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Kenna

von Tanja Rast (Autor:in)
436 Seiten
Reihe: Schmachten & Schlachten, Band 2

Zusammenfassung

Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet. Die behütet aufgewachsene Rilan ist Regentin ihres Reiches – bis sie von den Roten Kriegern jenseits des Meeres entmachtet und verschleppt wird. Rilans hilfloser Zorn richtet sich vor allem gegen den charismatischen Anführer Kenna. Doch während sie noch Rachepläne schmiedet, lässt eine geheimnisvolle Attacke das Kriegsschiff stranden – und nur Rilan und Kenna überleben. Zum ersten Mal auf sich allein gestellt muss Rilan ihren Stolz hintenanstellen und dem verletzten Krieger helfen, der ihre einzige Hoffnung auf Überleben ist. Und während Rilan Kennas ansteckendem Lachen allmählich trotz allem verfällt, taucht aus der Tiefe des Meeres ein Grauen auf, dem sie sich nur vereint stellen können …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Der Könige Tod

 

Sie nannten sich selbst Kriegsgötter, und das war Anmaßung. Hirnlose Kampfmaschinen, nur darauf gedrillt, andere Menschen zu erschlagen, Stadtmauern zu überrennen, Tore niederzureißen und Städte und Dörfer zu plündern, sagten die Generale von Gadon.

Rote, viereckige Segel, soweit das Auge reichte. Ein schwarzer, schnittiger Bug neben dem nächsten. Rote Wimpel, die im Wind flatterten. Aus den Schiffen, die wie in Wellen anlandeten, ergoss sich die Flut der Roten Krieger. Selbst von den Wehranlagen Gadons aus konnten die Verteidiger glutfarbene Mäntel flattern, bronzefarbene Schilde und Helme im Sonnenlicht blitzen sehen. Das war vor drei Tagen gewesen. Als die Welt noch heil war, als nichts die Ahnungslosigkeit der Bewohner stören konnte. Als Rilan noch nicht einmal wusste, dass es die Roten Krieger überhaupt gab.

Nun donnerten die Geschosse der Belagerungsmaschinen gegen die Wehrmauern. Bauern und Sklaven waren in die zweifelhafte Sicherheit der Hauptstadt geflüchtet, als die Alarmglocken angesichts der Roten Flotte geläutet worden waren. Aus allem, was die Flüchtlinge zurückgelassen hatten, konnten die feindlichen Krieger sich nun bedienen. Die Heere der anderen Städte des Inselreichs waren alarmiert, aber niemand schien zu wissen, ob und wann sie Gadon erreichen würden. Zumindest klang es für Rilan so, wenn sie den leisen Stimmen ihrer Umgebung lauschte. Ratlosigkeit, wohin sie auch sah.

Aber am dritten Tag erfuhren alle die Neuigkeiten, nachdem der König einen Ausfall gegen die Roten Krieger geführt hatte. Jeder in der vollgestopften Stadt vernahm die Nachricht, dass der König von Gadon tödlich verwundet hinter die Stadtmauern gerettet worden war. Niemand hörte, wie viele Soldaten sich geopfert hatten, damit ein sterbender Mann in Sicherheit gebracht werden konnte.

Nachdem sie der Ratlosigkeit der Heiler und Priester nur kurz zugesehen hatte, verbannte Rilan mittels der begrenzten Macht einer Königstochter die unnützen Männer aus dem Schlafzimmer ihres Vaters. Dass er jenseits menschlicher Hilfe war, sah sie selbst. Seine Seele lag schon in den Händen der Götter. Sie fand, dass sie ihm wenigstens ein Sterben in Ruhe und Würde ermöglichen sollte.

Noch immer schleuderten die Katapulte Felsbrocken gegen die Mauern und den Torbau. Der Ausfall hatte nur eine Handvoll der Belagerungswaffen zerstören können, allzu wenige der fremden Schiffe in Flammen aufgehen lassen, und kaum einen der Roten Krieger zu ihren grausamen Göttern geschickt. Der Angriff auf Gadon ging weiter, und er hatte an Wut und Entschlossenheit durch den Ausfall des königlichen Heeres nur gewonnen. Der Preis dafür war zu hoch gewesen. Jetzt lag Gadons Schicksal in den Händen des jungen Thronfolgers, der auf die Ratschläge der Generale hören musste.

Rilan zog die Vorhänge vor die Fenster, ließ frisches Wasser bringen und setzte sich auf einen Stuhl dicht neben das Bett. Sie wagte kaum, in das kalkweiße Gesicht ihres Vaters zu sehen, während sich in ihrem Kopf alles zu drehen schien.

Der König war gerettet worden, bevor die Roten Krieger ihn foltern konnten. Wenigstens das war ihm erspart geblieben. Sein Erbe und seine Tochter lebten und waren – für das Erste – hinter Gadons dicken Mauern in Sicherheit.

Rilan richtete sich auf Stunden der erzwungenen Abgeschiedenheit ein, denn sie wusste, dass es nicht lange dauern konnte, bis die Priester in aller Eile und ohne die sonst üblichen Festlichkeiten einen neuen König krönen mussten. Sie hoffte, dass ihr Vater noch einmal das Bewusstsein erlangen konnte, aber sie fürchtete, dass dies nicht geschehen würde.

Gadons neuer König war ihr Bruder – während des Kampfes um die Hauptstadt gegen einen zahlenmäßig weit überlegenen Feind ohne Vorwarnung zum Herrscher ausgerufen. Sie wusste nicht, ob ihm die Eile bekommen konnte, die Plötzlichkeit, mit der ihrer aller Leben sich durch den Angriff verändert hatte. Aber selbst wenn sie eine Meinung dazu gehabt hätte, so war sie doch nur ein Weib, und niemanden interessierte, was sie dachte oder fühlte.

