachte das Telefon zum Leben.

»Ist sie bei dir?«

»Wer? Hannah?«

»Deine Freundin.«

»Nein, du kannst dich heimtrauen.« Es ärgerte Jutta maßlos, dass Tobias kommentarlos auflegte.

Keine zehn Minuten später wurde die Haustür geöffnet. Hannahs Freude ebbte schlagartig ab, als sie feststellen musste, dass es wieder nur ihr Vater war, der zur Tür hereinkam.

»Wie ist es gelaufen?«, begrüßte Jutta ihren Schwiegersohn.

»Erstaunlich gut. Ich soll meine Pläne an einigen Stellen verifizieren. Das Gute daran ist, dass es bereits nächsten Monat losgehen soll.«

Ein hoffnungsvoller Schimmer lag in seinen Augen. Jutta musste an all die abgesagten Aufträge denken, deren Menge sie noch immer schockierte, als sich die Haustür ein weiteres Mal öffnete.

»Mama!!!« Jubelnd drängelte sich Hannah an den Erwachsenen vorbei und stürzte in die Arme der Eintretenden.

»Was willst du hier?« Eiskalter, kaum unterdrückter Zorn quoll mit jeder Silbe aus Tobias hervor.

Christin drückte ihre kleine Freundin innig, ehe sie sie absetzte und ihm mutig entgegensah. Seine kaum beherrschte Wut – ja, blanker Hass – sprang sie mit voller Wucht an. Wie nur sollte sie ihm gestehen, dass gerade einmal zwei von vielleicht fünfzehn Leuten, die sie mit Edith aufgesucht und bekniet hatte, sich ihre Absage überlegen wollten. »Ich habe versucht, meine Fehler wieder gutzumachen.«

»Fehler! Du machst Fehler? Mann, geh mir bloß aus den Augen!« Er tat einen Schritt auf sie zu. Seine zitternden Hände ballten sich unbewusst zu Fäusten. »Wärst du ein Kerl, würde ich dich aus dem Haus prügeln!«

»Tobias, bitte hör mich doch an. Ich meine es ehrlich …«

»Ehrlich!«, kochte all sein Schmerz, all seine Hilflosigkeit in ihm über. »Darüber höre ich dich immer wieder lamentieren. Ehrlichkeit, keine Lügen … Du hattest Wochen Zeit, ehrlich zu sein. Aber ein Eisen im Feuer reicht dir ja nicht! Und ich Idiot habe dir vertraut! Was hast du diesem alten Mann versprochen, dass er für dich mein Leben ruiniert?«

»Ja!«, passte sie sich seiner Lautstärke an. »Ich sah für uns keine Zukunft. Und ich hatte Angst vor einer festen Beziehung mit dir. Ich habe geglaubt, ich müsse das beenden und dich mir aus dem Kopf schlagen. Aber es geht nicht. Ich habe endlich begriffen, dass man vor der Liebe nicht einfach so davonlaufen kann.«

»Nichts hast du begriffen, du rachsüchtiges Aas! Lass dich weiter von deinem mächtigen, reichen, alten Bock bespringen, aber geh mir endlich aus den Augen!«

Voller Entsetzen hielt Jutta ihrer kleinen Hannah die Ohren zu, wobei sie das völlig verstörte, zitternde Mädchen an sich presste.

Tobias stand weiterhin mit drohend erhobenen Fäusten vor der wie gelähmt dastehenden Christin. Nur das Wissen um Hannahs Nähe verhinderte, dass er seinem drängenden Wunsch nachgab. Ein letzter Blick voller Verachtung, dann drehte er sich um und wankte die Treppe hinauf.

Hannah befreite sich schluchzend aus Juttas Umarmung und flüchtete sich zu Christin. »Bitte Mama, sei doch wieder lieb mit Papa. Ihr dürft nicht miteinander streiten. Ich will doch, dass du meine Mama wirst.«

Christin fiel auf die Knie und nahm ihre kleine Freundin in den Arm. »Wie kann ich das, wenn dein Papa nur noch von mir enttäuscht ist«, flüsterte sie so leise, dass sie sich selbst kaum hörte. Mühsam erhob sie sich, ehe das Wissen um eine ausweglose Zukunft sie vollends zusammenbrechen ließ. »Darf ich Hannah ins Bett bringen?« Flehend sah sie zu Jutta, die mit verschränkten Armen und abweisendem Blick dastand und doch sichtlich mit ihren eigenen Tränen zu kämpfen hatte. »Ich meine … ein letztes Mal.«

Die Erkenntnis, die sie erfasste, kam wie ein Orkan über sie. Zumal sie niemand anderem die Schuld daran geben konnte. Mit allem, was Tobias ihr an den Kopf geworfen hatte, hatte er recht. Sie allein war schuld, dass sie nie ein Teil dieser Familie sein durfte. Christin beugte sich hinab und nahm die noch immer hemmungslos weinende Hannah auf den Arm. Unbehelligt begann sie mit ihr die Treppe hinaufzugehen. Was, wenn Tobias aus einer der Türen gestürzt kam, um seine Drohungen in die Tat umzusetzen? Für einen Moment blieb sie mit ihrer süßen Last vor seiner Tür stehen. Stille. Hatte sie erwartet, dass er in seinem Zimmer randalieren würde? Dieser abgrundtiefe, hassvolle Blick, mit dem er sie bedacht hatte, raubte ihr jegliche Kraft, ihn noch einmal zu bitten, ihr zuzuhören. Sie wandte sich ab und trug Hannah in ihr Zimmer.

»Mama, du bleibst doch bei uns, oder?« Hannah begann sich ohne Protest auszukleiden. Ihre Tränen waren versiegt. Aber Hoffnung klang anders.

»Ich möchte es so wahnsinnig gern. Aber dein Papa hat gute Gründe, dass er mich nicht mehr sehen mag. Zumindest in der nächsten Zeit«, fügte ihr revoltierendes Unterbewusstsein hinzu. Dabei befahl ihre Logik ihr ständig, dass sie dieser Stadt mit ihren verkorksten Menschen so schnell als möglich den Rücken kehren müsse. Noch konnte sie sich dagegen auflehnen. Hannah zuliebe. »Komm, mein Schatz, ich bringe dich zu Bett und dann lese ich dir noch eine lange Geschichte vor.«

Es war eine fröhliche Geschichte. Zumindest war sie so gestrickt, dass Hannah mit einem Lächeln einschlief und sich sogar bei ihr so etwas wie Ruhe breitmachte.

Sie musste ebenfalls eingeschlafen sein. Christin fuhr erschrocken auf, als sie die Gestalt im Halbdunkel an der Zimmertür stehen sah. »Jutta?«

»Du solltest jetzt gehen. Ich habe keine Lust, mir noch eine weitere schlaflose Nacht um die Ohren zu schlagen.«

»Jutta, du verstehst es nicht …«

»Nein, Christin. Ich verstehe sehr wohl. Gott vergib mir, dass ich so schlecht über meine tote Tochter spreche. Aber du bist noch schlimmer als sie oder die Frauen, die Tobias nach ihr das Herz gebrochen haben.«

Die Tür schloss sich und ließ Christin mit einer weiteren schmerzhaften Erkenntnis zurück. Auch diesen wunderbaren Menschen hatte sie aufs Schlimmste enttäuscht. Dabei war Jutta für sie längst zu der Mutter geworden, die sie selbst nie hatte erleben dürfen.

Hannah warf sich im Schlaf schluchzend auf die Seite und riss Christin von einem Abgrund in den nächsten. Auch Hannah würde nie eine wahre Mutter haben. „Ich will so werden wie du“, spielten ihr dazu die Erinnerungen einen bösen Streich. „Ich will einmal eine weiße Fee werden. So wie du.“ All ihre selbstsüchtigen Gedanken verkrochen sich panisch, als Christin erkannte, dass auch Hannah eines Tages zu der Frau mutieren könnte, die sie selbst war. Kalt, unpersönlich und sich jeden Gefühlsdusel verbietend. Die „Wa(h)re“ Liebe daran messend, wenn sie jeden Monat fünfstellig auf dem Konto landete. Nein, so durfte es nicht enden!

»Du musst noch einmal mit Tobi reden. Ich weiß, du wirst nicht noch einmal versagen.« Verstört suchte ihr Blick die Stimme, die doch nur aus ihrem Inneren kam. »Mach dich nicht lächerlich. Du wirst versagen, wie du es immer getan hast«, hallte eine andere in ihr nach. Partisanengleich glitten ihre Gedanken zurück zu dem kalten, regnerischen Tag. Damals war es für sie so einleuchtend gewesen. Ihr Entschluss, ihrem neugeborenen Kind ein besseres Leben zu ermöglichen, als es das bei ihr hätte. Auch das würde hier niemand wirklich verstehen. So viele dunkle Geheimnisse, die Tobias nicht annähernd ahnte.

Christin erhob sich sachte, um Hannah nicht zu wecken. Ein letzter schmerzlicher Blick zurück. Wohl wissend, dass sie die Kleine nie wiedersehen würde. Noch heute Nacht würde sie packen und alles hinter sich lassen. Mehr Ruhe und Sicherheit vor Nils konnte sie nicht erkaufen für die Menschen, die sie liebte.

Im Haus war eine unheimliche Ruhe eingekehrt. Ein letzter Blick zur Tür, die in Tobias’ Zimmer führte. Hör auf, dir Hoffnungen zu machen, du dumme Nuss. Sieh es endlich ein, dass du alles verbockt hast. Verächtlich kämpfte sich in ihr der überlebenswichtige Trotz einer Frau herauf, die bereits alles Negative erlebt hatte. Sie ging an seinem Zimmer vorbei.

Allein unter der Tür zum Bad kroch ein schmaler Lichtstreifen hervor. Das leise Rauschen der Dusche war zu vernehmen. Als ihr bewusst wurde, welchen Streich ihr Unterbewusstsein ihr spielte, fand sie sich inmitten des Badezimmers wieder.

»Tobias?« Eine wabernde Nebelwand nahm ihr Sicht und Atem. »Hannah schläft … Das wollte ich dir nur sagen.« Keine Reaktion. Der warme Dampf lullte ihren Verstand ein. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Ihn nur noch ein einziges Mal so sehen, wie sie ihn in Erinnerung behalten wollte. Seinen Körper ein letztes Mal spüren. Nur um sich immer wieder daran zu erinnern, was sie durch ihr selbstsüchtiges Verhalten zerstört hatte.

Die Hitze des herabprasselnden Wassers umfing sie, löschte jeden klaren Gedanken und transportierte ihre geschundene Seele auf eine einsame Insel.

Es regnete. Ein heftiger warmer Dschungelregen ergoss sich über sie und trieb sie über den strahlend weißen Strand zum nahen Grün des tropischen Waldes. Hin zu dem Mann, der unter den Kaskaden herabstürzenden Wassers stand und sie nicht zu bemerken schien. Erst als ihre Fingerspitzen ihn sachte an seiner Schulter berührten, erwachte die gramgebeugte Statue zum Leben. Sein Kopf fuhr herum. Dunkelgrüne, unendlich ausgebrannte Augen erfassten die Person, die in dieses Paradies eingedrungen war. Sein schwerer Atem streifte ihre Stirn und ließ sie einen weiteren unsicheren Schritt in dieses tropische Idyll hinein tun. Der warme Regen perlte unablässig an seinem muskulösen Oberkörper herunter. Ein letztes Aufbegehren irgendwelcher Gedanken, die doch nie das Licht ihres Bewusstseins erreichten. Wut stieg in ihr auf. Ungezügelte Wut über das, was ihr von nun an versagt bleiben sollte.

Die harten, wilden Blicke eines Piraten, in denen ein zügelloses Verlangen loderte, das dem ihren gleichkam. Sein stahlharter Griff zog sie zu sich unter den glühenden Wasserfall. Innerhalb kürzester Zeit war sie durchnässt. Aber was zählte das, wenn sie ihrem Korsaren endlich näher kam. Dunkelrot lackierte Fingernägel strichen fordernd über seine sich heftig hebende Brust. Sie vollführten ein Eigenleben, das sie selbst nur als willenlose Beobachterin duldete. Er packte sie fester, zog sie an sich. Ein Ruck, ein kurzes Zerren, als er ihr die Bluse herunterriss. Fordernde Berührungen, während sie sich aus dem Rest ihrer Kleidung wand. Endlich frei! Sich endlich an seinen dampfenden Körper pressen. Endlich seine Muskeln auf ihrem nackten Leib spüren.

Doch er wollte mehr … anderes! Der harte, fordernde Druck seiner Hände auf ihren Schultern. Der zärtliche Lover in ihm war erloschen … Nicht für immer, hoffte etwas in ihr sehnlichst, als sie seinen seelenlosen Blick gewahrte. Diesen zu begreifen, schmerzte mehr, als all die hässlichen Worte, die er in der anderen Welt für sie gefunden hatte. Der Gedanke an Flucht stieg kurz in ihr auf. Nein! Sie hatte diesen Mann erschaffen. Und nur sie allein konnte ihn aus der Hölle befreien, in die sie ihn gestürzt hatte. Der Druck auf ihren Schultern wurde übermächtig. Ihre Lippen glitten über seinen harten, völlig überhitzten Körper hinab. Dorthin, wo er sie sich sehnlichst wünschte. All seine Muskeln waren angespannt, verhärtet, sehnten sich nach Entspannung. Nein, nach Erlösung. Er musste ihr nicht weiter bedeuten, was er wollte … was er in diesem Moment benötigte. Beinahe liebevoll strichen seine Hände durch ihr Haar, als sie ihm gab, wonach er sich so sehr sehnte. Aus der Hitze in seinen Lenden wurde ein Brodeln, das ihr verkündete, wie aktiv der Vulkan in ihm war. Kein Gedanke an Ekel oder gar Flucht. Nicht bei ihm! Sanft begann sie ihre Bewegungen den seinen anzupassen, während ihre zärtlichen Finger den Reiz steigerten und zugleich verhinderten, dass die Lava vorzeitig überkochte. Ein tiefes Stöhnen drang zu ihr hinab und verkündete den Erfolg ihrer Mission. Sachte versuchten seine Hände ihr zu signalisieren, dass sie ablassen möge. Zu spät, sie hatte Blut geleckt. Was, wenn es ein letztes Mal war, dass aus ihnen ein Paar wurde, spülte ein einzig klarer Gedanke an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Seine Wildheit, diese ungezügelte Wut war auf sie übergetreten. Er sollte erfahren, was ihm nach dieser Nacht auf ewig fehlen würde. Energisch wischte Christin seine Hände beiseite und intensivierte ihre Bemühungen, die sehr bald zum Erfolg führten. Sie spürte das Zittern und das heftige Beben, das von seinen Körper Besitz nahm. Bis die Wucht sie beinahe fortschleuderte. Das dunkle, selbstgefällige Lachen, das zwischen ihnen waberte, kam von ihr selbst. Ja, er sollte spüren, was ihm auf ewig versagt blieb, wenn er sie nun von sich stieß. Der Gedanke, so bitter der Beigeschmack von Verlust auch war, ließ sie selbst zu ihrem Höhepunkt gelangen. Doch schon wurde sie emporgerissen. Durch einen farbigen Schleier hindurch fiel ihr Blick auf sein Antlitz. Vergeblich suchte sie nach der Güte, dem sanften Wesen, das sie so sehr an ihm liebte und mit ihm verband. Dieser Mann war der zügellose, wilde Korsar, dem sie unter dem Wasserfall begegnet war. Der Eroberer, der sie nun in Besitz nahm, wie es ihm gefiel. Das Begreifen, dass sie seine Gefangene war und um ihr Leben zu kämpfen hatte, ließ sie bis in die Fußsohlen erbeben. Hart drängte er sie gegen die glatte Wand, dass es ihr den Atem nahm. Er kam ihr dabei so nahe, dass sie seinen heftigen Herzschlag bis in ihre Brust hinein spürte.

»Du verfluchte Hexe«, drang sein gequältes Stöhnen nach so langen Momenten zu ihr herab. »Was hast du nur mit mir gemacht!«

Verfluchte Hexe!?! Alles in ihr wollte protestieren. Doch die Heftigkeit, mit der er über sie kam, raubte sämtliche Gedanken auf Gegenwehr. Er presste seine Lippen auf die ihren und drang so fordernd in sie ein, dass sie ihm nur begegnen konnte.

Als er spürte, dass sie nicht im Geringsten daran dachte, ihn abzuweisen, gab er sie langsam frei. Seine Hände glitten fordernd bis zu den Rundungen ihrer Hüften hinab. Ihre kochenden Lenden verlangten nach mehr und er verstand. Sanft hob er sie an, bis sich ihre Leiber wie von selbst miteinander verbanden.

»Nimm mich endlich«, kam ihr ein Fauchen über die malträtierten Lippen.

Sie musste ihn kein weiteres Mal darum bitten. Er folgte ihrem Befehl mit solch einer Wildheit und Härte, dass es ihn im Nachhinein mit Angst und Schrecken erfüllen sollte. Erneut versank die Welt um sie herum in einem Rausch aus Farben und wirbelnden Gefühlen.

***

Niemand. Keiner von beiden wusste letztendlich zu sagen, wie lange und wie häufig sie sich hier unter der Dusche geliebt hatten. Irgendwann fanden sie sich völlig verausgabt und eng umschlungen am Boden der geräumigen Wanne wieder. In einer Mischung aus Verlegenheit und Ohnmacht betrachtete jeder den anderen, als wäre es das erste Mal.

»Bitte sage mir, dass ich das alles nur geträumt habe.« Tobias’ Stimme vibrierte wie ein überspannter Bogen. Die absolute Verunsicherung in ihr war nicht gespielt.

»Du hast nicht geträumt. Es ist so.« Ihre Hand strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn und blieb in seinem Nacken liegen. Sie war sich mit einem Male so sicher. Alles war richtig, alles würde gut enden. »Ich möchte das Happy End mit dir nicht verpassen. Auf keinen Fall.«

»Happy End?« Sein Blick drohte in die Verzweiflung der letzten Tage zurückzugleiten.

»Ich habe so vieles falsch gemacht. Nur weil ich mir nicht eingestehen wollte, wie sehr ich dich … lieb gewonnen habe. Bitte, bitte hilf mir, dass auch du mich wieder lieb haben kannst.«

Ein erstes versöhnliches Lächeln stahl sich in seine Mundwinkel und erlosch flackernd. »Warum gerade er?«

Seine Frage überraschte sie. Oder doch nicht? »Nils-Ole? Er ist attraktiv, weltgewandt. Er nimmt sich, was er will, und fragt nicht lang.« Christin biss die Zähne zusammen. Aber sie wollte ehrlich bleiben. Zumindest so gut es ging. »Wir haben uns in Frankfurt kennengelernt. Danach war ich bis jetzt durch ihn „gut versorgt“.«

»Bis jetzt?«

»Ich habe endgültig einen Schlussstrich gezogen.« Hatte sie das nicht schon einmal ihm gegenüber behauptet? Christin spürte, wie sehr er an ihr zweifelte und sich weiter in sich selbst zurückzog. »Tobias, das mit deinen abgesagten Aufträgen … Ja, ich war damals so wütend auf dich. Wütend auf diesen selbstgerechten, hochnäsigen Kerl, der mich behandelte wie eine kleine Göre. Ich habe Nils-Ole damals mein Herz ausgeschüttet und er versprach mir Genugtuung. Du musst mir glauben. Ich hatte längst nicht mehr daran gedacht. Erst in den letzten Tagen habe ich begriffen, wie sehr er dich fürchtet und verachtet. Schon damals und nun gerade, wo er begreift, wie gut wir uns verstehen.«

»Tun wir das?« Er schob sich mit dem Rücken die geflieste Wand hinauf und sah mit widerstreitenden Gefühlen auf sie herab.

Diese drei in Verunsicherung schwimmenden Worte waren das Zünglein an ihrer Waage. Christin folgte ihm mit ihren Blicken, die an seiner Körpermitte hängen blieben. Sie lachte ihr dunkles, so unheimlich erotisches Lachen, das bei einem Mann den letzten Rest Verstand löschte. »Beweise mir, dass wir es nicht tun.«

Er ergriff ihre Hand, die sie ihm verlangend entgegenstreckte. Mit einem Ruck zog er sie zu sich herauf. Taumelnd musste sie sich an ihn klammern. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, zogen ihn zu sich herab. Ihre Lippen trafen sich zu einem Kuss, der nicht von dieser Welt war. Voller wilder Leidenschaft und mit einem Versprechen, für das es keine Worte gab.

Wann wird sie dich erneut fallen lassen? Die mahnenden Stimmen in Tobias wollten nicht verklingen. Nein, so wie sie sich gab … das konnte kein Schauspiel sein. Und doch hinterließen sie einen Hauch von unendlicher Trauer.

Trotz allem blieb Christin seine Anspannung nicht verborgen. Was hatte sie nur in ihrer damaligen Wut und mit ihrem fortwährenden Schweigen zerstört? »Du hast mir vorhin zu Recht vorgeworfen, ich würde Ehrlichkeit von dir verlangen und dich selbst ständig belügen«, setzte sie leise an. Seine Blicke sagten ihr, wie nah sie der Wahrheit kam. Sollte sie nicht doch gehen? Ein gehetzter Blick über ihre Schulter. Ihre Bluse war ein Putzlumpen, der Rest der Kleidung pitschnass und sie selbst die Planlosigkeit in Person. Für jemanden, der bislang in seinem Leben nie Schwäche zeigen durfte, ein schier unlösbares Problem. »Wenn du mich noch ein klein wenig magst, würde ich dir gern meine Geschichte erzählen. Ich meine, die wahre Geschichte.«

Er schloss gequält die Augen und schien in sich hineinzuhorchen. In dem Moment, wo sie für sich zu erkennen glaubte, dass es keine gemeinsame Zukunft gab, ergriff er ihre Hand und zog sie mit sich über den Flur in sein Zimmer. »Ja, ich würde sie sehr gern erfahren, deine Geschichte. Doch diesmal bitte ehrlich und ungeschminkt.«

In dieser Nacht gestand Christin ihm mehr aus und über ihr Leben, als sie je einem Menschen vor ihm oder gar ihrem Tagebuch anvertraut hätte.

Ihre Ehrlichkeit erschreckte Tobias und nötigte ihn dazu, dass er verstehen und tolerieren lernen musste. Sie waren beide keine unbeschriebenen Blätter. Was wäre aus Christin für ein Mensch geworden, hätte sie einen anderen Weg gehen können. Es gab noch so vieles von einander zu erzählen, doch irgendwann übermannte beide die Müdigkeit.

***

Das Poltern auf der Treppe kündigte Hannahs Nahen an. Lebhaft wie eh und je, wunderte sich Jutta. Nach den Erlebnissen von gestern? Zumal ihre Kleine – entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit – jetzt im Nachthemd und mit wuscheligem Haar auftauchte.

Kichernd und prustend hielt sich Hannah beide Hände vor dem Mund. »Papa ist nicht allein. Mama … ich meine, Tini ist bei ihm und … Ich glaube, die haben sich wieder richtig lieb.«

»Wie?« Trotz der Freude, die Jutta durchströmte, geriet sie ihrer Enkelin gegenüber in Erklärungsnot. Die Großen sollten sich wirklich angewöhnen, die Tür zu verschließen, ehe Hannah womöglich in gewisse Situationen hineinplatzte. »Wie kommst du darauf?«

»Na ja, sie schlafen ganz eng aneinandergekuschelt. Da finde ich gar keinen Platz zwischen ihnen.«

»Du hast sie doch wohl nicht geweckt?«

Hannah schüttelte ihre wilde Lockenpracht. »Bleibt Christin nun für immer bei uns? Wird sie nun endlich meine Mama?«

Ich würde es euch so sehr wünschen, sandte Jutta ein Stoßgebet gen Himmel und wagte dennoch nicht daran zu glauben. Wie auch! Christins Taten hatten sie nachhaltig erschüttert.

»Omama, was ist? Weißt du nicht, ob Christin meine neue Mama wird? Du weißt doch sonst immer alles.«

»Hannah, du musst Geduld haben. Das alles braucht seine Zeit. Und vor allem solltest du die beiden nicht gleich wieder in Verlegenheit bringen.«

»Womit in Verlegenheit bringen?« Tobias betrat die Küche und schlüpfte dabei selig lächelnd in sein Shirt. Ein wissender Blick auf seine Tochter, die plötzlich nichts Eiligeres zu tun hatte, als zu verschwinden. Um sich anzuziehen, wie er gerade noch vernahm. Oder, was wahrscheinlicher war, den gerade frei gewordenen Platz an Christins Seite einzunehmen.

Als sich seine Blicke mit denen Juttas kreuzten, war aus ihnen der Humor gewichen. »Ich glaube, wir alle wissen, dass es für Christin und mich noch ein langer Weg werden wird. Aber dein Segen würde mir … nein, er würde uns sehr viel bedeuten.«

Jutta sah an ihm vorbei, als könne sie mit Röntgenblicken in die Zukunft schauen. Ja, sie liebte Tobi … und auch Christin wie ihre eigenen Kinder. Doch eine dunkle Vorahnung raubte ihr die gerade aufglimmende Freude. »Habt ihr euch ausgesprochen? Oder ist es wieder nur eines eurer vielen Strohfeuer?«

»So weit man sich in einer viel zu kurzen Nacht miteinander aussprechen kann.« Er hob die Schultern.

»Und mit ihrem „Freund“? Ist das nun endgültig vorbei?«

Erneutes Schulterzucken. »Ich wünschte, ich hätte etwas gegen diesen feinen Herrn Händler in der Hand. So, dass wir uns für die Zukunft die Ruhe vor ihm erkaufen könnten.«

»Wie? Welchen Händler?«

Tobias setzte sich und klärte Jutta in kurzen, knappen Zügen darüber auf, was sich in den letzten Tagen abgespielt, beziehungsweise was er von Christin erfahren hatte.

Jutta verbarg nur mit Mühe ihr Entsetzen. Sollte sich dieser unsägliche Fluch denn wiederholen? Wieder war es Nils-Ole Händler, der wie ein Dämon in ihr Leben und das ihrer Lieben hineinwirkte. Das war einmal zu viel! Ihr nicht, aber ich, schwor sie sich und genoss beinahe, wie die Wut auf diesen Menschen all ihre Zweifel und die einlullende Ohnmacht verdrängte. Es war an der Zeit zu handeln und das zu tun, was sie eigentlich schon nach Sinas Tod hätte unternehmen müssen. Sinas Tagebücher, erinnerte sie sich voller Schmerz. In ihnen war alles niedergeschrieben, mit dem sie Nils-Ole Händler schon damals das Handwerk hätte legen müssen.

Unterdessen hatte der Junge sich ein Tablett geschnappt und alles für ein Frühstück zu zweit angerichtet. Ein entschuldigendes Grinsen trat auf seine Lippen, als er ihren Blick richtig interpretierte. »Wir wollen uns oben weiter aussprechen.«

Als Tobias sich mit der rutschigen Last seinem Zimmer näherte, vernahm er durch die geschlossene Tür hindurch ein helles und ein dunkles Lachen. Hatte Hannah sich also doch zu ihnen geschlichen. Balu stand winselnd vor der Tür und sah hoffnungsvoll zu ihm auf. Er spürte dem verwunderlichen Hauch einer kleinen Eifersucht nach und drückte die Tür auf. Da lagen seine beiden Grazien einträchtig beieinander. Hops. Nun auch mit Hund. Ja, und dass sich Christin sein Shirt geschnappt hatte, das er gestern Abend so achtlos auf den Boden geworfen hatte. Hannahs Kopf war bei seinem Eintreten unter der Bettdecke verschwunden. Gleich darauf musste Christin loskichern.

