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Menschen gesucht

Die Crew der Sirius 7

von Thorsten Hoß (Autor:in)
441 Seiten
Reihe: Die Crew der Sirius7, Band 2

Zusammenfassung

Endgültig auf Lunaria gestrandet, beginnt die Crew der Sirius7 langsam ihre Lage zu akzeptieren. Doch sind sie die einzigen Menschen zwischen den befreiten Orks und Goblins in ihrem Gefolge? Nur der gespaltene Geist des toten Zauberers Ingbold scheint zu wissen, wo sie andere ihresgleichen finden können. Doch damit er sie an seinem Wissen teilhaben lässt, müssen die Astronauten erst ihren Pakt mit ihm erfüllen. In der Hoffnung, bei den hiesigen Menschen eine neue Heimat zu finden, bereitet sich die Crew der Sirius7 auf ihr nächstes Abenteuer vor. Ob der Magier sein Wort auch halten wird, wenn er erst einmal hat, was er begehrt, ist alles andere als sicher. Nur eines ist gewiss: Das Ultimatum, welches der spukende Zauberer ihnen gestellt hatte, läuft langsam ab und es wird Zeit, ihre Reise in dieser mystischen Welt fortzusetzen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Menschen gesucht

(Die Crew der Sirius7, Band 2)

Zweite deutsche Ausgabe

©2017 Thorsten Hoß

Sirius7@rollenspielseminar.de

www.Lunariaromane.de

Covergestaltung: PolinaHoß

Lektorat: Polina Hoß, André Reichel

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Postadresse des Rollenspielseminars

Wilhelmstr. 26 41363 Jüchen

Widmung

Für meine Eltern.

Prolog

Zwei Entitäten, jede für sich die menschliche Vorstellungskraft sprengend, betrachteten augenlos die winzige Gestalt, die unter ihnen kniete. „Dies ist er also?“, fragte die erste wortlos.

„Dies ist er!“, antwortete die andere mundlos.

„Er ist so schwach und zerbrechlich.“

„Natürlich! Er ist nur ein Mensch!“

„Er ist mir fremd, doch irgendwie vertraut.“

„Er gehört zu den Nachkommen derer, die zurückblieben.“

„Dann ist er sehr weit weg von seinem Zuhause. Erstaunlich… Ich habe den Weg gar nicht gespürt.“

„Er hat ihn auch nicht benutzt. Er kam mit einem Sternenschiff.“

„Also hat ES dich nun auch erreicht?“

„Das hatte ES schon mehr als einmal. Darum gibt es den Wächter.“

„Aber warum hat dein Wächter ihn und seine Leute verschont?“

„Das hätte er nicht, doch spürte ich dich in ihm und den anderen.“

„Ich spüre es auch, aber er ist kein Teil von mir.“

„Das ist interessant, oder?“

„Das ist es. Und es bedeutet...“

„Es bedeutet, dass du dort einen Weg gefunden hast, ES zu überleben.“

„Wenn das wahr ist, wäre es interessant, mich austauschen zu können.“

„Du weißt, dass das nicht geht. Sie sind einfach zu primitiv. Und dieses spezielle Exemplar ist besonders unempfänglich. Aber genau das macht diesen Menschen interessant. Seine Begleiter haben sich angepasst, er nicht.“

„Die beiden Frauen hatten keine Wahl. Und einer von ihnen war schon kein Mensch mehr, als sie ankamen.“

„Und trotzdem haben sie sich angepasst. Genauso wie sein anderer Begleiter.“

„Das ist richtig, aber ist dieser Mensch wirklich der richtige? Wenn du ihn gehen lässt, könnte ES wieder auf dich aufmerksam werden und versuchen auch noch unseren letzten Zufluchtsort zu erobern.“

„Das ist wahr. Doch wir wissen alle, was ES für uns bedeutet. Und anders als du und die anderen stehe ich nicht alleine da. Ich habe euch an meiner Seite. Und ich bin gewarnt. ES konnte sich einschleichen und euch innerlich verzehren. Das wird ES hier nicht können. Aber wenn der Mensch Erfolg hat, erfahren wir, wie du es geschafft hast, ES zu überleben.“

„Eine wichtige Erkenntnis“, stimmte die erste Entität nun zu. „Doch wie soll ihm die Rückkehr gelingen, ohne sich anzupassen?“

„Wir werden sehen. Er und seine Begleiter sind auf dem richtigen Weg. Wir werden sehen, ob er leisten kann, was wir uns von ihm versprechen.“

„Es ist lange her, dass wir uns für einen einzelnen Menschen interessiert haben.“

„Lass uns mit den anderen sprechen. Dann sehen wir, wie sich alles entwickelt.“

„Einverstanden.“

Von jetzt auf gleich war die kleine Gestalt, die auf dem Boden kauerte, wieder allein. Nur hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie Gesellschaft gehabt hatte.

1. Boris

Der Pilot und Astronaut, Kommandant Boris Iwanowitsch Koschkin, kniete im feuchten Gras. Nicht, dass sein Äußeres in irgendeiner Weise verriet, wer er war oder woher er stammte.

Nicht seine grobe Kleidung aus dickem Schweinsleder oder sein immer länger werdendes Haar, das ihm in wilden Strähnen ins Gesicht fiel. Nicht der primitive Speer, der neben ihm im Gras ruhte, und auch nicht sein Reitschwein, das im Schatten eines der Bäume auf ihn wartete. Einem unbedarften, unwissenden Beobachter zeigte sich kein Hinweis darauf, dass er nicht von dieser Welt stammte und ein Gestrandeter war.

Während er nun dort kniete, versuchte er seine Emotionen in den Griff zu bekommen und seine Gedanken zu beruhigen. Er hatte einfach ein letztes Mal hierhin zurückkommen müssen, bevor er seinem Hyperraumschiff endgültig den Rücken zukehren würde.

Nicht dass von seiner Sirius7 noch irgendetwas zu erkennen gewesen wäre. Ohne die Absturzschneise hätte er ihr Grab sicher nicht gefunden. Nur ein großer, länglicher Hügel aus sich immer noch setzender Erde deutete an, wo das Raumschiff nach seiner Bruchlandung zum Stillstand gekommen war.

Als er nach seiner Gefangenschaft an diesen Ort zurückgekehrt war, ragten noch vereinzelte Kristallspitzen aus der Erhebung. Doch während er die letzten Monate mit den Goblins gelebt hatte, musste der Kristall das Schiff weiter in die Tiefe gezogen haben.

Der ehemalige Kommandant der Sirius hatte den Erzählungen seiner Mannschaft einfach nicht glauben können, ohne es mit eigenen Augen gesehen zu haben. Ein Kristallwesen, was sein Schiff angegriffen und zerstört hatte, war für ihn zunächst absolut unglaubwürdig.

Da seine Kameraden aber keinen Grund hatten, ihn zu belügen, akzeptierte er ihre Darstellung zunächst, ohne sie zu glauben. Doch als er selbst zurückgekehrt war, blieb ihm keine Wahl mehr.

Wie lange war das nun her, seit er und seine Crew von Pionieren der Raumfahrt zu Steinzeitmenschen abgestürzt waren? Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Ohne Computer und Kalender verschwamm sein Zeitgefühl zusehends.

„Ruhe in Frieden, meine Schöne“, verabschiedete er sich von seinem verschütteten Schiff und erhob sich. Bald würde er mit Faqech aufbrechen, um zu seinen eigenen Leuten zurückzukehren. Und dann würden sie gemeinsam weiterreisen, um andere Menschen zu suchen, die auf dieser Welt leben sollten.

Dass die bald frischgebackene Schamanin ihn begleitete, beruhigte Koschkin auf der einen Seite sehr. Das Goblinmädchen war so sehr Teil seines Lebens geworden, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie es ohne sie wäre. Ohne sie hätte er hier gar nicht so lange durchgehalten und wäre schon etliche Male gestorben. Er hatte damals schon eine tiefe Loyalität für das zierliche Wesen empfunden, als er sie noch für einen Jungen hielt.

Im Nachhinein betrachtet war es für ihn jedoch nicht so verwunderlich. Weibliche Goblins schienen erst richtige Brüste zu entwickeln, wenn sie das erste Mal schwanger wurden. Zuvor waren sie so flachbusig, wie jeder andere männliche Goblin. Hinzu kam, dass sie einen machtvollen heilenden Gegenstand unter ihrem Lendenschurz versteckt hatte, den er bei ihrem ersten Zusammentreffen für männliche Genitalien gehalten hatte.

Dass er sich in diesem Punkt so grundlegend geirrt hatte, irritierte ihn noch eine ganze Weile, nachdem er eines Besseren belehrt worden war. Doch hatte er bis vorgestern seine Unsicherheit als überwunden betrachtet.

Seine wiedergekehrte Verwirrung war der zweite Grund, warum er hier alleine stand und nicht in ihrer Begleitung. Er brauchte etwas Zeit für sich, um seine Gedanken zu ordnen.

Seit sie sich erneut von seiner Crew getrennt hatten, damit Fang, wie er die Goblinin nannte, ihre Ausbildung zum Schamanen bei ihrem Lehrmeister Queckech abschließen konnte. Dabei hatte er sie nach Kräften unterstützt, beschützt, wenn es nötig war, und ihr dabei geholfen, die seltsamsten Komponenten für ihre Rituale zu suchen. Also generell, ihr ein guter Kamerad und Freund zu sein.

Als sie ihm an diesem schicksalhaften Abend vor zwei Tagen gestand, dass sie vermutlich nicht genügend Kraft sammeln könnte, um die vor ihr liegende Aufgabe zu bestehen, bot Koschkin ihr sofort seine Hilfe an. Faqech hatte ihn daraufhin wieder einmal so seltsam angeschaut, bevor sie ihm erklärte, dass er ihr tatsächlich helfen könnte, wenn er ein Ritual mit ihr vollziehen würde.

Ein Ritual, von wegen! Fang hatte ihn gevögelt, als würde es kein Morgen geben. Und er hatte es zugelassen. Nein, das war falsch. Nicht zugelassen, euphorisch mitgemacht, wäre ein besserer Ausdruck dafür.

Dabei hatte es so harmlos angefangen, bevor es in einer Form eskalierte, die Koschkin zuvor noch nie erlebt hatte. Nicht einmal Ashley war so wild gewesen.

Als Fang am nächsten Tag zu ihrer letzten Prüfung aufbrach und sich dafür bedankte, dass er ihr seine Kraft gegeben hatte, konnte er sich kaum rühren und war alleine in der kleinen Höhle zurückgeblieben, die ihm die Goblins am Rande ihrer Siedlung zugewiesen hatten.

Er hatte bis zum heutigen Vormittag benötigt, um halbwegs wieder zu Kräften zu kommen. Nachdem er sich gewaschen und etwas gegessen hatte, besuchte er den Schamanen, um sich nach Fang zu erkundigen.

Koschkin verstand mittlerweile einige Brocken der quäkigen Sprache der Goblins, doch reichte dies nicht, um eine längere Unterhaltung zu führen. Der alte Schamane machte ihm jedoch verständlich, dass Fang ihre Aufgabe noch nicht abgeschlossen hatte, sodass der Russe beschloss, alleine und ein letztes Mal zu seinem Schiff aufzubrechen, um sich zu verabschieden.

Und nun war er hier, alleine mit seinen Gedanken.

Ich sollte zurückkehren, beschloss er schließlich und wandte sich ab. Doch als er sich seinem Reitschwein näherte, sauste ein kleines leuchtendes Objekt auf ihn zu und zwitscherte ganz aufgeregt dabei.

„Was ist das schon wieder?“, stieß er überrascht aus und versuchte, dem Geschoss auszuweichen. Seine Bemühungen waren jedoch erfolglos. Wie eine zielsuchende Rakete hatte sich das Ding auf ihn ausgerichtet und blieb weiter auf Kurs. Kurz bevor es in ihn einschlagen konnte, drehte es abrupt ab und begann seinen Kopf in wilden Kreisen zu umrunden. Dabei zwitscherte es ununterbrochen.

2. Faqech

Ihre Geisterreise hatte Faqech sehr erschöpft. Sie brauchte einen Moment, um sich ihres Körpers wieder bewusst zu werden, und saß einfach nur da. Als sie endlich ihre Augen öffnete, spürte sie, dass ihr Lehrmeister bei ihr war, um sie zu stützen.

„Es hat ungewöhnlich lange gedauert“, sprach er sie an. „Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.“

„Du hast mich gut vorbereitet. Die Geister haben mir gezeigt, was ich im Innersten bereits wusste. Ich bin hier nicht länger willkommen.“ Der alte Schamane blickte ernst in die offenen Züge seines Lehrlings.

„Die Ahnengeister haben dich abgelehnt? Dann ist das Ritual gescheitert?“

„Sie haben mich abgelehnt, doch habe ich mein Totem auch ohne sie gefunden.“ Queckech senkte den Blick, dann antwortete er traurig:

„Dann bist du nun also ein Schamane, aber ein Schamane ohne Stamm. Ich hatte gehofft, du könntest mich ersetzen, wenn die Zeit gekommen ist.“

„Der Stamm hat seine Entscheidung getroffen. Die Lebenden, als sie mich verbannten, und die Toten, als sie ihre Hilfe verweigerten. Und auch ich habe sie getroffen, als ich mich gegen sie stellte, um Boris zu schützen, auch wenn ich es damals noch tat, weil du mir die Verantwortung für den Menschen gegeben hattest.“

„Dann soll es so sein“, nickte der alte Schamane. „Wann werdet ihr aufbrechen?“

„In nächster Zeit. Auch wenn mich die meisten seit unserer Rückkehr wie eine Ausgestoßene behandeln, habe ich doch Freunde, von denen ich mich verabschieden möchte. Wenn ich meine Angelegenheiten geregelt habe, werden Boris und ich zu den anderen Menschen zurückkehren. Vielleicht wollen es die Geister, dass ich die Schamanin der Heimatlosen werde und bei ihnen lebe.“

„Das wäre möglich“, pflichtete Queckech ihr bei. Dann reichte er ihr nachdenklich etwas Wasser und ein wenig Nahrung und wartete schweigend, bis sie sich gestärkt hatte.

„Wirst du deinen Kraftspender mitnehmen?“, begann er schließlich erneut ein Gespräch. Faqech zögerte kurz, dann nickte sie.

„Ja, das werde ich“, bestätigte sie unbestimmt.

„Dann werdet ihr ein zweites Schwein brauchen. Zwei Goblins, ein Mensch, dazu noch Gepäck und eine Walze für das Messergras; das ist auf Dauer einfach zu viel für ein Tier.“

„Ein zweites Reitschwein wäre nicht schlecht“, stimmte sie zu. „Aber wir werden nur zu zweit sein.“ In der einsetzenden Stille warf sie ihrem Lehrmeister einen verstohlenen Seitenblick zu.

„Ich verstehe. Vielleicht haben die Ahnen dich deswegen abgelehnt, da du keinen deines Volkes erwählt hast.“

„Ich bin dem Ritus gefolgt! Du hast selber gesagt, das Ritual würde umso besser funktionieren, je enger man sich jemandem verbunden fühlt. Und es hat zweifelsfrei sehr gut gewirkt.“ Ihre Worte zeugten von Trotz und Verlegenheit gleichermaßen, doch hoffte sie, Entschlossenheit auszustrahlen.

Sie hatte Koschkin gar nicht in Erwägung gezogen, bis ihr klar wurde, dass sie sich mit niemandem in ihrem Stamm wirklich verbunden fühlte und er ihr daraufhin seine Hilfe anbot. Danach hatte sie sich gefragt, wieso sie nicht früher darauf gekommen war.

„Das hat es wohl“, stimmte ihr Lehrmeister zu. „Aber die Menschen sind so groß und plump und riechen komisch.“ Als er dies sagte, starrte Faqech ihn unverwandt an. „Sie haben auch viele gute Seiten“, ergänzte er schnell. „Aber ich finde sie einfach hässlich. Würde sich der Mensch nicht die Wangen schaben, sähe er in meinen Augen fast aus wie ein Bär.“

„Darauf kommt es nicht an“, bestimmte sie.

„Das ist eine sehr schamanische Einstellung“, pflichtete er ihr bedächtig bei.

3. Ashley

Die Umgebung flog rasend schnell an Ashley vorbei, während sie sich tief hinab gebeugt an das Schuppenkleid ihres Reittieres presste. Deutlich spürte sie die mächtigen Muskeln des Säbelfanten unter sich arbeiten, während er sie durch die endlose Weite des Messergrases trug. Sie liebte dieses Gefühl, das sie empfand, während sie unterwegs war. Früher einmal war sie die Ingenieurin und Bordtechnikerin Ashley Bender gewesen. Doch nun war sie Ashley die Säbelfantenreiterin, Herrin ihres Rudels.

Ihr altes Leben lag so weit hinter ihr, dass es ihr teilweise vorkam, als hätte jemand anders dieses Leben geführt. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass der Kristall ihr so viel Erinnerung und Wissen aus ihrem alten Leben gestohlen hatte. Damals, als ihr Schiff zerstört und ihr Leben ein anderes wurde... Doch das war egal. Es lag hinter ihr und war vorbei. Was zählte, war das Hier und Jetzt. Und jetzt gerade war sie mit ihrem Rudel auf der Jagd.

„Ashley, komm zurück. Ich habe den Ort endlich lokalisiert.“ Die Blondine zuckte leicht zusammen, als sie die mentale Botschaft empfing. Seit der Eierkopf gelernt hatte, telepathische Nachrichten zu übermitteln, ging er ihr auch noch auf die Nerven, wenn sie nicht im Lager war.

Aber auch das war jetzt egal. Ihr Rudel hatte ihre Beute fast erreicht. Zuerst würde sie ihre Jagd beenden. Vom Rücken Ihres Tieres sah sie die Bewegungen der Herde im Messergras. Zwanzig oder dreißig mussten es sein. Und sie hatten sie ebenfalls bemerkt. Egal, entkommen würden sie nicht.

Die aufgescheuchten Panzerwollschafe stoben auseinander, als ihre Meute Säbelfanten zwischen sie sprang und die ersten Opfer riss. Auch sie hatte sich aufgerichtet und einen ihrer Speere geschleudert. Zielsicher war die Waffe in den Hals eines der Schafe eingedrungen und hatte es zu Boden geschickt. Geschickt griff sie sich eine neue Waffe aus der Halterung ihres Sattels und zielte erneut. Auch ihr zweiter Speer traf genau, bevor ihr Reittier endgültig die Herde durchquert hatte und wendete. Noch zweimal jagten sie und ihr Raubtier den Überlebenden hinterher, um weitere Leben zu fordern. Bis sie keine Speere mehr hatte und absprang. Ihr Säbelfant sollte auch die Möglichkeit haben, seine Beute selbst zu erledigen. Zufrieden blickte sie sich um. Eines ihrer Raubtiere weidete gerade seine Trophäe aus und verschlang gierig große Bissen des frischen Fleisches. Sie wusste, dass die restlichen Rudelmitglieder ganz in ihrer Nähe waren und sich ebenfalls stärkten.

„Wohl bekommt’s!“, rief sie dem Tier zu, während sie begann, die erlegten Schafe für den Transport vorzubereiten. Zunächst stellte sie sicher, dass alle Schafe wirklich tot waren. Wo es nötig war, setzte sie einen Gnadenstoß nach. Dann begann sie, je zwei Schafe mit den Läufen aneinander zu binden. Dabei summte sie eine Melodie und ließ ihre Gedanken schweifen.

Seit sie an der Turmruine angekommen waren, war es stetig bergauf gegangen. Am Anfang war es müßig gewesen, Jagdbeute zu finden und diese zu erlegen, bevor sie im Messergrasmeer wieder entkommen konnte. Bis schließlich ihr Säbelfant unerwartet zu ihr zurückgekehrt war.