Rilan tupfte Schweiß von der Stirn ihres Vaters und fühlte in sich die alte, vertraute Wut brodeln: Sie war ein zehnmal besserer König als ihr Bruder, der schon jetzt wie eine Puppe in den Händen der Generale tat und befahl, was diese wollten. Nicht zum ersten Mal verfluchte Rilan ihr Schicksal, in einem Frauenkörper geboren worden zu sein.

Wie friedlich konnte der alte König sterben, da er wusste, was sein Erbe war: ein rückgratloser Feigling!

Der Verletzte erwachte nicht aus seinem Dämmerzustand, erkannte weder Rilan noch deren Bruder, wenn dieser kurz das königliche Sterbezimmer betrat.

Am Morgen des vierten Tages starb der König von Gadon. Bis Rilan ihm die starren Augen schloss, hatte ihr Vater nichts erkannt, verstanden oder gesagt. Sein Leichnam war noch nicht erkaltet oder für den Scheiterhaufen vorbereitet, als sein Sohn sich krönen ließ, während Katapultgeschosse gegen die Stadtmauern hämmerten.

 

Rilan litt noch mehr unter der Lage der Verteidiger, da ihr Bruder bei ihr saß und ihr zu erklären versuchte, wie er die Stadt und das ganze Inselreich zu retten gedachte. Während Geschosse nicht weit entfernt krachend in Mauern einschlugen, redete er davon, wie leicht es sein würde, die Roten Krieger zurück ins Meer zu treiben – durch geniale strategische Manöver, wie nur er sie sich ausdenken konnte. Sie wusste, dass es nicht an ihr lag, dass sie nur die Hälfte davon verstand.

Rilan hoffte, er würde sie bald verlassen, damit sie endlich schlafen konnte. Die ganze Nacht hatte sie am Bett ihres Vaters gewacht. Sie hatte auf seine mühsamen Atemzüge gelauscht, hin und wieder Schweiß von der hohen Stirn getupft und nicht gewusst, ob sie auf ein Erwachen oder einen gnädigen Tod des großen Mannes hoffen durfte.

Es war keine Zeit. Die Feinde standen vor den Toren der Stadt. Gadons eigene Armee war durch den Ausfall dezimiert. Wie lange die Soldaten die Mauern, Tore und Türme noch halten konnten, wussten alleine die Götter.

Rilans Bruder Kadar hatte keine Ahnung – und mochte er auch dreimal der rechtmäßige Erbe und nun gekrönte König sein. Sie fürchtete sich vor der Zukunft. Ein ungewohntes Gefühl, und Kadars wirre Ausführungen machten es nicht besser.

Es klopfte heftig an der Tür, und Rilan richtete sich auf, bevor sie ein Herein rief. Dies waren ihre Gemächer, und ihr selbstverliebter Bruder hatte zumindest den Anstand, sie hier nicht fühlen zu lassen, wie tief unter ihm sie stand.

General Nahom betrat das Zimmer. Zum ersten Mal, seitdem er seinen sterbenden König in die befestigte Stadt gebracht hatte, sah der Mann wieder lebendig und entschlossen aus.

»Was?«, fragte Rilan nur. Sie spürte, wie die Zuversicht des alten Generals sie ansteckte. War eine Seuche im Lager der Roten Krieger ausgebrochen? Hatten ein Sturm oder eine Flutwelle die verhassten Feinde ins Meer zurückgeschleudert? Sie war bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen.

Nahom wandte sich selbstverständlich und das Weib ignorierend an ihren Bruder. Natürlich. Rilan schluckte die Bitterkeit herunter, immerhin blieben beide Männer in ihrem Zimmer, sprachen über ihren Kopf hinweg, sodass sie zumindest Auskünfte aus erster Hand erhielt und nicht länger auf Gerüchte und Dienstbotenklatsch angewiesen war.

»Sie haben versucht, das Aquädukt zu zerstören, Hoheit. Aber das erste Entsatzheer ist da. Es hat den Trupp der Roten Krieger aufgerieben und uns einen Gefangenen gebracht!«

»Frische Truppen, endlich! Den Göttern sei Dank!«

»Und ein Gefangener«, betonte Nahom, offensichtlich besorgt, dass Kadar diese wichtige Einzelheit entgangen sein könnte.

»Ja, ja, ich hörte dich. Die Mühe hätten sie sich sparen können.«

»Hoheit, ich habe den Mann in die Folterkammer bringen lassen. Er kann uns wichtige Informationen liefern.«

Rilan stand auf. »Bring ihn in den Kronsaal. Lass ihn die Pracht sehen, um ihn einzuschüchtern.«

»Ich denke nicht, dass er leicht einzuschüchtern ist, Hohe Dame.«

»Das wird ihm ja wohl ein Folterknecht abgewöhnen können!«, schnappte Kadar. »Finde einen, der fähig ist. Ich will nicht, dass der Gefangene nach einer halben Stunde sein Leben aushaucht, ohne dass wir eine Antwort bekommen haben.«

Nahom warf Rilan einen kalten Blick zu. Sie war zu weit gegangen, als sie gewagt hatte, überhaupt eine Anweisung zu geben, wie mit dem Gefangenen zu verfahren wäre. Sie hatte ihre Meinung kund getan, und am Ausdruck in Nahoms Augen sah sie, dass er ihr das niemals verzeihen würde.