»Ich habe dich gesehen, junges Fräulein.« Er stellte das Tablett ab und trat zu ihnen ans Bett, aus dessen Gefilden Hannah nun mit einem »Buh« auftauchte. »Schöne Grüße von Balu. Ich soll dir ausrichten, dass er gerne Gassi gehen würde.«

»Och Mann, kann ich nicht noch ein wenig bei euch bleiben?«

»Nein, mein Spatz«, kam es mütterlich von Christin, »Nun ist Papa dran, dass ich mich um ihn kümmere.« Über den Kopf ihrer kleinen Mitverschwörerin sandte sie ihm vielversprechende Blicke. »Aber«, fiel ihr ein, »du könntest so lieb sein und mir meine Handtasche bringen. Sie muss sich irgendwo im Flur oder im Bad befinden.«

»Ja, Mama, mache ich!«

Ohne dass Tobias seiner Tochter nochmals zu verstehen geben musste, wie sehr ihm an der Zweisamkeit mit Christin gelegen war, entschwand Hannah samt Gefolge durch die Tür.

Während er das Frühstück arrangierte, hatte Christin das Gesuchte in ihrer Handtasche gefunden. Es war richtig, bestärkte sie sich nochmals in ihrem Entschluss, den sie in der Stille der Nacht für sich gefasst hatte. »Tobias?«

Er blickte auf und sah leicht irritiert auf den Gegenstand in ihrer Hand.

»Ich habe mich gefragt, wie ich dir beweise, dass du von nun an der Einzige in meinem Leben bist.« Sein verzagter Blick ließ sie spüren, wie brüchig sein neues Vertrauen in sie war. Verunsichert sah sie auf das Büchlein in ihrer Hand. Nein, beschwor sie sich, es war der einzige Weg, ihm zu zeigen, wie ernst es ihr war. »Bitte mache damit, was du willst. Verbrenne es, vergrabe es, oder schließ es meinetwegen auf ewig fort.«

Tobias beschlich eine Ahnung, als er den Inhalt der Seiten überflog. Daten, Kürzel, Telefonnummern und vereinzelte Namen.

»Es soll nur noch einen Mann in meinem Leben geben.«

Sie sagte nicht mehr und nicht weniger und er begriff, zu welchem Schritt sie sich entschlossen hatte. Die Knie zitterten so sehr, dass er sich auf die Bettkante setzen musste. Das Flehen in ihren Augen erfüllte ihn mit einer unendlich erlösenden Gewissheit. »So wie es die eine wahre Frau in meinem Leben gibt.« Er legte das Büchlein auf den Nachttisch und ergriff ihre kühle Hand. »Schatz, ich weiß, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Doch du sollst wissen, dass ich dich von ganzem Herzen liebe.«

»Tobi …« Sie senkte den Blick und konnte dennoch nicht verhindern, dass ihm ihr Stocken einen erneuten Stich versetzte.

»Pssst.« Er spürte auch ohne Worte, dass sie ihm nichts versprechen wollte, zu dem sie nicht stehen konnte. Noch nicht, hoffte er. »Ich ahne, was du mir sagen willst. Jeder von uns benötigt seine Zeit und ich werde dich nicht drängen.« Ihr fortwährendes Schweigen fraß an seinen Nerven und ließ ihn zur Zimmerdecke schauen. Verdammt, er liebte sie wirklich. Auch wenn ihm der Gedanke an eine mögliche Einseitigkeit den Mut nehmen wollte. Ehrlichkeit! »Ich kann dir vielleicht keine Sterne vom Himmel holen.« Unbewusst verstärkte er den Griff um ihre Hand, bis ihn ihr schmerzhaftes Luftholen in die Realität brachte. Entschuldigend strich er ihr über den Handrücken und sah sie mit einem liebevollen Lächeln an. »Aber ich kann versuchen, dir jeden Tag und jede Nacht ein neues Gemälde an den Himmel zu malen.« Ein leises ironisch gefärbtes Lachen entrang sich seiner Brust. »Selbst wenn es nur die Zimmerdecke ist.«

In ihren Augen schimmerte es feucht, als er sich an ihre Seite schob und sie sachte in seine starken Arme nahm. Doch diesmal waren es Tränen des Glücks.


Kapitel 14

Den gestrigen Tag über hatten sie mehr im Bett als sonst wo verbracht. Sie hatten ehrlich miteinander über sich und ihre Vergangenheit, ihre geheimen Wünsche und Hoffnungen für eine gemeinsame Zukunft gesprochen. Natürlich gab es auch ein Menge Schlaf nachzuholen und romantische Momente auszukosten.

Die Kehrseite dieses erholsamen Tages stellte sich für Tobias in der Nacht ein. Seit zwei Uhr lag er wach und starrte auf die Licht- und Schattenspiele an der Zimmerdecke, die mit seinen Gedanken wild durcheinandergaloppierten. Da waren Christins berechtigte Zweifel gewesen, wie sie ihre zukünftigen Tage gestalten und ihren Platz in der Herderfamilie finden sollte. Sein Vorschlag – mit dem er bereits seit Wochen schwanger ging – hatte sie mehr als überrascht. Was sie davon halten würde, sich als Innendekorateurin zu etablieren. Er führte Edith Leisner und deren Begeisterung über Christins Geschick und ihren frischen Geschmack an. Sie würden so öfter zusammenarbeiten können und er ihre Ideen vorab in seine Planungen mit einfließen lassen. Es irritierte ihn noch im Nachhinein, dass sie ihm nicht jubelnd um den Hals gefallen war. Überschwängliche Freude klang anders. Verunsicherung traf es besser. Zumindest hatte sie ihm versprochen, sich über den Vorschlag Gedanken zu machen. Und dann war da noch sein ganz persönliches Schlachtfeld. Nils-Ole Händler! Erneut hatte sie vehement darauf bestanden, dass dieser Mann ihr Problem sei und er sich nicht einzumischen habe. Es wühlte tief in ihm, auch wenn er ihr das Versprechen gegeben hatte, ihren Wunsch zu akzeptieren. Konzentriere dich darauf, was du unternehmen kannst, um sie fürs Erste aus seinem Dunstkreis zu bekommen, riet ihm die Stimme der Vernunft. Sie benötigt Abstand von diesem Menschen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Die Idee war plötzlich da, als er auf ihre wilde Haarpracht schaute. Sie hatte sich Schutz suchend an ihn gekuschelt und dabei besitzergreifend ihren Arm auf seinem Bauch liegen. Wie eine laue Sommerbrise spürte er ihr gleichmäßiges Atmen an seiner Brust. Ja, gleich morgen früh würde er die Reise buchen.

***

Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein, stellte Tobias für sich fest. Er hielt die Augen geschlossen, um das schöne Gefühl des Erwachens bis zuletzt zu genießen. Die Sonne kitzelte an der Nasenspitze. Dazu die Wärme von Christins Körper, der eng an seinem ruhte. Die sanften Bewegungen erinnerten ihn an selige Momente.

»Nein, Spatz«, vernahm er ihr leises Kichern. Betont ernst fuhr Christin im Flüsterton fort, »Babys bekommt man leider nicht nur, wenn man sich lieb hat. Am besten ist es, wenn sich die Frau und der Mann lieb haben und sich einig sind, immer für ihre Kinder gemeinsam da zu sein. Und da gehört noch so unendlich viel mehr dazu.«

»Was denn noch?«, kam Hannahs aufgeregtes Flüstern über ihn. »Du hast doch gesagt, dass du Papa ganz doll lieb hast. Und mich und Oma und Balu liebst du auch. Hast du gesagt. Außerdem kann ich doch auch mit auf das Baby aufpassen. Kann man sich eigentlich einen Bruder bestellen?«

»Habe ich da etwas verpasst?« Tobias räusperte sich leise und erlöste Christin von einem elterlichen Minenfeld. An Hannah gerichtet sein sanfter Tadel. »Ich weiß ja, dass es dir nicht schnell genug gehen kann. Doch mit Geschwistern warten wir, bis Christin und ich uns richtig kennengelernt haben und wir uns sicher sind, uns zu lieben und zusammenzubleiben.«

Hannahs Wuschelkopf tauchte über Christins Schulter auf. »Aber das tut ihr doch! Morgen, Papa.«

»Oh Gott, diese Hektikerin!« Er schloss schmunzelnd die Augen und murmelte so etwas wie »Typisch deine Tochter«, was ihm umgehend einen liebevollen Rippenstoß einbrachte. »Apropos kennenlernen.« Er richtete sich erneut auf und wälzte sich halb über die protestierend schnaufende Frau an seiner Seite. »Was haltet ihr davon, wenn wir drei ein paar Tage Urlaub machen?«

»Urlaub?« Christins leuchtende Augen straften ihre folgenden Bedenken Lügen. »Ich weiß nicht? Edith wollte mit mir das Haus einrichten.«

»Ich rufe sie an. Wir versorgen sie mit weiteren Möbelkatalogen. Nur vier oder fünf Tage. Ich kläre heute alles und morgen kann es losgehen. Ganz spontan!«

»Ich muss noch mehr als die Hälfte deiner ehemaligen Auftraggeber aufsuchen.«

»Vergiss diese Id…«, im letzten Moment erinnerte er sich, dass Hannah zuhörte. »Dein Bemühen ehrt dich. Doch ich habe es nicht nötig, dass meine zukünftige Partnerin bei denen zu Kreuze kriecht.«

»Uuuuurlaub!!!« Hannah sprang wie elektrisiert auf und flitzte auf blanken Fußsohlen aus dem Zimmer.

»Was will die denn jetzt?«

»Packen, was wir zwei Hübschen auch tun sollten. Nein, keine Widerreden, Schatz. Wir wollen beide nicht die Katze im Sack kaufen. Also, Alltagstest!«

Zwei gegen eine. Christin gab sich lächelnd geschlagen.

***

Die Anstrengungen der letzten Tage fielen von Tobias ab, als sie auf die Autobahn fuhren. Mit seinen beiden aufgeregten Mädchen im Gepäck – für sie ging die Fahrt ins Blaue – Richtung Norden. Es war richtig, rief er sich seinen Entschluss in Erinnerung. Weg von allem, was ihr Zusammenfinden beeinflusste. Das war seine Prämisse, als sie sich entschieden hatten, es noch einmal miteinander zu versuchen. Nur Hannah, Christin und er. Keine weiteren Beeinflussungen, weder positive noch negative. Erst recht nicht durch diesen Händler, erinnerte er sich. Die Wut auf diesen Mann kroch erneut in ihm hoch und ließ seine guten Vorsätze gleich zu Makulatur werden. Heute hatte dieser Kerl bereits zweimal in seinem Beisein versucht, Christin anzurufen. Schließlich hatte er darauf bestanden, dass sie ihre Handys die nächsten Tage über ausschalteten und nur ins Netz gingen, wenn es unumgänglich war. Jutta, die freiwillig mit Balu daheim geblieben war, hatte er unbemerkt einen Ausdruck ihrer Pension zukommen lassen. Nur für den Fall, dass sie mit ihnen in Kontakt treten musste.

»He, du Meister der Verschwiegenheit«, stupste Christin ihn an und schenkte ihm ein von Herzen kommendes Lächeln. »Du kannst gerne mit uns mitsingen.«

Was er denn auch tat. Nie waren die Stunden auf einer Autofahrt so sehr im Fluge vergangen wie an diesem Tag. Singen, Spiele, Geschichten und das große Rätselraten, wohin es denn in den Urlaub ging. Wie eine richtige Familie, dachte Tobias nicht nur einmal.

Nur dass Christin immer bedrückter wurde, je näher sie dem Ziel kamen. Sie hatten Hamburg mittlerweile links liegen lassen und fuhren auf der A1 in Richtung Lübeck, als sie ihre Befürchtungen umständlich in Worte kleidete. »Sag mir bitte, dass wir auf die dänischen Inseln oder nach Schweden fahren.«

»Nein, so weit ist es nicht«, sagte er noch fröhlich. »Hannah, bitte sei doch mal so lieb und öffne den Aktenkoffer. Da sind ein paar Prospekte drin.«

»Niendorf an der Ostsee. Pension Südstern, fünf Übernachtungen im romantischen Appartement, Kinderzimmer und Frühstück inklusive«, pries Tobias werbend an. »Es war wirklich Glück, dass ich das kurzfristig buchen konnte.«

Hannahs Jubeln, als sie einen Prospekt über den Hansa-Park fand, übertönte Christins verzweifeltes Stöhnen.

Nichtsdestotrotz spürte Tobias die Niedergeschlagenheit, die Christin übermannt hatte und die auch seine Vorfreude langsam in den Keller trieb. »Schatz, was ist mit dir? Habe ich etwas verkehrt gemacht?«

Christin biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Als sie ihm antwortete, überzog ein tapferes Lächeln ihr Gesicht. »Nein, ist schon in Ordnung. Hannah wird unendlich glücklich sein.«

»Und du?« Doch sie hatte ihren Blick bereits abgewandt. Hinein in die Landschaft, die keine Antwort erwartete.

***

»Hübsch sieht es hier aus«, kommentierte Christin überrascht das Idyll, in dem sich ihre Pension präsentierte. Sie schenkte ihrem Tobi ein Lächeln und ahnte, dass ihn ihr Verhalten von vorhin getroffen hatte. Seine Blicke, die Verunsicherung zeigten, waren ihr mittlerweile vertraut. »Ich freue mich auf unsere gemeinsame Zeit. Wirklich!« Selbstbewusst ergriff sie ihren Trolley und steuerte das Haus an. Egal wohin, nur um ihn jetzt nicht anzuschauen.

»Gehen wir nachher noch an den Strand?« Hannahs quirlige Art brachte die Großen dazu, sich vom Befremdlichen zu lösen. Zumindest bis nach dem Abendessen.

Hannah war nach den heutigen Erlebnissen wie ein nasser Sack ins Bett geplumpst und schlief tief und fest dem nächsten aufregenden Tag entgegen. Tobias sah sich in ihrem eigenen kleinen Zimmer um und musste schmunzeln. Das aufblasbare Krokodil – das Christin ihr gekauft und das er den ganzen Nachmittag mit sich hatte herumschleppen müssen, während seine Grazien auf der Promenade lustwandelten – lag wie ein Wachhund vor dem Bett. Seine Grazien …? Ja, Hannah war glücklich, aber was war mit Christin? Ehrlichkeit!

Er schloss leise die Tür und ging zur Küchenzeile. Der Merlot, den er von daheim mitgebracht hatte, dürfte die richtige Temperatur haben. Er entkorkte die Flasche, nahm zwei Gläser und begab sich in den kombinierten Wohn- und Schlafbereich. Durch das Panoramafenster hindurch konnte er Christin auf dem Balkon ausmachen. Sie stand an die Brüstung gelehnt. Doch statt erfüllt auf die Ostsee zu schauen, die sich zwischen den Häusern ihren Blicken bot, hatte sie ihr Gesicht hinter den Händen vergraben. Jetzt schon Sehnsucht nach Nils?, wühlte die eifersuchtsgeschwängerte Ironie in ihm.

»Ich denke, den haben wir uns heute verdient.« Es sollte betont locker klingen, als er die Gläser auf den kleinen Tisch abstellte und den Wein eingoss. Doch das Zittern in seiner Stimme strafte ihn Lügen.

Christin wandte sich ihm zu und schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln, das diesmal sogar von Herzen kam. Ehrlichkeit, hatten sie sich geschworen. Ihr Zögern, ihre Angst … All das durfte nicht mehr sein, erinnerte sie sich an Ediths Worte. Ein letztes, tiefes Durchatmen, bevor sie sich zu ihm gesellte und ihn zärtlich in die Arme nahm. »Du hast ihn allemal verdient, mein Liebling. Und danke für den wunderschönen Tag, den ich gar nicht zu schätzen gewusst habe.«

Er erwiderte den Druck ihrer Arme und verbarg sein Gesicht in ihrer Halsbeuge. »Magst du mir erzählen, was dich so sehr beschäftigt und dir Angst macht?«

»Ja.« Sie zwang ihn sanft, sie anzuschauen. »Es sind die Geister der Vergangenheit.«

»Du hast mich einmal Tobias Drachentöter genannt.« Er zauberte sein lausbübisches Lächeln hervor, das ihm wohl noch nie so schwergefallen war wie in diesem Moment. »Ich kann es auch mit bösen Geistern aufnehmen.«

Christin nickte ernst. »Ich habe dir nie erzählt, dass ich in der Nähe aufgewachsen bin. Keine zwanzig Kilometer von hier. Es war keine schöne Zeit. Eine Mutter, der die persönliche Freiheit und Selbstfindung wichtiger waren als ihre Familie, und ein Vater, dessen bester Freund Alkohol hieß und der seine Tochter immer mehr als Ersatz für seine Frau …«

»Schatz, das habe ich nicht gewusst …« Tobias versagten die Worte, als ihm bewusst wurde, was diese sonst so selbstsichere Frau ihm mit knappen Worten enthüllte. »Ich wäre sonst nie mit euch hierher gekommen. Das musst du mir glauben.«

»Es ist schon in Ordnung. Nein, es ist vielleicht sogar richtig, dass ich mit dir gemeinsam meinen Albträumen begegne.« Christin bedeutete ihm, sich zu setzen, und sammelte sich kurz. »Ich war keine sechzehn, als ich von zu Haus fortging. Ja, ich weiß nicht einmal mehr, ob meine Eltern noch leben. Und es interessiert mich nicht die Bohne.«

»Da haben wir ja in Teilen eine weitere Gemeinsamkeit«, überspielte er die einsetzende Stille. »Nur dass sich meine lieben Altvorderen von sich aus nicht um ihre Brut kümmern. Ich war ihnen immer ein Klotz am Bein. Sobald ich reif fürs Internat war, konnten sie endlich durch die Welt reisen. Vor einem Jahr haben wir eine Postkarte aus Florida bekommen.«

»Du warst wenigstens im Internat. Ich habe nicht einmal einen Schulabschluss.« Sie lachte über seinen skeptischen Blick, der zu fragen schien, wie aus ihr solch eine weltgewandte, mondäne Person geworden war. »Es war damals eine echt beschissene Zeit«, verfiel sie in ihren alten Jargon, der sie damals begleitete und auch jetzt ihr Geständnis erleichterte. »Ständig Hunger schieben, Unterschlupf finden in Abbruchhäusern, schlafen auf schimmligen, vollgepissten Matratzen. Und immer wieder auf Jagd nach Geld, damit man den nächsten Tag überlebte. Ich habe Dinge getan, an die ich mich nie wieder erinnern wollte.«

»Du brauchst es auch jetzt nicht. Es hat dich zu dem Menschen gemacht, den ich lieben gelernt habe.« Tobias ergriff sachte ihre Hand. »Unsere Geschichte hat uns zu dem gemacht, der wir geworden sind. Jeden von uns.«

Sie schien in die Gegenwart zurückzukehren. Erste Tränen rollten ihr über die Wangen. »Komm schon, Fuchur. Wir machen das Beste aus unserem Urlaub und rühren nicht mehr an der Vergangenheit.«

»Bitte Tobi, nimmst du mich ganz fest in die Arme.«

»Nicht nur das.« Er stand auf und zog sie mit sich in die Wohnung.

***

Seit diesem Tag vermied es Tobias, seine Damen mit Überraschungen zu konfrontieren. All ihre Ausflüge und Vorhaben wurden morgens beim Frühstück beschlossen. Sie verlebten wunderschöne Urlaubstage. Mit Christins erwachtem Unternehmungsgeist erlebten ihre „Südländer“ viele Entdeckungen, auf die sie von allein nie gestoßen wären. Auch wenn sie leider nicht die Lübecker Altstadt besuchten, wie Tobias sich insgeheim wünschte.

Und es war das erste Mal, dass Christin über Liebe sprach. Am Abend vor ihrer Abreise saßen sie wie gewohnt bei einer Flasche Wein auf dem Balkon und genossen den Ausblick. Die tief stehende Sonne in ihrem Rücken malte feuerrote Gemälde in die Landschaft vor ihnen.

»Ich wünschte mir, es könnte immer so weitergehen«, seufzte Christin und blickte mit gemischten Gefühlen auf das inaktive Handy in ihrer Hand.

»Es liegt an uns allein, dass wir dieses Gefühl mit heim nehmen. Schließlich haben wir gelernt, uns nicht mehr zu streiten.« Tobias zwinkerte ihr zu und deutete auf den Fluch der Technik vor sich. »Wollen wir?« Fast gleichzeitig erwachten die Geräte zum Leben. »Einundzwanzig Anrufe und drei SMS.«

»In den Anrufen bist du mir um vier voraus.« Christins Seufzer glitt ins Leiden ab. Sie vermied es, ihm zu sagen, dass vierzehn ihrer Anrufe von Nils-Ole kamen. Ihr AB trug die archivierte Stimme ihres ehemaligen Liebhabers vor. Die befürchteten Drohungen blieben aus. Doch waren seine bedauernden, ja leidend klingenden Worte nicht noch schlimmer? Erschreckend deutlich war herauszuhören, dass er sich weiterhin Chancen bei ihr ausrechnete. Das zum Thema Erholung und Abstand gewinnen, holte ihr Dilemma sie ein.

Tobias musste kein Hellseher sein, um zu sehen, welche Gedanken Christin beschäftigten. Statt ihr wundes Thema erneut anzusprechen, verlegte er sich auf die fröhliche Feststellung. »Du glaubst gar nicht, wer mir auf den AB gequatscht hat. Drei abgesprungene Klienten wollen sich gern mit mir zusammensetzen. Und ganz besonders soll ich dich grüßen.«

Sie sah ihn verlegen an und lächelte dabei errötend.

»Schatz, du bist einfach ein Superweib. Wir sollten wirklich noch einmal über meine Idee sprechen, zusammenzuarbeiten.«

»Nun sollten wir erst einmal zusehen, dass wir Hannahs Einschulung hinter uns bringen«, überging sie sein neuerliches Angebot.

»Gleich vorab, es gibt darüber keine Diskussionen. Du wirst an Hannahs und meiner Seite daran teilnehmen. Das ist dir hoffentlich bewusst.«

Christins Blicke ruhten tiefgründig auf seiner Wenigkeit.

»Was?« Seine knappe Frage konnte nicht selbstbewusster klingen.

»Die Leute werden sich das Maul zerreißen.«

»Das will ich doch hoffen. Schließlich habe ich das Herz von Gernhausens schönster Singlefrau erobert.« Er versuchte es fröhlich klingen zu lassen, obwohl sein Blick ihr sagte, dass er sich sehr wohl bewusst darüber war, was sie erwartete. »Die Leute werden sich, wenn sie es noch nicht getan haben, an meine neue Partnerin gewöhnen müssen. Punktum!«

Christin schwieg daraufhin; doch sie handelte. Die Handtasche war schnell von nebenan geholt.

Tobias verfolgte, wie sie sich damit abmühte, einen der Schlüssel vom Bund zu lösen. Sein Herz vollführte einen Trommelwirbel, wohl wissend, was kam.

»Schatz, ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, wenn ich nicht gleich zu euch kommen werde. Solltest du dir das vorgestellt haben …« Sie schenkte ihm ein verunsichertes Lachen. Ein letzter Blick auf den Schlüssel in ihrer Hand, der bis vor wenigen Tagen noch an Nils-Oles Bund hing. »Aber du sollst wissen, dass du jederzeit bei mir willkommen bist.«

Tobias nahm ihn mit leuchtenden Augen entgegen. »Danke für dein Vertrauen. Ich verspreche dir, dass ich nie unangemeldet bei dir erscheinen werde.«

Beide senkten sie ihre Blicke, da wohl jeder an die schmerzliche Szene mit Händler und den heftigen Streit danach dachte.

***

Erholt kehrte die kleine Familie auf Probe am folgenden Tag in die Heimat zurück. Gleich nach der gemütlichen Kaffeetafel, die Jutta für ihre Heimkehrer extra mit allen Leckereien gedeckt hatte, verabschiedete sich Christin.

»Aber wieso denn, Mama?«, begehrte Hannah enttäuscht auf. »Wir sind doch jetzt eine Familie.«

»Das stimmt, mein Schatz.« Christin nahm ihre kleine Freundin auf den Arm und herzte sie. »Es gibt aber noch so viele Dinge bei mir zu tun. Aber bald, in ein paar Wochen, das verspreche ich dir, komme ich ganz zu euch. So lange musst du zu mir kommen, wenn du mich brauchst.«

***

Es gab in den nächsten Tagen in der Tat einiges für Christin zu erledigen. Nicht nur, dass Edith händeringend auf sie wartete, um ihr Großprojekt abzuschließen. Auch mit Nils-Ole gab es eindeutig noch Klärungsbedarf, was ihre endgültige Trennung betraf. Das an sich war es nicht, was Christin so sehr erzürnte, oder vielmehr maßlos enttäuschte.

Müde und erschöpft kehrte sie nach einem langen Tag mit Edith heim. Schon beim Betreten ihrer Wohnung spürte sie eine unangenehme Präsenz, die sich schlagartig verdichtete, als sie den ungebetenen Besucher am Küchentisch sitzen sah. War es wirklich schon so weit gekommen, dass sie sich allein des Umstandes wegen freute, ihn hier und nicht in ihrem Bett anzutreffen?

»Ich muss dir nicht sagen, dass mich deine Anwesenheit verblüfft.« Sie machte sich nicht die Mühe, ihren Unmut zu verbergen.