Als sie und ihre Freunde damals ihren treulosen Kater Koschkin befreiten, hatten sie neben etlichen Sklaven auch eine größere Gruppe dieser gefährlichen Raubtiere in die Freiheit entlassen. Ihr treues Reittier hatte sie damals angegriffen und beinah getötet. Doch sie konnte den Säbelfanten gerade so überrumpeln und in die Flucht schlagen.

Später hatte sie ihn wieder getroffen und ihm aus einer Laune heraus das Leben gerettet und seine Wunden versorgt. Seitdem hatte der große Säbelfant sie beobachtet. Zunächst war er nur um ihr Lager gestreunt und hatte für viel Unruhe unter den Orks und Goblins gesorgt.

Doch dann hatte er angefangen, Geschenke zu bringen. Hier ein Panzerwollschaf, dort ein Panzerwolf oder auch Megwo, wie die Einheimischen die entfernt wolfsartigen Raubtiere des Messergrases nannten. Nach und nach hatte sich das Band zwischen ihnen gefestigt. Auch, weil ihre Freundin Hiriko zwischen dem Tier und ihr vermitteln konnte.

Irgendwann brachte der Säbelfant einen zweiten mit in ihr Lager, halb tot, mit einem geschwollenen und entzündeten Rüssel, in dem ein Metallring eiterte. Auch diesem hatten sie geholfen.

Es vergingen zwar noch Monate, bevor ihr Säbelfant akzeptierte, dass sie auf ihm ritt, doch war der Grundstein gelegt. So hatte sich nach und nach ihr Rudel aus fünf dieser großen Raubtiere gebildet, mit dem sie nun jagte und im Prinzip im Alleingang das ganze Lager mit Frischfleisch versorgte. Seitdem war alles einfacher. Sie hatten genügend Essen und viele der ehemaligen Sklaven erwiesen sich als durchaus geschickte Handwerker, die auch noch aus den letzten Teilen der Tiere etwas Brauchbares erschaffen konnten.

Heutzutage musste sie nicht mehr nackt durch die Gräser streifen, um zu vermeiden, dass Kleidung, die sie trug, durch die scharfen Graskanten regelrecht von ihrer Haut geschnitten wurde. Und sie musste keine Rücksicht mehr auf andere nehmen, deren Körper nicht so widerstandsfähig wie ihr eigener waren. Sie wusste zwar bis heute nicht genau, weshalb ihre Haut so ungewöhnlich robust geworden war, doch spielte der Grund für sie auch keine Rolle. Es war eben, wie es war. Sich darüber den Kopf zu zerbrechen, führte zu nichts.

Also hörte sie auf zu grübeln und begann damit, ihr Rudel zu sammeln und die schweren Schafe auf die Rücken der Raubtiere zu wuchten. Auch das war etwas, was die alte Ashley nicht hätte leisten können. Dieser Kraftakt wäre schlicht zu groß für sie gewesen. Rundum zufrieden mit sich und der Welt bestieg sie erneut ihren Säbelfanten und machte sich auf den Heimweg.

4. Sven

Sven Erikson, ehemaliger Astrogator der Sirius7 und angehender Zauberer, wartete ungeduldig im Lager.

„Ich bin mir sicher, dass ich nichts falsch gemacht habe“, redete er mit sich selbst. Eigentlich redete er mit einem Geist, der nur von den Personen gesehen und gehört werden konnte, die das kleine, rote, runde Schmuckstück berührten, das er an einer Silberkette um den Hals trug.

„Ich habe auch keine Fehler bemerkt“, bestätigte der Geist sachlich. „Eure Gefährtin hat Eure Nachricht bestimmt erhalten.“

„Ich könnte versuchen, sie zu orten“, schlug Sven seinem Lehrmeister vor.

„Dadurch würde sie auch nicht schneller zurückkehren. Ihr würdet nur Mana vergeuden“, antwortete der Geist streng. „Auch wenn Ihr hier Eure Kräfte schnell zurück erlangen könnt, solltet Ihr von mir gelernt haben, dass man mit seinen magischen Fähigkeiten haushalten sollte.“

„Sie haben wie immer recht, Lektor Ingbold“, antwortete Erikson nach kurzem Zögern. Der Geist des verstorbenen Zauberers hatte ihm viel beigebracht, seit er zufällig auf dessen Überreste gestoßen war und die Kette gefunden hatte.

Die rote Kugel war kein einfaches Schmuckstück, wie er zuerst dachte, sondern Wohnstatt eines Seelenteils des Zauberers. Viel mehr hatte der Geist ihm darüber aber nicht erzählen wollen. In der Ruine, die einmal der Turm des Zauberkundigen gewesen war, existierte noch ein weiterer Seelenteil von ihm, der sich jedoch Magister Ingbold nannte und offensichtlich ganz normal herumspukte, nachdem sein Leben ein gewaltsames Ende gefunden hatte.

Dass Sven es als normal empfand, wenn Verstorbene herumgeisterten, fiel ihm gar nicht mehr auf. Dem Geist von Lektor Ingbold jedoch schon, der die Gedanken seines Lehrlings lesen konnte, solange das Schmuckstück Körperkontakt mit Sven hatte.

„Wie wäre es mit einer weiteren Lektion, während wir warten?“, schlug der Geist vor, wobei er leicht schmunzelte. „Das dürfte euren Verstand beschäftigen, bis eure Gefährtin zurückgekehrt ist.“

„Einverstanden“, entgegnete Sven erfreut. Doch als er sich dem Geist zuwandte, bemerkte er, dass dieser abgelenkt wurde und in Richtung des Turmes blickte.

„Aber es schadet doch nicht“, erwiderte der Lektor seinem unsichtbaren Gesprächspartner. Sven seufzte. Während er Lektor Ingbold sehr viel Sympathie entgegenbrachte, musste er eingestehen, dass dies nicht für Magister Ingbold galt.

Auch wenn die beiden ein und dieselbe Person zu sein schienen, führten sie immer wieder Streitgespräche. Umso weiter seine Ausbildung voran schritt, umso häufiger stritten sich auch die Geister. Manchmal konnte er Lektor Ingbolds Teil der Unterhaltung mitverfolgen. Manchmal, wie nach diesem Satz, wechselte der Lektor jedoch in eine Sprache, die Sven nicht verstand.

Dies wäre an und für sich nichts Besonderes gewesen, doch hatte Erikson durch eine Fee das Geschenk des Feenstaubs erhalten, wodurch er bisher jede Mundart verstanden hatte, auf die er in dieser Welt gestoßen war. Doch diese seltsame Sprache entzog sich der Magie des Staubs.

Warum das so war, konnte sich Erikson nicht erklären. Auch die Muttersprache des Geistes beherrschte er nicht, doch konnte er sie dank des Feenstaubs verstehen. Daran konnte es also nicht liegen.

Auch Hiriko verstand diese Sprache nicht, obwohl sie ansonsten mit so ziemlich jedem Geist sprechen konnte und auch verstand, was diese sagten.

Selbst mit seinem kleinen Feuerelementar, den er aus Versehen beschworen hatte, konnte sie kommunizieren, auch wenn sich eine Unterhaltung mit dem Elementarwesen kaum lohnte, denn die Interessensbereichen und Themen einer Flamme waren doch stark eingeschränkt. Sven beschloss seiner Kameradin einen Besuch abzustatten, während die Geister stritten und er auf Ashley wartete.

Hiriko Tanaka war einmal die Kopilotin und Funkerin der Sirius7, doch dann war sie durch einen tiefen Sturz gestorben. Anschließend wurden ihre Überreste verschleppt und später auch noch von Ogern verspeist. Auf der Erde wäre es eine klare Angelegenheit gewesen. Auch wenn sie dort vermutlich nicht von einem Oger gefressen worden wäre. Gestürzt, gestorben, gefressen. Sie wäre tot und fort.

Trotz dieser Widrigkeiten ging es der ehemaligen Asiatin jedoch recht gut. Als Erikson sie fand, aalte sie sich gerade auf einem großen Trümmerstück der Turmruine in der Sonne und lächelte verträumt.

Sie hatte sich mit Abstand am meisten verändert, seit ihr Schiff hier abgestürzt war. Sie war größer geworden und reichte jetzt an Eriksons eigene, fast zwei Meter messende, Körperhöhe heran. Gleichzeitig war ihre Haut noch dunkler geworden und glänzte nun in einem dunklen satten Braunton im Licht der Sonne. Nur ihre Gesichtszüge zeugten noch von ihrer asiatischen Abstammung. Wäre da nicht ihr langes grünes Haar gewesen, hätte er sie vielleicht mit einer der hochgewachsenen afrikanischen Kriegerinnen verglichen, über die er einmal etwas gelesen hatte.

„Hallo Hiriko“, grüßte er, als sie ihre Augen öffnete.

„Hi Sven“, grüßte sie zurück, während ihre dunkelbraunen Pupillen, in denen sich immer mehr grüne Sprenkel mischten, schalkhaft aufblitzten. “Suchst du etwas spezielles, oder hast du schon etwas gefunden, was dir gefällt?“, neckte sie ihn und legte sich noch ein wenig mehr in Pose. Erikson wurde sofort rot und wandte sich ab.

„Ehrlich Hiriko, ich wünschte, du würdest das lassen.“

Dass Ashley endlich wieder Kleidung trug, hatte ihn sehr beruhigt. Hiriko hingegen hielt dies nach wie vor nicht für nötig und neckte ihn immer wieder damit, dass er sich durch ihre Nacktheit so aus dem Konzept bringen ließ. Auch dieses Mal lachte sie glockenhell auf, bevor sie ihn anlächelte und unschuldig „womit denn?“ fragte. Dann setzte sie sich auf und fuhr fort. „Hast du nun nach mir gesucht oder bist du zufällig vorbeigekommen und wolltest nur kurz Hallo sagen?“

„Ein bisschen von beidem“, gab er zu. „Die Geister streiten sich wieder und ich warte auf Ashleys Rückkehr.“

„So ist das also. Und ich habe gedacht, die Sehnsucht nach mir hätte dich hierher getrieben“, schmollte sie enttäuscht und zog eine Schnute, nur um ihn kurz darauf wieder anzulächeln. Hiriko war immer noch Hiriko. Da war er sich sicher. Doch hatte sich ein Teil ihrer Persönlichkeit, ähnlich wie ihr Körper, sehr verändert, seit sie eine Dryade geworden war. Wie aus der stillen Sprachwissenschaftlerin dieser extrovertierte Naturgeist entstanden war, konnte weder sie selbst noch Lektor Ingbold erklären. Auch Tilseg, der von ihnen allen noch am besten zu begreifen schien, wie diese neue Welt funktionierte, hatte noch keine abschließende Lösung gefunden.

„Wo ist eigentlich Tilseg?“

„Der spielt, glaube ich, gerade Hebamme“, strahlte sie. „Unsere kleine Gemeinschaft wird wieder ein bisschen größer.“

„Sieht so aus“, bestätigte Sven gedankenverloren. Seit der Kommandant mit dem Goblinschamanen und Fang aufgebrochen war, hatte der Grünhäutige die Rolle des Heilers und Seelsorgers übernommen. „Einmal Doktor, immer Doktor.“

Tilseg, oder um genauer zu sein, ein Teil von Tilseg war einmal der Biologe und Bordarzt der Sirius, Till Segschneider gewesen, der diesen Planeten nicht lebend erreicht hatte. Während ihres Absturzes war es zu einem schweren Unfall auf der Krankenstation gekommen, der einen Teil der organischen Komponente ihres Hyperraumschiffes mit ihrem Schiffsarzt verschmolzen hatte.

Til Segschneider war zwar tot, doch lebte sein Wissen in Tilseg weiter, der bis auf seine ungewöhnliche Hautfärbung wenigstens äußerlich noch dem muskulösen glatzköpfigen Arzt entsprach.

„Was hältst du von meinen Fortschritten?“, unterbrach Hiriko seine Gedanken.

„Was für Fortschritte?“

„Na mein schickes Eigenheim!“, erwiderte die Dryade mit enttäuschtem Unterton. Sven schaute kurz begriffsstutzig, bevor er verstand. Hiriko war während ihrer Reise ihrer neuen Natur gefolgt und hatte sich mit einer Pflanze verbunden. Unglücklicherweise hatte sie sich ein Exemplar ausgesucht, das unter enormen Mengen Geröll und Schutt begraben war. Es hatte einige Anstrengungen gekostet, Magister Ingbold davon zu überzeugen, seinen Schutthaufen anrühren zu dürfen. Der Geist hasste Veränderungen an seiner Turmruine, ließ sie mit viel Zureden des Lektors aber gewähren.

Die Pflanze freizulegen hatte das ganze Lager fast einen Monat lang gut beschäftigt. Vor allem Hirikos Schoßoger Junior hatte enorme Arbeit geleistet, ihr Gewächs freizulegen. Der Oger war noch ein junger Vertreter seines Volks, doch mit Abstand das größte und stärkste Wesen ihres Lagers. Ohne ihn hätten sie es vermutlich nie geschafft, die Pflanze zu befreien. Hirikos Symbiosepartner stellte sich als ein etwa kniehohes Gebilde aus einem faustdicken Stamm heraus, der stark verdreht und um sich geschlungen etwa die Dicke eines Medizinballs aufwies. Eine Vielzahl dünner rankenartigen Äste hatte das Gewächs ausgetrieben, doch waren alle bis auf einen verkümmert gewesen. Hiriko meinte, dass es sich dabei um einen dornenbewerten rankenden Weinstock handelte.

Tilseg hatte mit einigen anderen Lagerbewohnern aus Häuten und Holz eine Art Erdwanne konstruiert, den Weinstock gestutzt und darin umgepflanzt. Erikson hatte zunächst nicht begriffen, was er und die Dryade sich da ausgedacht hatten, bis Hiriko in Aktion getreten war.

Mit ihrer Hilfe zeigte die Pflanze anfangs enorme Wachstumsschübe und umschloss ihre eigene Wanne schnell vollständig. Doch zeigte sich schnell, dass durch die Geschwindigkeit, mit der die Pflanze Masse gewann, das Erdreich, in dem ihr Stock nun wurzelte, rapide ausgelaugt wurde. Doch auch dazu war dem Doktor etwas eingefallen.

Hirikos Weinpflanze wurde zunächst durch den Inhalt der am Lagerrand ausgehobenen Latrine gedüngt. Auch diese Aufgabe hatte Junior übernommen, bis Hiriko den Wein in seine tatsächliche, erste Form hatte wachsen lassen. Erikson hatte es damals nicht glauben können als er es das erste Mal sah. Ein mit frischem Grün belaubtes Weinstock-Klohäuschen mit kleinen Dornen hatte er auch noch nicht gesehen.

Nach einer anfänglichen Scheu nutzten viele der Lagerbewohner das Gebilde auch tatsächlich. Sven hatte ja damit gerechnet, dass die Wanne schnell überlaufen würde, doch blieb dieses Ereignis aus. Und als Hiriko auch noch den Geruch unter Kontrolle hatte, wurde ihr Weinstock das beliebteste stille Örtchen im Lager.

In der Zwischenzeit hatte das Gebilde aber weiter an Größe gewonnen und zwei kurze, aber dicke Fortsetze an den Seiten, hatte sich langgestreckt und zwei weitere Fortsätze an einem Ende ausgebildet. Irgendwie erinnerte ihn das Gebilde jetzt an einen Klostreitwagen, dem man die Räder geklaut hatte.

„Hübsch?“, kommentierte er vorsichtig.

„Stimmt, das auch“, bestätigte sie, „Und praktisch. Tilseg muss sich noch überlegen, wie er meine zarten Achsen gegen Abrieb und Reibungshitze schützt und wie er am besten Räder dafür baut. Und dann bin ich endlich wieder mobil!“

„Ja, sehr schön“, erwiderte er diplomatisch. Doch Hiriko schien mehr Begeisterung erwartet zu haben.

„Du kannst ja auch Wasser holen gehen, wenn dir langweilig ist“, ärgerte sie ihn nun wieder und wurde prompt mit einem gequälten Aufstöhnen seinerseits belohnt. Er war der einzige, dem Magister Ingbold erlaubte, seine Turmruine zu betreten. Also war er es, der für fast hundertdreißig Kehlen Wasser aus der Zisterne im Turminneren schöpfte. Wenigstens musste er es nur hinauf befördern und aus der Ruine schleppen. Den Rest erledigten andere. Auch hier hatte der Magister erst nach langer Diskussion zugestimmt, als Lektor Ingbold darauf hinwies, dass der Zeitverlust für ihre Lerneinheiten andernfalls enorm wäre.

„Vielen Dank“, antwortete er zerknirscht. „Ich hatte gerade erst erfolgreich verdrängt, dass die Vorräte wieder knapp werden.“

5. Ashley

Nachdem Ashley das Lager erreicht hatte, lud sie zunächst die toten Tiere ab und führte das Rudel danach zu ihrem Stammplatz, der separiert vom Lager auf der anderen Seite des Trümmerfeldes der Turmruine lag. Ihre Säbelfanten waren satt, müde und träge. Die Tiere wollten sich ausruhen und ungestört verdauen. Und auch sie wollte endlich essen. Beim Abladen hatte sie sich einige gebratene Stücke Fleisch bringen lassen, die sie nun mit Heißhunger verschlang. Danach machte sie zwischen ihren großen Bestien ein Nickerchen.

„Wach auf.“ Unwillig rümpfte sie die Nase und grummelte. „Ashley, wach auf.“ Kannte sie die Stimme? Egal! Sie kratzte sich am Arm, drehte sich um und schlief weiter.

„Meint Ihr nicht, es ist übertrieben, Eure Gedanken per Zauber zu übertragen, wenn die Zielperson nur wenige Meter von Euch entfernt ist?“ Diese Stimme war fremd, genau wie ihre Worte. Doch hallte der Sinn hindurch und machte sie begreifbar.

„Nein. Nicht, wenn diese Biester wie eine gepanzerte Mauer um sie herum liegen. Und ich nachher die noch wecke, bevor Ashley aufwacht.“

„Das wiederum ist sehr vorausschauend von Euch. Ihr seid Euch aber im Klaren, dass Ihr Eure Gedanken immer noch übertragt, oder?“

„Oh Mist.“ Jetzt wurde ihr bewusst, wer sie da störte.

Das war ja so typisch. Dieser Blödmann konnte sie einfach nicht in Ruhe lassen. Mit einem Fluch richtete sie sich auf. Ihre schnelle Bewegung schreckte zwei der Säbelfanten hoch, die sich grollend umblickten, um zu sehen, worauf ihre Anführerin reagierte.

„Reicht es nicht, dass ich seit neustem deine Stimme im Kopf habe? Musst du jetzt auch noch deine Unterhaltungen live übertragen, während ich schlafe?“

„Was? Wie meinst du… Moment. Hast du Lektor Ingbold auch gehört?“

„Wenn du diesen seltsamen Kauderwelsch meinst, ja.“ Verärgert stand sie schließlich auf und schritt auf Erikson zu. Die beiden Säbelfanten spürten die Emotionen ihrer Herrin und fixierten den schlanken Zauberlehrling. Gleichzeitig verstärkte sich das bedrohliche Grollen ein wenig mehr.

„Ashley?“, entfuhr es Sven, während sich Angst in ihm ausbreitete. „Deine Freunde gucken mich so hungrig an. Wärst du so freundlich?“ Die Blondine, die ihr Haar nach wie vor militärisch kurz trug, blieb stehen und stemmte ihre Fäuste in die Seite.