Aber Kadar sah mit einem Lächeln zu ihr auf. »Was täte ich nur ohne meine schlaue, kleine Schwester?«

Ja, sagte Rilan sich im Stillen, das frage ich mich auch. Du hättest Nahom erlaubt, den Roten Krieger einfach zu Mus zu verarbeiten. Wie soll er auf Fragen antworten, wenn er nur noch schreien kann? »Ich werde mich jetzt umkleiden«, sagte sie. »Es wird dem Mann gut tun, auf uns zu warten.«

Nahom nickte, aber Kadar musste natürlich fragen: »Warum?«

»Weil er eine halbe Stunde oder mehr auf Knien auf kaltem Marmorboden warten muss und sich ausmalen kann, was ihm bevorsteht. Das kann sich als wirkungsvoller als jedwede Folter erweisen«, erklärte sie geduldig und fühlte das Starren des Generals. Egal wie gut ihre Ratschläge waren, Nahom kochte bestimmt vor Wut, dass sie es wagte, sich in seine Angelegenheiten einzumischen und ihren Einfluss auf den jungen König auszuüben, was Nahom bestimmt als sein eigenes Anrecht ansah.

Kadar nickte ihr zu, dann seinem General, und die beiden Männer verließen den Raum.

Rilan klingelte nach ihrer Zofe und ließ sich in ihr prächtigstes Gewand kleiden. Wichtig war, dass sie eindrucksvoll und königlich aussah. Sie wollte diesen Abschaum in jeder Zelle seines Körpers wissen lassen, dass sie meilenweit über ihm stand. Sie wollte, dass er vor Scham verging, wie er und seinesgleichen es hatten wagen können, an Gadons Stränden zu landen.

Und sie würde Nahom und seinesgleichen zeigen, dass sie recht hatte!

Es dauerte, bis sie vollständig eingekleidet war. Sie wusste, dass Nahom diese Zeit genutzt haben würde.

Kadar erwartete sie, als sie aus ihren Gemächern trat. Er reichte ihr den Arm, und gemeinsam durchquerten sie hallende Flure und prachtvolle Säle. Rilan hörte immer noch Geschosse in die Mauern einschlagen. Sie zwang ihre wachsende Unruhe in einen dunklen Raum in ihrem Inneren und rief sich stattdessen ins Bewusstsein, dass sie die Königstochter von Gadon und die Roten Krieger barbarischer Abschaum waren. Es half nur ein wenig.

Aber als sie mit königlichem Rauschen diverser Röcke und Umhänge in den Kronsaal kam, lächelte sie erleichtert: So zornig Nahom sie auch angesehen hatte, ihre Vorschläge hatte er richtig verstanden und erstaunlich phantasievoll umgesetzt. Aus den Kellerebenen waren zahlreiche Gerätschaften gebracht worden, die auch das Herz des tapfersten Roten Kriegers zum Stocken bringen mussten. Folterwerkzeug wurde in glühenden Kohlepfannen erhitzt. Es stank nach heißem Eisen, nach der Verheißung von Schmerzen.

Doch es war Rilans Herz, das für einen Moment aus dem Takt geriet, als sie den Roten Krieger sah, der auf Knien vor den Stufen zum Thron niedergehalten wurde.

Noch während sie mit geweiteten Augen auf diese fleischgewordene Naturgewalt starrte, wurde ihm die Rüstung abgenommen. Unter roten Umhängen und bronzefarbenem Panzer, unter der Stachelschiene des rechten Unterarms kam ein Körper ans Tageslicht, der einem Künstler den Meißel in die Hand zwang. So sahen die Götterstatuen in Gadon aus. Er war ein Kriegsgott, der selbstgewählte Name, die Gotteslästerung traf zu.

Rilan atmete tief durch. Körperliche Vollkommenheit würde glühenden Eisen nicht lange standhalten. Je früher der Wilde aufgab, desto mehr würde von ihm übrig bleiben. So viel sollte er doch auch begreifen, nicht wahr?

Auf dem Weg zum Kronsaal hatte Nahom knapp die Verluste aufgezählt. Rilan fand es hirnverbrannt, dass für einen Gefangenen so viele von Gadons Soldaten gestorben waren. Aber Kadar hörte dem General ruhig zu und starrte nun den jungen Gefangenen mit unverhohlener Neugierde an. Es war beinahe lächerlich. Ob des Kriegers Antworten solch einen Verlust aufwogen, würde sich erst noch zeigen.

Er hielt duldend still, und auf gewisse Weise wirkte seine Ruhe gefährlicher, als wenn er sich gewehrt hätte.

Eine schwere Metallstange lag auf seinem breiten Nacken, stabile Seile fesselten seine Handgelenke an das Eisen. Auf Knien, den Kopf leicht gesenkt, um das Gewicht der Stange leichter ertragen zu können, sah er nicht im Geringsten besiegt aus. Eher abwartend und lauernd.

Nahom hatte recht gehabt, dachte Rilan in diesem kurzen Augenblick fassungslos: Der Rote Krieger erweckte nicht den Eindruck, als ob ihn irgendjemand oder irgendetwas einschüchtern könnte. Überhaupt nicht.

Kadar schien das nicht zu erkennen – oder er war innerhalb eines Atemzuges ein brillanter Schauspieler geworden: Hocherhobenen Hauptes stolzierte er zum Thron, Rilan an seiner Seite. Nicht einmal sah er auf den Roten Krieger, der vor ihm auf dem kalten Boden kauerte und den Einmarsch mit keinem Blick würdigte.

Kadar entzog Rilan seinen Arm und nahm zum zweiten Mal in seinem Dasein auf den Thron ihres Vaters Platz. Der junge König umfasste die Armlehnen und sah hochmütig zu dem Gefangenen. Rilan ging zwei Schritte weiter und setzte sich auf den kleineren Sessel der Königin, der ihr als Tochter des verwitweten Königs seit Jahren zustand. Es fühlte sich fremd und keinesfalls beruhigend an, dass Kadar neben ihr saß. Die ermutigende Präsenz ihres kriegsgewandten Vaters fehlte ihr.