»Chris«, begrüßte Nils-Ole sie bei ihrem Kosenamen und schenkte ihr dabei ein sonniges Lächeln, von dem sie nie erfahren würde, wie schwer es ihm fiel. »Gut siehst du aus. Der Urlaub scheint dir bekommen zu sein. Frische Seeluft, durchschlafene Nächte. Einen Earl-Grey?« Er deutete auf die Kanne, die er sich vor Kurzem aufgesetzt hatte. »Einer mit einem ganz besonderen Bergamotte-Aroma.«

»Mir ist nicht wirklich nach einem gemütlichen Pläuschchen. Du verstehst?« Sie blieb vor dem Tisch stehen. Die Rechte möglichst unauffällig in der Handtasche versenkt, die sie zum Glück noch immer über der Schulter trug. Das kleine Fläschchen mit dem Pfefferspray gab ihr ein wenig Halt. »Du könntest mir aber verraten, wie du in mein Haus kommst? Ich war der festen Meinung, du hättest mir deinen Hausschlüssel gegeben.«

»So war das also!« Er lehnte sich lächelnd auf dem ächzenden Küchenstuhl zurück und betrachtete sie aus spöttisch glitzernden Augen. »Und ich dachte, ich hätte ihn verlegt.« Ihr sich verfinsternder Blick störte ihn nicht im Geringsten. »Stell dir mal vor, du wärst hier allein und es passiert etwas. Ein Haushaltsunfall ist die Gefahrenquelle Nummer eins in Deutschland. Da ist es doch gut, wenn es jemanden gibt, der dir zur Hilfe eilen kann.«

»Du entschuldigst, wenn ich nicht darüber lache. Wir waren uns einig, dass unser geschäftliches und privates Arrangement beendet ist.« Christin streckte ihre Linke vor und schnippte ungehalten mit den Fingern. »Die Schlüssel!« Wütend registrierte sie, dass sein Grinsen etwas Dümmliches annahm. »Außerdem wäre ich dir sehr dankbar, wenn du dich wie der Gentleman verhältst, als den ich dich kenne. Also, akzeptiere bitte, dass wir nichts mehr gemein haben.«

Ihr Auftreten schien ihn nur noch mehr zu amüsieren und doch schwang in seinen folgenden Worten etwas Bedrohliches mit. »Nun tue doch nicht so, als wärst du die Unschuld vom Lande. Ich kenne dich besser, als du dich selbst. Dieser Tobias fängt doch bereits jetzt an, dich anzuöden. Nimm nur seine hilflos an den Tag gelegte Schüchternheit und seine immer stärker zutage tretende Fürsorglichkeit, mit der er dich langsam erstickt. Und dann du selbst! Mit den Pflichten einer Mutter, die dir niemand zutrauen wird. Du dir selbst am allerwenigsten.«

Nils-Ole Händler war ein guter Pokerspieler; was man von seinem Gegenüber derzeit nicht behaupten konnte. Er kannte Christin vielleicht wirklich besser, als sie sich selbst. Zudem waren ihm die Abfälligkeiten, mit denen sich Sina Herder damals über ihren Softi ausgeheult hatte, in guter Erinnerung geblieben. »Wie lange wirst du dieses aus Blümchensex und verliebtem Getue geprägte Leben durchstehen?« Ihr Schweigen bestätigte ihn in seinem erfolgreichen Plädoyer. »So lange, bis dir niemand mehr zur Seite stehen wird, wenn es dir richtig dreckig geht?« Er erhob sich und schob sich an ihr vorbei. Nicht ohne dabei seine Hand herausfordernd über ihren Körper gleiten zu lassen. »Man sieht sich, Herzchen.«

»Nils-Ole.« Ihre feste, kühle Stimme bannte ihn auf dem Flur. »Der Schlüssel. Und diesmal alle, die du dir hast nachmachen lassen. Bitte!«

Er lächelte augenzwinkernd und griff in die Innentasche seines Jacketts. Mit den Worten »Es ist der einzige« entschwand er grußlos durch die Tür.

Christin sank auf dem Stuhl nieder, auf dem er es sich bis eben gemütlich gemacht hatte. Sollte das ewig so weitergehen? Nils würde nie klein beigeben. Und was noch viel schlimmer nachwirkte, waren seine gehässigen Worte, mit denen er ihr Versagen prophezeite. Waren ihr denn ihre Ängste und Befürchtungen so sehr anzumerken?

Es dämmerte bereits, als sie sich so weit unter Kontrolle hatte, um sich auf den morgigen Tag vorzubereiten … und zu freuen. Hannahs großer Tag. Und sie musste funktionieren. Wieder einmal, drang diese pessimistische Stimme erneut zu ihr durch. Doch erst morgen, beruhigte sie sich und verwarf den Gedanken, jetzt zu ihrer Familie zu gehen. Tobi würde auch diesmal klaglos akzeptieren, wenn sie eine weitere Nacht daheimblieb. Seine naive Schüchternheit und Fürsorglichkeit waren ein Garant dafür.

***

Erstaunlich frisch und ausgeruht begab sich Christin früh am Morgen zu ihren Lieben. Die Erlebnisse des vergangenen Abends hatten sich zu einem bösen Traum minimiert. Nils-Ole war eben so. Er musste immer noch einen draufsetzen. Aber nun war sie sich sicher. Er hatte endgültig begriffen, dass ihre gemeinsame Zeit vorbei war.

Als sie eintrat, kam ihr Hannah jubelnd entgegen. »Mama, wie schön du aussiehst!«

»Ganz wie du, junge Dame. Wie zwei Schwestern, oder?« Christin nahm ihre Kleine in die Arme. »Soll ich dir dein Haar noch flechten?«

»Ja, bitte! Genau so einen französischen Zopf, wie du ihn hast.«

»Hallo Tini, hübsch siehst du aus.« Tobias kam gelassen die Treppe herab. Ein Lächeln im Gesicht ob des Kosenamens, den auch er seit Neuestem meist ungestraft auf den Lippen trug. Er blieb vor ihr stehen und nahm fasziniert ihre Schönheit in sich auf. »Du siehst einfach umwerfend aus.«

Seine Fürsorglichkeit … Christin schlang die Arme um seinen Hals und verbarg ihre verräterischen Gedanken in seiner Halsbeuge. »Das heißt, du nimmst mich so mit?«

»Ich nehme dich, wie du bist. Einfach weil ich dich liebe.«

Sie drückte sich an ihn, als gäbe es nichts Trennendes. Nur warum war es so schwer, sich auf die Zukunft einzulassen?

***

Allen Befürchtungen zum Trotze geriet Hannahs Einschulung zu einem wunderschönen Erlebnis für Christin. Natürlich gab es Menschen, die bei ihrem Anblick die Hand vor den Mund hielten, tuschelten oder sie gar schnitten. Doch die Natürlichkeit, mit der Tobias und seine kleine Familie sie als zu ihnen gehörend behandelten, nahm ihr jegliche Angst. Ja, Tobias stellte sie in vielen Gesprächen sogar als Hannahs Mutter vor.

Als sie schließlich am späten Nachmittag heimkehrten, hatte Christin für sich entschieden, endlich ein Teil dieser Familie zu werden.


Kapitel 15

Es war geschafft! Christin konnte es noch immer nicht glauben, dass sie und Edith Leisner ihr „Jahrhundertprojekt“ – wie Edith es nannte – zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht hatten. Lächelnd verfolgte sie, wie ihre mütterliche Freundin mit ausgebreiteten Armen durch den sogenannten Ballsaal tanzte.

»Ich kann es einfach nicht fassen, dass wir mit allem fertig sind.« Edith blieb plötzlich stehen und sah die Jüngere mit vor Schreck geweiteten Augen an. »Aber was tun wir nun?« Sie ergriff sie bei den Händen. »Ich muss Werner unbedingt davon überzeugen, dass wir ein neues Projekt in Angriff nehmen.«

»Willst du nicht erst einmal in Ruhe dein Werk genießen?« Christin lächelte milde und drückte Ediths Hände.

»Unser Werk! Ja, und das werden wir mit einem Einweihungsfest krönen, von dem Gernhausen noch lange sprechen wird. Tobias und du, ihr werdet die Ehrengäste sein.«

Errötend senkte Christin den Kopf. »Wir haben doch nur unsere Arbeit gemacht.«

»Nein, meine Liebe, ihr habt euer Herz und eure Gefühle in unser Projekt gesteckt. Alle Welt soll sehen, zu was ihr beiden fähig seid!«

***

Was Edith Leisner versprach, geschah. Der Ballsaal im Hause Leisner erlebte bereits drei Tage später seine Feuertaufe. Die geladene High Society Gernhausens gab sich ein Stelldichein. Nahezu an die achtzig Gäste bewunderten und feierten das Ergebnis behutsamer und doch attraktiver Renovierungsarbeit. Sowie die Innendekoration, die Altes und Neues in einer gelungenen Mischung harmonisch miteinander verknüpfte. Edith und Werner Leisner wurden dabei nicht müde, die Schöpfer dieser Arbeit zu loben und anzupreisen.

Trotz der Anerkennung und der positiven Äußerungen der Gäste fühlte sich Christin nicht wohl in ihrer Haut. Es war das erste Mal, dass sie nach seinem Hinauswurf auf Nils-Ole Händler traf. Er hatte sie kühl begrüßt; was nicht allein daran lag, dass ihn seine Angetraute begleitete. Übrigens eine freundliche und sehr attraktive Frau, wie sie betreten feststellen musste. Christin beschlich ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken an Nils. Irgendetwas führte er gegen sie im Schilde, das spürte sie beinahe körperlich. Auch Tobias wirkte nicht gerade glücklich über ihr Zusammentreffen. In seinen Blicken las sie Skepsis und Eifersucht. Doch das Schlimmste daran, gestand sie sich ein, war sein unterschwelliges Misstrauen ihr gegenüber.

Der Grund ihrer Befürchtungen war dagegen ganz in seinem Element. Frau Thorstraten sollte endlich ein Gefühl dafür bekommen, was es hieß, einen Nils-Ole Händler zu brüskieren. Diese Frau würde in seiner Stadt keine ruhigen fünf Minuten haben, geschweige denn ein glückliches Liebesleben führen.

»Ist das nicht unsere Stadtchronistin? Die, die unsere liebenswerte Gastgeberin uns so wärmstens als Innendekorateurin anpreist.« Michael Schmidt-Heller, sein Tischnachbar, stieß ihn jovial in die Seite.

Und er würde weiter dafür sorgen, dass es so blieb. »Ja, das ist sie.« Nils-Ole Händlers Lächeln vertiefte sich. Schmidt-Heller – wohlhabend, seit Jahren verwitwet, ausgewiesenes Ekelpaket und kein Kind von Traurigkeit – hatte ein Auge auf Christin geworfen, die in ihrem eleganten Abendkleid, mit einer Topfrisur und dem perfekten Make-up die Augenweide schlechthin darstellte. »Und das ist nur eine Profession, die diese Dame perfekt beherrscht.«

»Nils-Ole, das klingt ja interessant zweideutig. Erzähle!« Schmidt-Heller hatte angebissen.

»Ist es auch.« Ein sichernder Blick zur Rechten. Angela unterhielt sich ausgiebig mit ihrer Tischnachbarin. Händler beugte sich zu Schmidt-Heller und flüsterte hinter vorgehaltener Hand. »Wie ich aus bestunterrichteter Quelle weiß, ist die Gute gewissen Aufmerksamkeiten gegenüber sehr entgegenkommend.«

Michael Schmidt-Heller suchte argwöhnisch in den Blicken seines alten Spezis nach dem unpassenden Scherz, der es sein musste.

»Unter uns, Michael, die schöne Larve ist eine Wucht im Bett und alle Male einen kleinen Ausrutscher wert. Mehr möchte ich nicht dazu sagen.« Ein Zwinkern und ein beredtes Lächeln in die Runde unterstrichen für den Empfangsbereiten die latente Brisanz der Aussage.

»Für Geld? Nein, jetzt verulkst du mich aber.«

Händler schüttelte ernst den Kopf und erwiderte den Gruß eines Gastes ein paar Tische entfernt. Gerade eben noch für den Nachbarn vernehmbar murmelte er. »Sie ist eine Escort-Lady. Für einen exorbitanten Obolus steht sie dir Tag und Nacht zur Verfügung. Das Luder ist dafür wirklich zu allem bereit.«

»Mir scheint aber, dass sie mit diesem jungen Architekten sehr zufrieden ist.«

»Alles nur Show.« Über Händlers Gesicht huschte ein verächtliches Lächeln. »Ich an deiner Stelle würde mich bei ihr ranhalten. Wie ich gehört habe, pfeift dieser Herder auf dem letzten Loch. Er wird sich diese süße Schnecke nicht mehr lange leisten können.«

»Du meinst wirklich …?«

»Nur zu.« Nils-Ole Händler badete im Wohlgefühl, der lieben Christin einen weiteren Verehrer in den Pelz gesetzt zu haben. Schon bald würde sich diese feine Dame nicht mehr vor die Tür trauen können. Ihr lieber Tobi würde dasselbe Desaster erleben, das er bereits schon einmal mit seinem kleinen nymphomanischen Weibchen erlitten hatte. »Gib mir doch mal dein Handy.«

Christin hatte sich ins oberste Stockwerk begeben, um sich im privaten Bad der Leisners zu erfrischen, als sie in ihrer Clutch das Vibrieren ihres Smartphones spürte. Hannah? Seitdem sie ihrer kleinen Freundin zur Einschulung ein eigenes Handy geschenkt hatte, war es oft um ihre Ruhe geschehen. Sicher vermisste sie ihre Mama und ihren Papa. »Hallo Spatz, was ist denn los?«

»Hallo …«, die sonore, männliche Stimme stutzte kurz, ehe sie fröhlich fortfuhr, »Ja, das wäre schon mal eine Begrüßung, an die ich mich gewöhnen könnte. Ich denke, ich bin bei Ihnen richtig gelandet, Frau Thorstraten.«

Christin erstarrte. Ihr Gefühl für Unannehmlichkeiten ließ sie selten im Stich. Das hier war so eines. »Kommen Sie bitte auf den Punkt.«

»Mein Name ist Michael. Ich habe Ihre Nummer von einem sehr guten Freund bekommen und möchte die Gelegenheit nutzen, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.«

»Handelt es sich um Renovierung und Innendekoration?«

Ein kurzes Zögern, dann ein knappes selbstgefälliges Lachen. »Ja, in dieser Art. Ich würde schon sehr gern etwas renovieren.«

Christin wagte ein erstes Mal durchzuatmen. Bestimmt hatte der Anrufer ihre Nummer von Edith oder Werner erhalten und wollte sich rechtzeitig einen Termin sichern. »Gern, nur habe ich im Moment keinen Terminplaner zur Hand. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie mich morgen Vormittag noch einmal anrufen?«

»Ich denke, das ließe sich hier gleich vor Ort klären. Bitte warten Sie doch auf dem Flur.«

Ehe Christin begriff, hatte der Anrufer aufgelegt. Sämtliche Alarmlichter leuchteten auf. Die letzten Stufen der Treppe knarrten leise, als der Mann am Ende des menschenleeren Flurs auftauchte. Langsam und mit einem selbstsicheren Lächeln trat er auf sie zu. Derselbe unsympathische Mann, der sie bereits den ganzen Abend über mit seinen Blicken ausgezogen hatte. Ihr fiel es wie Schuppen von den Augen, als sie endlich begriff, dass dieser Mensch ganz in Nils-Oles Nähe gesessen hatte.

»Frau Thorstraten.« Das Lächeln vor ihr besaß die Kraft eines Schmiedehammers. »Wie schön, dass wir so schnell die Gelegenheit haben, uns näher kennenzulernen.«

»Ich wüsste nicht, was an einer Renovierung so dringend ist, dass wir es nicht morgen besprechen können.«

»Doch, doch. Gerade darum.« Er lachte, als würde sein Lieblingsscherz folgen. »Ich möchte mein Liebesleben renovieren und habe von einem guten Freund erfahren, dass Sie darin noch bedeutend versierter sind, als alte Kästen aufzupoppen.«

Seine Unverfrorenheit und die verbalen Anspielungen ließen Christin für einen Moment sprachlos dastehen. Erst als seine Finger mit einer ihrer Haarsträhnen zu spielen begannen, brachte sie das zur Besinnung. »Unterlassen Sie es, mich derart zu belästigen!«, fauchte sie wütend und wischte seine Hand derb beiseite. »Und richten Sie Ihrem Freund aus, dass er es in Zukunft unterlassen soll, mich derart zu diffamieren. Ansonsten werde ich ihn anzeigen.«

Ihre Drohungen schienen diesen Mann erst zu ermuntern. Mit einem zischenden Lachen packte er ihre Handgelenke. Die Hände waren so riesig, dass sie sich wie in einem Schraubstock gefangen fühlte.

»Lassen Sie das! Sie tun mir weh.« Selten hatte sich Christin so bloßgestellt und gedemütigt gefühlt wie in diesem Moment. Das Blut rauschte in ihren Ohren und drohte allen Mut und Gegenwehr mit sich zu reißen. Mit all der ihr verbleibenden Kraft versuchte sie diesem aufdringlichen Menschen in seine Weichteile zu treten. Doch das lange Abendkleid ließ auch diese Abwehr im Ansatz verpuffen.

Ihr Verhalten reizte ihn offensichtlich, noch mutiger vorzugehen. Ungeachtet der Gefahr, dass andere Gäste hinzukamen, drängte er sein Opfer gegen die Wand und knurrte mit gepresster Stimme. »Darauf stehe ich, wenn du so tust, als seist du die Unschuld vom Lande.« Seine vollen, glänzenden Lippen näherten sich ihrem Gesicht.

Plötzlich war dieses feiste Gesicht fort, während ein Tosen und Poltern um sie herum entstand. Der eben noch so übermächtig wirkende Mann lag am Boden und betastete stöhnend seinen blutenden Mund.

Mit geballten Fäusten stand Tobias über ihm und knurrte mit einer Stimme, wie sie sie selbst noch nie an ihm vernommen hatte. »Wenn ich Sie oder einen Ihrer Freunde noch einmal in der Nähe meiner Verlobten sehe, werde ich Ihnen nicht nur das Fell gerben!« Er packte den am Boden liegenden am Revers seines Jacketts und riss ihn hoch, als wäre er ein Fliegengewicht. »Haben Sie das verstanden? Und richten Sie allen meine Grüße aus.«

Der Mann erhielt einen derben Stoß, dass er mehr über Flur und Treppe hinabfiel, als dass er lief.

Stille trat ein. Christin, die erst langsam realisierte, was geschehen war, packte ein Zittern und Beben. In Tobias ging ein Wandel vor sich. Eben noch wie in einem Blutrausch gefangen, nahm er nun das schluchzende Wesen schweigend in die Arme. Erst als sie sich zu beruhigen schien, gönnte er sich selbst den Luxus, seinen Zorn herauszulassen. »Ich hätte diesen Kerl wirklich erschlagen können. Wie kommt er überhaupt dazu, dich derartig zu belästigen?«

Christin senkte schweigend ihren Blick, doch Tobias schien auf eine Antwort zu bestehen. Der Druck seiner Hände verstärkte sich. »Irgendwer hat ihm gesagt, ich wäre für alles zu haben.«

»Händler!« Er gab sie frei und ballte seine Fäuste. »Ich werde jetzt da hinuntergehen und sämtliche Gedanken an dich aus ihm herausprügeln.«

»Nein, das wirst du nicht!« Erschrocken warf sich Christin ihm in den Weg. »Ich habe dir schon einmal gesagt …«

»Das ist mir egal!«, schnaufte er wutentbrannt und versuchte sich an ihr vorbeizudrängen. »Er wird sonst nie Ruhe geben.«

»Tobias, wenn du da jetzt hineinstürmst und Nils zusammenschlägst, machst du alles kaputt, was uns miteinander verbindet.«

Ihre Worte schienen ihn langsam zur Vernunft zu bringen. Oder war es ihr kalter, unpersönlicher Blick? »Christin, so kann es nicht weitergehen. Ich liebe dich! Aber ich kann nicht akzeptieren, dass diese selbstgefälligen Kerle immer wieder unser Leben diktieren.«

Seine Worte – so verständnisvoll sie klangen – weckten den Trotz in ihr, der sie so viele Jahre am Leben gehalten hatte. Zumal Nils’ Prophezeiungen längst wie ein schleichendes Gift in ihr wirkten. »Nein, das kannst du nicht.« Ihre Hände glitten an seinen Armen hinab und gaben ihn frei. »Wer weiß, vielleicht gefällt es mir sogar, dass ich weiterhin anderen Männern gefallen will. Wenn du das nicht verstehen willst …«

Trotz des schummrigen Lichtes sah Christin ihn erbleichen. Erschrocken fragte sie sich, ob ihr das eben wirklich so herausgerutscht war. »Nein, Tobi. Bekomme das jetzt bitte nicht in den falschen Hals.«

»Wie soll ich es sonst verstehen.« Ernüchtert, ja desillusioniert sah er sie an. »Nein«, er schluckte schwer, »auch wenn du selbst nicht an die Liebe glauben willst – ich tue es weiß Gott.« Ohne dass er sich dagegen wehren konnte, glitt ein wahres Kaleidoskop an Widerwillen und Schrecken über seine Gesichtszüge. »Nur erwarte nicht von mir, dass ich ein weiteres Mal stillhalte, wenn meine Partnerin für sich in Anspruch nimmt, die Bewunderung geiler Männer zu kassieren und ihr Sexualleben auswärtig auszutoben.«

»Nein, warte!« Es schnürte ihr das Herz ab, zu begreifen, dass er in diesem Moment einzig nur Sina vor sich sah. Und dass er dabei war, sie in solch einem Augenblick einfach stehen zu lassen. Oh Gott, sie und ihre vorlaute Klappe. »Tobi! Ich wollte damit doch nur sagen, dass du nicht jeden in Grund und Boden rammen kannst. Nur weil er sich Chancen bei mir ausrechnet.« Sie ergriff die Aufschläge seines Jacketts und wollte ihn zu sich heranziehen. Doch er blieb kühl und hart wie ein Fels stehen. Die Enttäuschung über ihren vermeintlichen Verrat grub sich zusehends in seine Gesichtszüge hinein, ohne dass es ihr gelang, ihn zu erweichen. »Begreife doch bitte. Damit zeigst du keine Stärke … nur Machtgehabe und … Mir zeigst du damit, wie unsicher du meiner bist. Und wie wenig du mir vertraust.«

»Wie soll ich mir deiner denn sicher sein?« Ein verzweifeltes Stöhnen kroch aus seiner Brust hervor. »Wo du mir nicht einmal sagen kannst, dass du mich liebst.«

»Muss ich dir das denn noch sagen?« Nun war es an ihr, die Enttäuschung zu verarbeiten. »Du weißt, wie ich darüber denke. Wie soll ich es dir sagen können, wenn es noch immer Momente wie diesen hier gibt. Momente, in denen du mir das Gefühl gibst, dass ich einzig dein Besitz bin.«

»Besitz? So empfindest du es, wenn ich dich beschützen will?«

»Bitte, gib mir noch ein wenig Zeit.«

»Was würde das ändern?«

»Alles.« Sie atmete tief durch und gestand ihm: »Erst wenn ich mir absolut sicher bin, dass ich dich nie mehr verlassen oder mit einem anderen teilen will, kann ich dir diese Worte sagen. Wenn ich mich einmal entscheide, dann möchte ich mit diesem einen Menschen auch glücklich alt werden. Meine Betonung liegt dabei auf glücklich … und alt.«

Er schwieg, doch in seinen Augen wetterleuchtete es unaufhaltsam. Warum nur brachte sie es nicht fertig, ihm die Worte zu gestehen, auf die er so sehnsüchtig wartete? Zumal sich doch alles in ihr selbst danach sehnte. »Bist du dir denn selbst so sicher, mich ewig zu lieben? Wenn nicht, überlege es dir. Ich würde dich nie mit einer anderen teilen können; nicht einmal ansatzweise!«

Tobias berührte sachte ihren Arm. Doch die Worte, die er ihr jetzt so gern gestanden hätte, kamen ihm nicht über die Lippen. Dabei wusste er, dass sie recht hatte. Sie war nur ehrlich … und das tat verdammt weh. Aber sie versprach ihm auch ein ewiges Glück. Wenn, ja wenn er ihr die Zeit gab, sich selbst zu finden. Er spürte sein reserviertes Nicken. Irgendetwas musste er jetzt sagen. »Ich für mein Teil habe nicht mehr viel von dieser Feier. Darf ich dich heimbegleiten, oder … oder willst du lieber noch ein wenig deine Wirkung auf andere Männer testen?«

»Jetzt sei bitte nicht nachtragend.«

»Bin ich nicht. Du hast mir nur die Augen geöffnet. Und das zu verstehen kostet Zeit.«

Christin setzte zu einer Entgegnung an und ließ dann doch nur in einer verzweifelten Geste die Schultern hängen.

***

Der Heimweg der beiden verlief in nachdenklichem Schweigen. Erst als sie den Abzweig zur Waldtorgasse erreichten und Christin den Weg zu ihrer Wohnung einschlug, fühlte Tobias sich gedrängt, etwas zu sagen. »Du willst zu dir?«

Sie blieb stehen und sah ihn an. Das müde Licht der Laterne vertiefte die Schatten in seinem Gesicht. »Ja. Ich finde, wir benötigen beide etwas Abstand. Vielleicht finden wir dann einen Weg, auf dem wir uns neu gefestigt wiedersehen können.«

»Du gibst mich … uns also wieder auf?«

»Nein. Ich will nur keinen Mann, der meint, mich besitzen zu müssen. So wie du dich auch jetzt noch gibst, so aggressiv und besitzergreifend, machst du mir Angst. Diese Art Männer habe ich mein Leben lang genießen dürfen. Einen weiteren werde ich mir nie wieder zumuten.«

»Dafür willst du einen, der stillhält und sich über jeden Brotkrumen freut, den du ihm zuwirfst.« Ein bitterer Zug grub sich um seinen Mund ein.

»Quatsch! Ich will nur jemanden, der fest an meiner Seite steht und eine starke Frau neben sich akzeptiert. Erst wenn ich nicht mehr weiterweiß, will ich seine Hilfe.«

Ihm entrang sich ein trockener Lacher. »Wie lange willst du dir denn noch einreden, dass du das mit Händler allein in den Griff bekommst?«

Christin schwieg lange, ehe sie sich zu einer endgültigen Antwort aufraffte. »Ich weiß nicht, ob ich es mit Nils-Ole je in den Griff bekomme. Ich weiß nur, dass ich deine Hilfe – so lieb sie auch gemeint ist – nicht benötige.« Sie schmiegte sich an ihn, um ihm nicht noch mehr das Gefühl zu geben, allein im Regen zu stehen. »Bitte gib uns ein wenig Freiraum. Ich brauche ihn, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich melde mich bei dir, ist das okay?«

»Was soll ich dazu noch sagen?« Sanft löste er sich von ihr und hielt sie auf Abstand. Der ewige Kampf der Geschlechter, kam es ihm in den Sinn, als er sie so selbstbewusst und mit hoch erhobenem Kopf vor sich stehen sah. »Ich wünschte mir nur, dass du irgendwann begreifst, dass man nicht immer allein mit dem Kopf durch die Wand gehen kann. Manchmal braucht man auch die Liebe und Hilfe anderer. Ich selbst habe es erst lernen müssen. Es tut verdammt weh, wenn man plötzlich feststellen muss, dass man ganz allein dasteht, weil sich jeder von einem abwendet.«

Tobias sah ihr tief in die Augen. Doch die Hoffnung, dass sie verstand, schwand mit jedem weiteren Wimpernschlag. Schließlich beugte er sich zu ihr hinab und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange – dort wo eben noch ihre Lippen waren. Sagte das nicht alles zum Stand ihrer derzeitigen Beziehung? Wieder einmal! »Bis bald, Fuchur. Und schlaf schön.«

***

Er hatte sich mit einem letzten traurigen Blick umgewandt und war gegangen. So wie damals, wenn er sich von ihr schlecht behandelt fühlte. Einzig seine nachdenklichen Worte waren ihr geblieben. Sie waren so ehrlich und schmerzhaft wahr. Und doch gelang es Christin auch jetzt nicht, über ihren Schatten zu springen und sich einzugestehen, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Noch nicht! Die Hoffnung, in der Zeit ihrer erbetenen Klausur dahin zu kommen, trieb sie heim.

