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Plötzlich Schwedin

Urlaubsroman

von Talia Berg (Autor:in)
160 Seiten

Zusammenfassung

Pippi Langstrumpf, Köttbullar und eine gewisse Möbelhauskette … das ist alles, was Sandra spontan zu Schweden einfällt. Bis sie eines Tages eine Nachricht erhält, die ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt. Als sie dann noch ihren Verlobten mit einer sexy Blondine im Bett erwischt, muss sie erst mal raus aus Deutschland. Wohin? Richtig, nach Schweden! Dort trifft sie prompt auf den attraktiven Lars. Und während sie feststellt, dass Schweden mehr zu bieten hat als Kinderbücher, Fleischbällchen und Einrichtungsgegenstände, kommt sie ganz nebenbei noch dem Geheimnis um eine erfolgreiche schwedische Liebesromanautorin auf die Spur … <br><br> Achtung: Überarbeitete Neuausgabe. Erstmals erschienen 2016

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

ERSTER TEIL

SIE

 

 

1.

Als die Urne in die Erde gelassen wird, rollt eine einzelne Träne über meine Wange. Allerdings nicht, weil ich Tante Hedwig so nahestand und jetzt ganz furchtbar traurig bin. Und auch nicht, weil ich sie so schrecklich vermissen werde oder die Erinnerung an sie mir das Herz schwer werden lässt.

Nein, ich weine wegen der Zwiebeln.

Während die Umstehenden allesamt mit ihren Gedanken bei der Verstorbenen oder deren Erbe sind, muss ich an Jan denken. Dass jetzt nur nicht der Eindruck entsteht, ich fange schon beim bloßen Gedanken an meinen Verlobten an zu heulen! Nein, nein, so ist es nicht. Es liegt nur an den Zwiebeln. Ehrenwort.

Jan ist nämlich erkältet. Und die meisten von Ihnen werden sicher nur zu gut wissen, wie es ist, einen erkälteten Mann zu Hause zu haben. Jan ist am Ende. Körperlich, seelisch. Ein Häufchen Elend. Wirklich, er leidet ganz furchtbar. Und natürlich möchte ich ihm als treusorgende Verlobte in dieser schweren Zeit etwas Gutes tun. Ihn umsorgen. Nun, für jeden anderen Mann hätte ich auf dem Weg nach Hause wahrscheinlich an einer Apotheke Halt machen und einen ganzen Schwung verschiedener Kombipräparate kaufen können. Ganz einfach. Nicht so bei Jan. Denn Jan ist … ja, was ist er eigentlich? Ziemlich speziell, würde ich mal sagen.

Am Anfang unserer Beziehung hielt ich ihn für eine Art Öko-Freak. Jan isst nämlich ausschließlich Sachen aus dem Bio-Laden und achtet streng auf Dinge, über die ich mir in meinem Leben noch nie einen Kopf gemacht habe. Begriffe wie Gluten, guter Zucker und schlechter Zucker, Lactose und weiß der Teufel was kannte ich zwar damals schon, man lebt schließlich nicht hinterm Mond, aber dass ein Mann sich darum schert, war mir bis dahin noch nicht untergekommen. Schnell bekam ich heraus, dass das alles nicht von ihm selbst, sondern von seiner Mutter kommt. Sieglinde Hermine Jakob. Deutschlands Ernährungsberaterin Nummer Eins. Zumindest, wenn man der Meinung einer großen Frauenzeitschrift Glauben schenkt, in der sie eine wöchentliche Kolumne hat.

Nun, anfangs fand ich da noch nichts bei. Dann ist Jan eben anders, dachte ich mir damals. Ist ja auch nichts dabei. Im Gegenteil: Irgendwie machte ihn das sogar für mich erst recht interessant. Ich konnte mir eine solche Ernährung zwar nicht für mich selbst vorstellen, aber das war ja egal. Jeder so, wie er will, sage ich immer.

Tja, das Problem ist nur, dass Jan das etwas anders sieht. Eher so nach dem Motto: Jeder so, wie Jan will. Und je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto mehr gelang ihm das Kunststück, mich so zu formen, wie er mich gerne haben wollte. Nicht, dass ich mich jetzt nur noch gesund, gluten-, lactose- und wer-weiß-was-frei ernähre. Aber spätestens seit Jan bei mir eingezogen ist, mache ich gewisse Dinge heimlich. Wie zum großen M zu fahren und mir dort Burger und Pommes schmecken zu lassen. Ich bin halt so. Ich mag Fast Food, liebe Schokolade, und ja, man möge mich schlagen, auch gegen Glutamat, Cola und Fertiggerichte habe ich absolut nichts einzuwenden. Mir schmeckt das Zeug, das war schon immer so. Natürlich weiß ich, dass es alles andere als gesund ist und dass das mit meinen Speckrollen auch nicht an den Drüsen liegt, aber damit kann ich gut leben. Ich übertreibe es ja nicht. Wobei … seit Jan bei mir wohnt, ist es schon mehr geworden. Liegt es einfach am Zusammenleben? Lasse ich mich gehen, weil ich mich in einem sicheren Hafen wähne? Hört man schließlich immer wieder, dass eine Ehe oder feste Partnerschaft dazu verleiten soll, nicht mehr so auf sich zu achten. Daheim koche ich übrigens genau so, wie Jan es bevorzugt, und hin und wieder schmeckt es mir sogar. Warum also diese heimlichen Fast-Food-Eskapaden? Na, egal.

Um auf die Zwiebeln zurückzukommen: Die muss ich nach der Beerdigung noch besorgen. Im Bio-Laden. Natürlich. Aber nicht, weil ich sie fürs Essen brauche, sondern um Hustensaft zu machen. Denn Jan achtet nicht nur bei der Ernährung streng auf Bio und Natur, sondern auch in Sachen Medikamente.

„Was habe ich davon, wenn ich mich gesund ernähre, aber gleichzeitig Chemie in mich reinpumpe, sobald ich mal krank bin?“, sagt er immer.

Deshalb sind bei ihm ausschließlich Hausmittel erlaubt. Streng nach den Rezepten seiner Mutter zubereitet. Natürlich. Wie der Hustensaft, den ich nachher aus den Zwiebeln machen muss. Und Sie können mir glauben, ich hasse es, Zwiebeln zu schneiden. Drei Mal dürfen Sie raten, warum. Genau! Weil mir dann die Augen brennen, mir die Tränen in Sturzbächen übers Gesicht laufen und ich mindestens eine Stunde brauche, bis ich wieder einigermaßen klar sehen kann. Deshalb fange ich meistens auch schon allein beim Gedanken ans Zwiebelschneiden an zu weinen.

So wie jetzt, auf Tante Hedwigs Beerdigung.

Die Urne (übrigens ganz nett anzusehen, silbergrau mit stilisierten kupferfarbenen Efeuranken) ist inzwischen an ihrem endgültigen Platz angelangt, ich habe eine Blume hinterhergeworfen und bereite mich nun darauf vor, Tante Hedwigs Familie mein Beileid auszudrücken. Mein ernstgemeintes Beileid, wohlgemerkt. Auch wenn vorhin der Eindruck entstanden ist, dass mich der Tod meiner Tante völlig kalt gelassen hat, ist dem selbstverständlich nicht so. Natürlich tut es mir leid, dass sie gestorben ist, es ist nur so, dass ich die Schwester meiner Mutter überhaupt nicht gekannt habe. Und wenn ich sage, überhaupt nicht, dann meine ich auch überhaupt nicht. Nicht so wie bei Verwandten, die man als Kind des Öfteren sieht und später dann gar nicht mehr oder höchstens mal auf irgendwelchen besonderen Familienfeiern. Nein, das mit Tante Hedwig und mir ist anders. Denn ich habe nicht einmal gewusst, dass meine Mutter eine Schwester hatte.

Bis vor zwei Tagen der Anruf von Hedwigs Tochter kam.

„Ich bin Nina“, sagte sie. „Wir kennen uns nicht, aber Ihre Tante Hedwig ist gestorben.“

Ich so: „Ach. Und wer soll das sein?“

„Die Schwester Ihrer Mutter.“

„Meine Mutter ist tot.“ Schon seit neun Jahren. Ich war damals gerade zwanzig und … Ach was, das spielt jetzt keine Rolle.