Der Rote Krieger hob den Kopf. Kriegsbemalung aus dicken, fettigen Kohlestrichen lag als Schatten auf seinen Wangenknochen und rund um seine Augen. Stechend helles Grün – wie das erste Laub im Frühling – starrte Rilan einen Moment lang an, bevor ein Hohnlächeln die Lippen des Kriegers verzog. »Gibt es in Gadon doch tatsächlich Frauen? Ich dachte, hier wohnen nur alte Männer und eingebildete Bengel. Du bist hier vergeudet, Kleines.«

Kadar wurde blass vor Wut. Rilan vermutete weniger wegen der Anzüglichkeit in ihrer Richtung als wegen der Bezeichnung als eingebildeter Bengel. Sie selbst fühlte sich tödlich beleidigt von dem frechen Funkeln in jenen grünen Augen, aber trotzdem war sie erschrocken, wie jung dieser muskelbepackte Hüne aussah: Er konnte keinesfalls älter sein als sie selbst. Woher nahm er diese selbstsichere Unverschämtheit?

Zu gerne hätte sie die Hand zum Signal gehoben, da Kadar vor lauter Wut im Moment zu nichts fähig schien.

Es war jedoch nicht nötig – und hätte sicherlich ohnehin nichts bewirkt. Nahom gab ein knappes Zeichen, bevor der Krieger noch ganz ausgesprochen hatte.

Die Peitsche des Folterknechtes zog eine fauchende, schwarze Bahn durch die Luft, und Rilan hatte den zweifelhaften Triumph zu sehen, dass selbst ein auf Kampf gedrillter Wilder Schmerzen fühlen konnte. Als das Leder der Peitsche auf seinen Rücken hieb, richtete der Krieger sich für einen Augenblick ein klein wenig gerader auf. Ein kaum hörbares, keuchendes Ausatmen war seine Reaktion auf den Vorgeschmack der Folter, aber die spottenden Augen blieben fest auf Rilans Gesicht geheftet. Nicht auf Kadars.

Der Hüne ignorierte ihren Bruder ebenso, wie er Nahom nicht beachtete. Rilan hatte das ungute Gefühl, dass sie ganz alleine mit diesem Wilden war. Es machte keinen Unterschied, dass ihr gekrönter Bruder auf dem Thron von Gadon saß.

Rilan empfand kein Mitleid, aber sie fühlte sich dem allzu wachen Blick des Kriegers ausgeliefert. Sie wurde zornig über diese unbekümmerte Anmaßung. Männer wie er hatten ihr Königreich überfallen und geplündert, ihren Vater ermordet, und jetzt machte dieser eine, ihnen allen hilflos ausgelieferte Krieger sich über Kadar lustig und schien sie – Tochter des Königs, Rilan von Gadon – alleine mit den Blicken auszuziehen und wie ein Stück Vieh auf dem Markt zu begutachten.

Dazu kam, dass er durch seine freche Selbstsicherheit sogar dem Folterknecht bewies, was Kadar als König und als Beschützer taugte: nichts!

Rilan teilte diese Meinung schon lange, aber Kadar war ihr Bruder, und um nichts in der Welt konnte sie einem Wilden erlauben, jedem die Unfähigkeit des jungen Königs vorzuführen.

Sie fühlte Nahoms Blick auf sich ruhen und verstand instinktiv, dass der General gerade abwog, wie viel schwerer es sein würde, Kadar zu kontrollieren, solange dessen Schwester lebte. Verdammt, sie brauchten die Generale, um Gadon zu retten und auch weiterhin zu regieren, aber diese benötigten Rilan nicht! Ja, sie war sogar ein Hindernis, eine Gefahr für die Befehlshaber des Heers, erkannte Rilan, während der Gefangene ungeniert seinen Blick über ihre Gestalt wandern ließ, ein beinahe anerkennendes Funkeln in den Augen.

Sie wurde wütend. Zumindest von einem Gefangenen konnte sie Respekt und Furcht erzwingen! Warum nur hatten die Götter es für angemessen erachtet, ihr einen Bruder zu schenken, der nicht verstand, wie sehr der Rote Krieger sie beleidigte und worin Kadars brüderliche Pflicht bestand?

Sich zu ihrem Bruder lehnend fasste Rilan ihn am Arm und flüsterte ihm ins Ohr. Wie erhofft gab Kadar Nahom einen Wink, die Befragung fortzusetzen, die vielleicht zwischen dem Sieg der Roten Krieger und dem Untergang des Reichs einen Unterschied machen konnte. Rilan hörte die Einschläge der Geschosse, die Stück für Stück die Mauern zerstörten.

Der klare Blick des Kriegers verließ nicht für einen Moment Rilan, während Nahom Fragen stellte. Das spöttische Lächeln blieb auf dem sonnengebräunten Gesicht mit der barbarischen Kriegsbemalung.

Fünf Mal fuhr die Peitsche in den breiten Rücken. Das Lederhemd, das der Krieger unter dem Panzer getragen hatte, musste schon beim ersten Schlag in Fetzen gegangen sein. Jetzt fraß sich der schwere Riemen durch seine Haut in seine Muskeln. Rilan sah Blutspritzer, die den hellen Marmor des Bodens befleckten.

Aber das spöttische Funkeln seiner Augen fand zwischen den Schlägen immer wieder ihr Gesicht. »Deine Stadt fällt, Kleines. Nichts kann das verhindern.«

Weitere fünf Schläge. Sie sah Schweiß auf seinen hohen Wangenknochen und an seiner Kehle perlen. Ja, er spürte den Schmerz wie jeder normale Mensch, mochte er auch ein Roter Krieger sein, der angeblich weder den Tod noch die Götter fürchtete.