Liebes Tagebuch, nun musst du dir wieder meine verworrenen Gedanken und Gefühle anhören. Ich muss TobiasWorte niederschreiben, die er heute Abend zu mir gesagt hat. Sie waren so nüchtern und so … endgültig. Vielleicht sehe ich dann endlich klarer und kann entscheiden, was ich wirklich will. Ich habe solche Angst zu versagen und ihn endgültig zu verlieren. Und doch weiß ich nicht, ob es mir gelingt, mich selbst zu verleugnen. Nur um ihm die Frau zu bieten, die er sich so sehr wünscht und die er eigentlich verdient hat …

Christins Selbsteinschätzung und die Gedanken zu ihrer Situation verfolgten sie bis in ihre unruhigen Träume hinein. Mal verließ Tobi sie. In einem anderen Albtraum war sie es, die sich behauptete und stolz ihre Einsamkeit empfing. Es war weit nach drei Uhr – glaubte sie sich zu erinnern – als sie deutlich spürte, nicht mehr allein zu sein. Tobi, er war zu ihr gekommen. Ja, sie würden zueinander finden. Ohne dass einer von ihnen allein zurücksteckte.

»Komm Schatz, ich habe so sehr auf dich gewartet.« Ihr Flüstern geisterte durch den Raum und erreichte die dunkle Gestalt, die dort an der Tür stand und sie fasziniert betrachtete. »Tobias? Bist du das?«

***

Wieder einmal hatte ihn die Verzweiflung ruhelos durch die Gassen getrieben. Vorbei an fröhlichen Menschen, die das abendliche Flair der Altstadt in Biergärten und anderswo genossen. Überall wurde gelacht, gefeiert, geflirtet und geküsst. Nur er kreiste orientierungslos herum. Wie ein Trabant, dem sein Stern fehlte. Und doch war es anders als sonst. Diese Naivität, mit der er sonst und besonders in den letzten Monaten den Mond angeheult hatte, war ihm abhandengekommen. Christins nüchterne Worte hatten Fragen in ihm aufkommen lassen, die ihm fremd waren. Er wusste nur eines. Zu einer weiteren Beziehung in der Art wie mit Sina war er nicht fähig. Bei aller Liebe – nein. Wenn Christin einen starken Partner an ihrer Seite wollte, musste sie auch dessen Prämissen akzeptieren.

Irgendwann fand Tobias sich beim alten Pulverturm wieder. Gernhausens berühmter und beliebter Aussichtspunkt wirkte an diesem Abend erstaunlich verwaist. Er erklomm die Brüstung und setzte sich auf die Mauerkrone, die in Jugendtagen oft Zeuge abenteuerlicher Mutproben war. Hier würde er Nils-Ole Händler und Konsorten einen nach dem anderen das Fliegen lehren, fluchte er innerlich. Wohl wissend, dass solche Gedanken der Grund waren, dass Christin ihm die Pistole auf die Brust setzte. Warum nur nahm sie diesen Mann noch immer in Schutz?

Zwei Stunden später war er wenig klüger – aber durchgefrorener. Er klopfte sich notdürftig den Staub vom Anzug und trat den Heimweg an. Oder sollte er nicht doch zu Christin gehen und ein weiteres Mal mit ihr darüber sprechen? Er spürte zwischen den Fingern den neuen Schlüssel am Bund. Würde sie es gutheißen? Nach all dem, was sie ihm heute Abend diktiert hatte? Er verwarf den Gedanken und ging heim.

***

Es fühlte sich an, als hätte er gerade einmal fünf Minuten geschlafen, als ihn sein Handy aus unruhigen Träumen riss. Ihre Melodie. Schlagartig war alles wieder präsent. Nein, er würde jetzt nicht rangehen. Stöhnend warf er sich herum und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Das Telefon verstummte, nur um kurz darauf erneut anzuschlagen. Okay, nun war er wach. Doch die grimmigen Worte, die ihm auf der Seele brannten, verstummten, als das hemmungslose Schluchzen an sein Ohr drang. Dazwischen ihre schwache Stimme, die unverständliche Worte stammelte.

»Ich komme«, würgte er stöhnend hervor, während er planlos durch das Zimmer stolperte, um seine Sachen zu suchen. »Schatz, bleib wo du bist!« Er legte das Handy beiseite und schlüpfte in seine Kleidung. Schlüssel, Papiere, Handy. »Christin?«, lauter: »Christin!!!« Außer einer leise wimmernden Hintergrundmusik kam keine Reaktion. Herrgott, warum nur war er nicht bei ihr geblieben?

Er flog mehr die Treppen hinunter, als dass er lief. Raus aus dem Haus, die Straße hinunter, die ihm noch nie so lang vorkam wie in diesen schrecklichen Minuten. Verzweifelt das Handy am Ohr, wo er doch nur das Rauschen des eigenen Blutes wahrnahm. Ihre Haustür stand sperrangelweit offen. Die Panik in ihm bekam weitere Nahrung. Zumal er die herrschende Unordnung allerorten wahrnahm. Weiter hinauf. Ihm war es egal, ob die Person, die Christin überfallen hatte, noch anwesend war. Nach all dem, was heute Abend geschehen war, würde ihm diese gerade gelegen kommen. »Christin!« Keine Antwort. Er stolperte weiter, die Treppe hinauf. Dort oben, wusste er, lagen nur noch ihr Bad und ihr Schlafzimmer. Warum nur vermittelte ihm sein Verstand gerade jetzt, dass er noch nie einen Schritt dort hinein getan hatte?

Er riss die Tür auf und taumelte einen Schritt zurück, als er sie halb auf, halb neben dem Bett liegen sah. Ihm kam nur ein entsetztes Flüstern über die Lippen, als er neben ihr auf die Knie fiel. »Wer hat dir das angetan?« Kaum eine Stelle ihres Körpers schien verschont geblieben.

Christin sog scharf die Luft ein, als er sie vorsichtig berührte. »Tobi …« Seine Nähe tat gut. Ein wenig … Wenn er sie nicht berührte oder zu streicheln versuchte.

»Bitte, sage mir, wer dir das angetan hat. Ich bringe das Schwein um.«

Seine unentwegten Fragen drangen kaum zu ihr durch. Selbst wenn sie es gewusst hätte … Nein. »Bitte, hilf mir unter die Dusche.«

»Unter die Dusche!?!« Tobias stockte der Atem. Sein Zorn verebbte und machte einem kompromisslosen Handeln Platz. »So weit kommt es noch! Ich werde dich jetzt auf dem schnellsten Wege ins Krankenhaus bringen.«

»Es ist nichts«, winkte sie matt unter ihren körperlichen wie seelischen Schmerzen ab. »Es wird schon wieder.«

»Nein, da hilft kein Pflaster. Du brauchst einen Arzt … Und vor allem Hilfe, die ich dir allein nicht geben kann. Komm, ich helfe dir in deine Sachen.« Er griff sich eines der Kleider, die überall auf dem Boden verstreut lagen.

Widerwillig folgte Christin seinen Anweisungen, wo sie sich doch einfach nur wünschte, dass er sie in den Arm nahm. Ja, verstand er denn nicht? Seine Fürsorge ehrte ihn und doch war es genau das, was sie nun am wenigsten brauchte. Ohne es zu wollen, begann sie sich in sich selbst zurückzuziehen. Dorthin, wo die „harte“ Christin umgehend das Regiment übernahm und die schutzbedürftige Frau verscheuchte, die sie so gern hatte sein wollen.

***

Tobias verstand die Welt nicht mehr. Frustriert sah er auf die geschlossene Tür, hinter der eine Ärztin Christin behandelte. Man hatte ihn auf ihren eigenen Wunsch hinausgebeten und nun saß er seit gefühlten Stunden hier in der Notaufnahme und durfte sich die schlimmsten Albträume ausmalen. Erst das abrupte Ende eines schönen Ballabends, Christins komische Reaktion ihm gegenüber und nun dieser nächtliche Überfall. Verdammt, er traute einem verschmähten Liebhaber einiges zu, und Nils-Ole Händler besonders. Aber sie zu überfallen, zu vergewaltigen und die ganze Wohnung zu verwüsten? Schmidt-Heller, sann er weiter nach und verwarf auch diesen Gedanken. Der war ein Aufschneider und holte sich seine Frauen mit Geld und Luxus ins Bett. Für so einen wäre es zu anstrengend und wenig einträglich, sich Christin durch Gewalt gefügig zu machen. Dann schon eher Händler …

»Herr Herder?«

Tobias zuckte erschrocken zusammen und fuhr in die Höhe, als die Ärztin so dicht vor ihm stand. »Wie geht es ihr?«

»Wir haben Frau Thorstratens Verletzungen so weit behandelt und werden sie für zwei oder drei Tage zur Beobachtung hier behalten.«

»Können Sie mir sagen, was mit ihr ist? Hat man sie vergewaltigt? Ich meine, wie soll ich mich verhalten?«

»Sind Sie mit ihr verheiratet oder ein naher Angehöriger?«

»Fast verlobt«, blieb Tobias annähernd ehrlich.

»Sie sprechen vielleicht selbst mit ihr, ehe wir sie auf die Station bringen. Sie hat ein starkes Sedativum bekommen. Also wundern Sie sich nicht, sollte sie müde oder apathisch reagieren. Außerdem sollten Sie Frau Thorstraten nicht unnötig aufregen.«

Er nickte betreten und bedankte sich bei der Ärztin für den Rat und die schnelle Hilfe.

Christin lag still auf der Behandlungsliege und starrte zur Decke. Man hatte sie hier und da verbunden und verpflastert, aber die wahren Schmerzen in ihr hatte man nicht annähernd geheilt.

»Hallo, Schatz.« Tobias setzte sich an ihre Seite und ergriff mitfühlend ihre Hand. Die sie ihm jedoch mit einem schmerzhaften Seufzen entzog. »Entschuldige bitte.«

Keine wirkliche Reaktion. Er folgte ihrem starren Blick in Richtung der löchrigen Deckenverkleidung. Die Ohnmacht drohte ihn zu übermannen. Und doch musste er endlich das Heft des Handelns in die Hand nehmen. »Sie wollen dich zur Beobachtung hierbehalten. Ich werde, nachdem ich dir Kleidung und Waschzeug zusammengesucht habe, bei Tarek vorbeifahren. Du kennst doch Tarek. Er wird die Sache diskret behandeln. Wir werden dieses Schwein erwischen, das verspreche ich dir.«

Endlich zeigte Christin Reaktion. Nur dass diese ihn völlig unvorbereitet traf. »Lass mich in Ruhe, du verdammter Idiot! Du wirst es wohl nie kapieren! Die Bullen werden die Anzeige aufnehmen, herzhaft lachen und zur Tagesordnung übergehen. Eine Nutte wird nicht vergewaltigt. Sie wird nur etwas härter rangenommen. Verstehe es endlich, es wird nie enden! Ich bin eine Hure und muss mit so etwas leben.«

»Nein, das wirst du nicht!« Tobias war es mittlerweile egal, ob man sie im ganzen Krankenhaus hörte. »Die ganze Zeit über haben wir das Spiel nach deinen Regeln gespielt. Du siehst, was daraus geworden ist! Jetzt werde ich Nägel mit Köpfen machen!«

»Du wirst gar nichts!« Christin geriet so sehr in Rage, dass sie beinahe von der Liege fiel. Alles Ungemach, das ihr widerfahren war, alles was sie geschluckt und für ihre vermeintliche Liebe geopfert hatte, explodierte in ihr. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du nicht mein Zuhälter bist. Also verpiss dich endlich, du erbärmlicher Versager!«

Wer weiß, wie diese Auseinandersetzung geendet wäre, wenn nicht plötzlich die Ärztin und ein Pfleger alarmiert im Raum gestanden hätten. »Vielleicht ist es besser, wenn Sie jetzt heimgehen«, riet die Frau dem jungen Mann, der mit aschfahlem Gesicht zwischen ihr und ihrer Patientin stand. Sie gab dem Pfleger ein Zeichen, dass dieser sich um die Frau kümmerte, die sich sichtlich erschöpft an die Liege klammerte.

Tobias nickte apathisch und suchte erfolglos nach Worten, die diese Situation erklärten. Christins Worte waren zu verletzend gewesen, als dass er in diesem Moment noch so etwas wie Verständnis oder gar Liebe empfand. Zumindest nicht jetzt.

Christin verfolgte unendlich erleichtert, wie er durch die Tür verschwand. Nie wieder solch einen Schwächling! In diesem Augenblick glaubte sie sogar daran, dass es gut so war. „Man hat dich mit Schmerzmitteln vollgepumpt. Doch besser wären noch Psychopharmaka“, bemerkte diese gefühlskalte Stimme in ihr. Eine Stimme, die ebenso hässlich war wie die des Mannes, der ihr in dieser Nacht allen Stolz und alle Würde genommen hatte. Seine Drohungen, als er sich an ihr verging, hatten all ihren Willen und Mut auf ewig zerstört. »Wenn du nun nicht begriffen hast, was man von dir erwartet, werden wir uns das nächste Mal deine kleine Hannah vornehmen. Sieben ist sie, stimmt’s? Die kann noch einiges vom lieben Onkel hier lernen.« Oh Gott, warum war sie nicht gegangen, als es noch nicht zu spät war?

***

Die Sonne brannte mit all ihrer gleißenden Macht vom Himmel, als Tobias die Klinik verließ. Dennoch gelang es ihr nicht annähernd, die Eiseskälte in ihm zum Schmelzen zu bringen. Herr im Himmel, wie sehr verabscheute er nur ihren störrischen Dickkopf, fluchte er im Stillen. Wie oft sollte er sich noch von ihr so herunterputzen lassen? Erbärmlicher Versager, hallten ihre Abschiedsworte in ihm unentwegt nach. Das war einmal zu viel, und doch war gerade das die treibende Kraft, seinen Entschluss in die Tat umzusetzen. Händler würde dafür zahlen, dass er ihre Liebe und eine gemeinsame Zukunft zerstört hatte.

Er war in Christins Wohnung gegangen, die bei Tage noch katastrophaler aussah, und hatte Toilettenartikel und etwas Wäsche zusammengesucht. Bevor er jedoch zu ihr ins Krankenhaus zurückkehrte, gab es etwas Wichtiges zu erledigen.

***

»Tobi?« Kriminaloberkommissar Tarek Schlüter blickte verwundert auf den Besucher, der mit einem Kollegen zusammen plötzlich in der Tür stand. »Welch seltener Besuch.«

»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen?«

»Quatsch! Komm setz dich.« Tarek deutete auf den Platz vor seinem Schreibtisch, während ihm sein sechster Sinn sagte, dass sein Freund nicht aus freien Stücken kam. Ein Blick zum Kollegen. »Mirko, magst du nicht zum Frühstück gehen?«

Der Angesprochene blickte kurz auf, verstand und erhob sich.

Tobias war seinem Freund dankbar, dass dieser ihm unaufgefordert ein Höchstmaß an Intimität ermöglichte.

»Du kommst bestimmt nicht vorbei, um mit mir über das nächste Klassentreffen zu sprechen, oder?«

»Das nicht.« Tobias schickte einen Seufzer hinterher. »Es ist eher etwas … Privates.«

»Lass mich raten. Probleme mit deiner Christin. Was hat sie mitgehen lassen?«

Tobias’ Stolz erhielt einen weiteren herben Dämpfer. War es nicht gerade das, was Christin ihm mehr als einmal prophezeit hatte? Sie war eine Frau mit Vergangenheit und wurde allemal nur wegen ihm geduldet. Selbst von den besten Freunden. Tarek und alle anderen würden es akzeptieren müssen; oder sich von ihnen abwenden. Diese Erkenntnis ließ ihn endlich sein Rückgrat durchdrücken. »Nichts hat sie mitgehen lassen. Im Gegenteil, sie wurde heute Nacht zu Haus überfallen. Ihre Wohnung ist von oben bis unten durchwühlt.«

Das Lächeln gefror auf Tareks Lippen. »Wie geht es ihr? Hat sie schon Anzeige erstattet?«

»Sie ist … ein wenig durcheinander. Außerdem soll sie die nächsten Tage über im Krankenhaus bleiben.«

»Und was kann ich nun für euch tun?«

»Die Anzeige, darum wollte ich dich bitten. Ich denke, es fällt ihr leichter, wenn es jemand aufnimmt, den sie kennt und dem sie vertraut.«

»Das hat sie so gesagt?« Die Skepsis in Tareks Stimme war unüberhörbar. »Sei ehrlich, Alter. Sie hat dir etwas gehustet, als du ihr den Vorschlag gemacht hast.«

Tobias erstickte beinahe an den Worten, als er Tareks Verdacht bestätigen musste. Auch hier schien er, wie bereits bei Christin, gegen eine Wand zu laufen. »Das ändert doch nichts daran, dass man sie überfallen und vergewaltigt hat. Das ist eine Straftat!«

»Die wir auch umgehend verfolgen werden, wenn es denn zur Anzeige kommt.« Tarek sah den Freund förmlich in sich zusammensinken. Es trat genau das ein, was er und andere schon immer befürchtet hatten. Doch Tobias war dieser Frau längst rettungslos verfallen. »Okay, dann erzähle mir, wie es passiert ist. Vielleicht finden wir ja einen Weg, wie wir dir helfen können.«

Dir, hinterfragte Tobias stumm die Bereitschaft seines Freundes. Verdammt, es ging doch wohl vorrangig um Christin. Und um Gerechtigkeit! Sichtlich ernüchtert berichtete er Tarek von dem Wenigen, was er wusste und erfahren hatte.

Tarek Schlüter ließ den Freund ausreden. Was Tobias zu berichten wusste, war herzlich wenig und würde zudem kaum ausreichen, die Täter zu ermitteln. Selbst wenn diese Frau sich zu einer Anzeige überreden ließ. Was eindeutig in den Sternen stand, denn diese Dame besaß eine Akte, von der Tobi bestimmt nicht einmal etwas ahnte. Armer Kerl. Schon wieder so ein Weibsbild, das ihn nur ausnutzte und nach Strich und Faden belog und betrog.

Tobias hatte derweil seine Ausführungen beendet und sah ihn wie ein Hundewelpe an. Es tat Tarek in der Seele weh, aber da musste er durch. »Weiß sie, wer sie überfallen hat?«

Schulterzucken. »Es gibt da jemanden … ihr ehemaliger „Sponsor“.« Tobias schluckte schwer, als ihm bewusst wurde, dass er bereits in ihrem Jargon sprach. »Er ist nicht der Typ, der sich selbst die Finger schmutzig macht. Aber er hat die Macht, andere für sich einzuspannen.«

»Namen?«

»Nils-Ole Händler.«

Tarek sah den Freund mit offenem Mund an. »Etwa DER Händler?« Er registrierte Tobias’ Nicken. »Scheiße, Mann. Ich hoffe, du kannst das wirklich beweisen? Ansonsten kann ich dir nur den weisen Rat geben, es wie deine kluge Freundin zu halten und zu schweigen.«

»Du willst mir nicht helfen?«

»Ich bin kein Selbstmörder. Wenn du stichhaltige Beweise hast oder sie eine glaubwürdige Aussage macht – jederzeit. Ansonsten …« Er hob die Schultern.

»Tarek, Mann! Ein stures Geschöpf reicht mir, da musst du nicht in dieselbe Kerbe schlagen.«

»Sorry Alter, mehr ist derzeit nicht drin. Was ich tun kann, ist, mit dir zu ihrem Haus zu fahren. Wenn wir Einbruchspuren an der Haustür finden, ist es etwas anderes.«

Tarek blieb hart. Er meldete sich bei seinen Kollegen ab und fuhr mit dem Freund in die Waldtorgasse. Wie befürchtet befand sich die Tür im ordnungsgemäßen Zustand. Er hatte sich sogar von Tobias den Schlüssel geben lassen und die Schließmechanik überprüft. Keine Spur von Manipulation. Tobias’ Einladung einzutreten lehnte er jedoch vehement ab. Stattdessen ein letztes freundschaftliches Angebot. »Ich komme mit dir ins Krankenhaus und werde ihre Aussage und die Anzeige aufnehmen.«

Doch Tobias winkte resigniert ab. Ja, er wollte nicht einmal mehr, dass Tarek ihn mit zurücknahm, um seinen Wagen zu holen. Hätte er zu diesem Zeitpunkt die Hausfront hinaufgeschaut, hätte das Schicksal vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen. Aber das tat er nicht.

Die Frau, zwei Stockwerke über ihm, nahm von ihrer Umwelt und dem, was unter ihr geschah, wenig wahr. Es war ohnehin schwer genug, sich auf diese SMS zu konzentrieren, die sie zu schreiben hatte. Die Buchstaben tanzten wie wild auf und ab. Und doch war es wichtig, diese eine Botschaft zu senden.

Du hast es geschafft. Ich werde gehen. Doch sei dir über eines im Klaren. Schadest du den Menschen, die ich liebe, werde ich dich für immer vernichten.

Christin drückte auf Senden und schaltete ihr Handy ab.

***

Als Tobias ins Krankenhaus zurückkehrte, hatte er sich langsam unter Kontrolle. Letztendlich hatte er einsehen müssen, dass es nichts brachte, den Kampf gegen Windmühlen aufzunehmen, wenn es Christin ablehnte. Mit einem wunderschönen Strauß cremefarbener Rosen und der Tasche mit ihrer Kleidung stand er vor dem Schwesternzimmer und sah in ein Paar reizende, aber fragende Augen.

»Hallo, zu wem möchten Sie denn?«

»Zu Frau Thorstraten. Sie ist heute Morgen bei Ihnen untergekommen.«

Das Lächeln der Schwester wandelte sich in Überraschung. »Die ist doch gar nicht mehr bei uns.« Um sicher zu sein, rief sie eine Seite in ihrem Rechner auf. »Ja. Kurz nachdem wir sie aufgenommen haben, hat sie sich selbst entlassen. Auf eigenem Wunsch und gegen unseren ausdrücklichen Rat.«

»Selbst entlassen?«, echote Tobias fassungslos und hatte das Gefühl, dass ihm das Schicksal ein weiteres Mal den Teppich unter den Füßen fortzog.

»Ja, sie meinte, dass ein paar Schmerztabletten ausreichen würden. Wie ich bereits sagte, gegen unseren Rat.«

Tobias sah verwirrt auf den Blumenstrauß in seiner Hand. Ein untrügliches Gefühl sagte ihm, dass die eigentliche Empfängerin ihn nie in Händen halten würde. Er drückte das Bukett der völlig überraschten Frau in die Hand und wandte sich mit einem leisen »Danke« ab.

Sein Weg würde ihn in ihr Haus führen. Was dann kam, stand in den Sternen. Außer dass seine Wut über Christins Handeln allmählich die Oberhand gewann, relativierte er seine Gefühle. Er wusste nur eines. So wie es jetzt war, würde er mit ihr keine gemeinsame Zukunft finden; so sehr er auch glaubte, sie zu lieben.

»Christin?« Das Innere des Hauses atmete die Stille, die sich ihm in den Weg stellte. Jeder Raum, in den er hineinschaute, ließ seine Befürchtungen immer mehr zur Gewissheit werden. Bis er sich im oberen Stockwerk der Tatsache stellen musste. Christin war fort. Die Unordnung hatte sich nur wenig verändert. Doch die Dinge, die Kleidung, die man selbst bei einem überhasteten Aufbruch benötigte, waren fort. Seine zitternden Finger nestelten das Handy hervor und betätigten die Kurzwahl. Ihre Mailbox verkündete mechanisch, dass er seinen Namen und eine Nachricht hinterlassen könne. Er bat mit zitternder Stimme darum, dass sie ihn zurückrief, um danach wie ausgebrannt auf dem Bett niederzusinken. Dem Bett, auf dem Christin Stunden zuvor so Schreckliches hatte erleiden müssen. Zusammenhanglose Gedanken und Erinnerungen mit allem Wenn und Aber. Die einzige Gewissheit war, dass seine Zeitrechnung ab jetzt „nach Christin“ lauten würde.

Irgendwann registrierte sein Unterbewusstsein das Vibrieren in seiner Hand. »Christin, bist du es?«

Stocken, Irritation. »Nein, Jutta hier. Junge, wo bist du? Ist wieder etwas passiert?«

Tobias berichtete ihr mit knappen Worten, was geschehen war.

»Bleib bei ihr. Ich bringe Hannah irgendwo unter und komme umgehend.«

Jutta hielt Wort. Der unendlichen Geschichte nächster Akt, dachte sie zynisch, als sie ihren Schwiegersohn in den Arm nahm. Wenn ihr Gefühl ihr auch sagte, dass Christin diesmal nicht aus freien Stücken gegangen war. Egal, jetzt musste sie erst einmal den Jungen zum Reden bringen. Was er zum Glück auch tat.

Es überraschte sie nicht wirklich, was Tobias ihr stockend berichtete. Insgeheim war sie dafür dankbar, dass sie Sinas Tagebücher weiterhin ausgewertet hatte. Nils-Ole Händler, wieder einmal! Doch jetzt hatte er das letzte Mal triumphiert. Als sie sich ihrer Umgebung wieder gewahr wurde, ruhten Tobias’ gerötete Augen auf ihrer Wenigkeit. »Verzweifle nicht, sie wird schon bald zurückkehren.«

»Du glaubst wirklich, dass sie zurückkehrt?« Er brachte einen kraftlosen Lacher zustande.

»Ja! Sie ist eine starke Frau. Und sie weiß, dass es hier Menschen gibt, die sie bedingungslos lieben. Du sollst sehen, sie verkriecht sich für ein Weilchen, leckt sich ihre Wunden und kehrt doppelt so stark zurück.« Jutta erhob sich und schickte sich an, erste Ordnung zu schaffen.

»Lass es gut sein.« Tobias hielt sie sanft davon ab, noch mehr Wirbel zu verbreiten. »Du hast sicher recht, Tini wird zurückkehren. Aber nun wäre ich dir dankbar, wenn du Hannah abholst und mich hier allein lässt. Ich werde hier selber Ordnung schaffen. Das wird mich ein wenig ablenken.«

Tobias und Ordnung? Jutta behielt ihre Meinung für sich und begriff, dass es ihm am ehesten über diese Trennung hinweg half, wenn sie ihn jetzt allein ließ. »Mach aber bitte keinen Blödsinn und überlasse alles der Polizei.«

»Klar, die werden das schon machen.« Er lächelte matt und begleitete sie hinunter. »Ich verspreche dir, ich bleibe artig.«

Die schreckliche Stille hatte ihn schnell eingeholt und umfangen. Sie ließ ihn erneut hinabtauchen in die Erlebnisse der letzten Stunden, während er roboterhaft damit begann, die Bettwäsche zu wechseln und ihre verstreute Kleidung zusammenzulegen. Wenn Christin zurückkehrte, sollte sie nicht gleich an alles erinnert werden. Wer nur hatte einen Grund, ihr so etwas anzutun? Die Fragen in ihm wollten nicht verstummen. Was verschwieg sie ihm? Warum gab es an der Tür keine Einbruchspuren? Wer besaß außer ihm einen Schlüssel? Christin war nicht der Typ, der andere gern in ihr Leben ließ. Händler! Ihm wurde übel, als er an diesen Menschen dachte und das, was ihn und Christin verband. War Händler wirklich so krankhaft eifersüchtig und zu allem fähig? Er, der im Rampenlicht stand. Auch wenn er ein Verhältnis mit Christin hatte, würde er sich doch nicht so weit aus dem Fenster lehnen und Rache üben. Fragen über Fragen, ohne eine plausible Antwort.