„Meine jetzt auch“, erwiderte die Frau. Nina.

„Das tut mir leid.“ Was sollte ich auch anderes sagen?

Einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann: „Ich möchte Sie bitten, zur Beerdigung meiner Mutter zu kommen. Wäre Ihnen das möglich? Es ist zwar schon übermorgen, findet aber hier in Hamburg statt. Sie brauchen also keinen weiten Weg auf sich nehmen.“

Ah, gut. Weite Wege mag ich nämlich nicht. Ich bin in Hamburg geboren und aufgewachsen und war eigentlich immer nur hier. Als ich noch klein war, ist meine Mutter ab und zu mit mir nach Rügen an die See gefahren. Die See war ja ganz nett, aber dieses Kaff dort … Schon damals war wohl klar, dass ich ein Großstadtmensch bin und es nicht so wirklich mit der Natur habe. Meine Mutter war da ganz anders. Sie liebte die Natur und träumte immer davon, eines Tages mit mir nach Schweden auszuwandern. Überhaupt hatte sie es mit Schweden. Das war irgendwie so ihr Hobby. Kitschige Schweden-Liebesromane, am liebsten von Pia Berglund, hatten es ihr ebenso angetan wie großformatige Bildbände mit Fotos von schwedischen Landschaften. Tja, da passte es natürlich, dass sie bei einer großen schwedischen Möbelhauskette arbeitete … Sie wissen bestimmt sofort, welche ich meine. Die Kolleginnen waren so was wie eine Familie für sie, und dank des Mitarbeiterrabatts gab es bei uns natürlich ausschließlich Möbel dieser Kette. Ich habe diese Teile mit den dämlichen schwedischen Namen gehasst. Noch mehr habe ich es gehasst, mit meiner Mutter durchs Möbelhaus zu bummeln, wenn mal wieder etwas gebraucht wurde. Stundenlang hat sich das jedes Mal hingezogen! Und die beliebten Köttbullar? Richtig, die habe ich auch gehasst. Überhaupt war Schweden und alles, was damit zusammenhing, schnell ein rotes Tuch für mich. Ist es auch bis heute. Meine Mutter ließ sich davon nicht beirren. Ziemlich oft sprach sie auch davon, zumindest mal nach Schweden in den Urlaub zu fahren. Aber dafür reichte das Geld dann doch nie.

Wie dem auch sei, die Frage, die sich mir während des Telefonats mit Nina stellt, ist nicht die, ob es mir möglich ist, zur Beerdigung dieser ominösen Tante Hedwig zu fahren, sondern vielmehr, warum ich das tun soll. Ich kannte diese Frau schließlich nicht.

„Sie war die Schwester Ihrer Mutter“, scheint Nina meine Gedanken zu erraten. „Und es war Ihr letzter Wunsch, dass Sie zu ihrer Beerdigung kommen. Ich … ich soll Ihnen dann auch etwas überreichen.“

„Etwas überreichen?“ Ich horche auf. Was kommt jetzt?

„Ja, einen versiegelten Umschlag. Klingt ganz schön geheimnisvoll, was?“

Geheimnisvoll? Nö. Eher ziemlich strange. Und für mich steht in diesem Moment fest, dass ich ganz bestimmt nicht zu dieser Beerdigung kommen werde. Ich kannte die Verstorbene nicht, habe nie etwas mit ihr oder ihrer Familie zu tun gehabt. Warum, um Himmels willen, soll ich dieser Trauerfeier beiwohnen?

Tja, nun bin ich also doch hier gelandet. Auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg. Warum? Fragen Sie mich was Leichteres. Nach dem Anruf hatte ich eine ziemlich komische Nacht, in der ich viel von meiner Mutter geträumt habe. Gestern konnte ich dann den ganzen Tag lang an nichts anderes als diese geheimnisvolle Tante Hedwig denken. Was mochte sie für eine Frau gewesen sein? Warum hatte meine Mutter mir nie von ihr erzählt? Und was war das für ein Umschlag, den ihre Tochter mir auf der Beerdigung überreichen soll?

Ja, ich war versucht, Nina mit der Bitte anzurufen, mir den Umschlag einfach per Post zu schicken, weil ich aus beruflichen Gründen nicht zur Trauerfeier kommen könne. Aber irgendwie wäre das doch ziemlich pietätlos gewesen – und außerdem eine glatte Lüge. Denn was die Arbeit betrifft, ist es bei mir nicht gerade so, als ließe sie mir kaum Luft zu atmen. Ich gehöre nämlich nicht zu denen, die mit Beginn der Volljährigkeit mit einem super Abi im Gepäck eine eindrucksvolle Karriere hingelegt haben. Ja, ich habe ein gutes Abi. Jetzt nicht spitzenmäßig toll, aber ganz brauchbar, doch. Das Problem war nur, dass ich von Anfang an keinen Schimmer hatte, wozu ich es brauchen sollte. Ich hatte noch nie einen richtigen Berufswunsch, wollte weder Ärztin noch Rechtsanwältin oder sonst irgendetwas werden. Nicht mal Tierpflegerin. Nicht, dass ich Tieren so gar nichts abgewinnen kann. Aber vor Hunden habe ich Angst, Katzen sind mir auch nicht geheuer, und was eine Tierpflegerin so alles machen muss, hat ja doch wieder viel mit Natur und so zu tun, und mit der stehe ich ja, wie schon erwähnt, so ein bisschen auf Kriegsfuß.

Nach dem Abi habe ich also erst mal ein bisschen rumgehangen und gar nichts gemacht. Wahrscheinlich wäre das auch so weitergegangen, wenn … ja, wenn der plötzliche Tod meiner Mutter eben diesem Plan nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Es dauerte ein paar Tage, bis mir klar wurde, dass es nach der Zeit der Trauer irgendwie weitergehen musste. Sprich: Ich brauchte Geld, und zwar nicht zu knapp. Zwar bekam Geld aus der Lebensversicherung meiner Mutter ausgezahlt, aber da es eine Kapitallebensversicherung war und meine Mutter noch nicht allzu lange eingezahlt hatte, hielt sich die Höhe der Summe in Grenzen. Wohnung, Lebensunterhalt … all das kostet ja nun mal und musste auch in Zukunft bezahlt werden. Also dachte ich auch gar nicht erst über eine schlecht bezahlte Ausbildungsstelle nach, sondern suchte mir gleich was „Richtiges“. Gelandet bin ich dann recht schnell bei einem großen Telekommunikationsunternehmen. Als Call-Center-Agentin. Die haben sich damals weder für Berufserfahrung noch für sonstige Referenzen interessiert und wohl so ziemlich jeden genommen, von der Studentin bis zum gerade arbeitslos gewordenen fünfzigjährigen Bauarbeiter. Hauptsache, man verfügte über eine einigermaßen angenehme Telefonstimme. Ja gut, die Bezahlung war jetzt auch nicht gerade super, aber es reichte, um über die Runden zu kommen, und es sollte ja nicht für immer sein. Sagte ich mir damals.

Und sage ich mir heute noch.

Worauf ich eigentlich hinauswollte: Ich kann mir meine Schichten da relativ frei einteilen und auch kurzfristig mal was umstellen. Brauchte ich in diesem Fall aber gar nicht, weil ich am Tag von Tante Hedwigs Beerdigung, also heute, sowieso Spätschicht habe. Von halb vier bis Mitternacht (ja, auch spät abends und sogar mitten in der Nacht rufen noch irgendwelche bescheuerten Kunden an, die Fragen zu ihrer Rechnung oder sonst irgendwelche Probleme haben – sorry, sollte ich jetzt aus Versehen Sie damit angesprochen haben). Und da mich die vielen Fragen, die seit Ninas Anruf in meinem Kopf herumspuken, einfach nicht mehr losließen, beschloss ich schließlich, den Wunsch meiner unbekannten Tante nachzukommen und ihr einen ersten und letzten Besuch abzustatten.

Als ich Nina nun gegenüberstehe, ihr die Hand schüttele und ein ehrliches, aber unbeholfenes „Tut mir leid“ über die Lippen bringe, schaue ich ihr in die Augen. Eigentlich wollte ich das vermeiden, aber nun ist es halt so. Was ich sehe, ist Trauer, aber auch ehrliche Freude darüber, dass ich gekommen bin. Es scheint ihr viel daran zu liegen, den Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen.