Das glühend heiße Eisen erfüllte den Saal mit einem schweren Geruch, als der zweite Folterknecht es aus dem Kohlenbecken hob. Sie sah, wie der Blick des Kriegers ganz kurz zu diesem Mann flackerte. Sie hoffte, dass er das Eisen fürchtete, denn es war ihr zuwider, der Folter womöglich so lange beiwohnen zu müssen, bis aus einem jungen Mann ein Klumpen wimmerndes Fleisch gemacht worden war. Sie hoffte, dass sein Wille vorher brach.

Der Krieger sah sie wieder an. »Ich werde keine deiner Fragen beantworten. Mein Tod wird den Fall deiner Stadt nicht verhindern.« Als ob sie die Fragen gestellt hätte!

Es war Nahom, der reagierte und somit Rilan verteidigte – nicht Kadar, der mit geweiteten Augen dasaß und lächelte, während das Blut des Roten Kriegers unter den Peitschenhieben spritzte.

Der General sah Rilan an, als die Peitsche wieder und wieder in das ohnehin wunde Fleisch biss. Rilan hoffte, dass der Ausdruck in seinem kantigen Gesicht so etwas wie widerwillige Anerkennung war. Hier und jetzt war sie nützlicher als ihr Bruder, der sich an der Folter berauschte, ohne zu verstehen, dass die Schmerzen des Barbaren nicht Selbstzweck waren.

Rilan stand auf. Dieses Mal konnte sie keine Rücksicht auf die Etikette nehmen. Kadar saß da wie der Welt vollkommen entrückt. Jemand musste handeln! Sie war sich des hellwachen Blicks des Kriegers allzu deutlich bewusst. Langsam kam sie auf diesen Gegner zu, umrundete ihn gemessenen Schrittes und betrachtete ihn eingehend.

Sie sah gewaltige Muskelpakete, Blut und längst und gut verheilte Narben. Dies war nicht seine erste Schlacht gewesen. Die hellen Linien alter Verletzungen auf seinen nackten Oberarmen, auf den kraftvollen Schenkeln rührten nicht von Folter, sondern von gegnerischen Waffen her. Er war verwundet worden, er kannte Schmerz. Es war wichtig, diesem neuen Schmerz Erniedrigung hinzuzufügen, um den Willen des fremden Kriegers zu brechen.

Rilan nickte dem Folterknecht zu, als sie hinter dem Krieger stand und den Linien seines Körpers und der stählernen Muskelstränge mit dem Blick folgte. Blut sickerte aus den kreuz und quer über den breiten Rücken verlaufenden Peitschenwunden, aber das war nichts für diesen Kerl, das verstand sie jetzt.

Dank der Eisenstange in seinem Nacken konnte er den Kopf nicht weit genug wenden, um zu sehen, was hinter ihm vorging. Aber er wusste, dass glühende Eisen im Spiel waren.

Er musste erfassen, dass sein selbstsicheres Auftreten und seine offen zur Schau getragene Frechheit ihm nicht helfen, ihn niemals retten konnten. Wenn er sich Rilan als Gegnerin ausgesucht hatte, weil er sie für schwach hielt, würde er seinen Irrtum bald erkennen, schwor sie sich mit vor Wut fest zusammengebissenen Zähnen. Sie war die Königstochter einer vielleicht sterbenden Stadt, und falls er hoffte, dass sie Skrupel oder Hemmungen verspürte, ihn Todesqualen spüren zu lassen, irrte er sich.

Sie brauchte Antworten auf Nahoms Fragen, und sie war entschlossen, die nötigen Auskünfte zu erhalten – koste es, was es wolle.

Zwei Soldaten hielten die Stange und verhinderten, dass der Krieger sich weiter drehte. Trotzdem fand sein Blick Rilan, bevor das glühende Eisen den Krieger berührte. Sie sah Verachtung in diesem Blick, aber die Stadt, das Reich ihres Vaters waren wichtiger als dieser Mann und was er in Rilan zu sehen meinte.

Stinkender Rauch stieg auf, als das Folterwerkzeug sich in das Fleisch versenkte. Alle Muskeln standen wie Würgeschlangen unter der Haut hervor, als der junge Gefangene den Kopf weit nach vorne sinken ließ, zischend Atem in seine Lungen sog – aber er schrie nicht, sondern kämpfte gegen den Schmerz an. Tapfer wie ein wildes Tier, das in der Falle steckt oder sich unter dem es durchbohrenden Speer windet. Kein Laut von ihm, und nur das Beben seiner Muskeln zeigte, wie sehr er litt.

Rilan trat näher, roch den frischen Schweiß, der aus seinen Poren strömte. Nahom war bereit, ihn unter der Folter verrecken zu lassen. Aber sie brauchte Antworten!

Sie packte sein langes Haar, das in dünnen Zöpfen zurückgeflochten war, um ihn im Kampf nicht zu behindern. Sie zerrte seinen Kopf zu sich herum. »Ich kenne andere Wege. Ein Wort von mir genügt.«

»Selbst wenn du dich nackt ausziehst und deinen Busen in mein Gesicht schwingst, Kleines, wirst du nichts von mir hören.«

Sie fuhr zurück, als ob er sie geschlagen hätte. Der erste Folterknecht hatte nur darauf gewartet, dass sie ihm Platz machte. Zehnmal fraß die Peitsche sich in das wunde Fleisch, forderte bei jedem Schlag Blutzoll.