Irgendwann gab es nichts mehr aufzuräumen. Alles war, als wäre nichts geschehen. Als würde sie wie gewöhnlich heimkehren und sich darüber freuen, dass sie den ganzen Abend füreinander Zeit hätten. Der Gedanke tat ihm gut und doch wusste er, dass alles nur ein Traum blieb. Sie würde nicht wiederkommen. Ihr Handy. Noch immer tot. Was konnte eindeutiger sein, dass sie sich dafür entschieden hatte, alles hinter sich zu lassen. Tobias sah sich um und biss die Zähne zusammen. Er würde morgen zurückkehren und unten Ordnung schaffen … Und erneut vergebens auf ihre Rückkehr hoffen. Seine Augen blieben an dem schmalen Regal hängen. Die wenigen Bücher, die dort standen, waren erneut umgefallen und hatten die Bilder verschoben, die Hannah ihrer großen Freundin gemalt hatte. Hannah, was sollte er ihr nur sagen? Diese Frage wurde nebensächlich, als ihm das Buch mit dem schönen, aber titellosen Einband in die Hände fiel. Christins Handschrift sprang ihm sofort in die Augen. Ein Tagebuch? Er schloss es verzagt, während seine Gedanken zu wahrer Höchstleistung aufliefen. Warum hatte sie es nicht mitgenommen? So etwas vergaß man doch nicht. Würde sie zurückkehren, um das und andere Sachen nachzuholen? Er verwarf seine Schnapsidee, sich hier so lange einzuquartieren und sie abzufangen. Nur konnte er es auch nicht einfach hierlassen. Hatten der oder die Männer vielleicht gerade dieses Tagebuch gesucht? Weil Christin etwas darin über Händler oder einen unbekannten Dritten geschrieben hatte, das diesem gefährlich wurde. War Christin durch ihre unvermutete Rückkehr dem Eindringling in die Quere gekommen? Er nahm das Buch an sich und verließ den Raum. Heim! Hannah würde bereits schlafen und Jutta auf einen lückenlosen Bericht warten … Den er ihr weiterhin vorenthalten würde.

»Du siehst schrecklich aus«, begrüßte Jutta ihn kurz darauf. Sein Blick verriet ihr auch ohne Worte, dass Christin sich nicht gemeldet hatte. Weder bei ihm, noch hier daheim. »Ich habe Hannah erst einmal erzählt, dass Christin für ein paar Wochen verreisen musste. Ich denke, das war auch in deinem Sinne.«

»Ja.« Er nickte müde und hoffte nichts sehnlicher, als dass Jutta seine Gedanken nun nicht las. Wie würde Hannah es überhaupt aufnehmen? Erst die Mutter verlieren und nun auch noch den Menschen, der ein wahrer Ersatz für sie geworden war. Und wie würde Christin – wohin sie auch ging – damit fertig werden? Dass ihre Liebe zu Hannah nicht gespielt war, hatte er so manches Mal mit einer Spur Eifersucht bemerken dürfen. Er sah auf das Buch in seiner Hand. Noch immer rieten ihm Gefühl und Anstand, Christins ureigenste Worte und Gefühle allein ihrer Schreiberin zu lassen. Andererseits gab es keine Gründe mehr, Rücksicht zu nehmen. Zu vieles war passiert, das von außen zu ihnen hineingetragen wurde. Zu viel lag im Argen. Wenn dort wirklich etwas über ihre Beweggründe oder Händlers Untaten stand, musste er es wissen. Dieser Mann würde nicht aufgeben und sie weiter verfolgen. Er musste es lesen. Allein um sie und womöglich auch sich und seine Familie zu schützen.

Tobias räusperte sich und erwiderte Juttas fragende Blicke mit einem wenig geglückten Lächeln. »Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich Hannah Gute Nacht sagen und dann selbst auf mein Zimmer verschwinden.«

Jutta konnte ihn gut verstehen und doch befürchtete sie, dass der Junge irgendwelche Dummheiten plante. Zumindest war sie sich sicher, dass er ihr nicht alles erzählt hatte.

»Hallo Papa. Weißt du schon, dass Christin ganz schnell verreisen musste?«

»Ja, mein Schatz. Das ging alles so schnell heute Morgen. Du warst in der Schule und sie konnte nicht mehr warten. Aber ich soll dir ausrichten, dass sie dich furchtbar lieb hat und immer an dich denkt.« Tobias spürte, dass seine Worte keine Lüge waren. Dafür musste er nicht ins Tagebuch schauen.

»Und wann kommt sie wieder? Ich vermisse sie nämlich jetzt schon so sehr.«

»Ich auch, aber für Mama war es sehr wichtig.« Tobias schluckte den Kloß im Hals herunter. Er breitete die Decke über Hannahs Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Danach schlich er sich auf sein eigenes Zimmer, das ihm mit einem Male so unendlich leer vorkam. Ihr Parfum lag noch immer wie ein leises Versprechen in der Luft. Seufzend setzte er sich ans Fenster und ließ den Blick über ihren verwaisten Balkon gleiten. Wer würde nun die Blumen dort gießen?

Die kleine Lampe an seiner Seite verbreitete gerade einmal so viel Licht, dass er die Zeilen lesen konnte. Schon oft hatte er ihre feine, saubere Handschrift bewundert. Nun erzählte sie ihm eine Geschichte, wie er sie sich nicht im Traum hatte vorstellen können. Vor ihm erschien das Bild einer Frau, die so ganz anders war als die, die er glaubte kennengelernt zu haben. Auch wenn gleich die ersten Zeilen, die er las, die weitere Hoffnung auf ein Wiedersehen zerstörten.

Nun sitze ich hier vor den leeren Seiten eines eigentlich schönen Buches. Viel zu schade, wenn man bedenkt, dass es irgendwann – in vielleicht nicht einmal allzu langer Zeit – den Weg seiner Vorgänger geht. Schade um den schönen Einband. Aber ganz bestimmt brennt es besser als das letzte.

Er las die ersten Zeilen ein weiteres Mal und zur Sicherheit auch ein drittes Mal. Christin führte Tagebücher und verbrannte sie? Immer wenn eine gefühlte Epoche für sie beendet war. So wie jetzt? Wieso? Warum? All die Antworten, die er darauf fand, waren nicht die, die man sich für einen geliebten Menschen oder für sich wünschte. Der Gedanke, dass sie ihr Tagebuch vielleicht nicht einmal vermisste, wirkte wie schleichendes Gift. Und doch rang Tobias sich dazu durch, weiterzulesen. Seite um Seite. Tag für Tag. Auf der Suche nach Beweisen gegen den amtierenden Bürgermeister, um ihm endlich das Handwerk zu legen. All seine kleinen Betrügereien. Wie er seiner Kurtisane – als die sie sich selbst bezeichnete – auf Kosten der Stadt und dieser Stiftung eine Wohnung einrichtete; damit er sein Verhältnis in „greifbarer Nähe“ hatte. Als Bagatellen würde man es abtun, ahnte Tobias wenig ermutigt. Viel mehr hatte er selbst daran zu schlucken, in diesen Zeilen eine Frau vorzufinden, die geringschätzig auf alles herabsah und dabei gefühllos wie eine Kreissäge war. Die Zeilen einer Frau, die einzig und allein darauf fixiert war, ihr Schäflein ins Trockene zu bringen. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber Händlers Familie und wie egal es ihr war, wenn diese dadurch in die Brüche ging. Die Gehässigkeit einer Frau, die offen und ehrlich darüber schrieb, was wichtig war. Geld und ein sorgenfreies Leben! Es gab nichts zu beschönigen, musste Tobias sich angewidert eingestehen. Sie war einfach nur das, was sie war. Eine Edelhure, die es sich leisten konnte, menschliche Gefühle mit Füßen zu treten.

Etwas änderte sich in ihrem Stil, als sie eines Tages von einem jungen Mann über den Haufen gerannt wurde. Was für ein Schnösel! Auch wenn ihr – wie sie mit einem spürbaren Zähneknirschen schrieb – seine so intensiv grünen Augen nicht mehr aus dem Sinn gingen. Ihr gerechter Zorn über diesen jungen Mann nahm in den folgenden Tagen immer mehr Platz in ihren Zeilen ein. Wenn auch nicht immer rühmlich für ihn. Die herablassende Art, mit der dieser Herder sie behandelte. Affig, hochnäsig, Paranoiker waren weitere, oft und gern gewählte Floskeln. Dabei hatte er eine so liebenswerte Tochter, wie sie irgendwann mit Schrecken feststellte. Hatte sie doch insgeheim gehofft, er sei nur der missratene große Bruder. Tobias spürte ihrem Schmerz nach, als er ihr jeglichen Kontakt mit Hannah und Jutta verbot. In der Folge ihr trotziges Aufbegehren gegen seine Verbote. Im Nachhinein tat es ihm unendlich leid, dass er ihre kühle Distanziertheit als Ablehnung und Spott interpretiert hatte. Dabei wollte sie ihn nur herausfordern; wollte sehen, ob er es wert war, dass sie ihr Herz an ihn verlor. So wie Hannah ihres im Sturm erobert hatte. Sie schrieb so herzerwärmend über ihre Gefühle, die in ihr erwachten, wenn die Kleine sie wieder, fusselig und quirlig wie sie war, Mama nannte. Wie heftig die „gefühlskalte Kodderschnauze“ – als die er sie bezeichnete – von ihrem kleinen Mädchen schwärmte. Ihre Freude, wenn wildfremde Menschen bemerkten, wie sehr sich doch „Mutter und Tochter“ ähnelten.

Der Stil ihrer Worte änderte sich erneut. Unmerklich, aber seit dem Tag im Freizeitpark war er nicht mehr trotzig. Der erste wahre Kuss und ihr Erschrecken darüber, dass alles nicht mehr nur ein Spiel mit dem Feuer war. Wie sehr sie gegen ihre eigenen Gefühle handelte, als sie vor ihm behauptete, dass sie einem anderen Mann gehöre. Hinzu kam das Dilemma, zu erkennen, dass sie für einen Mann wie Tobias mit ihrer Vergangenheit niemals die passende Partnerin wäre. Überhaupt sprangen ihn aus jeder Zeile ihre Befürchtungen an, dass er ihre Vergangenheit nie und nimmer würde akzeptieren können.

Wenn du wüsstest, dachte Tobias während dieser Zeilen mehr als einmal trotzig, damit würde er fertigwerden. Ihre jetzige Kurzschlusshandlung zu akzeptieren, war dagegen bedeutend schwieriger zu bewerkstelligen.

Kopfschüttelnd vertiefte er sich in die folgenden Zeilen. Erst im Nachhinein erkannte er für sich, dass es besser gewesen wäre, wenn er an dieser Stelle nicht weitergelesen hätte. Die folgenden Zeilen veränderten alles. Sein Bild von Christin und die Sicht auf alles, wofür er bislang geglaubt hatte zu kämpfen.

… Wenn ich Hannah so sehe und erkenne, wie glücklich ich mit ihr und ihrer Familie bin, kommen immer wieder die schlimmen Erinnerungen in mir hoch. Sie konfrontieren mich mit einer Wahrheit, vor der ich mich immer weniger verschließen kann. Was wäre aus mir geworden, wenn ich damals den Mut gefunden hätte, meinen Sohn bei mir zu behalten? Wie konnte ich mir nur anmaßen, mich gegen mein Kind zu entscheiden und andere Menschen mit meinem Versagen zu belasten? Wie konnte ich ihn so einfach fortgeben – entsorgen? Ohne Namen, ohne die Liebe einer Mutter, die ich mir selbst versagte. Wie scheinheilig war es zu sagen, dass er es anderswo besser haben würde. Ich bin von Lübeck aus um die ganze Welt geflüchtet, doch dieses schreckliche Gewissen, mein Versagen holt mich auf immer und ewig wieder ein. Wie kann ich mir herausnehmen, noch einmal ein Kind mein eigen zu nennen!

Es heißt immer, die Zeit heilt alle Wunden. So ist es nicht! Erst recht nicht, seitdem ich Hannah kenne. Nein, der Schmerz ist genauso schlimm … oder noch viel schlimmer als vor drei … nein, im Dezember werden es nun schon vier Jahre.

Tobias ließ das Buch sinken und schloss erschüttert die Augen. Die Erkenntnis war ungeheuerlich. Christin hatte ein Kind zur Welt gebracht und es fortgegeben. In ihm kämpften zwei Herzen miteinander. Das kalte und enttäuschte klatschte vor Wonne in die Hände. „Natürlich! Es passte zu dieser kalten, unbarmherzigen Nutte, auf die man sie letztlich herunterrechnen konnte. Du siehst ja, wie sie dich behandelt und ausgebootet hat.“ Das gute, liebevolle erkannte dagegen immer deutlicher, in welche Situation Christin geraten war, als sie ihre Zuneigung zu ihnen fand. Die Erkenntnis, dass sie nicht der kaltherzige Mensch war, für den sie sich immer auszugeben suchte, ließ seinen Körper erbeben.

Seine Gedanken zerfaserten und verwoben sich zu einem Albtraum, der ihn irgendwann schweißgebadet in die Realität zurückschleuderte. Er fand sich in seinem Sessel wieder. Ein erster klarer Gedanke. Alles war erneut präsent. Christin hatte ein Kind.

Er erhob sich; ein steinalter Mann. Als dieser begann er sich gebrechlich auszuziehen. Eine Dusche! Vielleicht erfrischte sie nicht nur, sondern brachte ihn dazu, einen Weg zu finden, wie alles weitergehen sollte. Ersteres tat das Wasser vorzüglich. Er stellte die Temperatur auf ein gerade noch erträgliches Maß ein und ergab sich seinen Gefühlen. Hier, genau hier unter dem Wasserfall hatten sie sich bis zur Selbstaufgabe geliebt. Die glücklichen Tage danach. Sie hatte begonnen ihm zu vertrauen, sprach – zumindest ansatzweise – von ihrer Vergangenheit. So viel wie er, ihrer Meinung nach, vertragen konnte, um nicht schreiend das Weite zu suchen. Er war sich sicher, dass es genau so zutraf. Christin wusste, wie sehr er mit der Wahrheit zu kämpfen hatte, hätte sie sie ihm auf einmal offenbart. Erst Sinas Handeln und nun ihre Vergangenheit. Sie musste so handeln, wollte sie ihn davon überzeugen, dass sie es trotz allem wert gewesen wäre, sie zu lieben. Und das tat er. Christin und keine andere würde er jemals so lieben. Selbst der Gedanke an Sina verblasste im Scheine seiner Erleuchtung.

Der neue Tag zog bereits herauf, als Tobias sich erneut ans Fenster setzte. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Er durfte lesen, wie Christin von den schönen Erlebnissen schrieb, die sie mit ihrer „Familie“ hatte. Ihr kurzer Urlaub und Hannahs Angewohnheit – der Einfachheit halber, wie die Kleine bestimmte – sie Mama zu nennen. Hannahs Einschulung, wo andere Mütter sie verächtlich schnitten oder im günstigsten Falle Desinteresse zeigten. Sie konnte darüber lächelnd hinweggehen, denn ein einziges Lächeln ihres Tobias reichte aus, um ihr jeden Mut zurückzugeben.

Warum nur war ihr dieses Gefühl abhandengekommen? Er kniff die Augen zusammen und lauschte dem verdächtigen Knarren auf der Treppe. Jutta begann ihren Tag. Tiefe Liebe durchströmte ihn bei dem Gedanken, was sie für sie alle bedeutete. Und er begriff, dass auch Jutta litt. Christin und sie hatten sich so sehr verstanden. Für Jutta war es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass sie die Verantwortung für „ihre Familie“ gern in jüngere Hände gegeben hätte. Und nun? Tobias brachte es nicht übers Herz, seiner Schwiegermutter reinen Wein einzuschenken. Jedenfalls jetzt noch nicht. Er nahm seine Lektüre erneut auf.

… Nils-Ole gibt keine Ruhe. Auf was habe ich mich damals nur mit ihm eingelassen. Wie soll ich mich seiner Drohungen erwehren? Das, was ich über seine Betrügereien und dunklen Geschäfte weiß, wird mir niemand glauben. Wer glaubt schon einer Hure. An allen Ecken und Enden spüre ich, wie er gegen mich arbeitet. Das wäre nicht so schlimm, aber er droht mir unverhohlen damit, dass er nicht nur Tobias fertigmachen will, sondern dass auch Hannah und Jutta etwas zustoßen könne. TobiasFrau, dieses willige, kleine und undankbare Luder, wie er höhnisch tönte, hätte damals auch einen schrecklichen Unfall gehabt. Es wäre wirklich schlimm, wenn ein weiteres Unglück geschehe. Er macht mir solche Angst … Und jeder will nur den großen Wohltäter in ihm sehen. Hinzu kommt, dass Tobias in letzter Zeit manchmal so besitzergreifend ist. Natürlich rede ich mir in ruhigen Augenblicken ein, dass er mich auf seine Art liebt. Dass er nur meine Ängste spürt und mich beschützen will. Aber seine Fürsorge engt mich immer mehr ein. Ich will es nicht! Es nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich kenne so was nicht. Bislang habe ich mein Leben lang für mich selbst einstehen und kämpfen müssen. Ich habe solche Angst. Gott, warum gibst du mir nicht die Kraft und die Zuversicht, dass alles gut werden wird …

Erschüttert schloss Tobias das Buch, das mitten im Satz endete.

„Es nimmt mir die Luft zum Atmen“, hallte es in ihm nach. Oh, wie recht sie hatte, ging er hart mit sich ins Gericht. Christin war kein Püppchen. Je mehr sie sich vor ihm zurückgezogen hatte, umso mehr hatte er geklammert und mit Hilflosigkeit reagiert.

Es klopfte.

»Tobias?« Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit betrat Jutta unaufgefordert sein Zimmer. »Wie geht es dir? Konntest du überhaupt schlafen?«

»Ein wenig.« Er empfing ihre ehrliche Besorgnis. »Und du?«

»Kaum. Ich habe mich fortwährend fragen müssen, wo Christin sein mag und ob es ihr gut geht. Ich mache mir solche Sorgen um sie.«

»Ihr geht es besser, als wenn sie hiergeblieben wäre.« Er versuchte ein zuversichtliches Lächeln auf seine Lippen zu zaubern. »Das fühle ich.«

Jutta wirkte unschlüssig. »Wie wird es weitergehen?«

»Irgendwie geht es wohl immer weiter.« Er hob die Schultern und suchte nach dem Feuer in sich, das doch schon so hoch gelodert hatte. »Es wird nicht einfach werden, sie davon zu überzeugen, dass uns ihre Vergangenheit scheißegal ist und sie hierher gehört. Ich werde jedenfalls nicht kampflos aufgeben. Vor allem werde ich Nils-Ole Händler davon überzeugen, dass er uns ein für alle Male in Ruhe lässt.«

Jutta richtete sich auf und sagte mit eiskalter Stimme, die keinen Widerspruch duldete: »Händler wirst du ganz allein mir überlassen.«

»Nein, Jutta! Du wirst dich bei diesem Mann nicht in die Schusslinie bringen. Dieser Kerl ist gefährlich. Er hat Christin gedroht und das mit Erfolg. Mehr kann und will ich dazu nicht sagen.«

»Jetzt sage ich Nein. Ich kenne Nils-Ole von damals. Und nun ist es an der Zeit, dass wir miteinander Bilanz ziehen. Darüber werden wir nicht diskutieren. Das ist ganz allein eine Sache zwischen ihm und mir«, kam es kompromisslos. » Sieh du zu, dass Christin heimkehrt.«

Entgegen ihren Befürchtungen nickt er nur stumm. Ein Beleg dafür, wie sehr ihm Christins Verschwinden zu Herzen ging. Das war nicht nur die Enttäuschung, dass ihn eine weitere Frau vermeintlich hintergangen und betrogen hatte. Da war mehr – weitaus mehr! Aber das würde er mit sich selbst abmachen müssen. Ihr Blick blieb auf dem Buch ruhen, das neben ihm auf dem Tisch lag. Ein Tagebuch? Christins? Nun, sie besaß andere Tagebücher. Bücher, bei denen es an der Zeit war, dass sie endlich den richtigen Leuten bekannt wurden.

»Ich werde Hannah zur Schule bringen und dann nach Frankfurt fahren«, entschied sie und fügte energisch hinzu. »Und wehe, du verkriechst dich hier den ganzen Tag.«

Er lachte humorlos. »Ich habe genug Beschäftigung. Das Chaos in Christins Wohnung muss beseitigt werden. Vielleicht findet sich ja eine Spur, wohin sie sich abgesetzt hat.«

»Du weißt wirklich nicht, wo sie ist? Hat sie denn keinen Brief hinterlassen?«

Kopfschütteln. »Sie ging, wie sie gekommen ist. Aus dem Nichts und dorthin zurück. Wie weiße Feen das so machen.«

Die stummen Tränen, die ihm die Wangen herabliefen, erschütterten Jutta zutiefst. Ein einziges Mal hatte sie Tobias so erlebt. Nur war die Frau, um die er diesmal trauerte, nicht tot. »Alles wird gut werden. Ich spüre es ganz deutlich. Christin und du, ihr kommt zusammen. Und Hannah wird endlich eine richtige Mutter haben.«

Er nickte stumm und unterdrückte das ungläubige Lachen, das sich ihm hinaufwürgte. In einem hatte Jutta jedoch recht. Er kam nicht voran, wenn er hier sitzen blieb und sich weiter in Trauer suhlte.

***

Die Stille in Christins Wohnung war niederschmetternd. Zumindest sah es nicht danach aus, als wären die ungebetenen Besucher ein weiteres Mal hier gewesen. Das Chaos, das sie angerichtet hatten, wäre eh kaum zu vergrößern gewesen.

Das weitere Aufräumen hielt ihn für eine geraume Zeit beschäftigt. Nur ein Hinweis, wohin Christin gegangen war, ließ sich partout nicht finden. Die Orte ihrer Kindheit und Jugend waren für sie tabu. Auch in ihrem Tagebuch hatte sie nirgends von einem Ort geschrieben, der sie inspirierte oder der ihr gar Sicherheit versprach. War es denn wirklich so, dass er trotz ihrer kurzen, aber heftigen Beziehung so wenig von ihr wusste? Es war erschreckend. Er tauchte tiefer hinab, in eine schöne Zeit. Wenn sie denn etwas von sich preisgegeben hatte, dann spielte Frankfurt eine Rolle. War sie dorthin zurückgekehrt? Unmöglich, dort einen Menschen zu finden, der nicht gefunden werden wollte. Tarek kam ihm in den Sinn. Doch so, wie sich der Freund gegeben hatte? Vor allem … Der nächste Gedanke ernüchterte ihn auf einen Schlag. Wie sollte er Christin selbst gegenübertreten? Jetzt, mit der ernüchternden Gewissheit aus ihrem Tagebuch. Sie war weiß Gott nicht der liebende Engel, zu dem er sie in seiner Verliebtheit stilisiert hatte. Er hatte vielleicht ihr Herz berührt – wenn er ihr denn glauben durfte –, aber Liebe? Hätte sie ihn geliebt, dann hätte sie sich ihm anvertraut und wäre nicht geflüchtet. Ja, Hannah, die liebte sie wirklich. Oder war das auch nur ihr schlechtes Gewissen? In ihm blitzte ein Gedanke auf, der so verrückt und hartnäckig war, dass ihm die Beine zu zittern begannen und er sich setzen musste. Es war so irre, so aussichtslos an sich, dass es gelingen konnte. Er beließ das Chaos in seinem Zustand und machte sich auf den Heimweg.

Daheim angekommen fuhr er seinen Rechner hoch und rief eine Suchmaschine auf. Jugendamt Lübeck. Schritt für Schritt arbeitete er sich mit Telefon und Rechner voran. Er wusste letztlich nicht mehr zu sagen, mit wie vielen Leuten er telefonierte, bis man ihn mit der offensichtlich richtigen Person verband, die sich ihm als Frau Wullenweber vorstellte. Ihre Stimme klang wider Erwarten freundlich, jung und irgendwie „unverbraucht“.

Tobias stellte sich ein weiteres Mal vor und flehte mit Inbrunst. »Bitte legen Sie nicht gleich auf, wenn ich mit meinem sicher ungewöhnlichen Anliegen über Sie herfalle.«

»Bislang bin ich noch nicht schockiert.« Ein herzliches Lachen. »Wobei kann ich denn behilflich sein?«

»Es ist eine lange Geschichte«, setzte Tobias unsicher an. »Für ein glückliches Ende wäre es natürlich am besten, wenn ich Ihnen meine Situation persönlich darlegen könnte. Aber ich denke, Sie haben auch so genug zu tun, oder?« Herrgott, so fusselig war er schon lang nicht mehr gewesen.

»Die Arbeit wird nicht weniger. Aber wenn ich irgendwie helfen kann, bin ich die Letzte, die Nein sagt.«

Tobias atmete tief durch, dass es bis an die Ostsee hin zu hören sein musste. »Es handelt sich um einen Säugling, den man im Dezember vor dreieinhalb Jahren in einer Babyklappe in Lübeck abgelegt hat. Können Sie mir das bestätigen?«

Ein nachdenkliches Zögern, dann: »Das ist in der Tat eine Frage, die nicht alltäglich ist. Sind Sie in dieser Sache involviert, Herr Herder?«

»Insofern, dass ich die Mutter des Kindes kennen und lieben gelernt habe.« Atempause. »Ich weiß, mein Versuch, alles zu einem glücklichen Ende zu bringen, mag sich wahnwitzig anhören. Bitte verstehen Sie, ich möchte wirklich alles tun, um meiner zukünftigen Frau ihr Gewissen zu erleichtern. Oder ihr zumindest die Gewissheit geben, dass alles gut ausgegangen ist und das Kind liebevolle Eltern gefunden hat.« Ihr absolutes Schweigen nötigte ihn, sich gefühlt um Kopf und Kragen zu reden. »Sie macht sich solche Vorwürfe. Zumal ich eine siebenjährige Tochter in unsere Partnerschaft mitbringe.«

»Und nun möchte ihre Verlobte ihr Kind zurückhaben.«

»Hören Sie, sie war damals in einer Situation, dass sie ihr Kind nicht hätte selbst versorgen können. Sie selbst leidet still vor sich hin und hätte mit dem, was ich hier unternehme, ganz bestimmt ihre Probleme. Ich bin es, der nur schwer damit umgehen kann. Zu wissen, dass Christin eine so liebevolle Mutter für meine Tochter ist und ihr eigenes Kind …« Tobias schluckte schwer bei dem, was er sagte. Aber war es nicht in der Tat so? Jetzt wo er wusste, wie Christin wirklich fühlte. »Ich meine, wenn Sie mir jetzt sagen, dass es dem Kind gut geht und es zu liebevollen Eltern gekommen ist, dann ist es gut. Damit können wir wirklich leben … Glaube ich zumindest?«

»Wenn Sie bitte kurz warten. Im kommenden Dezember vor vier Jahren sagten Sie?«

»Ja«, bestätigte er knapp und starrte mit einem stummen Gebet zur Zimmerdecke.