„Danke“, sagt sie dann auch. „Danke, dass Sie … dass du gekommen bist.“

Nun bin ich froh, hier zu sein. Nicht nur, weil ich meine vielen Fragen beantwortet haben möchte, sondern auch wegen Nina. Ich weiß, wie es jetzt in ihr aussieht, oder kann es mir zumindest sehr gut vorstellen. Schließlich habe ich das auch schon durchgemacht.

„Es ist doch okay, wenn wir uns duzen?“, fragt sie nach einer Pause unsicher. „Ich meine, wir sind ja immerhin Cousinen.“

Ja, richtig, das wird mir jetzt erst bewusst. Ich habe eine Cousine. „Klar“, sage ich dann auch sofort.

Sie lächelt, als sie nach rechts deutet. Neben ihr stehen ein Junge von etwa sieben oder acht Jahren und ein großer, schlanker, ein wenig biederer wirkender Mann. „Das sind mein Mann Mike und mein Sohn Kai“, sagt sie. „Mike, Kai, das ist Sandra.“

Ich nicke ihnen zu und ringe mir ein Lächeln ab.

„Ich gehe mal nicht davon aus, dass du nachher mitkommen willst, oder?“, fragt Nina noch. „Also, du weißt schon, wenn wir noch eine Kleinigkeit essen gehen …“

Natürlich weiß ich. Der Leichenschmaus. Mir läuft es schon bei dem Gedanken daran kalt den Rücken hinunter. Ich kann diesem Brauch so gar nichts abgewinnen. Sicher ist mir klar, dass es für viele Hinterbliebene wichtig ist, aber für mich ist das nichts. Damals bei meiner Mutter … sie hatte neben der Lebensversicherung auch eine hohe Sterbegeldversicherung abgeschlossen. Meine Mutter war zwar noch nicht alt gewesen, wollte aber wohl als Alleinerziehende für den Fall der Fälle vorgesorgt haben. Jedenfalls hat die Frau vom Bestattungsinstitut sich direkt um alles gekümmert, und zwar so, dass der volle Betrag ausgeschöpft war. Auch für eine Nachfeier sorgte sie dabei, und so saß ich nach der Beerdigung im Kreise von Nachbarn und Kolleginnen meiner Mutter zusammen. Alles Leute, die ich nicht oder kaum kannte. Verwandte waren ja keine mehr da.

Ich schüttele den Kopf. „Tut mir leid, aber ich muss nachher noch arbeiten und …“

„Ist schon okay.“ Rasch öffnet sie ihre Handtasche und holt etwas daraus hervor: einen braunen A5-Umschlag. „Hier“, sagt sie. „Den soll ich dir geben. Ich hab mal meine Nummer drauf notiert. Vielleicht hast du ja Lust, dich mal zu melden, dann könnten wir uns ein bisschen kennenlernen …“

Ich nehme den Umschlag entgegen und sehe Nina an. „Ja“, sage ich und meine es ehrlich. „Klar, ich melde mich. Versprochen.“

 

Drei Stunden später, gegen vierzehn Uhr, betrete ich Jans und meine Wohnung. Ich habe den Brief noch nicht geöffnet. Eigentlich wollte ich es sofort tun, noch im Wagen auf dem Parkplatz vom Friedhof. Aber irgendwie konnte ich nicht. Stattdessen habe ich noch einen Spaziergang gemacht und bin anschließend eine ganze Weile ziellos herumgefahren.

Und natürlich habe ich noch die Zwiebeln besorgt. Allerdings, wie ich gestehen muss, nicht im Bio-Laden, weil dort kein Parkplatz zu bekommen war, sondern im Supermarkt. Wo ich mir auch gleich noch eine Tafel Schokolade gekauft habe. Die mit ganzer Nuss. Die mag ich besonders gerne.

Natürlich habe ich nicht vor, Jan zu sagen, dass die Zwiebeln aus dem Supermarkt sind. Das würde ihn nur unnötig aufregen. Und für den Hustensaft wird das ja wohl reichen.

Ich drücke die Wohnungstür hinter mir zu, lege Handtasche und Schlüsselbund auf die Kommode (die übrigens nicht vom bekannten schwedischen Möbelhersteller stammt), und hänge meine Jacke an die Garderobe. Gerade will ich Jan Bescheid geben, dass ich wieder da bin, als ich ihn aus dem Schlafzimmer qualvoll aufstöhnen höre.

Automatisch verdrehe ich die Augen. War ja klar. Nachdem er wahrscheinlich die ganze Zeit wie das blühende Leben in der Wohnung herumgeturnt ist, muss er jetzt wieder, kaum dass er mich gehört hat, den Schwerkranken geben. Ich schüttele den Kopf. Diese Männer-Grippe ist eine wirkliche Plage.

Wieder das Stöhnen. Dieses Mal noch lauter, noch gequälter. Jetzt höre ich auch eine Art Röcheln. Ich runzele die Stirn, verspüre einen Anflug von Besorgnis. Vielleicht ist ja doch etwas mit Jan? Was, wenn er keine Luft mehr bekommt und schon ganz blass und mit blau angelaufenen Lippen auf dem Boden neben dem Bett liegt?

Jetzt bekomme ich es doch mit der Angst. Stürme zum Schlafzimmer, stoße die Tür auf – und bleibe wie erstarrt stehen, während sich die Szenerie vor mir in mein Gedächtnis einbrennt. Immer tiefer und tiefer, damit auch ja nie wieder etwas davon verloren geht: Da liegt er nämlich, mein Verlobter. Allerdings nicht, wie befürchtet, neben unserem Bett, sondern auf dem Bett. Rücklings. Nackt. Auf ihm sitzt eine sexy Blondine, höchstens Anfang zwanzig, und reitet wie der Teufel. Und Jans vermeintliches Röcheln entpuppt sich als lustvolles Gestöhne.

„Ich habe die Zwiebeln mitgebracht. Für deinen Hustensaft.“

Seltsamerweise sind es genau diese Worte, die in diesem Moment über meine Lippen kommen. Man stelle sich das mal vor: Da erwische ich meinen Verlobten beim Seitensprung mit einer sexy Blondine, und ich rede von Zwiebeln und Hustensaft.

Nun, zumindest in einer Hinsicht verfehlen meine Worte ihre Wirkung nicht: Endlich bemerken Jan und seine Geliebte mich. Während die sexy Nackte mich nur verdattert anstarrt, reißt Jan erschrocken die Augen auf, bemüht sich, seine Gespielin von sich runter zu bugsieren, was sich als gar nicht so einfach erweist, weil die mit einem Mal versteinert zu sein scheint, und stammelt etwas von „Sandra, ich … Also … das ist nicht so, wie es aussieht, ich … Betty ist eine Kollegin und hat mir nur ein paar Medikamente aus der Apotheke mitgebracht …“

Nun, meinem Herrn Verlobten scheint nicht wirklich klar zu sein, dass sein armseliges Gestammel alles nur noch schlimmer macht. Damit, dass er von seiner Betty Medikamente aus der Apotheke annimmt, um fit genug für Bettsport mit ihr zu sein, während ich ihm Zwiebel für seine blöden Hausmittelchen kaufen muss, sammelt er jedenfalls keine Pluspunkte bei mir. Plötzlich bin ich sehr froh, dass ich nicht doch noch extra für ihn in den Bioladen gegangen bin.

Ich weiß auch nicht, warum ich in dieser Situation so … ruhig bleibe. Hätte ich anders reagieren sollen? Schreien? Um mich schlagen? Meine Nebenbuhlerin an den Haaren aus dem Zimmer zerren und sie nackt, wie Gott sie vor höchstens zweiundzwanzig Jahren geschaffen hat, vor die Wohnungstür setzen?

Möglich. Aber alles, was ich mache, ist, mich umzudrehen, in die Diele zu gehen und den Hemdchenbeutel mit den drei Zwiebeln aus meiner Tasche zu nehmen; dann gehe ich zurück ins Schlafzimmer, wo sexy Blondchen sich inzwischen bequemt hat, von meinem Verlobten abzusteigen; hilflos steht sie jetzt da und hält sich meine – meine! – Bettdecke vor ihren knackigen Körper, um ihre Nacktheit zu verdecken.