Rilan beugte sich vor Hass bebend vor, ignorierte Nahoms Bemühungen, der an ihre Seite getreten war und sie vor dieser Beleidigung abschirmen wollte.

»Nahom, es wird sich wohl jemand im Palast finden, der das Fleisch eines jungen Kriegers anziehend findet. Ich will so viele Männer wie möglich hier haben, die ihn besteigen.«

Der Krieger wandte den Kopf und starrte sie für einen Moment fassungslos an. Er würgte nur ein Wort hervor: »Hure!«

»Du wirst jetzt die Hure sein. Ich bin sicher, dass es vergnüglich wird.«

Auf dem Thron kicherte Kadar, und Rilan wurde beinahe übel. Nicht wegen ihres Befehls – zu dem musste sie stehen. Sie zitterte vor sich selbst. Aber ein Tier wie dieses hatte ihren Vater erschlagen, der ihr das Liebste auf der Welt gewesen war. Andere wie er wollten die Stadt erobern, die Bewohner versklaven. An diesem einen konnte sie ihre Rache nehmen. Sie würde zusehen, wie er bestiegen wurde. Und es würde ihr gefallen, beschloss sie zornbebend.

Aber sie bebte auch, weil sie Kadars Kichern nicht vorausgesehen hatte, weil sie ihn niemals einer solchen Abscheulichkeit für fähig gehalten hätte. Er war ihr plötzlich fremd geworden, stieß sie ebenso ab wie der Rote Krieger – und doch war er ihr Bruder, Gadons König und die Zukunft des ganzen Inselreichs. Sie bekam mit einem Mal Angst, wie die kommende Zeit unter seiner Regierung aussehen würde.

Diese Zweifel an einem Menschen, den Rilan bislang immer als Vertrauten gesehen hatte, waren für sie schlimmer, als jede Beleidigung durch den jungen Krieger es hätte sein können. Doch keine Macht der Welt konnte Rilan dazu bringen, ihr Entsetzen vor dem Gefangenen oder vor irgendeinem anderen Menschen zu zeigen.

Kadars glühende Augen ruhten auf dem Gefangenen, und Nahom verließ den Saal, um möglicherweise tatsächlich Rilans Befehl weiterzugeben. Sie konnte und wollte diese Anweisung nicht zurücknehmen. Der Rote Krieger würde sterben – in den nächsten Stunden oder Tagen, aber sie weigerte sich, vor diesem Fremden das Gesicht auch nur augenblickslang zu verlieren. Sie war die Königstochter von Gadon, und der kichernde Wahnsinnige auf dem Thron war vor kurzem noch ihr großer Bruder gewesen. Sie war kein Niemand!

Was die Zukunft ihr auch brachte, Rilan blieb entschlossen, diesen Ereignissen wie eine wahre Königin entgegenzutreten. Dazu gehörte auch die ultimative Erniedrigung des jungen Kriegers. Wenn es das brauchte, um seinen stählernen Willen oder den Schutzwall seiner Dummheit zu durchbrechen, dann musste es einfach sein. Rilan würde dies durchstehen und wenn schon keine Genugtuung, so doch zumindest Befriedigung ihrer Rache daraus zu ziehen.

Sie wandte den Blick von Kadar und sah einen Augenblick lang in die hellen Augen ihres wirklichen Feindes.

In diesem Moment stürmte Nahom zurück in den Saal. »Hoheit! Sie haben die Mauern durchbrochen!«

Rilan erstarrte. Wie konnten sie in der Stadt sein? Niemand hatte ihr gesagt, dass es bereits so verzweifelt stand! Das Entsatzheer war doch eingetroffen; wie hatten die Roten Krieger es dann geschafft, die Stadt zu stürmen?

Das leise, fast behagliche Auflachen des Kriegers ließ Rilans Wut überkochen. Hier befand er sich in der Gewalt seiner Gegner, von denen er wissen musste, dass sie ihn töten würden. Und er lachte!

Kadar sprang auf, aber Rilan starrte immer noch fassungslos den Krieger an, dessen Kühnheit ihr fast den Atem nahm. Er musste doch verstehen, dass niemand rechtzeitig bei ihm sein konnte, um ihn zu retten!

»Er bleibt am Leben. Brecht ihm die Beine. Jetzt!«, sagte Kadar in die Stille, die dem anscheinend wirklich erheiterten Auflachen gefolgt war. Seine Stimme zitterte – vor Wut, Hass, Erregung oder Wahnsinn. Rilan wusste es nicht. Aber dieser Befehl erfüllte sie mit kaltem Entsetzen.

Sie hasste den feindlichen Krieger, das tat sie wirklich. Sie hatte keinerlei Bedenken, ihn unter der Folter in zuckendes, wimmerndes Fleisch zu verwandeln. Aber nun war es zu spät! Die Fragen, die Nahom ihm gestellt hatte, waren bedeutungslos geworden. Ja, sie wollte, dass der junge Mann – und alle anderen Roten Krieger mit ihm – starb und nicht länger die gleiche Luft atmete wie sie. Aber nicht so.

Nahom rannte zu Kadar und packte diesen am Oberarm. »Hoheit, wir müssen gehen!«

»Er hat meine Schwester beleidigt!«, sagte Kadar mit verträumt klingender Stimme. »Er wird seinen Leuten befehlen, sie zu schänden.«

»Du Bastard willst sie doch selbst besteigen!«, erklang die spöttische Stimme des jungen Kriegers, und in Rilans Magen krampften sich Zorn und Ekel zu einem heißen Klumpen zusammen. Nahom nickte dem Folterknecht zu, der schon eine schwere Eisenstange in Händen hielt. Rilan wusste nicht, ob der Mann dieses Nicken als Bestätigung für Kadars Befehl ansah oder gar brauchte, aber in diesem Augenblick stritten in ihr Entsetzen und Wut über die gesamte Lage, Kadars Verhalten und die Häme des Roten. Sie wusste nicht mehr, was richtig oder falsch war.