»Hören Sie?« Ihre Stimme war plötzlich wieder da. In ihr schwang eine Belegtheit mit, die zuvor nicht da war. »In dem von Ihnen genannten Zeitraum hat es in der Tat einen Fall gegeben. Ein Frühchen. Die Mitarbeiterinnen des Agape-Hauses haben ihm den Namen Christoph gegeben.«

»Christoph«, schlich der Name leise über Tobias Lippen. »Hätten meine verstorbene Frau und ich damals einen Jungen bekommen, hätte er den Namen Christoph erhalten.«

»Herr Herder, ich habe die Akte hier vor mir liegen und … « Eine kurze, aber bedeutungsschwere Stille vom anderen Ende der Leitung. »Wir haben hier eine Situation, die mich doch ein wenig überfordert und die ich nicht allein entscheiden möchte.«

»Inwiefern?« Tobias zog das Wort in die Länge, dass man es in Stein hätte meißeln können. »Ist etwas mit dem Kind?«

»Hören Sie, ich muss mich wirklich erst mit meinen Kollegen besprechen. Aber wäre es Ihnen möglich, ich meine ganz unverbindlich, zu mir zu kommen? Möglichst mit Ihrer Verlobten.«

»Ersteres jederzeit. Aber haben Sie bitte Verständnis, wenn ich vermeiden möchte, dass sich meine Braut vergeblich Hoffnung macht.«

Frau Wullenweber schien genauso nervös wie ihr Gesprächspartner. Dennoch unterließ sie es, weitere Andeutung zu dem Kind zu machen. Stattdessen bat sie ihn, dass er sich ausweisen müsse und zumindest etwas von seiner Braut beibringen solle, das die Mutterschaft bestätigte. Um eine Verwechslung von vornherein auszuschließen.

Tobias hätte ihr sonst was versprochen; allein dass der Hauch einer Chance blieb. Er brauchte Minuten – nachdem er für übermorgen zugesagt und aufgelegt hatte –, bis er sich und seine herumpurzelnden Gedanken unter Kontrolle hatte.

»Christoph«, kam ihm der Name des Jungen ein weiteres Mal leise über die Lippen. Hätte die Wullenweber überhaupt etwas von dem Jungen gesagt, wenn das Kind eine neue Familie hatte? Das Fünkchen Hoffnung flammte in ihm auf und setzte eine ungeahnte Betriebsamkeit in ihm frei. Was konnten sie beim Jugendamt benötigen? Ausweis, Verdienstbescheinigung. Selbst die Kopie eines polizeilichen Führungszeugnisses fiel ihm in die Hände. Alles was beweisen konnte, dass es ihm ernst wäre und er finanziell in der Lage war, eine Familie zu ernähren. Familie … Was war mit Christin? War ihre Liebe zu einem Kind, das sie nie hatte kennenlernen dürfen, wirklich so stark, dass sie es annahm und seinen Alleingang guthieß? Zum ersten Mal stellte er sich die ehrliche Frage, was ihm einfiel, über ihren Kopf hinweg Entscheidungen zu treffen, die ihn im Grunde nichts angingen.

»Doch, meine Liebe«, widersprach er der imaginären Christin vor sich und nahm das Foto von Hannah und ihr in die Hand. »Du hättest mich bremsen können, wenn du hier bei mir geblieben wärst. Und du hättest mich nicht dein Tagebuch lesen lassen dürfen. Erst jetzt weiß ich nämlich, welche Frau ich wirklich liebe. Du wolltest es so. Doch nun spielen wir das Spiel nach meinen Regeln.«

***

Die Heimfahrt mit dem Zug zog sich in die Länge. Zeit genug für Jutta, die Geschehnisse der vergangenen und ganz besonders des heutigen Tages Revue passieren zu lassen. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Selbst wenn sie Nils-Ole vorab ein Ultimatum gestellt hätte, hätte sich nichts geändert. Im Gegenteil, war sie sich sicher. Hoffentlich unternahmen die bei der Staatsanwaltschaft überhaupt etwas gegen ihn, schwenkten ihre Gedanken um. Dieser junge Mann, bei dem sie schließlich heute Nachmittag gelandet war, hatte ihre Anzeige wenig begeistert aufgenommen. Da kamen Fragen und Feststellungen. Wie etwa die, warum sie ihre Klage nicht wie jeder normale Bürger bei der Polizei zur Anzeige brachte. Und warum nicht in Hanau, das eigentlich für ihren Wohnort zuständig wäre. Bei ihrer Begründung, dass der Bürgermeister Gernhausens seine Freunde und Zuträger überall habe und eine Anzeige im Sande verlaufen würde, hatte dieser Bengel nur milde gelächelt und versprochen, alles weiterzuleiten. Sie solle sich aber lieber gleich an die StA in Hanau wenden. Selbstbewusst hatte sie ihm versprochen, von nun an jeden Tag anzurufen, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen und sich mit einem »Bis Morgen dann«, bei ihm verabschiedet.

Als Jutta endlich daheim eintraf, war Tobias bereits zu Hause. Er wirkte anders als noch am Morgen. Aufgeräumter. Nicht fröhlich, aber doch … Ja, es schien, als habe er ein neues Ziel. Oder hatte sich Christin gar gemeldet?

»Du siehst mitgenommen aus«, begrüßte Tobias seine Schwiegermutter. Er verwarf den Gedanken, ihr von den Neuigkeiten zu erzählen. Jutta besaß nicht – so wie sie derzeit drauf war – die Energie, ihm zuzuhören und seine Pläne gutzuheißen.

»Es war auch ein anstrengender Tag.« Sie ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und starrte an ihm vorbei aus dem Fenster.

Tobias wartete vergeblich, dass sie ihm erzählte, was so anstrengend war. Für einen Moment kam in ihm der Verdacht auf, sie hätte sich mit Christin getroffen. Aber nein, das würde sie ihm nicht verschweigen … oder? Da war dann wohl eher er der Geheimniskrämer. »Mutti, ich muss übermorgen zu einem auswärtigen Termin. Es kann sehr spät werden, bis ich heimkehre.«


Kapitel 16

Auch in der vergangenen Nacht hatte Tobias nur wenig Schlaf gefunden. Lübeck machte ihn nervös. Das und die Frage, ob sein aus dem Bauch gefällter Entschluss nicht das Leben anderer zerstörte oder zumindest grundlegend veränderte. Christins Vorwürfe ihm gegenüber, die Einträge in ihrem Tagebuch, in dem sie darüber schrieb, wie sehr er sie erdrückte. All das wog schwer. Doch war da vor seinem imaginären Auge das Bild eines Kindes, das er nie zuvor gesehen hatte. Viel zu schmächtig, viel zu krank und doch lächelte ihm der Junge in seinen Wachträumen zu. Dieser Junge gab ihm die Kraft für die nötigen Entscheidungen. Wie gern hätte er Christin an seiner Seite; ihren Segen. Doch mit jedem Tag, den ihre ohnehin vage Spur kälter wurde, entfernte sie sich von ihm. Sein Entschluss stand fest. Es gab Zeiten, da galt das Recht, uralte Schulden einzutreiben.

***

An diesem Morgen trat der Besucher nicht als Bittsteller auf, als ihn ein Beamter zum Dienstzimmer des Kriminaloberkommissars geleitete.

Tarek Schlüter ahnte bereits, was kommen würde. Zumal er inzwischen nicht untätig und in den Datenbanken der Polizei fündig geworden war. Leider nicht zum Vorteil für Tobias, beziehungsweise dessen großer Liebe. »Mirko, magst du nicht zum zweiten Frühstück gehen?« Er kassierte einen irritierten Blick.

»Da komme ich doch gerade her.«

»Mirko, du hast Hunger – einen Riesenhunger!«

Die Blicke des Kollegen wechselten zwischen Tarek und dem Besucher. »Ich denke, ich geh dann noch mal was essen.«

Stumm deutete Tarek auf den Stuhl neben sich, auf dem schon manch böser Bube den Weg zur Beichte gefunden hatte. Heute saß dort kein Sünder. Nur ein armer, dummer Wicht.

»Mir ist klar, dass eure Kollegen da unten eine Vermisstenanzeige aufnehmen. Aber du bist nun mal der Polizist meines Vertrauens«, setzte Tobias an.

Ein tiefes, steinerweichendes Seufzen war die Folge, während sich der Angesprochene zur Seite beugte und einen Aktendeckel aus seiner Schreibtischschublade hervorholte. »Tobi, ich hatte gehofft, dass du in den letzten Tagen zur Besinnung gekommen bist.«

»Wie meinst du das?« Der Frust über den unnötigen Kampf schwang in seiner Stimme mit. »Glaubst du, ich kann die Frau vergessen, die mein Leben so nachhaltig verändert hat und nur aus Angst fortgelaufen ist? Ich möchte Christin Thorstraten als vermisst melden. Ich habe hier alles notiert, was für euch hilfreich ist.«

»Vergiss es, Tobi. Was ich dir jetzt sage, das bleibt bitte unter uns. Ich habe mir gestern die Mühe gemacht und mich ein wenig über deine Christin erkundigt.« Er hätte es wissen müssen, begriff Tarek, als er die Blicke des Freundes wertete. Ärger hatte Tobi noch nie abgeschreckt, wenn es hieß, einer Sache auf den Grund zu gehen. Manchmal wäre er der bessere Polizist von ihnen geworden. Er griff zur Akte und schlug sie auf. »Christin Thorstraten, jetziges Alter neunundzwanzig. Erstmalig aktenkundig mit fünfzehn – Ladendiebstahl. Dann eine ziemlich steile Karriere. Kokainbesitz, dealen, mit siebzehn Prostitution und mehrfacher Beischlafdiebstahl. Mit einundzwanzig Zeugin der Anklage in einem Prozess wegen Förderung der Prostitution und des organisierten Menschenhandels. Danach scheint sie für eine gewisse Zeit abgetaucht. Vor vier Jahren dann ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung und Betreiben einer nicht angemeldeten Modelagentur. Danach scheint sich die Dame in sehr erlauchten Kreisen bewegt zu haben. Dort, wo Ermittlungen „von Haus aus“ im Sande verlaufen. Mit ihrem Background dürfte sich eine Vermisstenanzeige erledigt haben.« Tarek erkannte sehr schnell, dass dem Freund die Tragweite seiner Worte nicht bewusst war. »Alter, es tut mir leid, es dir so hart zu sagen. Die Dame hat dich nach Strich und Faden verarscht und das gewaltig.«

»Das muss sie mir selbst sagen«, kam es tonlos von Tobias. Wie unter Zwang ergriff er die Akte, die Tarek auf seine Seite des Schreibtisches gelegt hatte. Die Buchstaben auf den Seiten verschwammen vor seinen Augen. Es war ihm im Grunde egal, was dort stand. Menschen konnten sich ändern; wenn sie es denn nur wollten. Als er erneut aufsah, hatte sich sein Wesen von Grund auf verändert. »Gut, gehen wir zu Plan B über. Der dir hoffentlich besser gefällt.«

»Wie?« Der Kriminaloberkommissar verfolgte interessiert, wie sein Gegenüber einen Kontoauszug aus der Brieftasche holte.

»Siebzehntausendvierhundert Euro.« Tobias wusste sehr wohl, dass er sich selbst ins Fleisch schnitt, wenn der Freund jetzt den wahren Beamten heraushängen ließ. Aber diese Barauszahlung, die er vor Tagen vom Konto genommen hatte, war die einzige Möglichkeit, Christin etwas anzudichten, das der Kripo hoffentlich Anlass zum Handeln gab. An die Folgen wollte er lieber nicht denken. »Als ich meine Auszüge bekam, fand ich diese Abbuchung vor, die ich definitiv nicht getätigt habe. Du sagtest, so was hat sie nicht das erste Mal getan.«

»Wenn das jetzt ein dummer Scherz ist …« Tarek sah ihn ernst an. Wie der Weihnachtsmann, der ja bekanntlich alles sieht und weiß.

»Wenn das die einzige Möglichkeit ist, um an mein Geld zu kommen und die Kripo zum Arbeiten zu bewegen, muss ich wohl so scherzen. Ich möchte den Diebstahl anzeigen. Frau Thorstraten hat mich bestohlen.«

Tarek schüttelte benommen den Kopf und konnte dennoch sein Grinsen nicht verbergen. »Du weißt, dass sie dir für eine wissentliche Falschaussage das Fell gerben werden?«

»Wenn du mir jede Woche einen Schoppen Wein in die Zelle bringst, werde ich damit leben können.« Zum ersten Mal glitt ein verschmitztes Grinsen über Tobias’ Lippen. »Ich habe hier eine Handynummer von ihr. Ihr seid doch solche Künstler im Aufspüren von Telefonaten. Außerdem habe ich zufällig eine Kontonummer, die sie irgendwann einmal notiert hatte. Ich meine, es könnte ihre sein.«

Der Beamte nahm den Zettel mit den beiden Ziffernfolgen entgegen und brachte zwei weitere schwere Seufzer in Umlauf. »Ist sie das wirklich wert, Alter?«

»Ja.« Tobias erhob sich und sah auf den Freund herab. »Das ist sie. Wo wir schon einmal dabei sind, möchte ich dich bitten, in hoffentlich nicht allzu ferner Zeit mein Trauzeuge zu sein.«

Tarek spürte sehr wohl, dass dem anderen nicht nach Scherzen zumute war. Tobi hatte sich entschieden. Und er wäre der Letzte, der seinem besten Freund nicht zur Seite stand. »Ich melde mich, wenn wir der Täterin auf der Spur sind. Ach, und Tobi, mach bis dahin keinen neuen Scheiß, hörst du.«

»Wie sollte ich! Ich bin doch ein anständiger Betrüger.« Tobias versuchte sich an einem vertrauenerweckenden Grinsen und bekam selbst nicht mit, dass er weiterhin einen grünen Aktendeckel in Händen hielt.

***

Kurz nachdem sich Tobias von zu Hause verabschiedet hatte, erwachte das Telefon zum Leben. Eine sympathisch klingende Stimme stellt sich Jutta gegenüber als Oberstaatsanwalt Dr. Herbert Kerner von der Staatsanwaltschaft Frankfurt vor. »Spreche ich mit Frau Jutta Kellermann?«

Der Schrecken fuhr Jutta derart in die Beine, dass sie sich setzen musste. »Ja, das bin ich.«

»Ich habe hier Ihre Anzeige gegen Herrn Nils-Ole Händler, wohnhaft in Gernhausen, vorliegen. Stimmt das so?«

Die Härte, die sich plötzlich in die eben noch milde Stimme des Anrufers schlich, verunsicherte sie. Das und die gestrigen Worte des jungen Mannes erzeugten ein Klima des Aufbegehrens. »Hören Sie, guter Mann. Ich bin nicht ohne Grund zu Ihnen gekommen! Wenn Sie sich nicht in der Lage sehen zu handeln, dann weiß ich auch nicht weiter!«

»Frau Kellermann, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich habe nur Ihre Anzeige hier vorliegen. Mit irgendwelchen diffusen Vermerken meines Kollegen, der leider seit heute im Urlaub ist. Auch auf die Gefahr hin, dass ich nicht der Erste bin, der Sie fragt: Warum kommen Sie mit dieser Anzeige zu uns?«

Diese sanfte Milde kehrte in die Stimme ihres Anrufers zurück und verbot es Jutta, ihrem ersten Gedanken aufzulegen Folge zu leisten. Dennoch gehörte sie nicht zu den Menschen, die sich leicht besänftigen ließen. »Das habe ich bereits versucht, Ihrem jungen schnöseligen Kollegen darzulegen. Aber ich verstehe mittlerweile, Nils-Ole Händler ist ein unbescholtener Politiker. Und eine Krähe hackt der anderen schließlich nicht das Auge aus.«

»Ich kann Ihren Unmut vielleicht sogar verstehen«, drängte sich seine Stimme in ihre heftige Anklage und ließ sie verstummen. »Aber so ist es nicht. Nicht bei mir, Frau Kellermann! Wäre es Ihnen möglich, noch heute bei mir hier in Frankfurt vorbeizuschauen? Ich würde wirklich sehr gern die Anklage übernehmen. Dazu müsste ich Sie aber noch zu verschiedenen Dingen befragen.«

»Heute?«

»Je eher, umso besser. Finden Sie nicht?«

»Ja«, willigte Jutta ein, als ihr bewusst wurde, dass wirklich alles im Sande verlief, wenn sie sich jetzt beleidigt abwandte. »Wie erreiche ich Sie?«

»Nennen Sie dem Pförtner nur Ihren Namen.«

Nach diesem Gespräch war Jutta der Tag wie eine einzige Folter vorgekommen. Konnte sie dieser sanften Stimme vertrauen, oder wollte man nur herausfinden, was sie über Händler wusste und sie anschließend mundtot machen? Nachdem sie Hannah mit Mittag versorgt und bei einer Nachbarin untergebracht hatte, schrieb sie Tobias eine kurze Notiz, dass sie ein wichtiges Gespräch habe und außer Haus müsse.

***

Die ihm vorliegende Anzeige hatte Oberstaatsanwalt Dr. Herbert Kerner seit dem frühen Morgen fasziniert. Eigentlich war es nur einem Zufall zu verdanken, dass er davon erfahren hatte. Sie beinhaltete neben dem Vorwurf eines schweren Amtsvergehens weitere Straftaten, deren Strafmaß bedeutend höher anzusetzen war. Was ihn erstaunte, war neben der Menge der Delikte sowie deren Komplexität auch die Ausführlichkeit, mit der die Anzeigende dies aufzählte. Zum anderen war er – wenn er ehrlich zu sich selbst war – gespannt auf die Person, mit der er heute Vormittag gesprochen hatte. Es war ihre Stimme, die ihn in eigenartige Schwingungen versetzt hatte. Herbert Kerner sah mit einem schuldbewussten Blick auf die dunkel gerahmte Fotografie seiner verstorbenen Frau.

Das Knacken in der Gegensprechanlage riss ihn aus seinen Gedanken. »Herr Doktor, Frau Kellermann wäre jetzt da.«

Jutta betrat den Raum durch eine schwere, wohl zweieinhalb Meter hohe Tür. Sie fühlte sich förmlich erschlagen von den mächtigen, bis an die Decke reichenden Regalen, in denen die Bücher – richtig dicke Wälzer – dicht an dicht standen. Sie schloss andächtig die Tür und strich sich über den ziemlich knapp sitzenden Rock ihres dunklen Kostüms. Die netten Kaffeemittage mit Christin waren nicht ganz ohne Folgen geblieben. Der Gedanke an ihre junge Freundin erinnerte Jutta daran, warum sie hier war und dass dort, keine drei Meter in ihrem Rücken, ein Mann stand und auf sie wartete. Ein tiefes Durchatmen, dann drehte sie sich um und trat weitere zwei Schritte in den Raum hinein. Das Flimmern einer Sonne, die hinter ihm durch das große Fenster schien und ihn wie einen Flammengott ins rechte Licht setzte. Jutta erkannte nur ein Schemen, mit dieser wunderbar dunklen Stimme, die sie nun begrüßte.

Dr. Herbert Kerner hatte seinen Herzschlag annähernd unter Kontrolle gebracht, als er sich erhob und langsam auf die unheimlich attraktive Frau zuging. Wenn ihn schon ihre Stimme fasziniert hatte, war ihr Auftritt nicht mehr zu übertreffen. Ihr zartes, schmales Gesicht mit den rehbraunen Augen und den kleinen lustigen Sommersprossen, umrahmt von wallendem mahagonibraunem Haar brannte sich ihm in die Netzhaut. War das die Chemie, mit der die alten Dichter eine Liebe auf den ersten Blick beschrieben? Er erinnerte sich an seine gute Erziehung und stellte sich ihr mit einem gezähmten Händedruck vor. »Frau Kellermann, ich bin sehr froh, dass Sie Zeit für uns und ein erstes konsolidierendes Gespräch haben.«

Oh Gott! Was brachte er nur wieder für affige und gestelzte Worte heraus. Die Frau musste ihn für einen Snob oder Schlimmeres halten. In der Tat stutzte sie bereits und blinzelte ihn an. Das Fenster, fiel ihm ein. Die Sonne! Sie musste sich ja wie bei einem Verhör fühlen. »Bitte nehmen Sie doch Platz, während ich …« … für die richtige Dunkelheit sorge, unterdrückte er gerade noch seinen nächsten Fauxpas. Mit einem jungenhaften Grinsen, das sie hoffentlich in dieser Lichtflut nicht mitbekam, führte er sie zu der gemütlichen Sitzgruppe und huschte weiter zum Fenster, um die Lamellen der Jalousie zu verstellen. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Gebäck? Einen Kognak?«

Jutta hatte ihre erste Verwirrung abgelegt, als sie in einem der gemütlichen Ledersessel Platz nahm, vielmehr halb darin versank. Sie spürte ein leichtes, wohliges Kribbeln im Nacken, als sie zu ihm aufsah. Eine imposante Erscheinung, wie er so in seinem edlen Anzug und der unheimlich hübschen Krawatte vor ihr stand. Den Aktenhefter in den Händen, den er wie ein nervöser Schuljunge aufdrehte. Die plötzliche Eingebung ließ ihr ein erleichtertes Schmunzeln über die Lippen huschen. Sie schien ihm offensichtlich sehr zu gefallen, erkannte sie mit dem Gespür einer erfahrenen Frau. Jutta war so sehr von ihrem ungeahnten Erfolg beeindruckt, dass sie selbst nicht realisierte, wie sie unbewusst ein Bein über das andere schlug und sich mit der Rechten sinnlich durchs Haar fuhr. »Einen Kaffee würde ich nicht ablehnen.«

»Gern.« Er begab sich zurück an seinen Schreibtisch und betätigte die Sprechanlage. »Frau Dombrowski, seien Sie bitte so nett und bringen uns einen Kaffee? Am besten gleich eine Kanne. Ach, und rufen Sie bitte Herrn Schneider an und verlegen Sie den Termin möglichst auf morgen.« Erneut wandte er sich seiner Besucherin zu. »Ich hoffe doch, dass ich Ihre Zeit in Anspruch nehmen darf. Ihre Anzeige wirft in ihrem Umfang und mit der Vielzahl an Vorwürfen so einiges an Fragen auf. Bevor ich in Ihrem Sinne handeln kann, sollten wir diese vorab unbedingt klären.«

»Das kann ich gut verstehen.« Jutta sah ihm erwartungsvoll entgegen und versuchte bewusst, das sanfte Zittern ihrer Knie zu ignorieren. »Für Sie muss ich wie jemand wirken, der gerade aus einer Nervenheilanstalt ausgebrochen und nun dabei ist, dem angeblich frömmsten Mitmenschen im südlichen Hessen den Garaus zu machen.«

»Wie ein verwirrter oder gar unglaubwürdiger Mensch kommen Sie mir nicht vor.« Herbert Kerner nahm ihr schräg gegenüber Platz. Dicht beieinander und doch auf gehörigen Abstand, lokalisierte er und räusperte sich. »Wenn auch nur ein Bruchteil von dem belegbar ist, was Sie in Ihrer Anzeige niedergeschrieben haben, wird es für diesen Herrn Händler schwer werden, seinen Kopf auf den Schultern zu behalten.« Ein leises Lachen, in der Hoffnung, sie verstand seinen Witz, ehe er erneut im Funkeln ihrer braunen Augen versank.

»Ich hoffe es so sehr.« Die Besucherin seufzte schicksalsschwer. »Sie müssen verstehen, ich wäre bestimmt nicht diesen Weg gegangen, wenn ich nicht wirkliche Angst um meine Familie hätte.«

Das Eintreten der Sekretärin ließ sie verstummen. Wie selbstverständlich erhob sie sich und war der Vorzimmerdame dabei behilflich, die Kaffeeutensilien aufzudecken.

Dr. Herbert Kerner nutzte den Moment und suchte seinen Schreibtisch auf. Mit einem herkömmlichen Notizblock und einem Aufnahmegerät kehrte er zurück.

»Ein Kassettenrekorder? Dass es das noch gibt!« Jutta sah wehmütig auf das vorsintflutliche Gerät. »Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich samstagnachmittags vor dem Radio gesessen habe, um damit die Hitparade aufzunehmen.«

Kerner legte seine Utensilien ab und verdrehte schmunzelnd die Augen. »Und hatte man seinen Lieblingssong fast auf Band, quatschte dieser Idiot von Radiosprecher voll dazwischen.«

»Herr Dr. Kerner! Idiot sagt man nicht«, tat seine Sekretärin entrüstet.

Der lachte auflehnend. »Sie junger Hüpfer wissen gar nicht, was es damals für ein Kampf war, seine Musik zusammenzubekommen.«

»Genau«, fiel Jutta in sein Lachen ein und fuhr andächtig mit den Fingerspitzen über das Gerät. »Schallplatten waren ja so teuer. Die konnten wir uns vom knappen Taschengeld kaum leisten. Und wie lange musste man auf die LP warten.«

»Na, dann will ich Sie in Ihren Erinnerungen weiter schwelgen lassen«, verabschiedete sich Rita Dombrowski, die ihren Chef lange genug kannte, um zu spüren, welch ein Umschwung bei ihm stattfand. Diese Frau Kellermann musste eine ganz feine Saite bei ihm angeschlagen haben.

»Diese jungen Leute können sich das gar nicht mehr vorstellen.« Kerner nahm erneut Platz und zog den Rekorder zu sich heran. »Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?« Er registrierte ihren zurückhaltenden Blick. »Es würde mir das Einarbeiten in unseren Fall sehr erleichtern. Ich versichere Ihnen, nur die zum Schweigen verpflichtete Schreibkraft und ich werden Einsicht ins Protokoll haben. Frau Kellermann …« Er stutzte plötzlich und sah sie beinahe ängstlich an. »Sie werden doch zu Ihrem Entschluss stehen?«

Aus dem Blick dieses wundervollen Wesens wich sämtlicher Liebreiz. »Und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben mache. Dieser Mann hat mein Leben und das meiner Tochter zerstört. Wenn ich nun nicht einschreite, wird er das Gleiche mit meinem Schwiegersohn, seiner neuen Lebensgefährtin und meiner Enkelin machen.«

Er nickte mit eben dem gleichen Ernst. »Gut, dann sind wir bereits zu zweit«, versprach er ihr leise und sah sie mit einem leichten Kopfschütteln an, das Jutta mehr als irritiert zu deuten versuchte. »Entschuldigen Sie bitte. Mir will nur nicht in den Kopf, dass eine junge, attraktive Frau wie Sie es sind, bereits eine Enkelin hat?«

»Danke für die Blumen.« Jutta strich sich sichtlich errötend mit den Händen durchs Haar. »Haben Sie Kinder?«

»Zwei Söhne und vier Enkel. Zwei Mädchen und zwei Jungen zwischen fünf und zehn Jahren. Einer wilder als der andere«, schwärmte er und überlegte, ob er nicht die Brieftasche zücken sollte, um ihr die neuesten Bilder seiner Rasselbande zu zeigen. Dabei entging ihm unweigerlich ihr Blick auf seine rechte Hand.