Im Gegensatz zu Jan. Der scheint, weiterhin auf dem Rücken liegend, noch immer nicht realisiert zu haben, dass seine Betty nicht mehr auf ihm sitzt, und macht keinerlei Anstalten, sich in irgendeiner Form zu bedecken. Einen Moment lang ruht mein Blick auf seinem halbschlaffen kleinen Freund. Immerhin hat Jan an ein Kondom gedacht, geht es mir durch den Kopf.

Ich stelle mich vor sexy Betty hin. „Hier“, sage ich, noch immer überraschend ruhig, und reiche ihr den Beutel. Mit der nun freien Hand streiche ich mir das Haar zurück hinters Ohr. „Die Zwiebeln für Jans Hustensaft. Das Rezept liegt auf der Arbeitsplatte in der Küche.“

Verdattert ergreift sie den Beutel, ohne die Decke – meine Decke! – loszulassen. Mein Blick wandert noch einmal zu Jan hinüber, dann drehe ich mich um und verlasse mit langsamen Schritten das Schlafzimmer, noch immer ganz ruhig. Jan ruft mir noch irgendetwas hinterher, aber ich beachte seine Worte gar nicht.

Zwanzig Minuten später sitze ich in der Filiale einer Fast-Food-Kette (Sie wissen schon, das große M) und mache mich gierig über Unmengen Burger, Pommes und Cola her.

Und wenn Jan jetzt hereinkäme und mich dabei erwischen würde, wie ich dieses „Zeug“ in mich hineinstopfe, wäre es mir … scheißegal, jawohl!

 

Wissen sie, warum ich zu einem Fast-Food-Menü immer Cola light statt der zuckerhaltigen Variante wähle? Falls ja, dann sind Sie schlauer als ich. Ich habe nämlich keine Ahnung.

Sicher, ich könnte natürlich sagen, Burger, Pommes und Ketchup oder Majo haben schon genug Kalorien, da will ich wenigstens beim Getränk sparen – aber mal ehrlich, was soll das da noch bringen? Wahrscheinlich liegt es also einfach nur daran, dass ich mir so vormachen kann, doch irgendwie auf meine Figur zu achten. Was auch immer es ist, an diesem Tag ist es mir sowieso egal. Ernsthaft: Ich habe meinen Verlobten soeben in flagranti mit einer sexy blonden Betty erwischt. Was soll ich mich da um solche Lappalien kümmern?

Nachdem ich den ganzen Kram in mich hineingestopft habe, nehme ich mein Handy und rufe auf der Arbeit an. Sage, dass ich heute unmöglich kommen kann, weil ich meinen Verlobten gerade beim Fremdgehen erwischt habe.

„Ach du meine Güte“, erwidert meine Abteilungsleiterin am anderen Ende der Leitung unbeholfen. So viel Offenheit scheint etwas viel für sie zu sein. „Ich … weiß nicht, was ich sagen soll. Das tut mir soooo leid, meine Liebe. Klar, nimm dir erst mal frei, wir regeln das hier schon.“

Nach dem Telefonat überlege ich, ob ich noch ein Softeis essen soll, doch ich bin zu faul zum Aufstehen. Stattdessen kommt mir wieder meine Tante Hedwig in den Sinn. An den Brief, den mir ihre Tochter gegeben hat, habe ich wegen Jan und seiner sexy Betty gar nicht mehr gedacht. Nun krame ich ihn aus meiner Handtasche hervor. Ein einfacher brauner Umschlag, wie ich es ja auf dem Friedhof schon feststellen konnte. Erst jetzt bemerke ich jedoch, ist, wie er versiegelt wurde: nämlich auf die ganz altmodische Weise, mit Bändchen und Wachsstempel. Mein Name oder irgendetwas anderes steht übrigens nicht auf dem Kuvert.

Einen Augenblick sitze ich reglos da, überlege, was ich tun soll. Öffnen ist sicher naheliegend, aber irgendwie bin ich unschlüssig. Vor allem wohl deshalb, weil ich keine Ahnung habe, was mich dabei erwartet. Etwas Wichtiges? Etwas, das mein Leben verändert? Klingt komisch, aber ich gehe beinahe davon aus. Warum sonst dieser ganze Aufwand? Immerhin kannte ich meine Tante überhaupt nicht, und sie mich auch nicht. Wenn sie also einen Brief ausgesetzt hat, den ich nach ihrem Tod bekommen soll, wird da bestimmt nicht bloß „Guten Tag, liebe Nichte, schade, dass wir uns nicht kennengelernt haben“ drinstehen. Nein, es muss etwas anderes sein. Etwas mit Bedeutung. Oder habe ich vielleicht ein Vermögen geerbt?

Ich atme noch einmal tief durch, dann öffne ich den Umschlag und breche damit das Siegel. Heraus ziehe ich ein einmal gefaltetes Blatt Papier und ein Foto. Letzteres sehe ich mir zuerst an. Es zeigt drei Personen, die nebeneinander stehen und in die Kamera lachen. Ein Mann und zwei Frauen. Der Mann steht in der Mitte, die Frau rechts neben ihm kenne ich nicht, die andere Frau aber … ist meine Mutter. Ja, eindeutig. In jungen Jahren zwar, aber es gibt keinen Zweifel, denn ich kenne andere Fotos, auf denen meine Mutter etwa in diesem Alter war. Das muss vor meiner Geburt gewesen sein.

Stirnrunzelnd falte ich nun das Blatt Papier auseinander. Es ist handbeschrieben, die Schrift gut leserlich und sehr sauber.

 

Liebe Sandra,

wenn Du diese Zeilen liest, weile ich nicht mehr unter den Lebenden. Sicher wirst du dich fragen, warum ich auf diesem Weg mit Dir in Kontakt trete und mich nicht schon eher bei Dir gemeldet habe. Nun, Du kannst mir glauben, dass ich oft genug mit dem Gedanken gespielt habe. Aber am Ende brachte ich es doch nicht über mich. Zuviel ist in der Vergangenheit passiert. Genauer gesagt in einem ganz bestimmten Sommer in Schweden. Es sind Dinge, auf die ich nicht stolz bin. Und die dafür sorgten, dass Deine Mutter mich nie wiedersehen wollte.

Ich kann mir vorstellen, dass Du jetzt viele Fragen haben wirst. Ich kann Dir diese Fragen nicht in diesem Brief beantworten. Das würde den Rahmen sprengen. Aber es gibt eine Person, die Dir alles erklären kann. Sein Name ist Gunnar Eriksson, und was ich Dir jetzt sage, wird Dich sicher sehr durcheinanderbringen. Denn ich weiß, was Deine Mutter Dir über Deinen Vater gesagt hat. Und ich weiß auch, dass sie Dich in dieser Hinsicht belogen hat.

 

Ich unterbreche das Lesen und hebe den Blick. Moment mal, worauf läuft das hier gerade hinaus? Ich meine, natürlich weiß ich, was meine Mutter mir über meinen Vater erzählt hat. Dass er verunglückt ist, kurz bevor ich zur Welt kam. Keine Ahnung, wie alt ich war, als ich davon erfuhr. Ich glaube vier oder fünf. Ich habe meine Mutter wohl ständig mit Fragen genervt. Die üblichen halt, wenn man nur mit seiner Mutter aufwächst. „Warum haben die anderen Kinder einen Papa“ und so was. Nachdem ich erfuhr, dass mein Papa gestorben ist, war ich erst traurig, aber dann … wie soll ich das sagen? Ich fing an, ihn mir in meiner Fantasie auszumalen, und nach und nach entstand so eine Art Heldenfigur für mich. Irgendwie war mein Papa, den ich nie kennengelernt hatte, doch immer bei mir. Bei Arztbesuchen, an Geburtstagen und Weihnachten, bei der Einschulung … Das ging eine ganze Weile so. Später verblasste das Ganze dann natürlich wieder.

Jetzt zu lesen, dass meine Mutter mich angelogen hatte … Ich schlucke schwer. Nein, das kann nicht sein. Und wieso sollte ich dieser mir völlig unbekannten Frau überhaupt glauben?