„Machen dir meine Schmusetiere Angst?“, höhnte sie erfreut. „Vielleicht bist du das nächste Mal so freundlich, mich ausschlafen zu lassen, wenn ich müde bin?“ Dann machte sie eine kurze Geste in Richtung ihrer Tiere. „Ist gut Jungs, der Appetithappen gehört mir.“ Mit einem wölfischen Lächeln blieb sie schließlich vor dem Norweger stehen.

„Also, was ist so dringend, dass es nicht warten kann, bis ich mich ein wenig von meiner Jagd erholt habe?“ Abwartend verschränkte sie ihre Arme vor die mit Panzerwolfplatten geschützte Brust und schaute ihn herausfordernd an.

„Ich, ich habe den Schädel gefunden.“

„Schädel?“

„Den Kopf von Magister Ingbolds sterblichen Überresten!“

„Und?“

„Du weißt doch noch, dass wir ihn besorgen müssen?“

„Der Kater ist noch nicht da.“ Damit war für sie alles gesagt und so wollte sie sich umdrehen um ihr Nickerchen fortzusetzen.

„Aber wir müssen ihn doch zurückbringen.“ Ashley blieb stehen und seufzte. Sven war nicht dumm. Ganz und gar nicht. Und doch war er manchmal so selten dämlich. Also richtete sie sich erneut zu ihm um, musterte ihn abschätzig und sagte dann:

„Wenn wir den Schädel deines Kumpels jetzt holen und der uns danach von seinem Gelände schmeißt, wie soll der dicke Kater uns dann finden?“

„Das, oh, daran hatte ich nicht gedacht.“

„Siehste, ich schon. Und jetzt sei ein braver kleiner Zauberling und lass mich in Frieden weiter pennen.“

Sie hatte sich schon wieder hingelegt, als Sven sie erneut störte.

„Entschuldige bitte“, flüsterte er. „Das geht so leider nicht.“

„Was?“, schnauzte sie zurück. Die Säbelfanten wurden unruhig.

„Bitte Ashley. Können wir das woanders besprechen? Es ist wirklich wichtig!“, flehte er geradezu.

„Also gut“, seufzte sie nun. „Du wirst mich sowieso vorher nicht in Frieden lassen. Richtig?“

„Es geht wirklich nicht anders.“ murrend und grummelnd stand sie auf und schlurfte unmotiviert erneut zu ihm.

„Wo sollen wir reden?“

„Bei Hiriko?“

„Na toll. Auch noch ein Klogespräch“, witzelte sie trocken. Da Erikson keine Reaktion zeigte, stieß sie ihm leicht gegen die Schulter. Doch das reichte, um ihn einen Schritt rückwärts machen zu lassen. „Na los, bringen wir‘s hinter uns.“

Endlich bei der Dryade angekommen, trafen sie auch auf Tilseg, der an Hirikos Pflanzenrädern arbeitete.

„Sehr gut, dann sind ja jetzt alle da“, begann Erikson mit seinem Ausführungen. Dann erklärte er wieder, dass der Geist, der in der Turmruine hauste, ungeduldig wurde. Für Ashley war der Grund nach wie vor unbegreiflich, weshalb der Tote unbedingt den Kopf seines Skeletts wiederhaben wollte. Aber eigentlich war es ihr ziemlich egal. Als Sven endlich dazu kam, darüber zu berichten, dass der Geist darauf bestand, dass sie nun ihren Teil ihrer Vereinbarung erfüllten, nachdem das vermisste Körperteil geortet wurde, unterbrach Ashley ihn in seinem Redefluss.

„Ja, das wissen wir doch alles. Und ich weiß auch, dass du und Hiriko immer wieder betonen, dass der uns hier nicht haben will. Aber solange der dumme Kater nicht wieder da ist, bleiben wir hier!“

„Genau darüber will ich ja sprechen. Magister Ingbold ist einverstanden, dass wir hier auf Boris warten und erst dann aufbrechen. Er besteht aber darauf, dass wir unseren Teil der Vereinbarung umsetzen. Und zwar bald.“ Ashley fluchte, aber Hiriko nickte zustimmend.

„Ich glaube, Sven hat recht. Für den Geist muss es so wirken, als würden wir nur nehmen und nicht geben wollen, wenn wir uns weigern ihm zu helfen, bevor Boris hier ist, obwohl wir es könnten.“

„Korrekt“, mischte sich nun Tilseg ein. „Die Erscheinungen von Magister und Lektor Ingbold haben sich bisher an unsere Vereinbarung gehalten. Dass sie es weiterhin tun werden, ist wahrscheinlich, wenn wir dies auch machen.“

„Ach, ihr verdammten Weicheier“, schimpfte Ashley halbherzig. „Aber gut, ich mache mit. Wir können morgen aufbrechen. Reicht das deinem Magister?“ Sven schien kurz zu lauschen, dann nickte er.

„Sie sind beide einverstanden.“

„Bestens, dann kann ich ja jetzt hoffentlich in Ruhe mein Nickerchen beenden.“

6. Sven

Sven war erleichtert, als sie entschieden hatten, Ingbolds Kopf nun doch zu suchen. Sie hatten noch eine ganze Weile dagesessen, um über ihr Vorgehen zu diskutieren.

Gerade sprach Tilseg darüber, dass er im Lager zurückbleiben wollte, während Ashley, Hiriko und Sven alleine aufbrechen sollten. Der Grüne vertrat die Ansicht, dass es zu viel Unruhe unter den Goblins und Orks auslösen würde, wenn die ganze Crew plötzlich das Lager verließ, da dies seit Bestehen ihrer Gruppe nicht geschehen war. Und ihre Anwesenheit für die Moral der Leute sehr wichtig wäre.

„Wie meinst du das?“, wollte Erikson wissen.

„Nach meinen Kalkulationen hat Ashley bei ihnen einen sehr hohen Stellenwert. Ihr Status innerhalb unseres Lagers dürfte dem eines Häuptlings, großen Helden oder ersten Jägers entsprechen“, erklärte der Doktor gerade seine Meinung.

Sven war froh, dass die Amerikanerin bereits wieder zu ihren Kreaturen zurückgekehrt war. Sie wäre die nächsten Tage nur unausstehlich gewesen, wenn sie Tilsegs Einschätzung kennen würde.

„Dies war schon so, als wir von der Arena aus aufbrachen. Sie war es, die persönlich die meisten aus ihren Käfigen befreite. Dass sie die Säbelfanten bezwungen und gezähmt hat, führte nur zu einer weiteren Steigerung ihrer allgemeinen Achtung.“

„Cool. Das heißt wohl, wir sind mit einer Prominenten befreundet“, strahlte Hiriko. „Und was ist mit mir?“

„Du scheinst in ihrem Stammesverständnis die Rolle eines Schutz oder Rat gebenden Geistes einzunehmen, ähnlich wie die Ahnengeister, von denen Queckech berichtete.“ Tilseg stockte einen Moment, als würde er darüber nachdenken, ob er die nächsten Worte aussprechen sollte. „Für manche von ihnen bist du auch die Göttin ihrer neuen Gemeinschaft.“

„Das ist auch irgendwie cool, aber auch ziemlich abgefahren.“

„Korrekt. Wenn du nicht aufpasst, begründest du noch eine neue Religion, ohne es zu wollen.“

„Ach Quatsch“, winkte sie ab. „Was ist mit dir?“

„Ich bekleide in ihren Augen am ehesten die Position eines Heilers, Ratgebers und Anführers. Insofern setzen sie mich mit einem Schamanen oder Häuptling gleich, da ich beispielsweise nicht mit anderen Geistern als dir reden kann.“

„Und Sven?“, wollte Hiriko nun wissen. Der Grüne zögerte erneut, bevor er antwortete.

„Die meisten von ihnen halten ihn für einen besessenen Geistersucher.“ Die Dryade machte große Augen, während Sven „Wieso das denn?“ fragte.

„Was ist ein Geistersucher?“, platzte es aus Hiriko, bevor Erikson die Frage selbst stellen konnte.

„Geistersucher scheint es in ihren Stämmen nur selten zu geben. Die Beschreibungen variieren, doch in der Summe ergibt sich folgendes Bild: etwas einfach ausgedrückt sind es wahnsinnige Schamanen oder ehemalige Lehrlinge von Schamanen, die manchmal auch von den Geistern, mit denen sie kommunizieren, übernommen wurden. Sie leben meist am Rande der Gemeinschaft. Sie sind noch keine Ausgestoßenen, doch auch nicht Kern der Gruppe.“

„Warum haben sie diese Assoziation mit mir?“

„Du redest mit Personen, die sie nicht sehen können, und besitzt Kräfte, die sie in dieser Form nicht kennen. Einigen ist auch deine ewige Flamme aufgefallen.“

„Aber der Elementar war doch ein Versehen!“

„Das ist für ihre Meinung irrelevant. Dazu kommt, dass du dich in einem Bereich aufhalten kannst und dort viel Zeit verbringst, den sie als Tabu betrachten.“

„Tabu?“

„Als verbotenen Bereich, den man nicht betreten darf.“

„Was?“

„Der Turm.“

„Na toll“, brach es nun doch aus Sven heraus. „Ihr seid Oberhäupter und eine Göttin und ich? Der Irre vom Dienst.“

„Entschuldige bitte, Sven Erikson, ich wollte dich nicht kränken“, versuchte Tilseg nun zu beschwichtigen. „Ich sehe dich weder als Außenseiter noch als Geisteskranken an. Und deine Fähigkeiten werden uns allen noch sehr nützlich sein. Du musst bedenken, dass diese Leute alle aus einer Stammeskultur herkommen, der Zauberei in dieser Form fremd ist.“

„Ja, danke.“ Sven kämpfte wieder einmal mit seinen Selbstzweifeln und hoffte, dass ihm das nicht allzu sehr anzumerken war. „Ich geh dann mal schlafen, damit ich fit für die Abreise morgen bin. Gute Nacht.“

„Auch dir eine gute Nacht. Nimm es nicht persönlich, was sie von dir denken. Ihren Respekt genießt du trotzdem.“

„Sicher“, erwiderte er knapp. Hiriko stand auf und drückte ihn an sich.

„Morgen ziehen wir ins Abenteuer. Ärger dich nicht. Denkt daran, dass wir ohne dich nur Scherereien mit diesem Magister hätten.“ Sie strahlte ihn an und gab ihm unerwartet einen Kuss.

„Oh… Ja… Okay… Na dann…“, stotterte er, während sie sich wieder von ihm löste. „Gute Nacht.“

„Schlaf schön“, rief sie Ihm hinterher, als er davon eilte. Dann hörte er sie kichern und „Er ist so süß, wenn er rot wird“ zu Tilseg sagen.

Obwohl Hiriko den Heiterkeitsausbruch und ihre Worte bestimmt nicht böse gemeint hatte, empfand Sven es in diesem Moment irgendwie als Schmähung. Vielleicht lag es daran, dass er das Gefühl hatte, sein Kopf müsste in der Dunkelheit in einem hellen Rot erstrahlen, weithin für alle sichtbar.

Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte und nun auf seinem Schlafplatz lag, meldete sich Lektor Ingbold zu Wort, der sich seit dem Beginn ihrer Diskussion im Hintergrund gehalten hatte.

„Nehmt es Euch nicht so zu Herzen, mein Freund. Es sind barbarische Kreaturen, in deren Gesellschaft Ihr und Eure Freunde euch befindet. Ich zweifle daran, dass sie überhaupt in der Lage wären, zu begreifen, welch enorme Leistung Ihr in den letzten Monaten vollbracht habt.“

„Es verletzt mich trotzdem.“

„Doch Eure Gefährten sind sich Eures Wertes bewusst.“

„Hiriko und Tilseg? Ja, vermutlich. Kommandant Ko… ach, ich meine Boris, wahrscheinlich auch. Aber bei Ashley bin ich mir nicht sicher.“ Er seufzte.

„Nun, da könntet Ihr recht haben. Aber auch wenn sie Euer Können nicht anerkennt, steht sie doch an Eurer Seite. Meint Ihr nicht auch, mein Freund?“

„Doch, ich glaube, Sie haben wieder einmal recht, Lektor Ingbold.“

Tatsächlich hatten ihn die Worte des Geistes ein wenig aufgemuntert. Doch die nächsten Worte der Erscheinung versetzten ihn erneut in Alarmbereitschaft.

„Leider werde ich Euch auf Eurem Abenteuer, wie Eure Dryadenfreundin es so trefflich nannte, nicht begleiten können.“

„Was? Was reden Sie da?“

„Ihr werdet mich hier zurücklassen müssen.“

„Aber wieso? Ich meine, was ist, wenn ich Ihren Rat brauche oder beim Zaubern einen Fehler mache?“ Sven war ganz aufgeregt.

„Ich habe Vertrauen in Euer Können, mein Freund. Das, was Ihr seit unserem Kennenlernen erlernt habt, ist fabulös. Selbst ich habe Jahre gebraucht, um ein entsprechendes Verständnis für die Zauberkunst zu entwickeln. Als Lehrmeister bin ich höchst zufrieden mit Euch.“

„Aber warum soll ich Sie dann zurücklassen?“

Sven konnte das Mienenspiel des Lektors nicht recht deuten. Es war, als würden verschiedene Emotionen miteinander ringen, bevor er antwortete:

„Seht es doch als erste wirkliche Prüfung Eures Könnens an. Ein guter Lehrmeister weiß, wann er seinem Schüler Luft für eigene Erfahrungen geben muss. Es ist sozusagen Eure Reifeprüfung. Wenn Ihr mit Magister Ingbolds Schädel wiederkehrt, werdet Ihr kein Lehrling der Magie mehr sein. Sondern ein Studiosus. Ein Studierender der Magie, den Grundlagen entwachsen.“

„Sie brauchen mir ja nicht zu helfen. Aber ich würde Ihre Gesellschaft wirklich schätzen.“

Der Geist wirkte wirklich erfreut über die Worte, doch blieb er hart, Auch, wenn Sven Bedauern in der Miene des schlanken Mittedreißigers zu erkennen glaubte.

„Nein. Diesen Weg müsst Ihr alleine gehen. Doch wir werden uns wieder sehen, wenn Ihr zurückkehrt. Und nun schlaft und stärkt Euch für das kommende Abenteuer.“

Natürlich. Jetzt konnte er erst recht gut einschlafen. Seine Gedanken rasten und er war hellwach. Seine Unsicherheit tobte erneut in ihm und er grübelte noch lange, bevor er endlich zur Ruhe kam.

7. Boris

Koschkin tat sich zunächst schwer damit, die Anwesenheit der kleinen Leuchtkugel zu akzeptieren, die sich ihm ungefragt angeschlossen hatte. Zuerst versuchte er sie erfolglos abzuschütteln und musste schmerzlich erfahren, dass es keine gute Idee war, nach ihr zu schlagen.

Schließlich hatte er sich gefügt und war in die Goblinhöhle zurückgekehrt. Dort hatte er von Queckech erfahren, dass es sich bei dem sausenden Lichtbündel um eine ausgesprochen aufgeregte Fee handelte, die anscheinend eine Bekannte seines Astrogators war.

Queckech und Fang waren sich einig, dass die Fee nach Erikson suchte und sich deshalb Koschkin angeschlossen hatte. Faqech hatte erklärt, dass der Körper von Feen stärker leuchtete, wenn sie aufgeregt waren oder sich mit anderen starken Gefühlen beschäftigten.

Und diese kleine spezielle Fee schien bei ihrer Strahlkraft sowohl sehr aufgeregt als auch emotional extrem aufgewühlt zu sein. Schließlich erkannte er, dass er keine andere Wahl hatte und akzeptierte, dass der kleine zwitschernde Lichtball fortan seine neue Begleitung auf ihrer Reise war.

Er hatte ganz vergessen, wie weit sich seine Mannschaft bei ihrer Suche nach ihm von ihrem Schiff entfernt hatte. Doch endlich hatten sie den Wald verlassen und die Weiten des Messergrases erreicht. In zwei oder drei Tagen sollten sie auf seine Kameraden und den befreiten Sklaven stoßen. Im Großen und Ganzen war ihre bisherige Reise recht angenehm verlaufen, auch wenn sie doch nur ein Schwein vom Häuptling erhalten hatten.

Während er nun mit seinen ungewöhnlichen Reisebegleitern durch die Landschaft zog, hatte sich die kleine Fee nach und nach soweit beruhigt, dass er ihre Gestalt erkennen konnte. Wenn man einmal von dem inneren Leuchten und ihrer winzigen Größe, den filigranen Flügeln, und dem ungewöhnlich symmetrischen Gesicht mit den klitzekleinen spitzen Öhrchen absah, war die Fee einem Menschen äußerlich recht ähnlich.

„Verstehst du eigentlich, was sie flötet?“, fragte er seine Begleiterin.

„Nein. Ich glaube, selbst wenn wir ihre Sprache sprächen, wäre das Tempo mit dem sie redet viel zu hoch für uns“, antwortete die Schamanin in leicht quäkigen und mit dezent russischem Akzent versehenen Commen, der amtlichen Standardsprache der Erde. Wenn Koschkin darüber nachdachte, war es schon ein bisschen peinlich, wie gut Fang seine Sprache gelernt hatte, während er mit Händen und Füßen gestikulieren musste, wenn er Goblinisch sprach.

Seine kleine Freundin war ein wirklich schlaues Mädchen. Seine Befangenheit ihr gegenüber hatte sich in der Zwischenzeit wieder gelegt. Sie hatte sich ganz normal verhalten, als hätte es das Ritual - dieses Wort setzte er in gedankliche Gänsefüßchen - nie gegeben. Daher hatte er beschlossen, dass dem wohl so war, und es auch nicht weiter thematisiert.

„Ich bin neugierig, wie sich die Sache mit den Geistern entwickelt hat“, eröffnete Faqech ein neues Thema. Richtig, die Geister, von denen Sven das Zaubereihandwerk lernen wollte. Mit diesem esoterischen Kram wollte er eigentlich nichts zu tun haben. Dass es hier unter jedem Stein vor Geistern und Gespenstern wimmelte, nahm er hin, aber es war ihm am liebsten, wenn er vor diesem Kram seine Ruhe hatte.

„Keine Ahnung“, antwortete er daher uninteressiert. „Ich denke mal, Sven wird wissen, was er tut.“

„Das hoffe ich“, erwiderte Fang nachdenklich. „Queckech war der Ansicht, dass ein dunkler Schatten über dem Geist lag, der den Turm bewacht. Und außerdem war das Geisterwesen ungewöhnlich stark. Er glaubte, dass es durchaus gefährlich werden könnte.“ Ihre Worte beunruhigten den Russen nun doch. Und auch die Fee leuchtete heller als zuvor.

„Meinst du etwa, dass sie in Gefahr sind?“

„Ich glaube nicht, dass sie in direkter Gefahr sind. Aber ich habe ein paar Vorkehrungen getroffen, um zu verhindern, dass der Geist uns schaden kann. Sollte er es versuchen, werde ich es merken. Dann werden wir Klarheit haben.“

„Du machst mich kribbelig“, beschwerte er sich nun. Die kleine Fee zwitscherte verärgert, als wolle sie ihm zustimmen. Koschkin blinzelte hinüber zur Lichtkugel, die sie zurzeit wieder darstellte. „Sag, was du willst. Aber auch wenn wir nicht wissen, was die Kleine erzählt, scheint sie kein Problem damit zu haben, uns zu verstehen.“

Fang zuckte mit den Schultern. „Das ist Teil ihrer Magie. Manchmal verschenken Feen diese Gabe sogar. Wie es ja auch bei deinem Freund geschah.“

„Und warum schenkt sie dir und mir diese Fähigkeit nicht? Dann könnten wir uns unterhalten.“ Wieder zuckten Fangs Schultern.