»Wir sollten uns um unser eigentliches Thema kümmern.« Jutta tat, als sehe sie wie fasziniert aufs Zifferblatt ihrer Armbanduhr. Es war nicht einfach, der Enttäuschung Herr zu werden. Der schlichte und doch breite Ring an seiner rechten Hand offenbarte ihr, dass er nicht nur Kinder und Enkel besaß. Dumme Nuss, schalt sie sich. Wie kam sie darauf zu denken, dass solch ein toller Mann solo war? »Ich habe schließlich nicht den ganzen Abend Zeit.«

Ihr abruptes Aufsetzen, die plötzliche Geschäftigkeit in ihrer Stimme riss Kerner aus seinen Tagträumereien und vermittelte ihm, dass er irgendetwas falsch gemacht hatte. Falsch im Sinne der Anklage, dass es mehr gab, als eine Weile mit ihr zusammenzuarbeiten. Persönliches war nicht gefragt. Die bittere Erkenntnis nagte an ihm. Mehr als er bereit war, vor sich selbst zuzugeben. »Sie haben sicherlich recht. Danke, dass Sie sich überhaupt die Zeit nehmen.« Er stöpselte das Mikrofon an und betätigte die Aufnahmetaste. »Wir haben heute Donnerstag, den dreizehnten August …«

Die künftige Hauptbelastungszeugin der Staatsanwaltschaft Frankfurt / Main gegen den Gernhausener Bürgermeister Nils-Ole Händler begann sehr strukturiert zu berichten, wer sie war und wieso sie sich zu ihrem Schritt entschlossen habe. Jutta Kellermann, geborene Gröhner, berichtete, dass sie aus Angst um den Rest ihrer Familie den Schritt nach vorn wage und überreichte dem Oberstaatsanwalt einen ganzen Stoß von kopierten Blättern aus den Tagebüchern ihrer verstorbenen Tochter. Diese habe zu Lebzeiten ein – für viele Leute nicht nachzuverfolgendes – bewegtes Leben gehabt und dabei ein Tagebuch geführt, in dem sie penibel über Vorlieben und Unarten ihrer diversen Liebhaber berichtete. Insbesondere über Nils-Ole Händler, damaliger und derzeitiger Bürgermeister von Gernhausen, mit dem sie ein über Jahre gehendes abhängiges Verhältnis geführt habe.

Dr. Herbert Kerner machte sich eifrig Notizen. Wenn er seine Zeugin nicht mit einem einfühlsamen Kopfnicken ermuntern oder wieder einmal das Tonband wechseln musste. Selten unterbrach er sie mit Fragen. Und wenn, dann waren diese äußerst knapp und präzise.

Als sich die Sonne anschickte, hinter den Dächern der Stadt zu versinken und den Raum in ein diffuses Licht versetzte, war Jutta in der Gegenwart angelangt. Mittlerweile hatte sie alle Befangenheit abgelegt, wie auch ihre hochhackigen Pumps. Sie fühlte sich verstanden und, was noch wichtiger war, für voll genommen. Mit angezogenen Beinen saß sie auf ihrem immer gemütlicher werdenden Sessel und erlaubte dem Teil ihrer Gedanken, der sich bislang im angestrengten Erinnerungsmodus befand, freizunehmen. Dieser Mann ihr gegenüber war so anders als alle anderen Männer, die sie in ihrem Leben zuvor kennengelernt hatte. Ruhig, gelassen und verständnisvoll. Er redete nicht dazwischen und vor allem … nicht über sich selbst. Er bewertete weder Christins Geschichte, die sie ihm ebenso hatte berichten müssen, noch bildete er sich über Tobias und dessen manchmal verzweifelt anmutenden Kampf eine persönliche Meinung. Eigentlich wirkte er mehr wie ein Seelenklempner. Seine manikürte Hand flog mit dem Stift, den sie hielt, über den mittlerweile fast zur Hälfte gefüllten Notizblock. Erneut fiel ihr Blick auf seinen Ehering aus Weißgold. Eine plötzliche Leere machte sich in ihr breit und ließ sie verstummen.

Auch Herbert Kerner wirkte, als kehre er aus einer anderen Welt zurück. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass seine Gesprächspartnerin schwieg und ihn mit einem Blick ansah, der einem einsamen Mann mehr als unter die Haut ging. Aber es war undenkbar. Wenn er jetzt die Anklage übernahm und sie seine Hauptbelastungszeugin wäre … Nicht auszudenken! Er fühlte beinahe eine Erleichterung, als sie sich räusperte und für sie beide die Weichen stellte.

»Herr Dr. Kerner.« Jutta schlug die Augen nieder, als sie seinen Blick auf sich ruhen spürte. »Ich möchte nicht, dass Sie die Kinder mit in die Sache hineinziehen.«

»Den Gefallen würde ich Ihnen gern tun.« Er richtete sich auf, legte den Block beiseite und wurde plötzlich dienstlich. »Und doch lässt es sich nicht vermeiden, dass wir Frau Thorstraten zwingend in unsere Ermittlungen mit einbeziehen. Manche Fälle verjähren. Leider. Frau Thorstratens Aussage würde Ihre Anzeige untermauern helfen und sicher noch weitere strafrechtlich relevante Delikte an den Tag bringen.« Ihr Schweigen brachte ihn in Zugzwang. »Sie sagten vorhin in einem Nebensatz, dass die Thorstraten sich „abgesetzt“ hat?« Kerner registrierte den bitterbösen Blick, der diesmal unbestreitbar ihm galt. Herrgott, wie musste es erst sein, wenn sie wirklich einmal wütend auf ihn wäre? »Bitte entschuldigen Sie meine herzlos klingende Wortwahl.«

»Herzlos, ja, das war sie wirklich. Ich hätte in Christins Situation nicht anders gehandelt.« Schwankend kam Jutta in die Höhe und trat ans Fenster. Die Laternen in dem kleinen parkartigen Gelände brannten bereits. »Mein Schwiegersohn versucht, uns gegenüber die wahren Begebenheiten zu verschweigen. Aber ich weiß es besser!« Sie fuhr herum und kehrte langsamen Schrittes an den Tisch zurück. »Ich hatte das Glück, diese Frau in den letzten Wochen und Monaten kennenzulernen. Sie ist nicht die berechnende Prostituierte, die alle in ihr sehen. Christin fürchtet nicht um ihre Gesundheit und um ihr Leben, sondern um die Menschen, die sie liebt. Nils-Ole Händler verfolgt und bedrängt sie. Ich fürchte sogar, dass er es veranlasst hat, dass sie überfallen und vergewaltigt wurde. Tobias hat es gestern Abend indirekt gesagt.«

Herbert Kerner fragte sich allen Ernstes, ob sie ihm nicht seine Plädoyers schreiben könne. Stattdessen fragte er: »Wurde die Tat zur Anzeige gebracht?«

»Herr Kerner, bitte! Sie sollten zur Genüge wissen, wie Ihre Kollegen das sehen. Bei Christins Vorgeschichte.«

Er enthielt sich einer Antwort. Stattdessen machte er sich ellenlange Notizen, bis er schließlich aufsah. »Bitte, Frau Kellermann. Wenn sich Frau Thorstraten mit Ihnen in Verbindung setzt, möchte ich, dass Sie uns zusammenbringen. Ich habe die Möglichkeit, Ihnen den Schutz zu versprechen, den Sie benötigen, bis alles vorbei ist. Aber Ihre beiden Aussagen sind immens wichtig, damit wir diesem … Schwein das Handwerk legen.« Er ärgerte sich im Nachhinein über seine persönliche Wertung. Aber diesmal war es ihm eine wahre Wohltat, die hoffentlich auch bei ihr auf fruchtbaren Boden fiel.

Nur hatte er nicht mit ihrem Selbstbewusstsein, gepaart mit einem Dickkopf, gerechnet. Kopfschütteln. Ein Blick zur Uhr. Gespieltes Erschrecken. »Herrgott, wie spät ist es?! Ich muss sehen, dass ich noch den letzten Zug erwische.«

»In der Tat.« Ein Blick auf die eigene Uhr. Beinahe die einundzwanzigste Stunde. Außer ihnen drehte nur noch der Nachtwächter seine Runden durchs Gebäude. »Wie schaut es aus, darf ich Sie zu einem verspäteten Abendessen einladen?« Er sah sich um, doch diese verwegene Einladung kam direkt aus seinem Mund. Und sie schien sein Angebot tatsächlich abzuwägen. »Ich verspreche Ihnen einen sehr guten Italiener. Und dass ich nicht weiter in Sie dringen werde. Feierabend für heute, Ehrenwort.«

»Ihr Versprechen ist Musik in meinen Ohren. Nur sollten Sie nicht lieber heimfahren? Ich meine, was soll Ihre Frau sonst denken? Attraktive Männer kommen schnell in Verruf.« Es sollte lustig und abgeklärt klingen. Doch das verräterische Vibrieren in ihrer Stimme würde selbst einem tauben Hauklotz offenbaren, wie es in ihr aussah. Das ärgerte Jutta. So sehr, dass ihr sein trauriger Blick erst nicht bewusst wurde. Dafür saßen dann der Schrecken, die Verwunderung und eine als völlig blödsinnig einzustufende Hoffnung besonders tief. »Ich … Habe ich jetzt etwas Falsches gesagt?«

Ihre Finger entwickelten ein Eigenleben und berührten sachte seine Hand, die sich wieder so weich, so warm und doch so unendlich kraftvoll anfühlte. Erschrocken zog sie sie zurück und wünschte sich dabei, im Erdboden zu versinken. Oh Gott, jetzt fing sie doch wohl nicht an, sich auch nur irgendwelche Hoffnungen zu machen!

»Nein.« Das Lächeln, das er ihr schenkte, erreichte nicht annähernd seine Augen. »Auf mich wartet niemand. Also, ich würde Sie wirklich sehr gern zum Essen einladen. Und … Sollten Sie den letzten Zug nicht erreichen, werden wir allemal eine Lösung finden.«

***

Hannah schlief bereits seit Stunden und auch er hätte sich liebend gern zur Ruhe begeben. Tobias mochte gar nicht daran denken, dass sein Zug morgen früh um kurz nach sechs fuhr. Aber die Sorgen um Jutta hätten ihn ohnehin nicht schlafen lassen. Es war nicht ihre Art, ihm eine knappe Notiz zu hinterlassen, wo er Hannah abholen könne und dann ohne Ziel zu verschwinden. Seitdem Jutta gedroht hatte, sie würde sich um Nils-Ole Händler kümmern, hatte ihn die Sorge um sie und eine mögliche Kurzschlusshandlung nicht mehr losgelassen. Zudem hatte ihn das Gespräch mit Hannah aufgewühlt. Die Kleine glaubte kaum noch seinen Beteuerungen, dass es ihrer Mama gut ginge und sie bald wieder heimkäme.

Der Vorspann des Nachtmagazins lief bereits, als Scheinwerferkegel über die Wohnzimmerdecke wanderten und Türenklappen Juttas Heimkehr ankündigten. Er trat ans Fenster und sah auf die nächtliche Straße hinab. Mercedes E-Klasse, neustes Modell mit Frankfurter Kennzeichen. Ein gut gekleideter Mann stand an der Beifahrerseite und war seiner Begleiterin beim Aussteigen behilflich. Jutta? Die Szene überraschte Tobias nun wirklich. Zumal der attraktive Mann bei ihr einen Handkuss andeutete, den sie mehr als huldvoll entgegennahm. Ihr Blick wandte sich in Richtung Hausfront und ließ den heimlichen Beobachter einen Schritt zurücktreten. Aus der Besorgnis, ihr könne etwas passiert sein, wurde Nachdenklichkeit. Hatte Jutta einen Verehrer? Und wenn, warum stellte sie ihn ihm nicht vor? Er wäre doch der Letzte, der sich nicht darüber freuen würde, wenn diese tolle Frau endlich das wahre Glück fand. Die Scheinwerferkegel bewegten sich rückwärts, als sich der Schlüssel in der Haustür drehte. Tobias huschte zurück aufs Sofa und tat, als würde ihn der aktuelle Disput über die Milchquoten in der EU interessieren. Natürlich würde er sich diesen Kerl vorher intensiv anschauen müssen. »Hallo, du Nachteule.«

»Du bist noch wach?« Jutta ließ sich mit einem selig wirkenden Lächeln gegen den Türrahmen fallen.

Tobias brachte die Beine zu Boden und strahlte sie betont fröhlich an. Hatte er sie schon einmal so glücklich erlebt? Nein, nicht in dieser Weise. »Ich habe mich wohl umsonst gesorgt. Du strahlst ja wie ein Honigkuchenpferd.«

»Ist mir das so sehr anzusehen?« Ihre Hände glitten über die verräterisch glühenden Wangen. »Ja, ich hatte einen wirklich schönen Abend. Ist noch etwas? Ich würde mich sonst sehr gern zu Bett begeben.«

»Nein. Außer dass ich morgen sehr früh losmuss. Hab einen wichtigen Außentermin, weit weg. Er wird wohl bis spät in den Abend hinein gehen.«

»Das ist gut. Du kannst dich ja melden, wenn absehbar ist, wann du heimkommst.« Jutta umarmte ihren Schwiegersohn und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Ein weiteres Zeichen, wie locker sie drauf war. »Hannah geht es gut?«

»Ja, sie schläft ruhig und glücklich.« Tobias sah ihr schmunzelnd hinterher, wie sie trunken vor Glück die Treppe hinaufwankte.

***

»Herr Herder?«

Tobias schoss förmlich in die Höhe und stolperte dabei beinahe über seinen Aktenkoffer. Die Frau, die wie hingezaubert vor ihm stand, wirkte unscheinbar. Aber sie trug ein offenes Lächeln. »Frau Wullenweber? Es freut mich, dass Sie sich die Zeit für mein wirklich nicht alltägliches Anliegen nehmen.«

»Alltäglich ist es in der Tat nicht. Aber es zeigt mir, dass es immer noch Menschen gibt, die ein großes Herz haben und ganz offensichtlich lieben können.«

Ob Christin das irgendwann auch einmal so sah?, fragte sich Tobias kleinmütig und folgte ihr in ihr Büro.

»Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Die Unterredung mit meinem Dienststellenleiter hat ein wenig länger gedauert.«

»Ist es wegen mir? Ich möchte Ihnen wirklich keine Unannehmlichkeiten bereiten.«

»Iwo, das tut es nicht. Außerdem gehört Ärger im gewissen Sinne zu unserem täglichen Geschäft. Es ist nicht immer einfach, Entscheidungen für das Wohl eines Kindes zu treffen.«

Tobias nickte und musterte die junge Frau, die sich trotz allem ein freundliches Wesen bewahrt hatte. Er nahm Platz und wartete, dass sie es ihm gleichtat. »Was das Wohl von Christoph betrifft …« Seine Stimme kratzte wie ein Geigenbogen im Endstadium. »Ich möchte noch einmal vorwegschicken, dass es mir nicht im Traum einfallen würde, den Jungen aus seiner gewohnten Umgebung oder gar aus einer liebevollen Familie herauszureißen. Es ist nur … Man hört, dass nicht alle Kinder vermittelt werden.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und bot ihr wohl einen verzweifelten Anblick. Aber war er das nicht auch? Irgendwie!

»In der Tat ist es so, dass wir gerade Neugeborene oder auch Kleinkinder problemlos an geeignete Elternpaare vermitteln können. Nur bei Christoph …« Nun war sie es, die ins Stocken geriet und einen bedauernden Blick in die Akte vor sich warf. »Christoph war ein Frühchen. Das hatte ich vielleicht schon am Telefon erwähnt? Er hat zwar die bestmögliche Fürsorge erhalten. Dennoch gibt es Kinder, die in ihrer Entwicklung hinterherhinken und mehr kränkeln als gleichaltrige.«

Tobias drückte den Rücken durch und bedachte sein Gegenüber mit einem ernsten, aber gefassten Blick. »Ist er behindert?«

Sie seufzte. »Nein … nicht wirklich. Christoph hängt, so will ich es sagen, in seiner Entwicklung etwas zurück. Er ist einfach unser kleiner, großer Pechvogel. Wir konnten ihn vor zwei Jahren bei einer Pflegefamilie unterbringen, in der er die erste Zeit über eine überproportional gute Entwicklung zeigte.« Ihre Kunstpause zog sich quälend in die Länge.

»Aber?«

»Wir geben uns wirklich die allergrößte Mühe, um geeignete Pflegeeltern zu finden. Christophs haben sich im Streit getrennt – Scheidung. Keiner der Ehepartner sah sich in der Lage, das Kind weiter zu betreuen. Wir mussten ihn dort wieder herausnehmen. Was uns wirklich sehr schwerfiel. Mehr kann, darf und möchte ich dazu nicht sagen.«

»Das heißt, er ist wieder in ein Heim gekommen?«

»Einen Hort. Doch auch das ist keine Lösung auf Dauer.«

»Das finde ich auch.« Tobias öffnete seinen Aktenkoffer und holte die Mappe mit seinen persönlichen Unterlagen hervor. »Ich habe alles zusammengetragen, das belegt, dass ich ihm und seiner Mutter alles bieten kann. Ich würde den Jungen nach unserer Heirat zudem gern adoptieren.«

»Ja, aber Sie haben ihn doch noch gar nicht kennengelernt.«

»Natürlich möchte ich ihn kennenlernen. Dennoch steht mein Entschluss fest. Er ist schließlich das leibliche Kind der Frau, die ich liebe.«

***

Die Nacht war sehr kurz gewesen. Eigentlich nichts Neues, wie Herbert Kerner es bislang stillschweigend für sich akzeptiert hatte. Nur trugen diese vorhergehenden Nächte nie diese völlig neue Lebenserfahrung mit sich im Gepäck. Wenn er wach gelegen hatte, hatte er nur an sie gedacht. Die Stunden des Halbschlafes waren eine einzige Fortsetzung. Nur weitaus erotischer, als er sich einzugestehen wagte. Jutta Kellermann, geborene Gröhner. Sein Blick glitt über die Notizen, die er sich gestern in ihrem Beisein gemacht hatte. Zum wiederholten Male schlich sein Finger zur Gegensprechanlage. »Liebe Rita, wären Sie bitte so lieb und fragen noch einmal im Schreibbüro …«

»Nein, Herr Doktor. Die springen mir an den Hals. Die Leiterin hat mir versprochen, dass zwei Mitarbeiterinnen am Text sitzen und sie ihn persönlich heraufbringen wird, sobald er fertig ist.«

»Dann wenigstens einen starken Kaffee?«

»Damit kann ich dienen.« Rita Dombrowski beendete das Gespräch und erhob sich, um seiner Bitte Folge zu leisten. Sieben Jahre arbeitete sie bereits für einen der fähigsten Frankfurter Oberstaatsanwälte. Bislang war sie überzeugt gewesen, in ihm einen Vorgesetzten gefunden zu haben, der über die Maßen nett und unerschütterlich wie die Chinesische Mauer war, wenn es darum ging, Beruf und Privatleben strikt voneinander zu trennen. Die attraktive Frau, die ihn gestern besucht hatte, hatte sie eines Besseren belehrt. Mit dem Kaffee und einem mütterlichen Lächeln begab sie sich in das Dienstzimmer ihres Chefs.

Herbert Kerner sah von seinen Notizen auf und schenkte seiner Mitarbeiterin einen um Vergebung flehenden Blick. Gleich darauf vertiefte er sich erneut in seine Unterlagen, um Notizen und Handlungsstränge herauszuarbeiten. Sollte er Jutta – es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, sie in Gedanken so zu nennen – anrufen? Irgendeine Frage oder ein Vorwand würde sich schon finden. Nein, rief er sich zum zigsten Male zur Ordnung, das ziehst du jetzt ganz professionell durch. Deine Gegner sollen dir nicht vorwerfen können, dass du mit der Zeugin der Anklage ein Verhältnis hast. Verhältnis …?

Seine Hand sank herab, während der Blick an der Fotografie seiner verstorbenen Frau hängen blieb. »Annemarie, was soll ich nur machen?«, hielt er leise mit ihr Zwiesprache. »Ja, ich weiß. Du wolltest immer, dass ich mich aufs Neue verliebe und nicht den Kopf in den Sand stecke.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Jetzt habe ich ihn herausgezogen und muss erkennen, wie unsicher ich geworden bin.« Wie gern hätte er jetzt eine Antwort erhalten. Was blieb, war das zuversichtliche Lächeln, das ihm ihr Antlitz zusandte. Er griff zum Telefon.

»Kriminalhauptkommissar Schindler, Kriminaldirektion Frankfurt«, meldete sich der Angerufene.

»Herr Schindler, wie geht es Ihnen?« Kerner – der mit dem altgedienten Kollegen von der Kriminalpolizei bereits einige aufsehenerregende Fälle gelöst hatte – begrüßte ihn herzlich und kam schnell auf sein Anliegen zu sprechen.

Schindler versprach ihm, alles in die Wege zu leiten und ihn schnellstens zu unterrichten.

Was er auch keine Stunde später tat. »Schindler hier. Herr Dr. Kerner, wir haben zu der von Ihnen angefragten Dame einiges vorliegen. Existiert Ihre alte Mailadresse noch?«

Der Posteingang seines Rechners ließ sich mit einem melodischen Läuten vernehmen.

»Ist gerade angekommen.« Kerner öffnete den Anhang. Zügig überflog er die lange „Negativstatistik“ einer selbst noch auf dem Polizeifoto attraktiv anzuschauenden Frau. »Haben Sie etwas aktuell Greifbares zu Frau Thorstraten? Den jetzigen Aufenthalt vielleicht?«

»Daran arbeiten wir noch. Es ist aber wenig wahrscheinlich.«

»Nun, wir haben es wenigstens versucht«, gab Kerner sich geschlagen.

»Uns ist aber etwas anderes aufgefallen, das Sie vielleicht interessieren dürfte. Gegen besagte Dame läuft aktuell eine Anzeige. Federführend sind die Kollegen aus Gernhausen.«

»Eine Anzeige? Haben Sie da einen Namen?«

»KOK Schlüter.« Schindler nannte ihm die Nummer des Anschlusses. »Anzeigender ist ein Tobias Herder.«

***

Ina Wullenweber fuhr mit ihm durch die halbe Stadt. Auf dem Weg zu dem Ort, an dem man sich um einen kleinen Jungen kümmerte, der ihrer aller bisheriges Leben verändern würde. Tobias wusste es wie das Amen in der Kirche. Nur, wie würde Christin all das aufnehmen? Wie sollte er ihr gestehen, dass er nicht nur ihr Tagebuch gelesen hatte, sondern dabei war, eigenmächtig in ihr Leben einzugreifen? Sie würde es ihm nie verzeihen. Aber war ein untätiges Abwarten oder gar Verdrängen nicht weitaus schlimmer?

»Wir sind am Ziel.« Seine Chauffeurin hielt vor einem Haus in der Lübecker Altstadt. Mehrere hundert Jahre alt, erkannte der Fachmann in ihm. Und das, wie so viele Häuser in dieser Stadt, eine Sanierung dringend nötig hatte.

»Wollen Sie wirklich diesen Weg gehen? Ich meine, noch können wir umkehren.«

Tobias nickte stumm und schnallte sich los.

Gejohle und lautes Lachen begrüßte die Erwachsenen, als sie die Tür hinter sich schlossen. Vier Kinder rauschten im wilden Fangspiel an ihnen vorbei und verschwanden durch eine der anderen Türen, die es auf dem langen Flur zuhauf gab.

Eine kleine, untersetzte Frau, Frisur Marke geplatztes Sofakissen, näherte sich ihnen mit einem offenherzigen Lächeln. »Ina, wie schön dich zu sehen«, begrüßte sie seine Begleiterin herzlich und stellte sich ihm vor. »Katharina Lehmkuhl, ich bin hier die Löwenbändigerin. Stimmt es wirklich, dass Sie unseren Christoph besuchen wollen?«

Tobias nickte stumm. Zu mehr war er in diesem Moment nicht fähig.

»Na, dann stellen Sie mal Ihre Sachen in mein Büro und kommen mit mir mit.« Burschikos ergriff sie seinen Arm und dirigierte ihn über den Flur.

Der kleine Junge saß allein in einem Raum, auf dessen Boden Spielzeug verteilt war. Von der Tür aus gesehen wirkte er abwesend. Vor allem aber unendlich zart und zerbrechlich. Einzig sein Schnuller tanzte ihm im Mund herum; übersah man die kleine Hand, die den Zipfel einer Schmusedecke knetete. Ansonsten kaum Reaktion. Christoph interessierten weder die um ihn verstreuten Bausteine, noch die ruhige Stimme der Betreuerin, die seinen Besuch ankündigte. Er wirkte auf Tobias wie ein Philosoph, der durch für ihn nicht vorhandene Wände starrte und nebenbei über den Nullpunkt der eigenen Schwerkraft nachdachte, verglich er auf der verzweifelten Suche nach einem Humor, der ihm half, seinen Schrecken zu lindern. Er drehte sich zu den beiden Frauen um. »Wäre es vielleicht möglich, dass wir uns allein beschnuppern?«

Mit einem doppelten Nicken entschwanden sie. Tobias trat vorsichtig in den Raum. Das Knarren des Dielenbodens drang ihm wie Gewitter in die Ohren. Auch jetzt schien der Junge nicht zu reagieren. Tobias lächelte sich seine Bestürzung fort, als er bemerkte, wie zerbrechlich der Junge wirklich war. Hager! Ein Körperbau, den er – nahm er Hannah als Maß – gerade einmal einem Eineinhalbjährigen zugeordnet hätte. Er war dabei so blass, dass selbst die dünnen Äderchen an seiner Schläfe deutlich hervortraten. Das weißblonde Haar so dünn, dass es sich im leisesten Luftzug bewegte. Tobias begab sich langsam in die Knie, um mit ihm auf Augenhöhe zu kommen. Und doch wirkte er noch immer wie ein Riese. Der Kleine schien seine Nähe zu bemerken. Zumindest kreiste der Schnuller schneller im Mund herum.

»Hallo Christoph.« War er zu leise, dass er ihn nicht verstand? »Ich bin Tobias.«

Der Kopf des Kindes bewegte sich langsam zu ihm herum. Dunkelbraune Augen musterten ihn, ohne erkennbare Mimik. Tobias erkannte voller Liebe, in wessen Augen er sah. Er war sich sicher, in ihnen würden dieselben Goldsprenkel schimmern, mit denen ihn seine Mutter jedes Mal einfing und bis heute faszinierte. »Magst du vielleicht mit mir reden?«

Mehrmaliges Auf- und Abwippen des blauen Plastikteils, das den kleinen Mund hermetisch verschloss.

»Das kommt ja vielleicht noch.« Tobias setzte sich und holte mit vorsichtigen Bewegungen ein paar der Bausteine zu sich heran. »Vielleicht bauen wir solange gemeinsam ein Haus? Das kann ich, glaube ich, ganz gut.« Er setzte zwei Steine nebeneinander und einen dritten obenauf. Den nächsten hielt er Christoph hin. Es wäre schön, hätte der Junge Interesse gezeigt. Aber ganz ohne war er ja nicht. Er selbst schien in den Fokus seiner Wahrnehmung geraten zu sein. »Ich bin Tobi«, wiederholte er leise und legte seine Hand auf die Brust, dann hielt er vorsichtig seine Finger in Richtung Christoph. »Und wie darf ich dich nennen?«

***

Tarek Schlüter saß noch immer das Herz weit südlich der Gürtellinie. Selbst Minuten, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte.

»Was ist denn los?« Mirko blickte ihn über den Rand der Zeitung hinweg an.