Dennoch … zunächst einmal muss ich wohl weiterlesen. Ich senke den Blick wieder und suche den Text nach der entsprechenden Stelle ab.

 

Dein Vater ist nicht tot, Sandra. Natürlich weiß ich nicht, wann genau du diesen Brief zu lesen bekommst, aber jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, erfreut er sich bester Gesundheit. Zwar habe ich keinen Kontakt mehr zu ihm, aber ich habe da meine Informationsquellen. Dein Vater ist Gunnar Eriksson, der Mann, der Dir alles erklären kann. Du siehst ihn auf dem Foto zwischen deiner Mutter und mir. Es entstand, als die Zeiten noch besser waren. Allerdings weiß Gunnar bis heute nichts von Dir, sprich: Er weiß nicht, dass er eine Tochter hat. Und deshalb bitte ich Dich, nach Schweden zu fahren und das Gespräch mit ihm zu suchen. Er wird dir eine Menge erklären können – und er hat das Recht darauf, zu erfahren, dass er eine Tochter hat. Leider hat Deine Mutter das anders gesehen und ihm nie etwas gesagt. Auch mir hat sie verboten, darüber zu sprechen. Reise nach Schweden, Sandra, und bring die Dinge in Ordnung.

Deine Tante Hedwig

P. S. Auf der Rückseite des Fotos findest Du Gunnars derzeitige Adresse.

 

Damit endet der Brief. Und ich sitze da wie festgewachsen. Starre immer weiter auf die Zeilen, die langsam vor meinen Augen verschwimmen. Kann das alles nicht fassen. Ich soll die Tochter eines Schweden sein? Und zu ihm reisen, um ihn von meiner Existenz in Kenntnis zu setzen? Ich und Schweden?

Entschieden schüttele ich den Kopf und streiche mir eine Haarsträhne zurück hinters Ohr. Nein, niemals. Weder zehn Pferde noch hundert Elche werden es je schaffen, mich nach Schweden zu bringen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!

2.

Kuckuck, da bin ich wieder. Und drei Mal dürfen Sie raten, wo.

In Schweden, richtig!

Das ist schon so eine Sache mit mir und meiner Wankelmütigkeit. Ja, ich war fest entschlossen, niemals nach Schweden zu fahren. Überhaupt nie. Auf gar keinen Fall! Erstens kann ich, wie ja schon erwähnt, Schweden einfach nichts abgewinnen, und zweitens bin ich nun mal ein totaler Stadtmensch, und dieser Gunnar Eriksson wohnt, wie ich schnell herausgefunden habe, in einem totalen Kaff. Warum also bin ich jetzt doch hier, werden Sie sich sicher fragen. Nun, eigentlich gibt es dafür mehrere Gründe.

Zum einen sind da die vielen Fragen, die Tante Hedwigs Brief aufgeworfen hat. Ich will nicht so einfach hinnehmen, dass meine Mutter mich wirklich mein ganzes Leben lang belogen haben soll. Sicher können Sie sich vorstellen, dass die Zeilen meiner unbekannten Tante mich weitaus mehr geschockt haben, als es womöglich den Anschein hat. Ich meine, man stelle sich einmal vor, was es bedeutet, wenn meine Tante wirklich nicht gelogen hat: Dann habe ich einen Vater – hatte die ganzen Jahre einen Vater –, von dem ich nichts wusste. Und der bis heute wohl nichts von mir weiß. Dass meine Mutter mich also all die Jahre im Glauben gelassen hat, mein Vater sei tot, kann ich mir einfach nicht vorstellen. Wie könnte eine Mutter ihrem Kind so etwas antun?

Dieser Sache muss ich also auf den Grund gehen. Und für mich gab es nur eine Möglichkeit, dies zu tun: indem ich mich auf den Weg nach Schweden machte. Nach Paleå, einem winzig kleinen Kaff in Mittelschweden. Wo Gunnar Eriksson (mein Vater?) meinen Internetrecherchen zufolge eine kleine Pension betreibt.

Aber diese Fragen, die so dringend beantwortet werden wollen, sind nicht der einzige Grund für meinen Entschluss, meine Prinzipien über Bord zu werfen und nach Schweden zu fahren. Ein weiterer Grund ist, so verrückt es auch klingen mag, Jan. Ja, der Jan, den ich heiraten wollte und den ich vor nunmehr drei Wochen mit sexy Betty im Bett erwischt habe.

Fassen wir noch mal zusammen: Nachdem ich anschließend aus der Wohnung gestürmt bin, habe ich mich direkt auf den Weg zum großen M gemacht, um Trost in einer Fressattacke zu suchen. Anschließend habe ich Tante Hedwigs Brief gelesen. Immer wieder und wieder. Bin dann spazieren gegangen, um den Kopf freizubekommen. Was natürlich vergebliche Liebesmüh war. Aber an der frischen Luft kam mir dann irgendwann doch der Gedanke, dass es aus oben genannten Gründen gar nicht mal so verkehrt wäre, diesem Gunnar Eriksson einen Besuch abzustatten. Ein Gedanke, den ich sofort wieder verschlug. Und warum – beziehungsweise wegen wem?

Richtig, wegen Jan!

Plötzlich dachte ich nämlich daran, dass es Jan sicher nicht gefallen würde, wenn ich allein wegfahre.

Ja, Sie haben richtig gelesen. Ich musste mich praktisch daran erinnern, dass ich Jan erst vor wenigen Stunden beim Poppen mit einer Jüngeren zusehen „durfte“. Und um diesen verlogenen Mistkerl machte ich mir tatsächlich noch einen Kopf? Das musste aufhören, und zwar schnell!

Ich beschloss, nach Hause zu fahren, um Jan vor die Tür zu setzen. Der Mietvertrag der Wohnung ist von Anfang an auf mich ausgestellt gewesen, weil ich zuerst allein dort wohnte, bis Jan zu mir gezogen ist. Und es war ja wohl klar, dass ich unter diesen Umständen auf keinen Fall mehr mit ihm zusammenwohnen konnte.

Doch schon auf dem Weg nach Hause überkamen mich Zweifel. Sicher bereute Jan längst, was er getan hatte. Und ein Ausrutscher kann schließlich jedem mal passieren, dachte ich plötzlich, als ich daheim aus dem Wagen stieg und auf das Mehrfamilienhaus zuging, in dem sich meine Wohnung befindet. Überhaupt – was sollte ich denn ohne Jan in Zukunft machen? Mein ganzes Leben war schließlich auf ihn ausgerichtet. Und ihm erging es sicher ebenso. Er wusste doch überhaupt nicht, wohin. Konnte ich ihm das wirklich antun, ihn so einfach vor die Tür zu setzen?

Tja, die Illusion, dass Jan in irgendeiner Weise auf mich angewiesen war, zerplatzte in dem Moment wie eine Seifenblase, in dem ich unsere – meine – Wohnung betrat.

Da war nämlich kein Jan mehr. Und auch seine Sachen waren nicht mehr da. Weg, einfach weg! Und nirgendwo eine Nachricht von ihm, rein gar nichts. Ich wusste überhaupt nicht, wie mir geschah. Irgendwann fasste ich dann ein Herz und rief Jan auf dem Handy an.

„Wo bist du denn?“, fragte ich, als er das Gespräch annahm.

„Bei Betty, wo sonst?“

Mir fiel die Kinnlade herab. Bei Betty, wo sonst? Wollte der Kerl mich verarschen? Ich probierte, etwas zu sagen, doch alles, was aus meiner Kehle drang, war ein komisches Röcheln.

Jan seufzte hörbar. Und sagte dann mit leiser und ekelerregend mitleidvoller Stimme: „Hör zu, Sandra, das mit uns war doch schon lange nicht mehr das Wahre. Betty hat auch eine viel größere Wohnung und passt einfach besser zu mir. Lass uns also einfach Freunde bleiben und gut ist, okay?“

Ich riss die Augen auf. Freunde bleiben? War das sein Ernst? Hatte der sie noch alle? Am liebsten hätte ich ihm sein scheiß Freundschaftsangebot um die Ohren gehauen und ihm ordentlich was erzählt.

Stattdessen legte ich einfach nur auf.