„Ich verstehe die Beweggründe der Feen nicht. Vielleicht sind wir ihr nicht sympathisch genug.“ Bei diesen Worten grinste die Goblinin schelmisch. Bei dem darauf folgenden, empört klingenden Zwitschern musste auch der Russe grinsen. Trotz der Sprachbarriere war das kleine Wesen doch eine angenehme und sogar unterhaltsame Reisebegleitung, wenn er es genauer betrachtete.

8. Hiriko

Hiriko war begeistert. Die Konstruktion, die Tilseg an ihrem nun mobilen Weinstock montiert hatte, funktionierte hervorragend. Er hatte die gewachsenen Achsenstangen am Ende großzügig mit Leder verkleidet und mit je einer Holzscheibe auf beiden Seiten versehen, die nun wie einfache Räder funktionierten. Außerdem hatte er noch einen ausgehöhlten Baumstamm an einem Ende des Vehikels angebracht, der nun als Walze diente.

Ihr Oger Junior schob das ganze Gebilde in etwa so wie eine Schubkarre. Die Anbauten waren nicht unbedingt hübsch, fand die Dryade und außerdem störte es sie, dass tote Elemente an ihrem Eigenheim befestigt wurden, doch war sie wieder mobil und unterwegs.

Für sie war das das Schönste auf der Welt. Der grüne Knuddelbär hatte Wort gehalten und ihr geholfen, nicht allein zurückzubleiben. Das hatte sie lange befürchtet. Und als sie sich mehr versehentlich als absichtlich mit ihrer Pflanze vereinigte, schien ihre Angst Realität zu werden.

An Ort und Stelle verwurzelt hätte sie alles verpasst und ihre Freunde verloren. Doch nun waren sie gemeinsam unterwegs und Hiriko schwelgte im Freudentaumel.

„Das ist so toll!“, jubelte sie zum x-ten Mal und ließ Erikson dadurch wieder zusammenzucken.

„Es freut mich ja, dass es dir so gut geht. Aber könntest du aufhören, mir immer wieder ins Ohr zu brüllen?“

Hiriko nickte nur grinsend und erhob sich von der kleinen Plattform, die vor der Klotüre gewachsen war und kletterte geschickt auf das Dach des Gebildes. Dass der Norweger bei ihrer Aktion wieder rot wurde und sich abwandte, nahm sie dabei lachend zur Kenntnis. Am höchsten Punkt ihrer Pflanze angekommen, rief sie:

„Ich kann Ashley sehen. Sie kommt zurück.“

„Hervorragend. Vielleicht sind wir ja bald da.“

„Ich dachte, du bist derjenige, der weiß, wo wir hin müssen?!“

„Der Zauber zeigt mir nur ungefähr die Richtung und gibt mir ein unbestimmtes Gefühl der Entfernung zu meinem Ziel. Das ist leider nicht so präzise wie satellitengestützte Navigation.“

„Ach so“, entgegnete sie etwas enttäuscht, bevor sie „Huhu“ jubelte und der Säbelfantenreiterin wild zuwinkte.

„Hey Leute“, begrüßte Bender ihre Freunde, als sie schließlich neben ihnen ritt. „Alles klar auf dem Pott?“

„Klaro!“, erwiderte die Dryade freudig. „Wir schippern durch das Grasmeer.“

„Ich glaube ja eher, dass sie auf die Hauptfunktion deines Ogerkarrens anspielt“, meinte Erikson trocken. Hiriko zog eine Schnute, bevor er dann fortfuhr: „Hast du etwas gefunden, Ashley?“ Ein schiefes Grinsen zeigte sich auf ihren Zügen.

„Vielleicht meine ich ja beides“, begann sie. „Und ja, ich habe was entdeckt. Voraus sind weitere dieser komischen roten Holzstatuen, wie sie auch um den Turm herum platziert sind. Sieht schwer nach dem gleichen Künstler aus.“

„Wir sind also schon bald da?“, fragte Hiriko.

„Auf meinem Säbelfanten habe ich etwas mehr als eine Stunde gebraucht, um zu euch zurückzukommen. Da ihr aber viel langsamer seid, glaube ich nicht, dass ihr vor Sonnenuntergang dort ankommen werdet.“

„Junior gibt sich alle Mühe. Aber gegen das Gras anzukämpfen, ist auch für ihn schon sehr anstrengend.“

„Hey, das war keine Kritik. Nur 'ne Einschätzung. Eigentlich wollte ich damit sagen, dass ich jetzt erstmal jagen werde. Mein Rudel ist hungrig. Ich treffe euch dann später bei den hässlichen Holzfiguren.“ Damit nickte sie den beiden ein letztes Mal zu und beschleunigte.

„Bis später“, rief Hiriko ihr noch hinterher, bevor sie sich umdrehte und sich zu Sven hinunter beugte. „Was machen wir jetzt?“

„Das gleiche wie bisher?“, erwiderte der Norweger etwas unsicher, bedacht, nicht zu ihr nach oben zu schauen.

„Och man. Du bist langweilig“, beschwerte sie sich. „Wo ist eigentlich deine hübsche Kette?“, wollte sie dann wissen. Irgendwie schien ihre Frage Erikson zu erschrecken, denn er zuckte leicht zusammen und schaute nun doch hoch. Dass er danach sofort wieder wegschaute, bevor er antwortete, entlockte ihr ein weiteres Lächeln.

„Ich habe sie im Lager gelassen. Wie hast du gemerkt, dass ich sie nicht trage?“

„Na, dein Dauerschatten, der Lektor ist nirgends zu sehen, seit wir unterwegs sind“, kommentierte sie leichthin.

„Natürlich. Ich vergesse irgendwie immer wieder, dass du Geister ganz natürlich sehen kannst.“

„Stimmt. Obwohl ich nicht sagen würde, dass die beiden Geister im Turm natürlich sind.“

„Nein? Wieso nicht?“, fragte Sven aufhorchend.

„Naja. Der Geist aus deiner Kette scheint nur zu existieren, wenn ein Lebewesen sie hält oder trägt. Alle anderen Geister, die ich kenne, sind da anders.“

„Er scheint dann nicht zu existieren? Ich dachte eigentlich, ich könnte ihn einfach nicht mehr wahrnehmen, wenn ich das Schmuckstück nicht berühre. Lektor Ingbold hat sich auch nie entsprechend geäußert.“

„Ist aber so. Der dicke Magister dagegen ist immer da.“

„Ja, das wusste ich. Auch wenn ich ihn nicht sehen kann, spüre ich manchmal seine Anwesenheit.“

„Also, ich mag den Fettsack nicht. Der schaut immer so mürrisch und starrt mich manchmal an, als wäre ich irgendetwas Widerliches.“

„Ihn mag ich auch nicht besonders, wenn ich ehrlich bin“, stimmte Sven ihr zu. „Obwohl ich ihn persönlich gar nicht kenne. Aber er mischt sich ständig ein, wenn Lektor Ingbold mir eine Unterrichtsstunde gibt. Am Ende wird dann meist das Lehrthema gewechselt.“

„Aber wenn wir ihn gar nicht leiden können, warum helfen wir ihm dann? Ich glaube nicht, dass er ein netter Mensch war.“

„Aber der Lektor ist auch ein Teil von ihm, oder war es zumindest. Und er hat mir viel beigebracht und uns sogar gegen den Magister geholfen. Zum Beispiel, als wir deine Pflanze ausgraben wollten.“

„Ähm, ja, stimmt. Ich meine aber, dass er auf jeden Fall kein netter Geist ist. Dein Lehrer ist da zugegebenermaßen anders. Aber irgendetwas ist komisch an allen beiden! Ich weiß nur nicht genau was.“

„Ich vertraue darauf, dass sich beide an ihr Wort halten. Also mach dir keine Sorgen“, beendete Erikson schließlich die Unterhaltung. Hiriko hatte zwar das Gefühl, noch irgendetwas erwidern zu wollen, doch hatte sie es offensichtlich vergessen.

„Okay, und was wollen wir jetzt machen?“, fragte sie stattdessen erwartungsvoll.

9. Sven

Ashley hatte mit ihrer Einschätzung genau richtig gelegen. Als sie das Götzenbildnis erreicht hatten, ging bereits die Sonne unter. Sie hatten am Fuße einer der großen roten Holzstatuen übernachtet und waren in aller Frühe aufgebrochen, um die letzte Etappe zu überwinden.

Sven war im Grunde optimistisch in den Tag gestartet, auch wenn er nicht besonders gut geschlafen hatte. Dieses Mal blieben sie zusammen und kamen zunächst auch gut voran. Doch dann begann es schiefzulaufen.

Zuerst weigerten sich die Säbelfanten, weiter in das Gebiet vorzudringen. Ashley und Hiriko hatten ihr Bestes gegeben, um die Tiere zu beruhigen. Doch als die großen Raubtiere schließlich die Flucht ergriffen, rannte auch Ashley hinter ihnen her. Ihre Rufe nach dem Rudel und ihre begleitenden Flüche verklangen schließlich zusehends. Dann wollte auch Junior nicht mehr weiter.

„Er hat Angst. Genau wie Ashleys Tiere.“

„Aber wovor?“, wollte Erikson wissen.

„Vor nichts bestimmtem“, begann sie zögernd. „Das ist schwer zu erklären. Spürst du denn gar nichts?“

„Nein, ich glaube nicht.“

„ Aber ich kann etwas spüren. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass ich nicht hier sein sollte. Ich kann es nicht genau erklären, aber Junior hat wirklich Angst vor diesem Ort. Und du hast ja auch die Säbelfanten gesehen. Die waren total in Panik!“

„Ich fühle gar nichts.“

„Ich glaube langsam, dass es keine gute Idee war, hierher zu kommen. Vielleicht sollten wir auch umdrehen.“

„Wir müssen aber den Schädel von Magister Ingbold finden.“

„Ich werde Junior nicht quälen, indem ich ihn zwinge, weiterzugehen. Wie weit müssten wir denn noch?“

„Weiß ich nicht.“

„Na dann Zauber halt und finde es raus. Ich versuche, Junior weiter zu beruhigen.“ Und das taten sie dann auch. Nachdem er seinen Zauber gesprochen hatte, nahm er das Gespräch wieder auf.

„Es ist ganz in der Nähe. Nur noch ein kleines Stück.“

„Dann musst du irgendwie alleine weiter. Ich kann Junior so nicht zurücklassen.“

„Aber wie soll ich das machen?“ Dabei deutete er resigniert auf die messerscharfen Pflanzen, die sie umgaben. Hiriko folgte seiner Geste und zuckte dann mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Das weiß ich auch nicht. Kannst du nicht irgendwas zaubern?“

„Etwas zaubern“, brummte er, während er angestrengt nachdachte. Hatte er einen Zauber gelernt, den er hier nutzen konnte? „Ja“, begann er. „Ich glaube schon. Aber natürlich! Das sollte eigentlich funktionieren.“

Ohne einen weiteren Kommentar kletterte er am Klohäuschen vorbei, bis er am vorderen Teil der Weinpflanze angekommen war, und konzentrierte sich. Er rezitierte die Worte und machte die Gesten, die ihm der Lektor beigebracht hatte. Spürte, wie das Mana sich in seinem Körper kanalisierte und in den Zauber floss.

Eine Windböe entstand und jagte durch das Messergras, das dadurch hinab und zur Seite gedrückt wurde. Doch als die Böe nachließ, schloss sich der Blättervorhang wieder.

„Es funktioniert tatsächlich“, stieß Sven ein wenig überrascht hervor. „Ich glaube, ich habe genug Kraft, um mich auf diese Weise das letzte Stück vorzuarbeiten. Kannst du deinen Oger dazu bringen, dass ihr hier auf mich wartet?“

„Klar, das mach ich schon. Solange Junior nicht weiter muss, ist er erst einmal zufrieden.“

„Danke Hiriko.“

Nach diesen Worten konzentrierte er sich erneut auf seinen Zauber, versuchte dabei jedoch, die Böe zu einem stetigen Strom umzuformen. Es gelang und Sven schritt im Schutz des Windes gemessen durch die geteilten Wogen des Messergrases voran. Er musste tatsächlich nicht mehr weit, bevor er auf einen flachen Hügel stieß, auf dessen Zentrum ein schwerer Stein ruhte.

Was sollte er nun tun? Auch der Hügel war mit Messergras bewachsen und er konnte seinen Zauber nicht einfach beenden. Fieberhaft überlegte er, wie er diesen großen Brocken bewegen könnte. Jetzt hätte er Hirikos Junior wirklich gut gebrauchen können. Aber vielleicht musste er den Zauber nicht beenden, nur anpassen. Lektor Ingbold hatte ihn gewarnt, dass es äußerst schwierig wäre, eine bestehende Zaubermatrix zu manipulieren.

Doch blieb ihm eine Wahl? Nicht wirklich.

Also konzentrierte er sich noch mehr und begann vorsichtig, das Wesen des Zaubers zu verändern.

Langsam schwoll der Wind an, gewann Kraft und Stärke. Er musste jetzt schnell sein und bereitete sich vor. Spannte seine Muskeln zum Sprung und erhöhte den Manafluss jäh. Die folgende mächtige Sturmböe packte den Felsen geradezu und presste ihn weg von seinem Platz.

Erikson wurde kurz schwarz vor Augen. Polternd rollte der große Stein einige Meter den Hügel hinab. Doch bevor er zum Erliegen kam, war Erikson mit letzter Kraft gesprungen.

„Dumme Idee“, war das letzte, was er dachte, als er auf der Stelle landete, die der Stein zuvor blockiert hatte.

Er hatte mit einer Treppe oder so etwas gerechnet und nicht mit einem Loch.

10. Ashley

Ashley brauchte eine ganze Weile, um ihren panischen Säbelfanten wieder einzufangen und zu beruhigen. Was immer das Tier so erschreckt hatte, sie hatte nichts davon bemerkt. Obwohl, wenn sie ehrlich war, hatte sie ein ungutes Gefühl gehabt, nachdem sie die roten Statuen passiert hatten. Ob ihr Rudel darauf reagierte, als es plötzlich Hals über Kopf davonrannte? Vielleicht.

Aber noch einmal würde sie ihre Tiere nicht dorthin führen. Ashley bestieg ihren Säbelfanten und machte sich auf die Suche nach ihren versprengten Jagdgefährten.

Als sie schließlich ihr Rudel wieder beisammen hatte, suchte sie ihren letzten Rastplatz auf. Dort ließ sie ihre Raubtiere zurück und machte sich daran, ihre menschlichen Freunde einzuholen.

Wieder verstrich Zeit und wieder fühlte sie sich unwohl, als sie tiefer in das Gebiet eindrang, doch erreichte sie schließlich Hirikos Karren, wo der Oger und die Dryade immer noch verharrten.

„Besonders weit seid ihr ja nicht gekommen“, kommentierte sie das Bild des jämmerlichen Ogerbündels und seiner Ziehmutter, die ihn zu trösten versuchte.

„Endlich bist du zurück“, rief Hiriko erleichtert. „Ich habe Sven versprochen, hier zu bleiben, aber Junior fürchtet sich immer mehr.“

„ Wo ist der Trottel?“

„Er ist weitergegangen, um den Kopf zu holen.“

„Was hat er? Wie ist er durch das Messergras gekommen?“

„Er hat gezaubert und so viel Wind gemacht, dass er gefahrlos gehen konnte.“ Ashley fluchte noch ein wenig heftiger. Nachdem sie sich derart Luft gemacht hatte, sagte sie:

„Geh mit deinem kleinen Oger zurück zu unserem letzten Rastplatz. Dort habe ich auch meine Säbelfanten zurückgelassen. Ich geh den Idioten holen und komm dann zu euch.“

Aber vielleicht verpasste sie ihm auch noch einen Satz heißer Ohren, bevor sie ihn zurückbrachte. So viel Dummheit, alleine loszuziehen, musste einfach bestraft werden. Dass sie normalerweise diejenige war, die alleine loszog, verdrängte sie dabei geflissentlich. Man konnte Ashley, die Säbelfantenreiterin und Sven „Ich-tu-mir-ständig-weh“ Erikson wirklich nicht vergleichen.

11. Sven

Als er wieder zu Bewusstsein kam, stöhnte er gepeinigt auf. Durch seine Beine brannten stechende Schmerzen bis hinauf in seine Hüfte. Sein Schädel dröhnte. Er spürte Wärme, die seinen Hinterkopf befeuchtete und in seinen Nacken tropfte.

Er musste sich den Kopf angeschlagen haben. Vorsichtig betastete Erikson seinen blutenden Schädel. Eine Platzwunde, aber kein Loch. Das war ein Anfang. Aber seine Beine hatte es schlimmer erwischt. Nach der Intensität seiner Qual zu urteilen war wenigstens eins, wenn nicht sogar beide gebrochen. Was sollte er tun? Er brauchte Hilfe.

„Hiriko!“, rief er aus Leibeskräften. „Hiriko, ich brauche Hilfe!“ Doch seine Freundin kam nicht zu ihm, so oft er sie auch rief. Sie musste doch noch ganz in der Nähe sein. Oder doch nicht? Wie lange hatte er hier so gelegen? Die Sonne schickte immer noch ihr Licht durch das Loch hindurch, durch das auch er hereingefallen war. Aber das sagte nicht viel aus.

Leise wimmernd richtete er sich soweit auf, wie er es ertragen konnte. Ein Bein konnte er halbwegs belasten. Es war geprellt und gestaucht, aber nicht gebrochen. Das andere war es dafür aber umso mehr und schlicht nicht zu gebrauchen.

Erst jetzt, nachdem er seine innere Bestandsaufnahme abgeschlossen hatte, nahm er seine Umgebung in Augenschein. War er nun in einem Grabhügel? Vielleicht, denn Knochen gab es reichlich hier. Doch lagen die Toten nicht nebeneinander oder kreuz und quer, nein. Die Knochen waren fein säuberlich getrennt und nach Körperteil und Größe sortiert. Da stapelten sich Oberschenkel auf Oberschenkel und Unterarm auf Unterarm. Selbst Rückenwirbel und Fingerknochen waren zu akkuraten Bergen gestapelt.

Sven schnaufte schwer, verzog das Gesicht vor Schmerzen und Abscheu, während er sich umblickte.

Eine morbide, wenn auch ordentliche Sammlung hatte hier jemand angelegt. Aber wo war das, weshalb er hier war? Endlich sah er, was er suchte. Einen Schädelhaufen. Es sollte für ihn kein Problem sein, einen Menschenschädel darin zu finden, schien es sich nach seiner Einschätzung ansonsten ausschließlich um Orkhäupter zu handeln. Also schleppte er sich hinüber und suchte. Doch der Kopf des Magisters war nicht darunter.

„Das kann doch nicht wahr sein“, jammerte er. „Der muss hier doch irgendwo sein.“ Erschöpft und entmutigt ließ er sich wieder zu Boden gleiten. Dabei brachte er den nächsten Stapel in Unordnung, als er an einige Oberarmknochen stieß und eine kleine Kaskade damit auslöste. „Das darf doch alles gar nicht wahr sein“, wiederholte er sich, als würden seine Worte etwas daran ändern, dass der Schädel nicht hier war.

Dann musste er den Kopf eben nochmals mit seinem Zauber suchen, fasste er selber Mut. Aber als er sich bemühte, sein Mana zu kanalisieren, stellte er fest, dass sein Vorrat erschöpft war.

„Lektor Ingbold hatte mich gewarnt. Sowohl davor, eine Zaubermatrix zu manipulieren, als auch meine Kräfte zu verausgaben. Aber ich musste es ja trotzdem ausprobieren.“

Mühsam suchte er weiter. Wühlte mal in diesem Stapel, dann in jenem Haufen. Nichts. Haufenweise Knochen, doch nicht der, den er suchte.