»Nichts, muss nur gleich nach Frankfurt.« Tarek öffnete seine Privatschublade. Dann die nächste und die übernächste. Ratlos sah er Mirko an. »Ich hatte hier eine Akte mit einem Strafregisterauszug liegen. Hast du die irgendwo hingelegt?«

»Ne, du kennst mich. Ohne dein Okay gehe ich nicht an deinen Schreibtisch. Über wen ist sie denn?«

Tarek erinnerte sich an die eindringliche Mahnung dieses Oberstaatsanwaltes, nichts und niemandem von den Ermittlungen gegen Christin Thorstraten zu sagen. Selbst den eigenen Kollegen gegenüber nicht. Verdammte Scheiße, in was hatte Tobi sie da nur hineingeritten. »Nichts, bin einfach nur vergesslich geworden.« Das Fehlen der Akte Thorstraten ärgerte ihn nun doch. Hatte Tobi sie etwa mitgehen lassen? Es musste passiert sein, als er Idiot mit den Ermittlungsergebnissen geprotzt hatte. Er griff zum Handy, um den Freund anzurufen, aber dessen Gerät war auf Anrufbeantworter geschaltet. Und in Mirkos Beisein wollte er nicht draufquatschen.

Das Diensttelefon rührte sich ein weiteres Mal. Es war der Kollege von der Technik mit einem Zwischenbericht. Die Thorstraten hatte mit ihrer Karte weder Geld abgehoben, bezahlt, noch ihr Handy benutzt. War sie so schlau und hatte beides entsorgt? Tarek bat den Kollegen eindringlich, nur noch ihn direkt über die neusten Ergebnisse zu informieren. Gerade hatte er aufgelegt, als die nächste Störung eintrat.

»Guten Tag, Herr Händler.« Tarek stöhnte innerlich und doch erhob er sich, bevor sein Kollege auf die Idee kam, sich nach dem Anliegen des Bürgermeisters zu erkundigen. »Welch überraschender Besuch. Womit kann ich behilflich sein?«

Händler erwiderte den Gruß äußerst knapp und setzte sich ihm unaufgefordert gegenüber. »Herr Schlüter, ich hätte da ein kleines, persönliches Anliegen, das ich gern in die richtigen Hände legen würde. Sie verstehen?«

Tarek setzte sich, wechselte einen kurzen Seitenblick mit Mirko und tat verwundert. »Nein, nicht wirklich. Aber ich denke, wir können ungestört reden.«

Händler drehte sich zu dem unbeteiligten Kommissar herum. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber wäre es Ihnen möglich …«

Dieser verstand den Wink und entschwand mit einem »Ich schaue dann mal nach, was es heute zum Mittag gibt«.

Als sich Nils-Ole Händler seinem auserkorenen Gesprächspartner erneut zuwandte, saß dieser mit vor der Brust verschränkten Armen da. Natürlich hatte er sich über seine ganz besonderen Quellen über diesen Tarek Schlüter informiert. Kriminaloberkommissar, seit sechs Jahren im Kommissariat Gernhausen tätig, verheiratet, zwei Kinder, Haus neu gebaut und eine hohe Hypothek. Es musste mit dem Teufel zugehen, wenn sich dieser Schlüter in den nächsten Jahren nicht über das eine oder andere Geschenk freuen würde. Händlers professionelles Lächeln vertiefte sich. »Herr Schlüter, ich komme mit einem etwas diffizilen Anliegen zu Ihnen. Ich befürchte, es würde meinen politischen Gegnern gut in ihr Kalkül passen, wenn bekannt wird, dass ich hierin als Bürgermeister involviert wäre. Sie verstehen?«

»Nicht so wirklich. Ich würde Ihnen jedoch raten, frei von der Leber zu sprechen, wenn es diskret bleiben soll. Mein Kollege bleibt nicht den ganzen Tag fort.«

Händler atmete tief durch und gab sich einen Ruck. »Ich mache mir ernsthaft Sorgen um eine junge Dame aus unserer Stadt. Sie ist seit mehreren Tagen verschwunden. Ohne dass sie sich bei mir oder jemand anderem abgemeldet hat. Vielleicht sollte ich zuvor noch anmerken, dass sie vermutlich von Unbekannten überfallen wurde.« Händlers Blick bekam etwas Lauerndes. »Doch das wissen Sie sicherlich bereits durch die Anzeige.«

»Anzeige?« Der Oberkommissar beugte sich über die Tastatur und loggte sich ins Wachbuch ein. »Um wen handelt es sich?« Es überraschte ihn nicht, als der Name Thorstraten fiel. Dieser Oberstaatsanwalt hatte sich in seinem Telefonat äußerst zurückgehalten. Doch die Bitte, nichts nach außen klingen zu lassen und ganz besonders einem gewissen Nils-Ole Händler jegliche Auskünfte zu verweigern, bekam eine völlig neue Dimension. »Thorstraten? Nein, in den letzten sieben Tagen haben wir diesbezüglich keine Anzeige vorliegen.«

Die Miene des Besuchers blieb undurchschaubar. Es konnte nicht schaden, ein wenig vorzufühlen und herauszufinden, wie weit der andere ging, sagte sich Tarek. »Kann es sein, das sich Frau Thorstraten nur ein wenig erholt? Ich meine, so ein Überfall … Wenn er denn stattgefunden hat. War sie es, die Ihnen davon erzählt hat?«

Nils-Ole Händler schüttelte den Kopf. Er nahm seine neue Brille ab und holte ein blütenweißes Tuch hervor. Umständlich begann er die Gläser zu reinigen. »Ich fürchte, dass Christin … Ich meine natürlich Frau Thorstraten, etwas Schlimmes zugestoßen ist. Entführt, oder noch Ärgeres. Ich möchte, dass Sie sie aufspüren. Sie haben da doch Ihre Mittel und Wege. Ausweiskontrollen, Telefon abhören oder wie das heißt? Ja, Handyortung. In jedem halbwegs guten Krimi klappt das auch.«

»Sorry, Herr Händler. Das ist der kleine, aber feine Unterschied zwischen uns und einem Fernsehkrimi«, erlaubte sich Tarek süffisant anzumerken. »Wir können nicht so einfach auf bloßen Verdacht hin einem unbescholtenen Bürger nachstellen, seine Konten überwachen und Bewegungsdaten speichern. Das mag im Krimi oder in den USA gang und gäbe sein, aber nicht bei uns.«

»Nein, so meine ich es nicht«, ruderte Händler zurück. »Es ist mir nur sehr wichtig, dass wir sie ausfindig machen. Kann man sie denn nicht als vermisst melden?«

»Das können Sie jederzeit. Die Kollegen von der Schutzpolizei werden das gern unten zu Protokoll nehmen. Die sind ein wenig gewandter darin.«

»Ich deutete Ihnen doch bereits an, dass ich mich da nicht involvieren kann!« Nils-Ole Händler schnaufte genervt. »Ich meine, wenn Sie nur ein wenig über Ihren Tellerrand schauen würden. Es soll Ihr Schaden nicht sein. Ich kenne den Leiter der hiesigen Sparkasse sehr gut. Ein günstiger Prozentsatz bei einer Hypothek hilft …«

Tarek Schlüter erhob sich mit einem kundenorientierten Lächeln und trat an die Tür. »Es hat mich sehr gefreut, Herr Händler. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Händler schraubte sich in die Höhe und drückte sich grußlos an ihm vorbei.

»Von dem werde ich wohl kein Weihnachtsgeschenk bekommen«, murmelte Tarek und begab sich zurück an seinen Arbeitsplatz. Es galt, Stichworte zu notieren und sich auf diesen Oberstaatsanwalt vorzubereiten. Nicht nur das. Dieser Dr. Kerner würde ihm ebenfalls einiges erklären müssen. Verdammt! Verdammt, was hatte Tobias da nur wieder losgetreten?

***

»Ich würde mich wirklich freuen, wenn du uns daheim einmal besuchen kommst. Da ist Hannah. Das ist meine Tochter. Und ihre Oma Jutta wohnt auch bei uns«, erzählte Tobias mit ruhiger Stimme. Mittlerweile lag er auf dem Rücken und betrachtete beiläufig die kunstvollen Stuckornamente an der hohen Zimmerdecke. Seine volle Aufmerksamkeit ruhte jedoch weiter auf dem Jungen, der sehr wohl seiner Stimme lauschte. Den Gedanken an Autismus, der sich ihm in schwachen Momenten aufdrängte, wollte er einfach nicht akzeptieren. »Ja, und dann ist da noch Christin. Ich bin mir sicher, dass du sie wirklich lieb haben könntest. Das ist eine ganz besondere Frau. Die hat nämlich viel mit dir gemeinsam – glaube ich. Zumindest habt ihr zwei den gleichen, ausgeprägten Dickkopf.« Er lachte leise bei dem Gedanken, dass ihm einer allein offensichtlich nicht reichte.

Dabei geschah etwas, mit dem er nicht mehr gerechnet hatte. Ein kantiges Stück Plastik fand Kontakt zu seiner Hand, die er nah bei Christoph auf dem Boden hatte ruhen lassen. Sein Blick fand den des Jungen, der erst auf ihn und danach auffordernd auf den Stein sah.

»Bauen wir?« Vorsichtig drehte Tobias sich auf die Seite, nahm den Stein, den Christoph ausgewählt hatte, und führte ihn zu der begonnenen Mauer. »Wohin wollen wir den setzen?«

Ein kleiner Finger deutete auf die Krone des Gebildes.

»Ja, du hast recht. Da sieht er am besten aus.« Das Eis war gebrochen, aber Tobias hütete sich davor, in Jubel auszubrechen. Außerdem mussten sie gemeinsam überlegen, wo der nächste Stein, den Christoph in der Hand hielt, zu sitzen hatte. »Komm, den setzt du jetzt aber selbst.«

***

»Herr Doktor? Der Kriminaloberkommissar Schlüter aus Gernhausen wäre jetzt da.« Die Vorzimmerdame führte den Besucher in das Büro des Oberstaatsanwaltes.

Imposant, dachte Tarek bei sich, als er den Abstand zwischen Tür und Schreibtisch überwand. Er war positiv überrascht, als sich der Mann bei seinem Eintreten erhob und ihm mit ausgestreckter Hand entgegentrat.

»Herr Schlüter, wie schön, dass Sie sich so schnell Zeit nehmen konnten.«

»Es klang, als wäre Holland in Not«, erwiderte Tarek selbstbewusst. Er würde sich keinesfalls in irgendwelche Büßerrollen begeben, schwor er sich ein weiteres Mal. »Dabei weiß ich noch immer nicht, wie gerade ich Ihnen helfen kann.«

»Danke, Frau Dombrowski. Wenn Sie dann bitte dafür Sorge tragen würden, dass wir nicht gestört werden?«

»Gern, Herr Doktor. Haben Sie sonst noch einen Wunsch? Getränke?«

»Danke, für mich nicht«, beantwortete Tarek die stumme Frage und folgte dem einladenden Wink des erstaunlich jung wirkenden Oberstaatsanwaltes.

Während die Frau das Büro verließ, nahm dieser Kerner hinter seinem Schreibtisch Platz. Sekundenlang maßen sie sich mit ihren Blicken, ohne dass einer von ihnen nachgab.

Letztendlich lag es an dem Älteren, das Wort zu ergreifen. »Herr Schlüter, vorab möchte ich Sie nochmals darum bitten, dass alles, was wir hier besprechen, unter uns bleibt.«

»Das versteht sich von selbst. Ich begreife nur nicht, warum sich ein kleines Wald-und-Wiesen-Delikt bei uns mit Ihren Ermittlungen überschneidet?«

»Frau Thorstraten. Sie ist unser gemeinsamer Dreh- und Angelpunkt. Ich bereite hier die Anklage gegen einen angesehenen Bürger Gernhausens vor. Frau Thorstraten wäre – neben einer weiteren sehr wichtigen Zeugin – unsere Hauptbelastungszeugin gegen diesen Herrn. Stimmt es, dass sie ihren derzeitigen Wohnsitz ohne bestimmtes Ziel verlassen hat? Wir waren nicht wenig überrascht, als wir herausfanden, dass Sie ebenfalls begonnen haben, gegen diese Dame zu ermitteln.« Kerner nahm seine Brille zu Hilfe, um in den Notizen nachzulesen. »Wegen Diebstahl und Unterschlagung. Nicht gerade der Schwerpunkt ihrer bisherigen Karriere, wie ich meine.«

»Der Anfangsverdacht war gegeben.« Tarek rutschte nun doch unruhig auf dem eigentlich bequemen Stuhl herum. Er ahnte, dass sein Mienenspiel für den anderen ein offenes Buch war.

»Lassen Sie uns nicht um den heißen Brei herumreden, Herr Schlüter. Was die wahren Gründe Ihrer Ermittlungen sind – die ich sogar meine zu erahnen –, soll uns nicht interessieren. Für mich ist einzig und allein wichtig, dass wir die junge Dame alsbald aufspüren, bevor ihr wahrhaft Böses widerfährt. «

Tarek nickte bedächtig. Das war ein Angebot, das nicht nur Tobias aus der Bredouille holte. »Gut, doch bevor ich Ihnen alles darlege, muss ich erfahren, gegen wen Sie ermitteln. Nicht dass wir unwissentlich einem Straftäter Vorschub leisten. Erst heute Morgen wurde ich von jemandem angesprochen, der sich ebenfalls sehr für Frau Thorstratens Verbleib interessiert.«

Dr. Herbert Kerner wirkte angespannt ob der letzten Information. »Nils-Ole Händler, Ihr Bürgermeister«, entschied er sich mit offenen Karten zu spielen. »Nur ersparen Sie mir bitte, Ihnen die ellenlangen Anklagepunkte vorzulesen.«

»Schon gut, das reicht. Händler war in der Tat die Person. Ich solle mit allen verfügbaren Mitteln den Aufenthaltsort besagter Person herausfinden. Er unterbreitete mir sogar ein Angebot, das kleinliche Leute als Bestechung auslegen würden.«

Kerner sprang auf und bewegte sich von innerer Unruhe getrieben zum Fenster. »Wir müssen diesem Mann unbedingt zuvorkommen. Es wäre nicht auszudenken, wenn er sie vor uns findet. Herr Schlüter, bitte setzen Sie mich über all Ihre eingeleiteten Schritte in Kenntnis. Mit Ihrer Vorarbeit und unseren weiteren Mitteln sollte es uns doch wohl gelingen.«

»Natürlich. Vorab möchte ich Sie aber über die Vorgeschichte informieren. Damit Sie die Beweggründe meines Freundes verstehen.« In den folgenden Minuten erläuterte der Kommissar, was sich aufgrund von Tobias’ Aussagen bislang zugetragen hatte, und endete mit den letzten Erkenntnissen. »Ihr Handy ist weiterhin tot, kein GPS, kein Kreditkarteneinsatz. Sie ist wirklich nicht dumm.«

Kerner nickte sinnend und nahm irgendwann den Blickkontakt zu seinem Gegenüber auf. »Wie sollen wir weiter verfahren, Herr Schlüter? Was schlagen Sie vor?«

Respekt!, dachte dieser bei sich. Wie selbstverständlich band Kerner ihn in die eigene Ermittlung mit ein. Das war ein Mann, mit dem man wirklich zusammenarbeiten konnte. »Ich denke, Ihre und meine Jungs von der Technik sollten sich austauschen. Wir sollten aber vermeiden, mit der Tür ins Haus fallen. Wenn wir Frau Thorstraten denn überhaupt aufspüren. Sie ist eine ziemlich eigenwillige Frau, so wie ich sie kennengelernt habe. Ja, wir sollten Tobias … Ich meine Herrn Herder bitten, auf sie einzuwirken, damit sie mit uns zusammenarbeitet.«

»Wie? Sie wollen einen Zivilisten einer Gefahr aussetzen?«

»Ich sehe bislang keine Gefährdung. Zudem ist mein Freund in meinen Augen der Einzige, der positiv auf die Thorstraten einwirken kann. Außerdem würde für Tobi der Hauch einer Chance bestehen, die Liebe seines Lebens zurückzugewinnen.« Tarek räusperte sich peinlich berührt. »Seien wir doch ehrlich. Wer garantiert ihm, dass er sie wiedersieht, wenn sie erst in unseren Händen ist? Verhöre, Kontaktverbot, womöglich Zeugenschutz. Er leidet schon jetzt wie ein Schwein.«

»Schlüter, mit Ihnen als Verteidiger möchte ich mich nicht vor Gericht beharken.« Kerner schickte ein humorloses Lachen auf Reisen. »Gut, wenn es sich ergibt, soll Ihr Freund seine Gelegenheit erhalten. Doch nun lassen Sie uns erst einmal versuchen, die junge Dame zu finden. Vor allem möglichst so, dass Händler keinen Wind von der Sache bekommt. Es wäre wirklich sehr schade, wenn wir ihm den Überraschungsmoment verderben.«

***

Tobias war stehend erschlagen, als er dem Zug hinterhersah. Was für ein Tag! Zum ersten Mal, seitdem er Christin ins Krankenhaus gebracht hatte, keimten Hoffnung und Zuversicht in ihm auf. Er wusste, was die Zukunft auch bringen mochte – ob Christin zu ihnen zurückkehrte und ihren Sohn in die Arme schloss oder genau das Gegenteil tat – Christoph würde bald ein richtiges Zuhause finden. Selbst wenn er dafür „eine Frau von der Stange“ heiraten musste. Er dachte an ihren hoffentlich nur vorläufigen Abschied zurück. Christophs kleine Finger, wie sie auf- und zugingen, als er ihm hinterherwinkte. Der Moment, als er Frau Wullenweber trösten und mit ihrem Wagen zurückfahren musste, weil sie so sehr gerührt war. Sie waren sich sehr schnell einig geworden, resümierte Tobias und lächelte einen weiteren Anflug von Schwermut fort. Drei Monate waren eine sehr lange Zeit. Aber es musste sein. Christin sollte die Chance bekommen, für sich und ihren Sohn eine gemeinsame Zukunft zu finden. Selbst wenn das hieß, dass er hierbei vielleicht nicht gebraucht wurde. Christoph würde nur dabei gewinnen. Ina Wullenweber hatte ihm ihr Versprechen gegeben, dass sie ihn auf jeden Fall kontaktierte, sollte sich die leibliche Mutter nicht innerhalb dieser drei Monate melden und sich um Christoph kümmern.

Auf dem Weg zu seinem Wagen rekapitulierte er, was in den nächsten Tagen anlag. Er musste sich unbedingt um die Kunden und Auftraggeber kümmern. Nebensache! Ebenso der Gedanke daran, Christins persönliche Habe zusammenzutragen und bei einer Spedition einzulagern. Dass sie hierher zurückkehren würde, war reinste Utopie. Nein, er musste sie finden, ein letztes Mal mit ihr sprechen und ihr den Weg zu Christoph ebnen. Nur, wie sollte er das anstellen? Seine Emotionen würden ihm alles versauen, sollte es zu einer Aussprache kommen. Er würde sie – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – nicht davon überzeugen, wie sehr sie ihnen allen fehlte und wie nötig es war, dass sie Christoph zu sich nahm. Oh Gott, warum nur hatte er ihr Tagebuch gelesen! Ohne dieses Wissen hätte er ewig die beleidigte Leberwurst spielen können. Bis er irgendwann mit einem abfälligen Lachen über die Gedanken an eine schöne, aber hartherzige Frau zur Tagesordnung übergegangen wäre. Tagebuch, schreiben, das war es. Auch er würde ein Tagebuch schreiben. Ein kleines nur, aber dies würde es in sich haben.

Für einen Moment verflüchtigten sich seine Sorgen, als er Jutta und Hannah gesund und munter daheim vorfand. Jutta war gerade damit beschäftigt, die junge Dame ins Bett zu bringen. Tobias übernahm seinen Part und setzte sich zu Hannah ans Bett. Er versuchte nicht auf das Foto neben ihrem Bett zu schauen.

»Wo warst du heute?« Hannah umschlang seinen Hals und zog ihn zu sich herab.

Wie gern hätte er ihr gestanden, dass sie vielleicht bald einen Bruder bekam. Doch war das tatsächlich so? »Ich musste mir das Haus von einem neuen Kunden anschauen. Vielleicht bekomme ich den Auftrag.«

»Das wäre schön. Wir könnten von dem Geld für Mama ein Zimmer einrichten. Dann braucht sie gar nicht mehr ins Hexenhaus zurückkehren.«

Er schwieg. Was hätte er ihr denn auch sagen sollen?

»Sie kommt nicht mehr zu uns zurück, stimmt’s?«

Es klang so abgeklärt. Und er war so feige.

»Sie ist fortgegangen, wie meine erste Mama.«

»Nein, so ist es nicht, Hannah. Und ja … Christin ist fort, weil es böse Menschen gibt, die sie nicht in Ruhe lassen. Sie hat Angst, dass diese Leute auch uns wehtun …« Oh Mann, er redete sich hier um Kopf und Kragen. Panik war das Letzte, was er brauchte. »Glaube mir, wenn wir es uns nur ganz fest wünschen, wird Christin zu uns zurückkommen. Du, du willst doch auch einmal eine weiße Fee werden. Mit deinen Zauberkräften und meinen Freunden werden wir die bösen Menschen verjagen und Christin wiederfinden. Das verspreche ich dir.«

»Ich kann nicht zaubern«, schluchzte Hannah auf.

»Oh doch, das kannst du. Christin hat es mir erzählt und die lügt nicht. Du musst nur ganz fest daran glauben.«

***

Vielleicht war es nicht verkehrt, sich ein wenig kindlichen Glauben zu erhalten. Tobias stand an der Tür und blickte noch einmal nachdenklich auf seine schlafende Tochter.

Jutta hatte es sich im gemeinsamen Wohnzimmer mit einer Flasche Wein gemütlich gemacht. Als ihr Schwiegersohn eintrat, schaltete sie den Fernseher aus. »Du siehst aus, als könntest du auch ein Gläschen vertragen.«

»Wenn es danach geht, reicht kein Fass.«

Jutta spürte nach so vielen gemeinsamen Jahren, wie er still für sich litt. Dennoch war sie in einem Zwiespalt gefangen. Sie litt mit ihm und doch ging ihr seit gestern Abend ein ganz bestimmter Mann nicht mehr aus dem Sinn. Das Schweigen wurde unerträglich. »Und, hast du etwas von ihr gehört?«

»Nein, nicht wirklich. Und wenn ich ehrlich sein soll …« Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Solange Händler hier schaltet und waltet, wird sie nicht heimkehren.« Heimkehren, resümierte er für sich. Was für eine Anmaßung! »Wenn ich diesen Kerl in die Finger bekomme.«

»Nichts wirst du unternehmen!«, unterbrach Jutta ihn mit einer Bestimmtheit, die sie bislang nie an den Tag gelegt hatte. »Ich habe dir gesagt, dass das ganz allein meine Sache ist.«

»Nein! Dieser Mann nimmt keine Rücksicht auf Frauen! Er hat Christin mehrmals verprügelt und sie, was ich nicht beweisen kann, überfallen und vergewaltigen lassen.«

Jutta stockte der Atem. »Christin wurde vergewaltigt?« Sie bemerkte sein hilfloses Nicken. »Wieso hast du mir das nicht gesagt?«

»Weil du daran nichts änderst und jemand für Hannah da sein muss, der nicht ständig mit Mordgedanken herumläuft.«

»Trotzdem! Halte dich aus meinen Angelegenheiten heraus. Nils-Ole Händler wird seine Strafe bekommen. Das verspreche ich dir. Ich stehe nicht allein da. Sieh du zu, dass Christin wieder zu uns nach Haus kommt.«

Tobias nickte ergeben. Allein seine Körperhaltung sprach etwas ganz anderes aus.

***

Jutta hatte sich für die Nacht fertig gemacht. Obwohl sie wusste, dass die Unruhe und Sorge um die Kinder sie nicht würden ruhen lassen. Unter Tobias’ mühsam beherrschter Oberfläche brodelte ein Vulkan. Sie mochte sich nicht ausmalen, was geschah, wenn er jemals Sinas Tagebücher in die Hand bekam. Oh, wie gern hätte sie jetzt jemanden an ihrer Seite, mit dem sie all ihre Sorgen hätte besprechen können. Der einzige Mann, der ihr hierbei einfiel, lag bestimmt im tiefsten Schlaf. Herbert Kerner hatte ihr seine Visitenkarte gegeben … inklusive seiner Privatnummer. Nein, Jutta!!! Denke nicht einmal daran.

Die leise Melodie ihres Handys kündigte eine eingehende SMS an. Wer schrieb denn jetzt? Wer schrieb ihr überhaupt? Christin? Das konnte nur Schlimmes bedeuten. Sie musste ihre zitternden Finger erst unter Kontrolle bekommen, damit diese die Nachricht abriefen. Zeit, um ihren Puls erneut in schwindelerregende Höhen zu jagen.

Sind Sie vielleicht noch wach? Ich würde mich sehr über einen Gedankenaustausch freuen. Liebe Grüße, Herbert Kerner.

Jutta schlug das Herz bis zum Hals hinauf. Kaum dachte sie an ihn, war er zur Stelle. Sie lächelte versonnen und drückte die grüne Taste, um ihm ebenfalls etwas Nettes zu schreiben. Die Buchstaben verschwanden vom Display und zeigten die Nummer des Absenders an, der gerade angewählt wurde. Oh Gott! Vor Schrecken fiel ihr das Gerät aus den Händen. Sie wollte doch nur etwas tippen.

»Kerner.« Sofort war seine Stimme dran. »Sind Sie das, Frau Kellermann?«

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Doktor. Eigentlich wollte ich Ihnen nur eine Antwort tippen. Ich Tollpatsch bin technisch nicht die Hellste, müssen Sie wissen.«

Er schenkte ihr ein leises Lachen. »Nein, Sie sind nur ein ganz besonderer Mensch, der mehr Courage zeigt als manch ein gestandener Kerl.«

»Ach, so genau meinen Sie mich bereits zu kennen?« Ihr Unterton war viel zu kokett, warf sie sich vor und spürte dem Kribbeln nach, das ihr über die Haut lief.

»Ich glaube, dass ein halbes Leben im Gericht die Sinne schärft, um zu erkennen, wie ein Mensch gestrickt ist. Bei Ihnen habe ich sofort gespürt, dass Sie ein besonders faszinierender Mensch sind.«

»Nun hören Sie aber auf, sonst werde ich noch rot wie ein Schulmädchen.«

»Das würde ich jetzt gern sehen.« Wieder dieses leise Lachen, das ihr unter die Haut ging. »Wäre es für Sie zu spät, wenn ich Sie nun zum Essen einlade?«

»Herr Dr. Kerner, ich liege bereits im Bett.« Jutta wusste wirklich nicht, welcher Teufel sie ritt, als sie ihm mit dunkler Stimme drohte. »Und nun sagen Sie mir nicht, dass Sie das auch gern sehen würden.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739498836
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Millionär Sammelband Gefühle Escortlady Transgender starke Frauen Beziehungen Humorvoll Verständnis Vertrauen Erotik Erotischer Liebesroman Liebesroman

Autor

  • Katharina Mohini (Autor:in)

Als freie Autorin veröffentlicht sie seit 2017 im Genre „Adult Romance“. Bücher, die die Thematik „Starke Frauen in außergewöhnlichen Lebenssituationen und der ewige Kampf mit den großen Gefühlen“ behandeln. Dabei würzt sie ihre Geschichten stets mit einer kräftigen Prise Hochspannung und Humor. Des Öfteren stolpern ihre Protagonisten über die Fallstricke ihrer eigenen Handlungen und Taten, oder geraten in bedrohliche Situationen, die praktisch aussichtslos erscheinen.
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Titel: Irrwege der Leidenschaft