Tja, seitdem lebt Jan also bei sexy Betty. Und ja, den Entschluss, nach Schweden zu reisen, habe ich vorwiegend gefasst, um Jan eins auszuwischen. Damit er mal sieht, dass ich einen eigenen Willen habe und nicht nur dazu geeignet bin, ihm seine dämlich gesunden Mahlzeiten zu kochen und Zwiebeln für seinen Hustensaft zu schneiden. Und damit er sieht, dass ich auch sehr gut allein zurechtkomme.

Was soll ich sagen? Inzwischen ist mir natürlich klar, dass ihn das überhaupt nicht interessiert. Er hat seine sexy Betty, die noch richtig jung und knackig und wahrscheinlich eine Granate im Bett ist (unser Sex hat ihn nie wirklich umgehauen, erstens habe ich ihn seiner Meinung nach zu selten rangelassen und zweitens war ich ihm nie wild genug beim Sex) und zudem eine viel größere Wohnung hat. Was soll er mir da hinterher weinen?

Und ich? Weine ich ihm nach? Verdammt noch mal – ja, das tue ich. Und ist das ein Wunder? Immerhin war ich vier Jahre mit Jan zusammen. Mein Leben hat sich, neben der Arbeit, praktisch nur um ihn gedreht. Um ihn, seine Essgewohnheiten und seinen blöden Hustensaft. Jetzt stehe ich von einem Tag auf den anderen da, allein, ohne ihn, und habe nicht mal richtige Freunde. Ja, eine gute Freundin. Sara ohne H. Aber die ist auch irgendwie mehr Jans und meine Freundin statt nur meine. Und mehr Freundinnen habe ich nicht. Auch Jans Schuld. Zumindest zum Teil. Okay, ich gebe zu, so wirklich viele Freundinnen hatte ich nie. Aber ein oder zwei waren es schon, als ich mit Jan zusammenkam. Bloß hatte ich für die dann keine Zeit mehr, denn jedes Mal, wenn ich mit ihnen etwas unternehmen wollte, kam etwas dazwischen, und zwar in Form von Jan. Mal fühlte er sich nicht so und wollte nicht allein sein, mal wollte er selbst etwas mit mir unternehmen oder, oder, oder … Es hat ihm von Anfang an nicht gepasst, dass ich mit anderen Leuten Zeit verbringe. Und ich? Ich hab mich dann schließlich gefügt und ihn meinen Freundinnen immer vorgezogen. So was ist natürlich Gift für jede Freundschaft, und so stehe ich heute ganz allein da …

Gut, ich gebe zu, bei Sara ohne H habe ich mich ausgeheult. Sie war auch ganz entsetzt.

„Du hast die beiden wirklich in flagranti erwischt?“, hat sie entgeistert gefragt. „In eurem Bett? Dieser Scheißkerl!“

Ich hab ihr dann alles haarklein erzählt und auch die Sache mit Tante Hedwig nicht ausgelassen.

„Da musst du hin“, waren ihre Worte gewesen. „Unbedingt!“

Ich war immer noch unsicher. „Meinst du echt?“

„Aber klar! Sonst bekommst du ja nie Antworten auf deine vielen Fragen.“

Gemeinsam haben wir uns dann im Internet angeguckt, wo mein angeblicher Vater seine Pension hat, und anschließend war ich dann gar nicht mehr so unsicher.

Und jetzt? Nun, jetzt denke ich, dass mein Entschluss, ein paar Wochen Urlaub zu nehmen und nach Schweden zu fahren, gar nicht mal so schlecht war. Das lenkt mich hoffentlich ab und ist zumindest allemal besser, als mich zu Hause zu verkriechen und mir die Augen auszuweinen.

Und vielleicht bekomme ich so wenigstens Antworten auf meine vielen Fragen …

Jedenfalls – hier bin ich jetzt also, in Schweden. Nach einer anstrengenden Fahrt mit meinem nicht mehr ganz taufrischen Renault Twingo über Puttgarden auf Fehmarn, dann mit der Fähre nach Helsingborg, und anschließend längs durchs halbe Land habe ich soeben Paleå erreicht. Und drei Mal dürfen Sie raten, was ich jetzt gerade zu sehen bekomme …

 

Die Sonne steht hoch über den schroffen Berggipfeln. Ein leichter Wind weht, und Wolken, weiß wie Zuckerwatte, ziehen am strahlendblauen Himmel entlang. Sie spiegeln sich im Wasser des glasklaren Sees, an dessen Ufer der kleine Ort Paleå liegt. Zum Mittsommerfest in wenigen Wochen wird die Sonne hier gar nicht mehr untergehen. Dann werden Kinder singend um die Midsommarstången herumtanzen, und die Erwachsen werden essen, trinken und lachen.

So oder ähnlich hätte das, was ich als Erstes an meinem Zielort zu sehen bekomme, wohl geklungen, wenn ich die Heldin in einem dieser Schweden-Liebesromane wäre, die meine Mutter so geliebt hat. Aber so eine Heldin bin ich nun mal nicht. Bei mir ist alles ein bisschen anders. Ob ich deshalb in Schweden mit schlechtem Wetter empfangen werde?

Wahrscheinlich nicht. Aber schlecht ist es wirklich. Schon die ganze Zeit. Dunkle Wolken hängen tief am Himmel, zudem schüttet es wie aus Kübeln. Die Scheibenwischer meines Wagens arbeiten auf Hochtouren und schaffen es dennoch kaum, mit den Wassermassen klarzukommen. Ein kräftiger Wind weht, so stark, dass sich selbst die höchsten Bäume bedrohlich biegen.

Entsprechend langsam bin ich in den letzten Stunden vorangekommen. Zum Glück leistet wenigstens mein Navi gute Dienste. Ich hatte schon die Befürchtung, dass es mich hier, am gefühlten Ende der Welt, nicht weiterbringt.

Tja, von der Landschaft bekomme ich also nicht viel zu sehen. Es ist ja alles grau in grau, zudem nimmt der Regen die Sicht. Ich durchquere den kleinen Ort, und nach allem, was ich erkennen kann, ist er wirklich klein. Ein paar Ladenlokale, ein Marktplatz, mehr scheint da nicht zu sein.

Schließlich verkündet mein Navi, dass ich noch einmal rechts abbiegen und danach bis zum Ende durchfahren muss und dann mein Ziel erreicht habe.

Endlich, denke ich, als ich vor einem kleinen freistehenden Haus vorfahre, den Wagen anhalte und den Motor abstelle.

Das muss sie sein, die Pension, in der ich für zwei Wochen ein Zimmer gemietet habe. Was ich durchs Seitenfenster sehen kann, scheint das Haus sogar ganz hübsch zu sein. Typisch schwedisch halt: bis aufs Dach komplett aus Holz, falunrot und mit weiß gestrichenen Fensterrahmen. Mehr ist aufgrund des Regens nicht wirklich zu erkennen.

Ich seufze. Allein beim Gedanken, jetzt auszusteigen und bei dem Wetter zum Haus zu laufen, verspüre ich den Wunsch, einfach im Wagen sitzenzubleiben. Bis ich die Tür erreiche, bin ich bestimmt bis auf die Haut durchnässt, auch wenn es nur ein paar Meter sind. Warum habe ich auch keinen Schirm oder eine Regenjacke dabei? An so vieles habe ich gedacht, immerhin ist mein Wagen vollbeladen mit Kram. Aber wie hätte ich an so etwas auch denken sollen? In den ganzen romantischen Schwedenromanen und –filmen, die meine Mutter so sehr mochte, regnet es schließlich nie. Glaube ich zumindest. Wirklich befasst habe ich mich ja nicht wirklich mit so etwas.

Noch einmal hole ich tief Luft, dann steige ich aus dem Wagen, eile zum Kofferraum und hole meinen Trolley daraus hervor. Das ist natürlich nicht das einzige Gepäck, das ich dabeihabe, aber er beinhaltet schon mal die wichtigsten Sachen. Gut so, denn gesteigerte Lust, heute noch mal in den Regen hinauszugehen, habe ich nicht unbedingt.