„Ich kann mich doch nicht so geirrt haben“, redete er mit sich selbst.

„Also ich sehe da keinen Widerspruch“, erschreckte ihn eine Antwort. Hektisch blickte er sich um, und dann nach oben. Ashleys Kopf schaute durch das Loch zu ihm herunter. Aber sie war nicht der einzige Kopf, den er an der Decke entdeckte.

„Da ist er ja! Ashley, du bist die Beste.“ Dieses unerwartete Kompliment schien die Blondine kurz aus dem Konzept zu bringen.

„Alter Schleimer. Komm einfach her, damit ich dich hochziehen kann“, erwiderte sie dann erstaunlich sanft.

Also humpelte er ins Zentrum und streckte ihr seine Arme entgegen. Die Kraft, mit der die Amerikanerin ihn packte und emporhob, überraschte ihn.

„Meine Güte“, presste er hervor, als sie ihn über den Rand zog und der Schmerz in seinem Bein unerträglich aufflammte. „Du bist ja ganz schön stark geworden.“

„Papalapap. Du bist halt ein Luschi“, erwiderte sie. Doch dann sah sie seine Verletzung. „Musst du dich eigentlich immer fast umbringen, wenn ich dich aus den Augen lasse?“, setzte sie hinterher. „Aber mal ernsthaft, das muss sich Tilseg anschauen. Also, wo ist der olle Schädel nun? Ich habe keine Lust, noch mal hierher zurückzukommen.“

„An der Decke. In einem kleinen Käfig“, antwortete er schwach. Er spürte wie die Schmerzen, sein Blutverlust und seine Verausgabung durch den Zauber ihren Tribut forderten. Ashleys Bild kippte nach unten, dann umgab ihn Dunkelheit. Seine Schmerzen waren nicht länger real. Wenigstens für eine kleine Weile kam sein geschundener Körper zur Ruhe.

12. Ashley

Das war natürlich wieder einmal eine tolle Situation. Eigentlich hatte sie gedacht, sie würde ihrem Freund, dem großen Möchtegernzauberer Erikson, eine Standpauke halten, wenn sie ihn fände, und anschließend gemeinsam mit ihm zu Hiriko zurückkehren. Dass er eventuell nicht in der Lage sein könnte, die gleiche Methode anzuwenden, die ihn auch hierher brachte, hatte sie nicht bedacht.

„Verdammt“, fluchte sie. „Wie kriege ich dich jetzt hier weg?“ Nachdenklich blickte sie sich um. Das Gras wuchs rings um sie herum. Nur ein schmaler Streifen freie Erde umgab das Loch, aus dem sie Sven hervorgezogen hatte. Der dumme Eierkopf hätte doch wissen müssen, dass er hier nicht einfach so herumspazieren kann. Vielleicht hätten sie vorher noch mehr dieser dicken Herzblätter sammeln sollen, um ihren Kamerad großzügig darin einzuwickeln. Während sie darüber nachdachte, kam ihr in den Sinn, dass sie sich wirklich sehr schlecht auf diese Exkursion vorbereitet hatten. Eine kleine Stimme tief in ihr merkte an, dass sie früher diejenige gewesen war, die sich um solche Belange gekümmert hatte.

„Verdammt. Dass immer alles an mir hängen bleibt.“ Wieder wanderte ihr Blick zu dem etwa eineinhalb Meter durchmessendem Loch zu ihren Füßen. Wenn es hier etwas gab, womit sie improvisieren konnte, dann dort unten.

Die knapp drei Meter bis zum Grund waren kein Problem für sie. Wie dumm musste sich Sven angestellt haben, um sich hier so schwer zu verletzen?

Nun war sie es, die den runden Raum mit den Gebeinen von wenigstens einem dutzend Toten durchsuchte. Und tatsächlich fand sie neben dem Haufen Knochen ein paar grob gewebte Säcke aus der zähen, drahtigen Wolle der einheimischen Schafe. Sogar einige Schnüre aus Pflanzenfasern waren dabei.

„Okay, das wird vielleicht nicht gerade angenehm für ihn sein, in Leichensäcken eingewickelt transportiert zu werden, aber dafür wird seine zarte Haut geschont.“

Sie stopfte ihre Fundstücke und noch einige stabil aussehende Knochen in einen Sack und warf ihn zielsicher durch das Loch. Dann spannte sie ihre Muskeln und sprang hoch.

Ashleys Finger gruben sich in die harte, wurzeldurchzogene Erdkante und zog sich dann in einer einzigen fließenden Bewegung nach oben.

Früher einmal hätte sie sich vielleicht gefragt, wie die Decke eines Hohlraums, die nur aus lehmiger Erde und Wurzeln bestand, überhaupt halten konnte. Ihr neues Ich machte sich jedoch keine Sekunde Gedanken darüber. Stattdessen begann sie unsanft das Bein ihres Kameraden zu richten und verschnürte dann einige Knochen mit der gebrochenen Extremität. Wenigstens hatte seine Bewusstlosigkeit den Vorteil, dass er ihr bei ihrer Arbeit nicht die Ohren volljammern konnte.

Nachdem sie mit ihrer selbst gebastelten Beinstütze zufrieden war, begann sie, Erikson in die Säcke zu wickeln und gut zu verschnüren. Sie wollte die so entstandene menschliche Wurst schon aufnehmen, als ihr etwas einfiel. Ein letztes Mal steckte sie ihren Kopf in das Loch und suchte die Decke ab. Dann griff sie sich den kleinen hölzernen Käfig und riss ihn mit einem Ruck ab.

„Wenn man will, dass etwas richtig gemacht wird, muss man es eben selber tun“, brummte sie, nicht ohne eine gewisse Selbstzufriedenheit.

Einige Tritte später hatte sie den hohlen Schädel aus seinem Gefängnis befreit und drückte ihn kurzerhand in Eriksons schützende Hülle. Nachdem sie noch einmal überprüft hatte, dass der Norweger rundum verpackt und der Schädel gut verwahrt war, schulterte sie ihren Kamerad und machte sich auf den Weg zurück zur Dryade.

13. Tilseg

Tilseg saß auf einem, mit Gras umwachsenen Trümmerstück und genoss den kleinen Moment Ruhe, den er gerade hatte. Dabei sinnierte er über einige Dinge, bei denen seine Berechnungen nicht weiterkamen. Wie dieses Gras zum Beispiel. Der abrupte Übergang zwischen dem harmlosen Gras zu seinen Füßen und dem deutlich unangenehmeren Messergras gab ihm nach wie vor Rätsel auf.

Magie und Zauberei waren nach seinen Berechnungen die wahrscheinlichsten Kandidaten für eine Erklärung. Doch dies widersprach seinen bisherigen Beobachtungen dieses Phänomens. Demnach waren alle Effekte, die durch Magie und Zauberei ausgelöst wurden, endlich. Auch wenn ihre indirekten Auswirkungen von Bestand sein konnten.

Eine einzelne Ausnahme stellten bisher die kleinen Flammen dar, die Sven Erikson als elementaren Feuergeist bezeichnete. Ihre Existenz deutete darauf hin, dass magische Effekte auch eine Langzeitwirkung besitzen konnten. War diese Wachstumsgrenze etwas Ähnliches? Und wenn ja, war es dann der eigentliche, beabsichtigte magische Effekt oder eine indirekte Nebenwirkung eines aktiven Zauberprozesses?

Jäh wurde er in seinen Gedanken unterbrochen, als er warnende Rufe vernahm. Ruckartig erhob er sich und suchte die Messergrasränder methodisch mit den Augen ab.

„Wogendes Gras“, hatten die Wächter gerufen, „viele Spuren!“

Das war nicht der Karren von Hiriko Tanaka. Und auch nicht Ashley Bender mit ihren Raubtieren. Ihre Jagdmeute hatte anfangs ähnliche Warnungen ausgelöst, bis sie sich auf eine Annäherungsformation geeinigt hatten, die sie und ihre Tiere fortan in Lagernähe eingenommen hatten. Könnte Boris Koschkin zurückgekehrt sein? Mit wie vielen Goblins würde er wohl kommen?

Tatsächlich brach nun eine Baumstammwalze durch die Blattreihen des Messergrases, die von einem Reitschwein vor sich her geschoben wurde. Auch saßen Goblins auf dem Tier, doch schienen sie nicht mit freundlichen Absichten gekommen zu sein. Während die ersten Neuankömmlinge ihre Walze kurzerhand von ihrem Schwein abkoppelten, strömten dutzende weiterer Goblins aus der Schneise, die das Schwein geschaffen hatte hervor und setzten sofort den nächstgelegenen Lagerbewohnern nach. Netze und Speere wurden geschleudert und trafen vor Angst gelähmte Körper. Die gerade noch herrschende friedliche Idylle wich schlagartig Chaos und Schrecken.

„Sklavenjäger!“, erschallte der Ruf durch das Lager, der sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die Leute hatte. Viele der einst versklavten Goblins ihrer Gemeinschaft erstarrten oder kauerten sich verängstigt am Boden. Auch die Orkfrauen mit ihrer Kinderschar drängten sich zu einem Haufen zusammen. Sie waren alle leichte Beute für die Angreifer. andere liefen kopflos umher und nur einige wenige von ihnen versuchten, Widerstand zu leisten. Sie haben ihre Vergangenheit noch nicht überwunden, wurde es Tilseg klar. Ihr Leben lang hatten sie sich untergeordnet. Hatten sich in ihr Joch ergeben. Jetzt, in diesen Schrecksekunden des Überfalls, verfielen sie wieder in ihre alten Verhaltensweisen und fügten sich ängstlich. Doch die befreiten Arenakämpfer formierten Widerstand. Orks und Goblins griffen zu den Waffen und stürmten Seite an Seite ihren Angreifern entgegen.

Weitere Schweinereiter walzten sich ihren Weg in das Lager, Scharen neuer Angreifer in ihrem Rücken mit sich bringend. Brutal und unerbittlich gingen sie gegen jeden vor, egal, ob ihre Opfer Gegenwehr leisteten oder sich fügten. Nun reichte es auch Tilseg. Etwas Neues, Brennendes erhob sich aus seinen emotionalen Tiefen. Sein, normalerweise von kühl kalkulierter Berechnung dominierter, Verstand flammte auf, als die Wut über ihn kam.

Brüllend und vor Zorn bebend ging nun auch er zum Angriff über.

14. Boris

Koschkin, Faqech und die kleine Fee hatten die Holzgötzen bereits hinter sich gelassen und waren nicht mehr weit vom Lager ihrer Freunde entfernt, als zuerst die Rufe und dann das Geschrei begannen.

„Sie haben Probleme“, spekulierte Faqech.

„Oder sie schmeißen eine wilde Party“, erwiderte Koschkin sarkastisch. „Wir sollten uns in jedem Fall beeilen.“

Die Schamanin nickte nur und trieb ihr Schwein an, schneller zu schieben. Als sie schließlich durch das Messergras in die Freifläche um den Turm brachen, war der Kampf schon voll im Gange. Einige der Angreifer waren damit beschäftigt, die bereits gefangenen Lagerbewohner zu sichern und zusammenzutreiben. Der Rest befand sich im Gefecht. Auf einer langgezogenen, unorganisierten Front hackten und stachen Gruppen unterschiedlicher Größe aufeinander ein.

„Was für ein Durcheinander“, beurteilte Koschkin die Situation.

„Eine schlimme Sache“, erwiderte Fang, während sie die Halterung der Walze vom Schwein löste. Boris verstand, was seine Freundin vorhatte und warf seinerseits ihre Ausrüstung achtlos zu Boden. Als das Gestell ihrem Eigentum Gesellschaft leistete, stiegen beide auf das Tier.

„Wie früher?“, versicherte sich die Goblinin.

„Wie in alten Zeiten!“, bestätigte Koschkin.

Fang trieb das Reitschwein an, bis es im wilden Schweinsgalopp über die Wiese rannte. Koschkin legte seinen Speer ähnlich einer Lanze an und brüllte:

„Zuerst die Reiter!“

Fang lenkte ihr Tier geschickt in einem Bogen um einen der kämpfenden Pulks, als Boris Tilseg bemerkte.

Der muskelbepackte Grünhäutige war mit etlichen Speeren gespickt und kämpfte alleine gegen sieben Angreifer. Gerade packte der sonst so friedliche Arzt einen der Goblins.

Hatte der Eindringling dem Doktor vor Sekunden noch seinen Speer in den Unterschenkel gerammt, sah er sich nun in einem eisernen Griff gefangen. Koschkin meinte regelrecht das Knirschen wahrnehmen zu können, als der kahle Schädel seines Kameraden wuchtig gegen den Goblinkopf prallte. Doch dann musste er sich auf seinen eigenen Kampf konzentrieren.

Ihr Angriff kam für das andere Reiterduo so überraschend, dass Koschkins Waffe beide Körper nacheinander durchbohrte und sie hintereinander aufspießte. Der Aufprall war so heftig, dass es den Russen fast selber vom Schwein geworfen hätte. Im letzten Moment hatte er seine Waffe losgelassen. Der Schlag ließ seinen Arm trotzdem kurz taub werden und ihn fluchen.

„Mit Rüstung tut es doppelt weh“, beschwerte er sich bei niemand bestimmtem.

„Gut getroffen“, lobte Fang.

„Das schon“, gab er ihr recht. „Doch hat es uns auch einen Speer gekostet.“

„Einen haben wir noch. Und da vorne kommt der Nächste.“

Koschkin blickte in die Richtung und bemerkte ein zweites Reiterduo, das auf sie zu galoppierte. Mit einem weiteren Fluch zog Boris den zweiten Speer aus der Halterung ihres Sattels. Dann hatte er plötzlich Mühe, auf selbigem zu bleiben, als Fang plötzlich einen unerwarteten Haken schlug. Ein weiterer Fluch blieb ihm in der Kehle stecken, als der Speer, den ein Feind auf ihn geschleudert hatte, um Haaresbreite an ihm vorbeisauste.

„Warn mich das...,“ - nächste Mal vor, wollte er sagen. Doch dazu war es schon zu spät, als das Schwein erneut die Richtung wechselte. Sein folgender Fluch gelangte ungehindert in die Freiheit.

„Wir werden in die Zange genommen“, erklärte Fang angestrengt. Wieder fluchte der Russe. Sie steuerte das Tier und bestimmte, wohin sie ritten. Er hatte andere Probleme.

Einige Goblins, an denen sie vorbeipreschten, stachen mit ihren Speeren nach ihnen. Er hatte alle Hände damit zu tun, diese Angriffe abzuwehren. Da traf ihn ein Netz von der Seite. Mit aller Kraft hielt er sich am Sattel fest und stemmte sich dagegen, als sich die Netzfasern spannten. Aber der Kommandant war stärker. Der Goblin, der das Zugseil des Netzes in Händen hielt, wurde umgerissen und mitgeschleift.

Er saß noch hinter Fang, doch war er nun in seinen Aktionen eingeschränkt. Trotzdem schaffte er es, die nächsten Attacken auf sie abzuwehren und sogar zwei Angreifern Wunden zuzufügen.

Doch dann warfen sich weitere Sklavenjäger auf das Seil und den immer noch stur festhaltenden Goblin. Kommandant Boris Koschkin tat sein Bestes und wendete alle Kraft auf, die er hatte. Doch schließlich verlor er und fiel zu Boden. Der Aufprall war hart und sofort stürzten sich einige Invasoren auf ihn, um ihn zu packen und am Boden zu halten.

Aber er leistete Widerstand. Er zappelte, trat und schlug um sich. Selbst als sie ihn zu fünft am Boden hielten, halb in einem Netz verheddert, versuchte er weiter, sich zu wehren. Da trat ein Goblin mit einem höhnischen Grinsen in sein Sichtfeld.

Koschkin vergaß vor Überraschung einen Moment lang sich zu wehren. Den kräftigen Kerl kannte er von früher. Damals war sein ganzer Körper mit einer Art Schuppenpanzer geschützt, während er jetzt nun eine dicke Lederrüstung trug, die aussah, als wäre sie aus verschiedenen Teilen zusammengeklaut worden. Aber einen entscheidenden Ausrüstungsteil besaß der Anführer des Sklavenhändlertrupps immer noch.

„Du Arsch, das ist mein Messer!“, brüllte Boris ihn an.

Das Grinsen des Goblins wurde noch breiter. Auch er schien den Russen wiedererkannt zu haben. Genüsslich zog er nun Koschkins Armeemesser aus seinem Gürtel und lachte hämisch.

Als Fang und er damals in die Gewalt dieses Menschenhändlers gelangten, war Boris betäubt und hilflos gewesen. Doch dieses Mal wollte er sich wehren. Wenn nötig bis zum letzten Atemzug. Noch einmal würde er kein Sklave werden. Er verstand nur einige Brocken von dem, was die Goblins da quäkten. Doch es reichte, damit er begriff, was sie vorhatten. Sie werden mich töten, wurde ihm klar. Dieses Mal wollen sie nur meinen Kopf.

Schon beugte sich der kräftige Goblinanführer zu ihm hinunter, um ihm mit seiner eigenen Waffe die Kehle durchzuschneiden. Doch dann prallte ein geifernder Umriss gegen den Schurken und riss ihn mit sich. Weitere Schemen sausten über den verdutzten Kommandanten hinweg, der nun plötzlich wieder frei war.

So schnell es seine Überraschung zuließ, rappelte er sich auf, um zu sehen, wer da so unerwartet zu Hilfe gekommen war. Ein derber Fluch löste sich aus seiner Kehle, als sein Hirn seine Retter identifizierte.

„Was machen diese Bestien hier?“, brachte er schließlich hervor. Wie in Trance beobachtete er einige Herzschläge lang die Säbelfanten bei ihrem blutigen Treiben. Die großen Monster waren ihm und dem Lager offensichtlich zu Hilfe gekommen. Doch wieso? Dann entdeckte er Ashley auf dem Rücken des größten der eingreifenden Raubtiere, die wie eine Furie durch die Reihen ihrer Gegner brach.

„Boris!“, hörte er nun seinen Namen über das Schlachtgetöse. Widerwillig löste er den Blick von der wütenden Blondine und suchte denjenigen, der ihn rief. „Fang“, rief Fang, während sie an ihm vorbeiritt und ihm einen Speer zuwarf. „Aufpassen, hinter dir!“

Koschkin fing die Waffe und wirbelte herum. Um ein Haar hätte der heranstürmende Angreifer ihn aus dem Spurt heraus gepfählt, doch dank seiner kleinen Freundin konnte er gerade noch ausweichen. Stattdessen drang nun seine eigene Waffe in den Leib seines Gegners und machte ihn augenblicklich kampfunfähig.

„Danke Kleine“, rief der Russe der Schamanin zu, die ihr Reitschwein bereits gewendet hatte und wieder auf ihn zugeritten kam.

„Spring auf!“, brüllte sie ihn an.

Ohne nachzudenken packte Koschkin zu, als das Tier an ihm vorbeipreschte und schwang sich mit einer einzigen enormen Kraftanstrengung zurück auf den Rücken des schwitzenden Tieres.

„Gut gemacht“, lobte er sie keuchend, als er schließlich wieder fest im Sattel saß. „Lass es uns diesen Verbrechern zeigen!“

15. Sven

Erikson war aufgewühlt, wie selten zuvor in seinem Leben. Die Ereignisse der letzten Zeit überschlugen sich zusehends. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, schien alles beim Alten. Er fühlte sich ausgelaugt, schlapp und war immer noch verletzt. Wenigstens befand er sich wieder auf Hirikos Karren und war in Begleitung seiner Freunde und des Ogers, der unermüdlich den Karren schob.