Trotzdem hatte sie eine letzte Genugtuung, bevor Kadar nach ihrer Hand griff und sie mit sich zog:

Endlich schrie der Krieger. Vor Wut, vielleicht vor Verzweiflung, hoffentlich vor Angst. Dann schrie er vor Schmerz.

Bevor Nahom Rilan und Kadar aus dem Saal schaffen konnte, sah sie über die Schulter zurück. Rilan blickte in ein Gesicht, das unter Blut und Kriegsbemalung kalkweiß war, in grüne Augen, in denen Hass wie der Irrsinn in Kadars Augen leuchtete.

Sie überschritt die Schwelle, die Tür schwang hinter Rilan zu, und doch hörte sie noch den Schlag, der dem Krieger auch den zweiten Unterschenkel brach. Und seinen Schrei, der sie beinahe betäubte und ihr Übelkeit bereitete.

Kadar zog sie mit sich, und Rilan kämpfte darum, mit ihm Schritt zu halten. Ihre Röcke raschelten und bauschten sich weit um ihre Beine. Ihre Füße und Waden fühlten sich hölzern und kalt an, fanden aber den Weg fast von alleine, während Rilans Blick wie gebannt auf dem wenigen, was sie von Kadars Gesicht sehen konnte, hing. Er sah fremd und grausam aus. Das irre Lächeln spielte immer noch um seine Lippen, und fast hatte sie den Eindruck, dass ihm selbst diese verzweifelte Flucht Freude bereitete.

Wohin wollte Nahom sie in Sicherheit bringen? Anhand ihrer Juwelen und Kleidung war Rilan allzu leicht als Mitglied der Königsfamilie zu erkennen. Kadars Worte, dass die Roten Krieger wie gierige Hunde über sie herfallen würden, echoten schmerzhaft in ihr wider.

Mit einem Mal wurden Schreie vor ihnen laut. Stiefel hämmerten auf Marmor, und überall leuchtete das Rot der Feinde. Flatternde Mäntel, blutbespritzte Panzer, die unheilvoll zu glühen schienen unter dieser Patina von Mord und Totschlag.

Nahom wirbelte keuchend herum. Er musste Kadar beinahe mit Gewalt mit sich herumreißen, und die Hand des Königs drückte schmerzhaft Rilans Finger zusammen.

Kadar war unbewaffnet, aber er wollte sich den Roten Kriegern entgegenwerfen. Nicht nur sich selbst, verstand Rilan alarmiert, er machte Anstalten, sie mit sich zu ziehen.

Gemeinsam mit Nahom konnte sie ihren Bruder wieder in den Kronsaal zerren, die Tür zuschlagen, obwohl diese nicht den geringsten Schutz bot. Rilan hatte entsetzliche Angst, aber niemals würde sie das zeigen – nicht vor Nahom und vor allem nicht vor ihren Feinden.

Im Kronsaal lag der junge Krieger am Boden und keuchte vor Schmerzen. Sein Blick glühte hasserfüllt. Seine Beine waren gebrochen, die Unterschenkel zerschlagen, aber sein Wille war es offenkundig nicht.

Nahom ließ Rilan stehen, zerrte den Krieger auf die Knie und zog das Schwert. Ein leises Keuchen, ein halber Schrei entrang sich dem jungen Mann. Schweiß lief nun in Strömen an ihm hinab. Die Klinge berührte seine Kehle, als die anderen Roten Krieger die Halle stürmten.

Einen Moment verharrten sie alle. Rilan wollte nichts lieber, als sich zu verstecken, doch sie hielt sich mit hocherhobenem Kopf aufrecht. Die Ehre ihrer Familie stand auf dem Spiel.

Rilan hielt Kadar fest, aber der stand jetzt ganz still da und sah verständnislos um sich, als wäre er aus einem Traum erwacht. Nie zuvor hatte Rilan sein Gesicht so gesehen, eine leere Fratze, die Gesichtszüge schlaff, der Mund weich und halb geöffnet. Speichel lief über sein Kinn. Aber die Augen erfüllte immer noch ein fremdes, abscheuliches Feuer.

Das war nicht ihr Bruder. Sie verstand nicht, was geschehen war, aber das konnte unmöglich Kadar sein! Instinktiv wich sie einen halben Schritt zurück, bevor sie verstand und bemerkte, was sie da tat. Das machte es nur noch schrecklicher.

In die angespannte Stille fiel die Stimme des knienden Kriegers. »Die Frau bleibt am Leben. Tötet den Rest.«

Rilans Kopf ruckte zu ihm herum: Kalkweiß, blutbeschmiert, mühsam auf den Knien balancierend, Nahoms Schwert nur einen Fingerbreit von seiner Kehle entfernt – und er sprach einen solchen Befehl beinahe kalt und gelassen aus.

Die Roten hatten nur auf diese Order gewartet, die ihnen deutlich sagte, wer das Ziel ihrer Waffen sein musste – und wer leben sollte. Klingenstäbe rasten als Wurfgeschosse durch den Kronsaal, streckten die Soldaten und einen Folterknecht nieder.

»Ich töte ihn!«, drohte Nahom viel zu spät, bevor ein geschleuderter Speer ihn etliche Schritte rückwärts warf, als die scharfe Klingenspitze sich in die Brust des Generals bohrte. Sein Schwert fiel klirrend zu Boden.

Rilan wusste, dass sie niemals die dumpfen, nassen Geräusche vom Einschlagen der Klingen in menschliche Körper vergessen würde.