Ich lasse die Kofferraumtür wieder zufallen und mache mich mit schnellen Schritten auf den Weg zum Haus. So schlimm, wie erwartet, ist es übrigens gar nicht. Also das mit der Nässe. Zwar bekomme ich natürlich ein bisschen Regen ab, aber man ist ja nicht aus Zucker. Schließlich stehe ich also vor der Tür der Pension, stelle den Koffer ab, drehte mich noch einmal kurz zu meinem Auto um und betätige mittels Funkschlüssel die Zentralverriegelung.

„Keine Angst, hier klaut niemand etwas.“

Ich zucke erschrocken zusammen, als die Stimme hinter mir erklingt. Ich drehe mich um und sehe mich einer Frau gegenüber, die im Rahmen der inzwischen geöffneten Haustür steht. Ich schätze sie auf Mitte bis Ende sechzig. Sie ist recht klein und ein wenig rundlich, mit grauem, gelocktem Haar. Ihr offenes, herzliches Lächeln sorgt mit einem Schlag dafür, dass ich mich hier willkommen fühle.

„Du musst Sandra sein, richtig? Sandra aus Deutschland?“

Ich nicke. „Woher …?“

„Na, du bist der einzige Neuankömmling, der für heute reserviert hat. Und das Nummernschild deines Wagens hat mir zudem verraten, dass du aus Deutschland bist.“ Lachend winkt sie ab. „Außerdem kommen die meisten unserer Gäste aus Deutschland.“

„Ah, deshalb sprechen Sie so gut Deutsch?“

„Genau! Aber jetzt komm doch erst mal rein.“

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen. Ich …“

„Dir.“

Ich runzele dir Stirn. „Wie bitte?“

„Nett von dir, bitte.“ Sie lacht wieder. „Hier in Schweden kennen wir kein ‚Sie‘. Also sag einfach du zu mir. Ich bin übrigens Pia.“

Pia … so lautet auch der Vorname der Autorin, von der ich im Vorfeld ein paar Bücher durchgeblättert habe, und die meine Mutter so gern mochte … Pia Berglund. Ich trete an Pia vorbei über die Schwelle, meinen Trolley hinter mir herziehend, und die ältere Frau lässt die Tür zufallen. Sofort hüllt mich Wärme ein, wohltuend bei dem nassen Wetter draußen. Und da ist noch etwas, ein Geruch …

„Appelpej“, erklärt Pia, als habe sie meine Gedanken erraten. „Nach einem original Familienrezept. Er braucht noch ein Weilchen. Ich zeige dir jetzt am besten erst mal dein Zimmer, damit du aus den nassen Sachen rauskommst und eine heiße Dusche nehmen kannst, was?“ Sie zwinkert mir zu. „Und anschließend wartet dann in der Küche ein schönes Stück Appelpej auf dich, ist das ein Wort?“

Ich staune über so viel Freundlichkeit und nicke lächelnd. „Ist es!“

 

Eine Stunde später habe ich es mir auf dem Bett meines Zimmers bequem gemacht. Die heiße Dusche hat erwartungsgemäß gutgetan. Vor allem meinem Rücken, der nach der langen Reise ziemlich verspannt war und schmerzte, geht es nun besser.

Das Zimmer ist nett. Recht klein und auch spartanisch eingerichtet, aber es ist alles wirklich hübsch. Okay, überredet! Ich versuche mich mal an einer Beschreibung, wie sie jetzt in einem dieser Schweden-Liebesromane zu lesen wäre: Holz ist eindeutig das dominierende Element im Raum, lässt ihn natürlich, lebendig erscheinen. Das Bett, das Tischchen in der Ecke, auf dem eine kleine Lampe steht, und auch der rustikale Kleiderschrank, der beinahe eine gesamte Wand des Zimmers für sich einnimmt. Am Fenster hängt eine hübsche Gardine, und wenn man nach draußen schaut, bietet sich einem ein Anblick wie auf einer Urlaubs-Postkarte: Eine sattgrüne Wiese mit farbigen Tupfern aus Rittersporn, Butterblume und Löwenzahn erstreckt sich bis an das Ufer eines Sees, der so blau und klar ist, dass wohl jeder am liebsten sofort darin eintauchen möchte. Die Wasseroberfläche schillert in allen Regenbogenfarben, und ich lache vergnügt auf, als mit einem Mal eine Forelle daraus hervorspringt, nur um dann mit einem eleganten Bogen wieder einzutauchen. Über allem steht die strahlende, hoch am Himmel stehende Sonne, an dem sich höchstens ein paar harmlose Schäfchenwolken tummeln. (Letzteres wäre jetzt in einem Roman so; ich habe vorhin, als ich einen Blick aus dem Fenster geworfen habe, statt Sonnenschein und blauem Himmel nur Regen und dunkle Wolken gesehen. Aber alles andere stimmt.)

Also, klingt doch ganz gut, oder? Aber ist ja auch nicht so wichtig. Wichtig ist mir vor allem, dass ich mein Ziel nun erreicht habe und hoffentlich bald den Mann kennenlerne, der mein Vater sein soll.

Bei dem Gedanken daran verspüre ich sofort wieder einen Anflug von Aufregung. Mein Herz pocht heftig, und meine Handinnenflächen werden feucht. Ich kann das alles noch immer nicht richtig fassen. Mein Leben lang habe ich geglaubt, mein Vater sei tot – und jetzt soll das gar nicht wahr sein? Und das sind ja nicht die einzigen Fragen! Ich meine, falls das alles wirklich stimmt, also dass dieser Mann, der hier diese Pension führt, mein Vater ist – warum habe ich ihn dann nie kennengelernt? Warum weiß er nichts von mir? Warum hat meine Mutter ihm nicht gesagt, dass es mich gibt, und warum hat sie mich all die Jahre über angelogen?

Tja, und genau da liegt mein Problem: All das kann dieser Mann (mein Vater?!) mir wohl gar nicht beantworten. Ihm geht es im Grunde ja ebenso wie mir. Einzig meine Mutter hätte mir Antworten auf meine Fragen geben können – aber das geht ja jetzt nicht mehr.

Bleibt mir also nur, meinem Vater zu sagen, dass er eine Tochter hat. Und damit die Dinge in Ordnung zu bringen, wie Tante Hedwig es ausdrückte. Aber bringe ich die Dinge damit wirklich in Ordnung? Oder richte ich damit nicht nur noch mehr Chaos an? Ach, verdammt, ich weiß es auch nicht.

Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Ich räuspere mich. „Ja, bitte?“

Die Tür öffnet sich, und Pia lugt durch den Spalt. Lächelt mir freundlich zu. „Ich wollte nur nachfragen, ob du jetzt schon Appetit auf ein Stück Appelpej hast oder erst später kosten willst.“

„Appetit? Ein Stück?“ Ich lache. „Bringen Sie lieber den Kuchen in Sicherheit, ich habe nämlich einen Bärenhunger!“

Pia lacht. „Sollte ich mal endlich jemanden gefunden haben, der meine Backkünste zu würdigen weiß? Aber an dem ‚Du‘ müssen wir noch arbeiten, was?“

Ich runzele die Stirn, dann nicke ich. „Ach, daran muss ich mich wirklich noch gewöhnen.“ Ich stehe auf und folge Pia nach unten in die Küche. Es duftet wirklich herrlich nach Apfelkuchen und nach noch etwas anderem.

„Kräutertee“, erklärt Pia, die offenbar wirklich die Kunst des Gedankenlesens beherrscht. „Frisch aufgebrüht.“

Ich lächele zurückhaltend. Ehrlich gesagt habe ich mich auf eine schöne Tasse Kaffee gefreut, schwarz mit zwei Stück Zucker, aber man will ja nicht unhöflich sein.

Pia bedeutet mir, mich an den Tisch zu setzen, was ich auch tue. Die Küche ist rustikal eingerichtet: Alte dunkle Holzmöbel, auch hier wieder hübsche Blümchengardinen an den kleinen Fenstern, und vor mir auf dem Tisch ist eine Stickdecke ausgebreitet. Darauf stehen schon Tassen, Teller und Kuchengabeln. Und dieser so unglaublich gut duftende Apfelkuchen. Gedeckt ist für zwei.

„Sind denn gar keine anderen Gäste da?“, erkundige ich mich, während Pia Tee in die Tassen schenkt.