Zu seiner freudigen Überraschung hatte Ashley jedoch nicht nur ihn, sondern auch Magister Ingbolds Kopf gerettet, als sie ihn geborgen hatte. Das Gefühl, im Grunde nutzlos für seine Freunde zu sein, war in diesem Augenblick so stark gewesen wie selten zuvor. Doch dann hatte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen und ihn dermaßen abgelenkt, dass er vergaß, wie schlecht er sich fühlte.

Er hatte das knöcherne Haupt des Magiers in den Händen gehalten und in die toten, leeren Augenhöhlen des Schädels gestarrt. Da bemerkte er eine schleichende Veränderung. Seine Kraft kehrte zurück.

Magische Macht schien von dem Kopf auf ihn überzugehen und seine Manareserven aufzufüllen. Zögernd lotete er seinen Manaspeicher aus. Und tatsächlich, seine Zauberkraft regenerierte sich langsam aber stetig. Ein bunter Strauß von Fragen formulierte sich in seinem Kopf und er bedauerte es zutiefst, dass Lektor Ingbold jetzt nicht bei ihm war.

Das unerwartete Geschenk akzeptierend, konzentrierte er sich auf seine Verletzung und ließ das neu gewonnene Mana fließen. Der Lektor hatte ihm einen Zauberspruch beigebracht, mit dem er seine Wunden heilen konnte.

Und tatsächlich schlossen sich seine Verletzungen und heilten, ohne die kleinste Narbe zu hinterlassen. Die Pein verging zusehends, bis die Regeneration abgeschlossen war. Einen Moment lang war er schmerzfrei, bevor ein Teil davon zurückkehrte. Den Knochenbruch in seinem Bein hatte der Zauber also nicht richten können, erkannte er.

Dann war das nächste Unerwartete passiert. Hiriko erklärte in Tränen aufgelöst, dass im Lager etwas Schlimmes vorging. Die Lebenskräfte, die sie am Rande ihrer Wahrnehmung spürte, deuteten deutlich darauf hin und ließen sie das Schlimmste befürchten. Doch konnte sie beim besten Willen nicht erklären, was dort genau vor sich ging. Die Tränen der Dryade reichten Ashley jedoch völlig aus, sie zurück zu lassen und mit ihrer Meute voraus zu eilen.

Auch Junior schien die Dringlichkeit zu spüren und verstärkte seine Anstrengung zusehends, sie schneller ins heimische Lager zurückzubringen.

Als sie endlich Stunden später an der Turmruine ankamen, war die Schlacht geschlagen. Das Szenario war furchtbar. Hirikos Züge zeigten das gleiche Entsetzen, das auch er in sich spürte. Zwar schien ihre Seite der Sieger des Gemetzels zu sein, doch minderte es nicht den Schock, den er empfand, während sein Bewusstsein die blutige Realität in sich aufnahm.

Die Hälfte des Lagers war verheert, etliche der primitiven Zelte niedergetrampelt oder aufgeschlitzt. Überall in seinem Sichtfeld lagen Leichen auf dem Boden. Zwischen den Toten wanderten einige ihrer Leute, trennten die leblosen Körper ihrer Freunde von denen der Sklavenjäger, sammelten Waffen und Ausrüstungsteile oder brachten Totgeglaubte, in denen sie noch Leben entdeckten, hektisch zu einer größeren Ansammlung von Personen.

Zuerst entdeckte Sven den grünhäutigen Doktor unter ihnen, der sich um einige am Boden liegende kümmerte. Dann sah er auch Fang zwischen den herumwuselnden Goblins.

„Hiriko“, sprach er seine Gefährtin aufgeregt an. „Fang ist hier. Das heißt, Boris ist zurückgekommen.“

Nun bemerkte auch die Dryade die kleine Schamanin zwischen ihresgleichen. Sie war es auch, die den Kommandanten als erstes bemerkte.

„Da ist er“, rief sie. „Er scheint auch verletzt zu sein.“ Dabei deutete sie in die Richtung, in der sie den Russen entdeckt hatte.

„Aber er lebt“, beruhigte er sie halbherzig.

„Ja, das ist gut“, bestätigte sie etwas ruhiger, doch mit einer Traurigkeit in der Stimme, wie er sie so von ihr nicht kannte. „Und trotzdem sind hier viele Leben sinnlos vergeudet worden.“

Diesmal war es an ihm, ihr nickend zuzustimmen. Doch dann änderte sich plötzlich die Lage ihrer Plattform und ein stechender Schmerz erinnerte den Norweger daran, dass er immer noch ein gebrochenes Bein besaß.

„Also wirklich“, hörte er die tadelnde Stimme der Dryade. „Du hättest auch vorsichtiger sein können.“

Die unerwartete Schräglage und seine Schmerzen verwirrten ihn einen Moment lang. Redete Hiriko mit ihm? Was hatte er jetzt schon wieder gemacht. Doch dann erkannte er, dass sie mit ihrem Oger sprach.

„Ja, ich weiß, dass du deine Keule unbedingt ausprobieren möchtest. Aber hier und heute nicht. Und weil du einfach losgelassen hast, hat Sven sich jetzt wehgetan.“

Die Bindung, die das große Wesen mit der Dryade verband schien stärker geworden zu sein. Denn obwohl Junior und sie keinen Körperkontakt miteinander hatten, schien die riesenhafte Gestalt zu verstehen, was Hiriko sagte.

Nun senkte der Oger sogar sein Haupt und wirkte ein wenig wie ein übergroßes, etwas dümmliches Schulkind, das seine Mutter gerade ausschimpfte. Sven war immer wieder aufs Neue von der fremdartigen Natur seiner Freundin fasziniert. Selbst wenn er gerade Schmerzen litt.

„Was machen wir nun?“, brachte er fast mechanisch hervor, als er die pulsierende Folter wieder ertragen konnte, die von seinem Bein ausstrahlte.

„Wir bringen dich erst einmal zu Fang und Tilseg. Du bist verletzt. Und darum ein Fall für sie.“

„Nein, die haben genügend andere Verletzte zu versorgen“, entgegnete er ablehnend, doch dann kam ihm eine Idee. „Obwohl, bring mich doch zu ihnen. Ich glaube, ich könnte ihnen helfen.“

Also brachte Junior ihn auf Hirikos Vehikel zu ihren Freunden und den übrigen Verletzten. Dort ließ sich Erikson vom Karren helfen und humpelte zur Koschkin. Dabei erwiderte er die knappen Begrüßungen von Tilseg und Fang, die beide immer noch mit der Versorgung der Verletzten alle Hände voll zu tun hatten. Auch wenn mehrere Freiwillige sie unterstützten.

„Hallo Sven“, begrüßte ihn der Kommandant.

„Hallo Boris. Wie geht es dir?“

„Ich werde es überleben“, erwiderte der Russe und verzog sein Gesicht. „Nur eine Stichwunde im Oberschenkel. Fang wird sich bestimmt darum kümmern, wenn sie Zeit hat. Aber manchen von den anderen geht es viel dreckiger als mir.“

„Weißt du, wer am schlimmsten dran ist?“

„Na ja, ich kenne mich mittlerweile ziemlich gut mit Kampfverletzungen aus. Aber ich kann nichts dagegen tun.“

„Kannst du laufen?“, fragte Sven seinen Kommandanten, der darauf seinen humpelnden, ehemaligen Astrogator abschätzend betrachtete und fast unmerklich schmunzelte.

„Ich denke, dass ich mit dir gerade so Schritt halten kann.“

„Sehr gut. Du zeigst mir die schlimmsten Verletzungen und ich dir, was ich in der Zwischenzeit alles gelernt habe.“

„Gut. Ich gebe zu, jetzt hast du mich neugierig gemacht.“

16. Hiriko

Hirikos Trauer war stark, fast übermächtig. Wieso musste so etwas immer wieder passieren? So viele Tote, so viel verlorenes Leben.

Ihre menschliche Seite verstand, was hier geschehen war. Konnte sogar die niederen Beweggründe der Angreifer nachvollziehen. Aber trotzdem.

Das ganze Leid um sie herum und die Toten, die wie dunkle Flecken über den sie umgebenden Leben lagen, betrübten sie in einem Maße, das sie unerträglich fand. Sie wollte es nicht mehr sehen. Oder spüren.

Also zog sie sich in ihren Weinstock zurück. In die Sicherheit des übergeordneten Lebensstrom, die sie dort empfand. Dort war die Leere, die das geraubte Leben hinterlassen hatte, unerheblich klein. Nur ein Tropfen im stetigen Fluss. Eine Weile ließ sie sich treiben und trösten.

Doch dann wanderten ihre Gedanken zurück zu ihren Freunden und der Gemeinschaft, von der auch sie ein Teil geworden war. Also löste sie sich langsam, fast zögerlich und trat dann innerhalb eines Gedankengangs aus ihrem Symbiosepartner hinaus, zurück in die Welt.

Das Leid um sie herum war gelindert worden und die Toten gesammelt, sodass sie für sie nicht mehr allgegenwärtig waren. Alles schien ein wenig besser und doch lag etwas Dunkles über ihnen.

Und Hiriko war wohl zurzeit die einzige, die es bemerken konnte. Die fette Erscheinung von Magister Ingbold schäumte vor Wut. Er brüllte und schrie, während er auf seine dreifache Größe aufgequollen um den Ort rotierte, an dem ihre Freunde immer noch Verwundete versorgten. Was war geschehen?

Hiriko meinte sich erinnern zu können, dass der Geist ausnahmsweise einmal nicht sauertöpfisch dreingeblickt hatte, als sie und Sven in das Lager zurückgekehrt waren. Sie war ziemlich abgelenkt gewesen, doch da schien es ihr so vorzukommen, als hätte er tatsächlich gelächelt. Und jetzt? Jetzt sah es so aus, als ob er gleich explodieren würde.

Hiriko näherte sich eilig dem Zentrum, welches der Geist so aufgebracht umkreiste. Dort traf sie auf Koschkin und Erikson, die bei einem vor kurzem noch schwer verletzten Ork beisammen standen, dem es nach Svens Berührung plötzlich viel besser ging.

„Was ist passiert?“, überfiel Hiriko die beiden.

„Oh, hallo Hiriko“, begrüßte Boris sie fröhlich. „Wir haben die Schlacht gewonnen!“, verkündete er stolz.

„Ja, gut. Das meine ich nicht. Sven, warum ist der Geist so sauer?“

„Sauer? Ich weiß nicht. Ist er sauer?“

„Aber hallo! Spürt ihr denn die Kälte nicht?“

„Das macht ein Geist?“, fragte Koschkin erstaunt. „Ich habe schon gedacht, dass es hier ausgesprochen kühl ist. Aber ich habe es auf meine Verletzung geschoben.“

„Und ich auf die vielen Zauber.“

„Nee Jungs. Glaubt mir, das ist es nicht“, beteuerte die Dryade, während sie besorgt die Geistererscheinung beobachtete, die Sven ansah, als wolle sie ihn zerquetschen.

„Vielleicht sollte ich mit Lektor Ingbold reden“, überlegte Erikson.

„Das ist der andere tote Zauberer, nicht wahr?“, wollte Koschkin wissen.

„Nein, eigentlich ist es der gleiche Zauberer, nur jünger.“

„Hört auf zu quatschen“, fauchte Hiriko. „Und du, hole endlich deine Kette!“ Überrascht von der Schärfe in der Stimme der Dryade, klappte Sven seinen Mund zu und eilte, so schnell es sein gebrochenes Bein zuließ, zu seinem Schlafplatz im Lager.

„Er hat viel gelernt“, setzte Koschkin zu einem weiteren Gespräch an.

„Und er hat etwas angestellt, was richtig gefährlich werden könnte“, erwiderte sie besorgt, während sie beobachtete, wie die immer noch wild wirbelnde Erscheinung dem Zauberlehrling folgte.

17. Sven

Sven biss die Zähne zusammen, während er sich bemühte, den Schmerz zu ignorieren. Endlich hatte er seine Schlafstatt erreicht. Stöhnend ließ er sich herab und fingerte hektisch nach der kleinen Silberkette mit der unscheinbaren Kugel. Hirikos Verhalten hatte nach absoluter Dringlichkeit verlangt und ihm einen Heidenschreck eingejagt. Angespannt legte er die Kette an, als auch schon der Geist von Lektor Ingbold bei ihm war.

„Ihr seid zurück, mein Freund“, begrüßte er ihn freudig, doch dann schrak er zusammen. „Was habt Ihr getan?“, setzte er schockiert und überrascht nach, bevor er wieder in die für Sven unverständliche Sprache wechselte. Zuerst schien der wütende Magister das Wort zu führen, denn Lektor Ingbolds Beiträge waren kurz und knapp.

Das Mienenspiel seines Lehrers zeigte nach anfänglichem Schock Bestürzung und schließlich Verärgerung. Doch als er schon dachte, dass auch der Lektor böse auf ihn sein würde, setzte ein hitziger Dialog zwischen den Geistern ein. Sven hätte zu gerne verstanden, worüber sich der Zauberer mit seinem anderen Ich stritt. Doch dann wurde er von etwas anderem überrascht.

„Da bist du ja“, zwitscherte die Fee aufgeregt. „Ich habe dich überall gesucht.“

„Delphi?“, erwiderte Sven erstaunt zu der Lichtkugel, die sich unbemerkt genähert hatte.

„Natürlich! Oder wie viele Feen kennst du noch?“

„Nur dich und deine Familie?“, beschwichtigte er schnell. „Aber wie bist du hierhergekommen?“

„Ich bin geflogen. Was denn sonst?“

„Ich meine, wie hast du mich gefunden?“

„Ich bin demjenigen gefolgt, den sie Boris nennen. So viele von euch gibt es hier nicht. Und ich dachte mir, dass er mich schon zu dir bringen würde. Und ich hatte recht!“

Die Fee strahlte, doch konnte Sven dies aufgrund ihrer Leuchtkraft nicht sehen.

„Ich dachte, du kannst dich nicht zu weit von zuhause entfernen?“

„Wie du siehst, kann ich das schon. Nur dürfen wir es normalerweise nicht. Aber ich habe eine Erlaubnis.“

„Das wusste ich nicht.“

„Was wusstest du nicht? Dass ich eine Erlaubnis habe?“

„Das auch. Aber ich wusste nicht, dass du so eine Erlaubnis brauchst.“

„Hast du dich deshalb nicht verabschiedet, als du einfach so abgehauen bist?“

„Nein. Ich wusste doch gar nicht, wo ich dich finden kann.“

„Wieso? Du warst doch sogar bei mir zuhause!“

„Ja das stimmt. Aber ich wusste nicht mehr, wo das war und alles ging so schnell. Unsere Freundin war schwer verletzt und brauchte Hilfe und unser anderer Freund war in Gefahr“, verteidigte er sich, doch dann senkte er den Kopf. „Und bei dem Ganzen habe auch ich einfach nicht mehr dran gedacht“, gestand er kleinlaut.

„So ist das also“, zwitscherte die Fee. „Hast mich einfach vergessen.“

„Nein! Ich habe sogar oft an dich gedacht. Und wenn ich gekonnt hätte, wäre ich mit meinem Freund zu dir zurückgekommen. Also ich meine den, dem du dich angeschlossen hast. Aber es ging einfach nicht! Ich musste hierbleiben.“

„Na gut. Ich verzeihe dir. Aber nur, weil du an mich gedacht hast und es ehrlich meinst.“

„Ich möchte Euch beim Plausch mit Eurer Freundin nicht unterbrechen“, erklang nun Lektor Ingbolds Stimme wieder in einer verständlichen Sprache. „Doch fürchte ich, wir haben einen nicht unerheblichen Gesprächsbedarf, mein Freund.“ Sven nickte.

„Das freut mich. Du musst mir später alles erzählen“, sprach er aber weiter zur Fee gerichtet.

„Wieso nicht jetzt?“

„Zuvor muss ich noch ein anderes wichtiges Gespräch führen. Was hältst du davon, Hiriko zu begrüßen? Oder hast du sie schon getroffen?“

„Nein habe ich nicht. Na gut. Aber lass mich nicht zu lange warten.“ So sprach die Fee und surrte von dannen.

„Nun haben Sie meine volle Aufmerksamkeit, Lektor Ingbold.“

„Ihr habt Euch in ein arges Schlamassel manövriert, mein Freund“, begann der Geist seine Rede. „Wie kamt Ihr nur dazu, die Macht von Magister Ingbold für eigene Zwecke einzusetzen?“

„Wann habe ich das getan?“, fragte Sven erschrocken, doch dann begriff er. „Meinen Sie das Mana, das aus dem Kopf in mich geflossen ist? Aber ich habe nichts dazu getan, es ist einfach geschehen.“

„In der Tat, genau das meine ich. Erzählt mir, was geschehen ist“, forderte ihn die Erscheinung des Lektors auf. Doch bevor er mit seiner Geschichte beginnen konnte, blickte der Geist erneut zur Seite.

„Ihr habt doch bestimmt, dass ich ihn nicht begleite. Ich hätte es verhindern können. Nun schweigt und lasst mich hören, was er zu sagen hat.“ Eine kurze Pause, in der Sven schon seinen Mund öffnete, um zu sprechen. „In diesem Fall werdet Ihr warten müssen. Schließlich bin ich auch Ihr, also hört auf Euch. Es gab eine Zeit, da wusstet Ihr meinen Rat noch zu schätzen.“ Wieder eine Pause. „Droht mir nicht. Ich weiß, was mit Novize Ingbold passiert ist! Und jetzt schweigt endlich!“ Erneute Stille. Dann ein dünnes Lächeln auf den Zügen des Lektors. „Entschuldigt, mein Freund. Solch persönliche Konflikte werden normalerweise im Inneren ausgetragen. Also gut, erzählt mir, was geschah. Niemand von mir wird Euch unterbrechen.“

Sven atmete ein letztes Mal tief durch und erzählte von seiner Reise. Wie er den Kopf gelegentlich lokalisierte und sie schließlich die Statuen gefunden hatten.

Dann von seinen Erfahrungen mit dem Zauber, als er die Matrix manipuliert und den Stein weggeschleudert hatte. Von seinem Sturz und seiner Rettung, den Knochen in der Kammer und dem Fund des Schädels.

Anschließend berichtete er ausführlich von seiner Entdeckung, dass der alte Knochenkopf ihm neue Zauberkraft gab und wie er diese Kräfte für seine Heilung einsetzte. Schließlich endete seine Erzählung mit der Beschreibung seines spontanen Entschlusses, den Verletzten des Überfalls beizustehen und sie zu heilen, wie er es zuvor bei sich selbst getan hatte. Am Ende verstummte er und wartete, unsicher, was nun geschehen würde.

Lektor Ingbold nickte nachdenklich und wechselte einige Sätze mit seinem anderen Ich. Schließlich stieg die Temperatur schlagartig an und eine bedrohliche Atmosphäre verschwand, die ihm vorher gar nicht bewusst gewesen war.

„Ich habe mich zurückgezogen“, kommentierte Lektor Ingbold die Änderungen, die Sven bemerkte.

„Sind Sie immer noch wütend?“

„Ich bin mit mir selbst nicht einer Meinung“, erwiderte der Geist resigniert. „Ihr müsst bedenken, dass ich im Alter nicht gerade einfacher geworden bin.“ Das entschuldigende Lächeln, welches kurz in den Zügen des Lektors aufblitzte, ermutigte Erikson.