Sie schneidet zwei Stücke Kuchen ab und verteilt sie auf die Teller. „Doch, doch. Allerdings wirst du die nur selten zu sehen bekommen. Eine Angelgruppe, ebenfalls aus Deutschland.“ Sie lächelt, als würde dies als Erklärung genügen, doch mein fragender Blick entgeht ihr nicht. „Die gehen morgens schon in aller Früh raus und kehren meistens erst am späten Abend zurück“, fügt sie daher hinzu.

„Also verbringen sie den ganzen Tag mit Angeln?“, frage ich.

„Allerdings. Abends geht es dann in eine Wirtschaft, und es wird gefeiert, gegessen und getrunken.“

„Und die Fische? Wann werden die gegessen?“

„Meistens erst wieder in Deutschland. Die werden eingefroren, und wahrscheinlich reicht es dann das ganze Jahr über. Bis zum nächsten Urlaub in Schweden.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe für so was ehrlich gesagt nicht viel übrig, doch jedem das Seine. Aber manche machen sich schon was vor.“

„Inwiefern das?“

Sie lacht. „Na, so fahren viele Urlauber zum Beispiel zu einem See, von dem sie gehört haben, dass dort besonders viele Fische sind. In Wahrheit handelt es sich dann um ein künstlich angelegtes Gewässer, das von einem Pächter betrieben wird, der fürs Angeln natürlich eine Gebühr verlangt – und jeden Morgen unzählige gekaufte Fische ins Wasser lässt, damit die Angler am Ende des Tages auch zufrieden und stolz sind.“

„So was gibt es?“, frage ich staunend. Und denke mir, dass solche Sachen bestimmt auch nicht in den Schweden-Schnulzen erwähnt werden.

Endlich probiere ich jetzt den Apfelkuchen. „Ach du meine Güte“, dringt es mir gleich nach dem ersten Bissen über die Lippen. „Der ist ja ein Traum!“ Und das ist wirklich nicht übertrieben. Ich liebe ja Kuchen (was neben dem großen M wohl auch eine Erklärung für meine Fettpölsterchen ist, über die Jan sich schon immer beschwert hat, aber der hat ja jetzt sexy Betty, die zudem auch noch jünger ist) und habe auch schon oft Apfelkuchen gegessen, aber dieser hier schmeckt einfach köstlich! Das Säuerliche vom Apfel und der süße Teig, abgerundet durch einen Hauch von Zimt … wunderbar!

Pia lächelt dankbar. „Tack.“

Das heißt, wie ich weiß, „danke“. Ich lege die Gabel auf den Teller und probiere nun einen Schluck Tee. Tee mag ich eigentlich nicht so. Aber der hier ist gar nicht mal so verkehrt, auch wenn ich nicht sagen könnte, wonach er eigentlich schmeckt. Aber man kann ihn trinken.

So. Irgendwann muss ich auch mal wieder an den eigentlichen Grund meines Besuchs in Schweden denken. „Der Besitzer der Pension, Gunnar …“

„Eriksson“, sagt Pia sofort.

Ich nicke. „Genau. Ist er auch im Haus?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein, das heißt … im Moment nicht. Das Anwesen besteht übrigens aus diesem Gebäude hier, in dem die Mieter ihre Zimmer haben, und dem Anbau, in dem wir wohnen. Also Gunnar, Lars und ich.“

„Lars?“

„Praktisch unser Mann für alles hier. Während ich mich um die Zimmer und das Essen für die Gäste kümmere, ist er für den Garten und sämtliche Hausmeisterarbeiten tätig.“ Sie seufzt. „Um auf Gunnar zurückzukommen: Er befindet sich derzeit in der Reha und kehrt in genau einer Woche heim.“

Ich runzele die Stirn. „Ist er krank?“

„Er ist vor drei Monaten schwer gestürzt und wurde mehrfach operiert. Seitdem ist er, wie gesagt, in der Reha.“

Erschrocken schlage ich mir eine Hand vor den Mund. „Du meine Güte, das hört sich ja schrecklich an“, entfährt es mir, und ich meine es ehrlich. Zwar kenne ich diesen Mann nicht, aber er soll schließlich angeblich mein Vater sein, und ich habe nun mal nicht damit gerechnet, dass es ihm nicht gut geht. „Er … kommt doch wieder in Ordnung?“

„Aber ja!“ Pia lacht. „Den guten Gunnar haut so schnell nichts um. Er wird zwar noch eine Weile einen Gehstock brauchen, aber ansonsten ist er schon wieder einigermaßen auf dem Damm.“

„Seid ihr denn … verwandt miteinander?“, frage ich, einer plötzlichen Eingebung folgend. Wer weiß, vielleicht spreche ich ja gerade mit meiner Großmutter?

Doch die ältere Frau winkt ab. „Nein, nein, das nicht. Aber manchmal kommt es mir so vor, als sei er mein Sohn. Weißt du, ich kenne ihn schon, seit er ein kleiner Junge war. Damals gehörte die Pension noch seinem Vater, und Gunnar war fest entschlossen, später einmal etwas anderes zu machen.“ Sie lacht leise in sich hinein. „Tja, wie es dann manchmal so kommt halt … am Ende ist er doch geblieben und hat nach dem Tod seines Vaters den Betrieb hier weitergeführt.“

Ich nicke und trinke nachdenklich noch einen Schluck von meinem Tee. Wenn Pia meinen Vater schon so lange kennt, dann …

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ein junger Mann in die Küche stürmt.

Er sagt irgendetwas auf Schwedisch, das ich natürlich nicht verstehe. Es klingt aber irgendwie fluchend, und wahrscheinlich hat es etwas mit dem Wetter zu tun. Er verstummt, als sein Blick auf mich fällt. Sagt wieder etwas, das ich nicht verstehe und das ich irgendwie auch nur am Rande wahrnehme. Wie gefesselt starre ich den unbekannten Mann an. Normalerweise bin ich gar nicht so. Also dass ich so extrem auf irgendwelche Typen reagiere. Aber der hier … Du meine Güte, er sieht wirklich unverschämt sexy aus. Groß und muskulös – aber nicht auf die übertriebene Art wie ein Bodybuilder, sondern einfach wie jemand, der nicht vor harter körperlicher Arbeit zurückschreckt. Das blonde Haar ist nass vom Regen, und nass sind auch seine Klamotten: die Blue Jeans, das offene Holzfällerhemd und das weiße Shirt darunter. Sein Gesicht ist nicht aalglatt, die Nase wirkt vielleicht eine Spur zu groß, das Lächeln, das auf seinen rauen Lippen liegt, scheint von Herzen zu kommen, erreicht auch seine Augen … und was für Augen! So unglaublich blau, dass ich das Gefühl habe, in ihnen zu versinken. Ach herrje. Das klingt jetzt wohl so wie aus einem dieser Schweden-Schnulzen, was? Aber was soll ich machen? Dieser Typ ist einfach …

„… der Hammer.“

Es dauert einen Moment, bis mir zwei Dinge bewusst werden: Erstens, dass ich diesen heißen unbekannten Typ noch schon eine ganze Weile anstarre – und zweitens, dass ich die letzten Worte tatsächlich laut ausgesprochen habe.

Der sexy Typ lächelt. „Oh, ein neuer Gast aus Deutschland“, sagt er, nun auf Deutsch, das ebenfalls gut, aber nicht perfekt ist und irgendwie richtig süß klingt. Er stockt kurz. „Aber wozu ein Hammer?“

Ich überlege kurz. Sollte er wirklich nicht erraten haben, an was ich gedacht habe? Möglich. Zwar scheint er ganz gut Deutsch zu sprechen, aber das muss ja nicht bedeuten, dass er weiß, was gemeint ist, wenn man jemanden hammergut findet. Zumal ich auch nur einen Teil meines Satzes laut ausgesprochen habe. Trotzdem bleibt die Frage, wie ich aus der Nummer wieder herauskomme.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752133660
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
romantische Komödie Urlaubsromane Kurzgeschichte Schweden Romantik für Frauen Liebesromane deutsch Belletristik Frauen Humor Roman Abenteuer Liebesroman Liebe

Autor

  • Talia Berg (Autor:in)

Talia Berg liebt es, ihre Zeit in Schweden zu verbringen und gute Bücher zu lesen. Was lag da näher, als selbst einen Schwedenroman zu verfassen?
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Titel: Plötzlich Schwedin