„Ich weiß, ich hätte besser fragen sollen. Aber ich dachte, ich mache das richtige.“

„In meinen Augen habt Ihr dies auch getan. Doch meinem anderen Ich fehlt es gewissermaßen an Empathie. Für dieses Ich war die Rettung Eurer primitiven Begleiter reine Verschwendung von Zauberkraft. Zauberkraft, die ich anderweitig nutzen wollte. Doch grämt euch nicht. Ich werde mich beruhigen, denn ohne Euch wäre mein Kopf immer noch verschollen.“

„Sie sind also nicht böse?“

„Seid beruhigt, mein Freund. Auch wenn ich den Großteil Eurer Begleiter ebenfalls als primitiv erachte, respektiere ich Eure Hilfsbereitschaft und die Ehrenhaftigkeit Eurer Handlungsweise. Trotz allem war es unüberlegt und überstürzt.“

„Sie haben wieder mal recht, Lektor Ingbold. Es tut mir leid. Können Sie mir vergeben?“

„Vergebung ist unnötig. Im Gegenteil. Mit Eurer Tat habt Ihr mir gezeigt, dass Euer Herz am rechten Flecke sitzt. Auch wenn Ihr noch recht ungestüm seid, was für einen Zauberkundigen durchaus gefährlich werden kann. Doch anders als der Magister bin ich der Meinung, dass die Zauberkunst zum Wohle aller eingesetzt werden soll. Und dies gerade in solchen Notsituationen, wie diese, in der Ihr euch befandet.“

„Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?“

„Nur zu, mein Freund.“

„Warum sind Sie und Magister Ingbold so unterschiedlich, wenn Sie doch die gleiche Person sind?“

„Das ist eine komplizierte Frage“, erklärte der Geist zögernd. Dabei warf er einen verstohlenen Blick auf die Ruine. „Ohne Euch mit meiner Lebensgeschichte zu langweilen, könnte man es am ehesten so formulieren: Auch ich habe vorschnelle Entscheidungen getroffen, die mich mir selbst entfremdet haben.“

„Ich verstehe Sie nicht ganz.“

„Vielleicht ist es auch besser so. Vielleicht erzähle ich Euch eines Tages mehr darüber.“ Wieder dieser seltsame Seitenblick. „Doch ist es an der Zeit, die Gebeine zu komplettieren. Findet Ihr nicht auch, mein Freund?“

„Natürlich. Wohin soll ich den Kopf bringen?“

„Ich denke, es ist an der Zeit, Euch ein Geheimnis anzuvertrauen.“ Sven horchte auf. „Doch zuvor werde ich Euch noch eine Zauberlektion erteilen. Es gibt eine Variante des Euch bekannten Heilzaubers, der speziell bei Knochenbrüchen angewendet wird.“ Nun lächelte der Zauberer.

„Vielen Dank, Lektor Ingbold“, lächelte nun auch Erikson.

18. Boris

Irgendwie hatte er sich seine Rückkehr anders vorgestellt. Aber vermutlich hatte er den ganz normalen Wahnsinn einfach nur verdrängt. Niemand konnte ja auch damit gerechnet haben, dass ihr Lager, welches über seine ganze Abwesenheit hinweg sicher war, ausgerechnet dann überfallen wurde, als er und Fang zurückkehrten. Und dann auch noch von einem alten Bekannten.

Wenigstens hatte er sein altes Messer wieder und alle, die ihm etwas bedeuteten, hatten den Kampf überstanden. Trotzdem gruselte es ihm noch immer, wenn er daran dachte, wie Tilseg nach dem Kampf wie ein lebendiges grünes Stachelschwein ausgesehen hatte, dass sich in aller Seelenruhe sämtliche Stacheln aus dem Leibe zog. Einen Speer nach dem anderen.

Und dann diese Säbelfanten und Ashley. Wo steckte sie eigentlich? Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, war sie mit ihren Raubtieren den wenigen geflüchteten Sklavenjägern hinterhergejagt. Das war jetzt schon eine ganze Weile her.

Mit seiner Beinverletzung hatte er nicht viel machen können. Also hatte er beobachtet. Und dann waren Sven und Hiriko auf einer skurril anmutenden Schubkarre mit Ogerantrieb angerollt. Tanaka hatte er schnell aus den Augen verloren, als Erikson mit einem Totenschädel unter dem Arm auf ihn zu gehumpelt kam.

Svens Neuigkeiten hatten ihn durchaus beeindruckt. Der Hokuspokus, den er mit den Verletzten und später auch mit seinem eigenen Bein vollzogen hatte, war erstaunlich und übertraf sogar noch das Resultat von Fangs Heilkünsten.

Aber dann tauchte Hiriko wieder auf und erzählte etwas von wütenden Geistern und Erikson hatte es plötzlich verdammt eilig. Auch Hiriko ließ ihn relativ schnell wieder alleine, als die kleine Fee zu ihnen stieß. Die beiden schienen sich viel zu erzählen zu haben. So saß er nun alleine da und beobachtete die anderen bei ihrem Treiben, nicht recht wissend, wie er helfen könnte.

Da es ihm jedoch dank Svens Wunderheilung an nichts weiterem fehlte, erhob er sich schließlich und packte nach Kräften bei der Beseitigung der Kampfspuren im Lager mit an. Körperliche Arbeit war genau das richtige, um nicht über all das grübeln zu müssen, was er an diesem Tage schon durchlebt hatte.

Er hatte sich gerade an einer Feuerstelle niedergelassen und röstete einige Stücke Schaffleisch an einem Stock, als Fang sich zu ihm setzte.

„Ein schlimmer Tag. Aber wir leben noch“, sinnierte die Schamanin erschöpft. Koschkin nickte stumm, während sie fortfuhr. „Kannst du mir einen Gefallen tun und unsere Sachen holen?“

„Habe ich schon“, antwortete er knapp und deutete auf einen Haufen zwischen zwei Zelten.

„Gut. Bei all der Aufregung bin ich noch nicht dazu gekommen, etwas zu überprüfen.“

„So? Was musst du überprüfen?“

„Ich muss meine Vorbereitungen abschließen. Erinnerst du dich? Meine Vorsichtsmaßnahme? Der mächtige Geist? Wir haben darüber gesprochen.“

„Ja, das tue ich. Aber hast du nicht für heute genug? Du siehst sehr erschöpft aus.“

„Queckech hat mich gelehrt, Geisterangelegenheiten niemals auf die leichte Schulter zu nehmen.“

„Na gut. Kann ich dir helfen?“

„Wenn du mir meinen Rucksack bringen würdest, wäre das toll.“ Ihr Lächeln täuschte nicht darüber hinweg, dass sie sehr erschöpft war. Zuerst die Schlacht und dann ihre unermüdliche Arbeit für die Verwundeten. Koschkin konnte nicht umhin, die Zähigkeit seiner Kameradin zu bewundern und holte ihr das Gewünschte.

Die Schamanin kramte ein wenig in ihrer Tasche und zog ein rundes Gestell hervor, in das ein komplexes Muster aus Schnüren gezogen worden war. In dem Gebilde wiederum war verschiedener Krimskrams in dem Muster verwoben. Ein Käferpanzer, eine Feder und ein Stein konnte der Russe davon identifizieren.

„Ist das ein Traumfänger?“

„Ich weiß nicht, was ein Traumfänger ist. Lass mich bitte einen Moment. Dann können wir wieder reden.“

Koschkin schwieg, wie ihm geheißen und betrachtete die Kleine, wie sie das Gebilde mit zwei Fingern an einer Schnur vor sich hielt und es gespannt betrachtete. Zuerst wackelte es nur ein wenig. Doch dann fing es an zu schwanken, bevor es zu rotieren begann. Als die Feder ihre Fahnen verlor und der Panzer brach, riss die Goblinin ihre ohnehin schon großen Augen weit auf.

„Ein schlimmer Tag. Und er ist noch nicht vorbei.“

„Wie meinst du das?“

„Der Geist dieses Ortes hat Böses vor. Ich weiß nicht, wie er es macht doch entzieht etwas hier allem Lebendigen ein wenig Kraft. Wir sollten nicht bleiben.“

„Wir können noch nicht gehen; Ashley ist nicht da und wir haben immer noch viele Verletzte.“

„Dann muss ich etwas gegen den Geist unternehmen.“

„Sollten wir nicht zunächst mit Sven darüber reden? Er ist doch sein Lehrmeister. Und außerdem kann es nicht so schlimm sein. Schließlich lagern die alle hier schon sehr lange.“

„Ich glaube, dass etwas passiert ist, das etwas ausgelöst hat.“

Nun stockte Koschkin doch.

„Meinst du zum Beispiel den knöchernen Kopf des Zauberers, der hier bis heute gefehlt hat.“

„Zum Beispiel. Der Lebensentzug ist meiner Meinung nach neu. Ansonsten wären hier schon längst alle tot.“

„Ist das dein Ernst?“, fragte Boris jetzt alarmiert.

„Ist es. Wenn ich ihn nicht stoppe, könnte noch viel Schlimmeres passieren als bei dem heutigen Überfall. Es würde uns alle innerhalb von Tagen töten.“ Wieder einmal fluchte Koschkin lautstark.

„Okay, mach was du machen musst, ich informiere die anderen.“ Mit diesen Worten ließ er seinen Fleischspieß stehen und begab sich auf die Suche nach seinen restlichen Kameraden. Allen voran nach einem bestimmten.

Sven Erikson!

19. Sven

Sven war in diesem Augenblick jedoch in einer ausgesprochen vertrackten Lage und an einem Ort, wo man ihn so schnell nicht finden würde. Doch zunächst hatte sich seine Situation deutlich verbessert.

Die Lektion des Lektors hatte er schnell begriffen und mit dessen Erlaubnis auch seine Knochen geheilt. Schmerzlos und frohgemut war er dann in die Turmruine hinauf und in ihr Inneres hinab gestiegen. Mit einer Fackel gerüstet, auf der sein kleiner Feuerelementar leuchtend herumtanzte, war er den Anweisungen des Geistes seines Schmuckstückes in den Raum mit den vielen Möbeltrümmern gefolgt und hatte mehrere, vom Lektor definierte, Mauersteine gedrückt, die sich tatsächlich unmerklich versenkten und einen Mechanismus auslösten, der wiederum einen Teil des Bodens absenkte.

Bisher unentdeckte Treppenstufen wandten sich in die Tiefe. Erikson folgte der Aufforderung von Lektor Ingbold und stieg hinab. Am Ende der Treppe befand sich ein weiteres Portal, das mit einem komplizierten Muster aus Runen und Zeichen bedeckt war. Daneben befand sich eine Halterung, in die Sven seine Fackel steckte. Wie von seinem Lehrmeister beschrieben, öffnete er auch diese Türe. Als der Türflügel schließlich aufschwang, hielt Erikson den Atem an. In diesem Raum brauchte er keine Fackel, auch wenn es dort kein Lichtschein gab. Trotzdem war die Kammer in einem überirdischen Gleißen erleuchtet. Ehrfürchtig trat Sven über die Schwelle.

„Was ist das?“, ertönte seine Stimme aus weiter Ferne

„Das, mein Freund, ist eines der Wunder dieser Welt. Außerhalb der elitären Gemeinschaft der Zauberkundigen weiß kaum jemand, dass es solche Orte überhaupt gibt. Und selbst ein Zauberer kann sich als ausgesprochen glücklich bezeichnen, einen solchen Ort jemals besucht zu haben.“

„Und Sie haben so etwas in Ihrem Keller?“

„Dieser Ort, mein Freund, ist der Grund, warum ich überhaupt hierherkam und hier meinen Turm errichtete.“

„Ich bin beeindruckt.“ Und das meinte Erikson wirklich so. „Aber was ist das?“ Svens Haut prickelte so stark, als würde er gerade in frisch geschütteltem Champagner baden.

„Dieses Wunder ist einer der sagenhaften Manabrunnen. Eine Quelle magischer Macht. Nirgends auf der Welt fließt die Kraft, die Zauberei erschafft, ursprünglicher und mächtiger als an Orten, wie dieser hier einer ist.“

„Ich bin wirklich beeindruckt.“ Das Prickeln hatte ihn in der Zwischenzeit völlig durchdrungen; wie im Rausch badete er in der Magie des Ortes. „Das ist fantastisch.“

„Schön. Wenn Ihr nun genug gespielt habt, beendet, weswegen Ihr gekommen seid“, erklang erneut Ingbolds Stimme, doch dieses Mal war sie härter und ohne Sympathie.

Zu sehr eingenommen von seinen Empfindungen, die dieser Ort in ihm auslöste, erschrak Sven weder, noch verspürte er Angst, als plötzlich eine feiste Version von Lektor Ingbold bei ihnen im Raume stand und ihn aus kühlen, fast stechenden, grauen Augen musterte. Erikson hatte den Magister vorher weder gesehen noch gehört. Der Lektor war etwa Mitte dreißig, von seinem geisterhaften Erscheinungsbild ausgehend. Der Magister hingegen ging schwer auf die 70 zu. Trotzdem hatte er kaum Grau in seinen braunen Haaren, doch war seine Haut trotz des gewaltigen Körperumfangs runzlig und grau. Seine Masse jedenfalls hätte spielend für zwei Lektoren gereicht.

„Oh, so sieht man sich nun auch einmal“, begrüßte Sven Magister Ingbold flachsig und wunderte sich selbst über seine Kühnheit.

„Ihr könnt ihn sehen?“, fragte Lektor Ingbold überrascht

„Ihr könnt mich sehen?“, fragte Magister Ingbold interessiert.

„Ja, kann ich. Aber eine Augenweide seid Ihr nicht“, antwortete Erikson salopp.

„Vorsicht“, mahnte der Lektor.

„Euer Lehrling kennt seinen Platz nicht. Tut, weswegen Ihr hier seid. Ich verliere die Geduld mit Euch.“

„Ja, was soll ich denn hier?“, fragte Erikson unbekümmert.

„Er ist berauscht, seht Ihr das nicht? Erinnert Ihr Euch nicht, wie es das erste Mal war, als Ihr in purem Mana standet? Gebt ihm einen Moment.“

„Ich denke nicht. Meine Geduld ist am Ende. Es wird auch so gehen. Und die Kraft, die er vergeudet hat, werde ich durch ihn ersetzen.“

„Nein, das dürft Ihr nicht! Das könnt Ihr nicht!“

„Wer soll mich daran hindern? Ich kann und ich werde. Ihr wisst genau, dass hier unten meine Fesseln fast nicht existieren. Und dieser Narr wird seinen Beitrag leisten.“

„Nein, Ihr habt mich betrogen! Ihr sagtet, Ihr würdet sie gehen lassen. Ihr sagtet, Ihr würdet mich gehen lassen!“

„Ihr seid ein ebenso großer Narr wie euer Lehrling. Von Schwäche und Sympathie geleitet. Ihr widert mich an. Wenn ich erst einmal zurückgekehrt bin, werde ich mir überlegen, was ich mit Euch anfange. Aber ich werde nicht zulassen, dass meine Geheimnisse durch die Welt spazieren.“

„Hallo, entschuldigen Sie bitte“, machte sich Sven bemerkbar, der nur langsam begriff, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. „Was soll ich jetzt tun? Oder kann ich gehen?“ Beide Ingbolds starrten ihn an. Der eine in tiefer Bestürzung und der andere mit einer Mischung aus Spott und Herablassung.

„Lauf!“, rief Lektor Ingbold ihm zu. „Lauf, so schnell du kannst! Das ist eine Falle!“

„Zu spät“, erklärte Magister Ingbold in kalter Befriedigung. „Er kann sich schon längst nicht mehr bewegen.“

20. Boris

Dieses Mal zog Fang wirklich eine Riesenshow ab. Sie hatte eine einschüchternde, bunt bemalte Maske angelegt, während sie eine Art Mantra wiederholte. Dann hatte sie sich erhoben und mit großen Gesten, Gesang und viel Tamtam einen Kreis abgeschritten.

Anschließend hatte sie sich in einem rhythmischen Tanz langsam spiralförmig dem Zentrum des imaginären Kreises genähert und dort Platz genommen. Im Mittelpunkt wechselte sie ihren Singsang und die Melodie.

Koschkin fiel es ja schon schwer, die Sprache der Goblins zu begreifen wenn sie im Alltag geqäckt wurde. Gesungen verstand er kein einziges Wort. Nur den Namen des Zauberers erkannte er gelegentlich zwischen den Sätzen.

„Was sagt sie?“, flüsterte er zu Tilseg, der so wie Hiriko, er selbst und eine ganze Schar anderer Neugieriger ehrfürchtig schweigend das Schauspiel beobachteten. Die Lagerbewohner hielten sich dabei noch ein gutes Stück hinter den drei.

„Sie bittet um die Hilfe ihres Totems und ruft den Geist von Ingbold, der diesen Ort kontrolliert. Bisher war ihre Aufforderung, dass der Geist sich zeigen soll, ausgesprochen höflich. Doch in der letzten Strophe wurde sie zunehmend fordernder.“

Tilseg hatte seine Antwort gerade beendet, als sich die Atmosphäre um die Schamanin merklich veränderte. Die Luft schien irgendwie zu flimmern oder zu wabern. Ein wenig wie heiße Luft an einem heißen Tag über Asphaltstraßen. Gleichzeitig wurde es kälter.

„Ich glaube, er kommt“, kommentierte Koschkin

„Mit hoher Wahrscheinlichkeit korrekt“, antwortete Tilsegs

„Pst“, machte Hiriko. „Seid still, es wird gerade spannend.“

Das Flimmern verstärkte sich zusehends und verdichtete sich vor Fang. Das Gewaber wurde grau und nahm dann Konturen an. Ein unglaublich speckiger Mann gewann Gestalt. Undeutlich und verschwommen zwar, doch gut zu erkennen. Fang änderte wieder ihren Gesang, behielt ihren Schlagrhythmus jedoch bei.

„Da ist der Fettsack ja“, flüsterte Hiriko angewidert.

„Sie befragt ihn“, erklärte Tilseg weiter. „Dazu benutzt sie anscheinend auch ältere Fragmente ihrer Sprache, die mir nicht geläufig sind. Im Grunde geht es bei ihrer Befragung um die Motivation des Geistes und die Frage, warum er tut, was er tut.“

„Er sieht nicht so aus, als würde es ihm sonderlichen Spaß machen, hier zu sein“, schätzte Koschkin.

„In der Tat“, bestätigte der Grünhäutige. „Fang muss sich sehr anstrengen, um den Geist zu binden.“

Nun bemerkte auch Boris, dass sich auf Fangs Körper dicke Schweißperlen gebildet hatten, die über ihre feinen Glieder perlten. Und auch wenn ihre Stimme fest und der Rhythmus ihrer Trommel ununterbrochen weiterging, sah man ihr die enorme körperliche Anstrengung an. Eine Weile beobachteten die Freunde schweigend das Ritual.

„Wie lange wird sie das wohl noch durchhalten?“, fragte Koschkin schließlich besorgt in die Runde.

„Nicht mehr lange, glaube ich“, erwiderte Hiriko ebenfalls besorgt.

„Die Wahrscheinlichkeiten sprechen dafür, dass sich die Kraft unserer kleinen Freundin ihrem Ende nähert“, stimmte Tilseg zu.

Koschkin machte sich immer größere Sorgen um Fang. Seine Freundin war stärker und zäher, als man es von einem so zierlichen und kleinen Wesen erwarten würde. Aber nun zitterte sie am ganzen Leib. Wie sie den Trommelrhythmus trotz alledem halten konnte, entzog sich seinem Verstand.

„Und dann?“

„Was und dann?“, gab Koschkin die Frage an die Dryade zurück, doch der Doktor war es, der antwortete.

„Das ist schwer zu kalkulieren. Zumal wir die Antworten des Geistes nicht kennen. Wir werden abwarten müssen, was Fang uns mitteilt, wenn sie ihr Ritual abgeschlossen hat.“

„Dann müssen wir, glaube ich, nicht mehr lange warten“, schloss Boris aus dem Zerfasern der Geistergestalt. Irgendwie hatte er damit gerechnet, ein Plop oder ein anderes ähnliches Geräusch hören zu müssen, als die Kontur, die zuvor noch als dicker Zauberer zu erkennen gewesen war, einfach zerplatzte.

Fang sank einen Wimpernschlag später in sich zusammen. Kraftlos glitt ihr die Trommel aus den Händen und ihr Gesang erstarb. Koschkin war in einigen Sätzen bei ihr und stützte ihren zitternden Leib.

„Er ist so stark“, murmelte sie undeutlich.

„Geht es dir gut?“, fragte er sorgenvoll. Die Schamanin nickte erschöpft und zog ihre Maske mit müder Geste von ihrem Kopf.

„Mir geht es gut. Aber ich hatte keinen Erfolg. Ich bin alleine nicht stark genug. Wir müssen gehen.“

„Und unsere Verletzten?“

„Sie müssen von den Gesunden getragen werden.“

„Aber Ashley ist immer noch nicht zurück. Und ich habe Sven auch nirgends finden können.“

„Wir müssen gehen. Sonst werden wir sterben“, murmelte Fang immer unverständlicher. Dann verlor sie vor lauter Erschöpfung das Bewusstsein.

21. Sven

Svens Verstand war wie in Watte gepackt, seine Gedanken wie Sirup. Er beobachtete die beiden Erscheinungen von Ingbold, die miteinander zu streiten schienen. Musste ihn das kümmern? Sie stritten doch so oft.

Irgendwie fühlte sich sein Körper an, als stehe er unter Strom. Beiläufig bemerkte er, wie seine Glieder zuckten. Dass er sie nicht unter Kontrolle hatte, war ihm gar nicht wirklich bewusst.

Doch dann änderte sich etwas an der Situation, die sich vor seinen Augen abspielte. Der dicke Magister verlor seinen selbstzufriedenen Gesichtsausdruck und seine Gestalt verzerrte sich grotesk. Dann wurde er regelrecht aus Svens Sichtfeld gesogen. Mit milder Überraschung spürte Erikson wie der Strom durch seinen Körper nach ließ und sich seine Gedanken ein wenig aufklärten.

Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung. Und etwas versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, glaubte er zumindest. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bevor Worte in sein Bewusstsein sickerten und einen Sinn formten.

„Kommt endlich zu Euch, mein Freund, Ihr seid in Gefahr. Alle hier sind in Gefahr. Ich habe mich unterschätzt. Kommt endlich zu Euch!“

„Was?“

„Ausgezeichnet. Konzentriert Euch! Hört mich, mein Freund und kommt zurück. Es ist wichtig! Ich brauche Euch! Und eure Freunde brauchen Euch ebenfalls!“

„Was?“ Langsam beschleunigten sich seine Gedanken. Und obwohl der magische Rausch immer noch anhielt, begann er zu reagieren. „Was, was ist geschehen?“

„Ich bin untröstlich, mein Freund. Aber ich habe uns beide betrogen. Ich hätte wissen müssen, dass ich dem Magister nicht trauen darf. Aber das ist jetzt egal!“

„Egal? Das ist gut.“

„Ist es nicht. Konzentriert Euch. Ich brauche Euch, damit ihr für mich zaubern könnt. Nur gemeinsam können wir mich aufhalten. Andernfalls seid Ihr und Eure Begleiter des Todes und ich bin verdammt, auf ewig alleine eingekerkert zu werden. Also konzentriert Euch!“

Die Stimme seines Lehrers war so flehentlich und eindringlich, dass es etwas tief im Inneren des Norwegers berührte. Endlich begann er, sich selber anzustrengen. Konzentrierte sich auf die Stimme des Lektors und seine Gedanken. Spürte, wie sie sich beschleunigten und aufklärten.

„Gut mein Freund, so ist es richtig.“

„Was soll ich tun?“, brachte er schließlich heraus

„Ich werde Euch bei einem Zauber anleiten. Hört gut zu und folgt jeder meiner Anweisungen wortgetreu.“

Sven nickte und gehorchte. In dieser Situation stellte es sich als einmaliger Glücksfall heraus, dass Lektor Ingbold durch das Schmuckstück Svens Gedanken lesen konnte. Nur so war er in der Lage, seinem Lehrling Schritt für Schritt beim Aufbau der komplexen Zaubermatrix zu helfen.

Just in dem Moment als der Magister unerwartet zurückkehrte, sprach Erikson die letzten Worte des Spruches. Dem Magister blieb keine Zeit, etwas zu äußern. Nur seine Mimik wechselte noch von Verärgerung zu Verblüffung. Dann gab es einen Knall und er war fort.

„Es ist vorbei?“, fragte Erikson betäubt und hoffnungsvoll.

„Nein, leider nicht, mein Freund. Wir haben uns nur ein wenig Zeit erkauft.“

„Das ist gut?“

„Das ist besser als gar nichts. Ich schlage vor, Ihr verlasst den Manabrunnen. Ich denke, ein klarer Verstand ist hier vonnöten.“

Immer noch trunken von der magischen Macht, die ihn durchflossen hatte und selbst jetzt noch in ihm pulsierte, stolperte er die Treppe empor, zurück in die Haupthalle mit ihrer zerstörten Bibliothek.

Dort legte er fast mechanisch die letzten verbliebenen Holzscheite in den Kamin und ließ den Feuerelementar von dem Stummel seiner Fackel auf das Holz überspringen.

Die Kühle des Gemäuers und das Flackern des Feuers halfen ihm dabei, wieder zu Verstand zu kommen. Erst jetzt bemerkte er, dass er immer noch den Schädel von Magister Ingbold bei sich hatte. Ein unheimliches Funkeln schien gelegentlich tief in den dunklen Augenhöhlen auf zu flackern.

„ Lektor Ingbold?“

„Ja, mein Freund? Ich bin bei Euch.“

„Meint Ihr, Ihr seid in der Lage, mir zu erklären, was hier passiert ist?“

„Vermutlich. Aber dies würde zu lange dauern. Ich fürchte, Ihr werdet mir zunächst weiter vertrauen müssen.“

„Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten mich betrogen?“

„Ich habe nicht nur Euch, sondern auch mich selbst betrogen. Ich habe meine Hinterlist als Magister Ingbold gründlich unterschätzt. Ich vergaß einfach, dass diesem Ich wichtige Aspekte fehlen, die mich ausmachen. Aber genug davon. Ich sage es nicht gerne, aber wir müssen mich aufhalten. Ich bin auf dem besten Wege, ein Lich zu werden. Ich habe nicht damit gerechnet, wie weit ich schon gekommen bin.“

„Ein Lich? Was ist das?“

„Im Grunde ist ein Lich ein untoter Zauberer.“

„Aber seid Ihr das nicht jetzt schon?“

„Nein, mein Freund. Ich bin nur das Fragment eines Zauberers. Und Magister Ingbold ist der Geist eines Toten. Ein Lich ist um ein Vielfaches mächtiger als zu seinen Lebzeiten und nicht, wie ich, ein Schatten meiner selbst.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Das ist eine gute Frage. Ich hatte, ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet, mich einmal gegen mich selber zu wenden. Und wie wir einen Lich bezwingen können, weiß ich auch nicht. Ich fürchte, ich kann Euch noch nicht einmal sagen, wie ich es geschafft habe, den jetzigen Prozess in Gang zu bringen. Ich habe mich wirklich übertölpelt.“

„Vielleicht kann Fang uns helfen. Sie ist eine Schamanin, und kennt sich mit Geistern ganz gut aus“, überlegte Erikson.

„Hilfe wobei?“, erklang da Koschkins Stimme vom Treppenabsatz.

„Kommandant, äh, ich meine Boris“, verhaspelte sich Sven, als er sich hastig erhob.

„Ja, schon gut. Also, wobei soll Fang dir helfen?“

„Naja, dabei, den Magister daran zu hindern, ein Lich zu werden.“

„Ein was?“, begann Boris, doch dann winkte er ab. „Erkläre es mir nicht. Wenn es bedeutet, den dicken Geist loszuwerden, sind wir einer Meinung. Der Drecksack hat uns eingeschlossen.“

„Was?“, riefen nun Sven und Ingbold gleichzeitig.

„Wie, ist die Frage, die mich interessiert“, antwortete der Russe dem Norweger. „Wie hat er das gemacht, wie kommen wir hier raus und wie hauen wir ihn in die Pfanne?“

„Ich begreife, warum dieser Mann euer Kommandant ist. Er stellt die richtigen Fragen“, kommentierte Lektor Ingbold anerkennend. „In seiner wilden Erscheinung steckt ein wacher Geist. Nun denn, lasst uns mit der Schamanin sprechen.“

„Was ist jetzt?“, fragte Koschkin ungeduldig, der den Geist nicht hören konnte.

„Ich komme ja schon“, antwortete Erikson.

„Wäre es nicht besser, die Schamanin käme hierher?“, fragte da der Lektor. „Vielleicht könnten wir den Manabrunnen für unsere Zwecke nutzen. Doch dann müssten wir hierher zurückkehren.“

„Sie haben recht. Das würde wertvolle Zeit kosten.“

„Was redest du da?“

„Lektor Ingbold machte mich gerade darauf aufmerksam, dass es sinnvoller wäre, wenn Fang hierher käme. Es gibt hier eine mächtige Quelle, die wir nutzen könnten.“

„Warte mal. Wollen wir diesem Ingbold nicht ans Leder?“

„Ja, dem Magister Ingbold. Lektor Ingbold ist eine ältere Persönlichkeit des Magisters, die ganz anders ist und uns helfen möchte.“

„Diese ganzen Spukgestalten gehen mir auf den Geist“, winkte Koschkin ab. „Du glaubst also, dass es hier unten etwas gibt, was uns helfen kann?“

„Ja, das tue ich.“

„Gut, dann werde ich Fang holen. Und du fängst schon mal an, einen schlauen Plan auszuarbeiten.“

„So gut ich kann. Versprochen.“

Koschkin eilte nach einem letzten Nicken die Stufen empor und ließ Sven allein zurück. Einen schlauen Plan sollte er ausarbeiten. Leichter gesagt als getan. Er wusste einfach viel zu wenig von den Vorgängen.

22. Hiriko

Hiriko hatte sich ein wenig von dem Schock, den der Anblick des Schlachtfelds in ihr ausgelöst hatte, erholt. Als Koschkin zu ihr und der kleinen Fee kam, um ihr zu sagen, dass sie das Lager so schnell wie möglich abbrechen und von hier verschwinden müssten, da der dicke Geist nun durchdrehte, war sie zunächst irritiert.

Nachdem Boris sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass der Geist laut Fang Lebenskraft stahl, konnte auch sie den schwachen Lebensstrom spüren, der von allen Seiten zur Ruine strebte. Sie war schlicht zu abgelenkt gewesen und hatte es deswegen gar nicht registriert. Hektisch wollte sie dabei helfen, das Lager aufzulösen, als Delphi beiläufig erwähnte, dass sie sich die Arbeit sparen könnten, da sie sowieso nicht weit kommen würden. Nun regte sich erneutes Unbehagen in Hiriko. Der Kommandant hingegen war regelrecht alarmiert, als sie ihm dies mitteilte und hatte es noch eiliger als zuvor. Ihr Unbehagen wurde noch weiter verstärkt, als Koschkin schließlich zu ihnen zurückkehrte und Delphis Aussage bestätigte. Er hatte einige Arenakämpfer losgeschickt, doch konnte keiner von ihnen den Übergang zum Messergras überwinden. Sie waren dem Fettsack in die Falle gegangen und saßen hier fest.

„Ich habe ihn von Anfang an nicht leiden können“, hatte sie zu Protokoll gegeben. Dann kam das Gespräch auf Sven. Der Kommandant hatte ihn nirgendwo finden können. Dass sich Erikson häufig in der Turmruine herumtrieb, hatte ihm offenkundig noch niemand erklärt.

Also war ihr alter Vorgesetzter wieder losgestürmt, nur um einige Zeit später zurückzukehren, um die Schamanin zu holen. Hiriko und Delphi hatten sich einfach angeschlossen. Delphi war schließlich hauptsächlich wegen Sven hierhergekommen und beschwerte sich bei der Dryade darüber, dass er bisher kaum Zeit für sie gehabt hätte.

23. Sven

Während er auf die Rückkehr von Boris mit Fang wartete, grübelte Erikson über ihre Möglichkeiten nach. Sein Wissen reichte einfach nicht aus, um eine Lösung zu finden.

„Wären Sie so freundlich, mir alles zu erzählen, was Sie über die Verwandlung in einen Lich wissen?“, wandte er sich schließlich wieder an den Lektor.

„Nun, zunächst solltet Ihr wissen, dass es eigentlich in den meisten Fällen nicht direkt beabsichtigt ist, ein Lich zu werden.“

„Nicht direkt beabsichtigt?“

„Ja richtig. Am Anfang der Forschung auf diesem Gebiet steht oftmals der innere Wunsch, dass über Jahre und Jahrzehnte angesammelte Wissen nicht verloren gehen zu lassen. Auch ich kam im Laufe meines Lebens an diesen Punkt. Viele Zauberkundige verfassen in dieser Phase Bücher oder versuchen ihre Kenntnisse anderen weiterzugeben, wie ich es tat. Wenn man sich aber lange genug mit Zauberei beschäftigt, stößt man früher oder später auf die Legende des ultimativen Zaubers.“

„Ein ultimativer Zauber?“

Nun lächelte Lektor Ingbold nachsichtig, als er das Interesse seines Lehrlings bemerkte.

„Ihr habt richtig gehört, mein Freund. Ich glaube, alle Zünfte, die sich mit Dingen beschäftigen, die größer sind als sie selber, haben ähnliche Legenden. Die Alchimisten nennen ihren Weg den Stein der Weisen. Falls Euch diese Legende etwas sagt.“

„Ihr wolltet Gold erschaffen?“

„Aber nein. Wie kommt ihr denn auf so etwas? Gold zu erschaffen oder etwas in Gold zu verwandeln ist nicht besonders schwer. Nur die Existenzdauer ist hier problematisch. Aber wovon ich rede, ist das ewige Leben!“

„Sie meinen Unsterblichkeit?“

„Nein, nicht einfache Unsterblichkeit. Dies lässt sich auf vielerlei Weise gewährleisten. Selbst ich als Schatten meiner selbst bin in gewisser Weise unsterblich. Einfache Unsterblichkeit ist nicht erstrebenswert, wenn man beispielsweise trotzdem weiteraltert oder für die Ewigkeit tödlich verletzt oder erkrankt ist. Oder wie in meinem Fall, keinen Körper mehr besitzt.“

„Oh, ich verstehe.“

„Nehmt es mir nicht übel, mein Freund, aber ich glaube nicht. Dazu fehlen Euch einfach noch einige Jahre des Studiums. Aber ich schweife ab. Worauf ich eigentlich hinauswollte, ist dies: Die Suche nach dem ultimativen Zauber endet für viele mit dem Tod oder gar Schlimmerem. Manchmal aber gelingt es einem der unsrigen, diesem Zauber nahe zu kommen.“

„Hat es überhaupt schon jemand geschafft?“

„Auch hierzu gibt es Legenden, die dies untermauern. Aber auch das wäre ein eigenes, längeres Themengebiet“, blockte der Geist ab. „Nahe zu kommen heißt in diesem Falle häufig, sich in einen Lich zu verwandeln. Dabei scheinen zunächst alle gewollten, positiven Effekte einzutreten. Der Zauberkundige altert nicht weiter oder verjüngt sich sogar. Seine Verletzungen, selbst tödliche, heilen von alleine, ohne Zutun weiterer Zauber und ohne eine Spur zu hinterlassen. Ja, selbst abgetrennte Gliedmaßen können nachwachsen.“

„Das ist doch nicht möglich“, staunte Sven ungläubig.

„Glaubt es ruhig, mein Freund. Es sind keine Hirngespinste. Aber gut, zurück zum Thema: Ein solcher Zauberer glaubt vielleicht, das ewige Leben erlangt zu haben, doch oft ist dies ein Trugschluss. Stößt die Heilfähigkeit des Körpers doch an seine Grenzen, durchläuft er eine Veränderung.“

„Wie soll das gehen? Wenn selbst tödliche Verwundungen heilen?“

„Nun, da gibt es einige Möglichkeiten, die mir dazu einfallen. Ihr könntet zu Asche verbrennen oder zu einem Klumpen Brei zerquetscht werden. Im Grunde käme alles infrage, was Euch oft oder lange genug verletzt.“

„Meine Güte“, stieß Erikson gebannt aus. „ Also doch kein ewiges Leben bei genügend Schaden am eigenen Körper.“

„Nicht das Gewünschte. Doch ein ewiges Leben. Denn die, denen es gelungen ist, den fast ultimativen Zauber zu finden und doch kurz vor ihrem Ziel scheitern, werden zu einem Lich und erlangen sehr wohl das ewige Leben. Nur eben das ewige Leben eines Untoten.“

„Das ist alles sehr interessant, Lektor Ingbold, doch bringt uns das nicht wirklich weiter.“

„Nun, da mögt ihr recht haben.“

„Wieso glaubt Ihr, dass Magister Ingbold einen Weg gefunden hat, gerade jetzt ein Lich zu werden?“

„Weil ich -“, unbehaglich druckste der Geist herum. „Nun ja, wisst ihr -“ Wieder machte er eine Pause und setzte neu an.

Wisst ihr, als ich damals noch bei meinem Lehrmeister studierte, stieß ich auf einen Folianten in einem Teil seiner Bibliothek der sich mit dem ultimativen Zauber beschäftigte. Ich hielt das dort Niedergeschriebene für glaubhaft und wahrhaftig. Daher entwendete ich die Schrift und begann hinter dem Rücken meines Lehrmeisters den Anweisungen des Textes zu folgen.“

„ Zuerst reden sie die ganze Zeit darüber, dass alle nach der ultimativen Zauberformel suchen und niemand sie kennt und jetzt erklären Sie mir, dass es Anleitungsbücher darüber gibt?“

„Ihr missversteht mich. Das Werk war eine Falle auf zweifache Weise. Der Autor des Folianten hatte zweifelsfrei Kenntnisse über Teile des ultimativen Zaubers, doch erwiesen sich andere Teile als fehlerbehaftet. Es war eins dieser Werke, deren Ziel nicht der Wissensmehrung dient.“

„Wozu dann?“

„Sein eigentlicher Zweck war es wohl, den Leser in die Irre zu führen und vom Weg abzubringen. Der Autor wollte andere daran hindern, den ultimativen Zauber zu finden.“ Der Lektor lächelte traurig. „Ihr müsst bedenken, Pergament ist nicht wählerisch, egal ob Ihr die Wahrheit oder ihr Gegenteil darauf niederschreibt.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739445731
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Magie Goblin Rollenspiel Worldbulding Heldenreise Orks Dryade episch spannend Episch Fantasy High Fantasy Roman Abenteuer Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Thorsten Hoß (Autor:in)

Thorsten Hoß wurde in den Siebzigerjahren geboren und wuchs im Rheinland auf, wo er heute noch lebt. Mit Legasthenie geschlagen, brauchte es sehr lange, bis aus seiner Liebe zu Geschichten eine Leidenschaft zum Schreiben wurde. Im Rahmen seiner pädagogischen Arbeit entwickelte er zudem das Rollenspielsystem Lunaria und die gleichnamige Welt, bevor er begann, seine Lunariaromane zu schreiben.
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Titel: Menschen gesucht