Mit einem erstickten Schmerzensschrei fiel der Rote Krieger vornüber. An die Metallstange gefesselt konnte er seinen Fall nicht abbremsen und schlug hart auf dem Marmorboden auf.

Rilan versuchte, in alle Richtungen gleichzeitig zu sehen. Ihr Herz raste. Vor wenigen Augenblicken hatte sie sich noch als Herrin der Lage gefühlt, sich gezwungen gesehen, einen störrischen jungen Mann mit Erniedrigung und Schmerzen zu bedrohen. Eben noch hatte sie erkannt, dass mit ihrem Bruder etwas nicht stimmte, und nun befand sie sich mitten auf einem Schlachtfeld, nur wenige Schritte von ihren Gegnern entfernt.

Götter, das alles war Wahnsinn und sinnlos!

Dann durchschlug ein kraftvoll geschleuderter Klingenstab Kadar. Der Speer durchbohrte ihn, sodass Rilans Bruder einen Schwall Blut ausspuckte und dann einfach in sich zusammensank wie eine Marionette, deren Fäden alle gleichzeitig durchschnitten worden waren.

Rilan ging mit ihm zu Boden, hinab gerissen durch die Wucht der Waffe und Kadars Gewicht.

Überall war Blut, sog sich in Rilans spitzenbesetztes Kleid, blubberte auf Kadars Lippen, quoll aus seiner Nase und färbte alles rot wie die Mäntel der Feinde.

Gefahr und Panik überrollten Rilan, verursachten ihr Schwindel. Der Blutgestank bereitete ihr Übelkeit, wie es kurz zuvor bei der Folter nicht geschehen war. Trauer, Verzweiflung und tödliche Angst schlugen wie schwarze Meereswellen über ihr zusammen und schafften es doch nicht ganz, das merkwürdige Gefühl von Erleichterung wegzuwaschen.

Denn sie war erleichtert, dass der Irre tot war, weder ihr noch Gadon schaden konnte. Gleichzeitig brannte entsetzliche Trauer um ihren Bruder in ihr.

Sie hielt seine Hand, bis das letzte Zucken verebbte, hob den Kopf und sah mit allen Anzeichen von krampfhaft zur Schau gestellter Gelassenheit zu den feindlichen Kriegern auf. Sie war nun die einzig lebende Thronerbin, und als solche würde sie ihr Schicksal hocherhobenen Hauptes ertragen.

Rilan gab keinen Laut von sich, als sie am Oberarm gepackt und auf die Beine gezerrt wurde. Gegenwehr war sinnlos und entwürdigend, und so duldete sie stumm, wie zuvor der junge Krieger alles über sich hatte ergehen lassen. Sie stand am Rande einer Ohnmacht, und der einzige Kampf, den sie nun ausfocht, war der gegen ihre eigene Schwäche.

Zwei der Roten Krieger hielten sie fest, als wäre sie ein gefährlicher Gegner und nicht nur eine Frau, deren Reich und Leben gerade in Trümmer gingen. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre sie gar nicht in der Lage, sich gegen diese schwergepanzerten Männer zu wehren.

Ihre Ruhe zeigte Wirkung, und sie war darüber überrascht, als eine Faust sich leicht lockerte, sich nicht mehr schmerzhaft in ihr Fleisch grub. Vielleicht hatte da jemand verstanden, dass sie keinen vollwertigen Gegner abgab. Oder es bedeutete nur Gleichgültigkeit oder die Schonung der eigenen Kräfte.

Der Blutgestank schnürte Rilan die Kehle zu, und sie verstand, dass sie sich nur noch auf den Beinen befand, weil die Krieger sie festhielten. Sie schluckte mehrfach, um den Brechreiz im Zaum zu halten.

Immer noch strömten Rote Krieger in den Saal, offenkundig ungerührt angesichts Leichen und Blutlachen. Einer rannte an allen vorbei zu jenem jungen Krieger, der nicht eine einzige Frage beantwortet, Rilan verspottet und Kadar ins Gesicht gelacht hatte.

Zumindest das Lachen war ihm jetzt vergangen, dachte Rilan mit plötzlich aufwallender Gehässigkeit. Er hatte auch sie ausgelacht, ihr unbekümmert Avancen gemacht und sie zu Taten und Worten gezwungen, von denen eine behütet aufgewachsene Königstochter nicht einmal Kenntnis haben sollte. Er hatte sie vorgeführt wie ein Vieh auf dem Markt, und die ganze Zeit hatte er sie verhöhnt.

Der Krieger hatte den jungen Mann erreicht, kniete neben ihm nieder und berührte vorsichtig dessen Schulter, bevor er hastig die Fesseln zerschnitt und die Metallstange von ihm hob. Rilan hörte die fassungslose Stimme des Neuankömmlings. »Kenna, bei den Göttern, ich bringe das Weib um!«

»Sie bleibt am Leben«, beharrte der junge Krieger, stemmte sich halb hoch, nun da seine Hände frei waren. Der Blick, den er Rilan zuwarf, hätte tödlich sein müssen – war es aber nicht. Der Mann war kreidebleich unter seiner Sonnenbräune, die Muskeln zitterten. »Sie bleibt am Leben. Und für den Rest ihres Daseins wird sie sich wünschen, den Irren aufgehalten zu haben.«

Er sank wieder zu Boden, jeder Atemzug ein angestrengtes Keuchen. Der Mann neben ihm löste den eigenen Umhang von der Rüstung und deckte seinen Kameraden behutsam zu, legte noch einmal die Hand auf eine muskelbepackte Schulter und sah dann zu Rilan auf. »Du wirst den Rest deines Lebens leiden. Das schwöre ich dir.«

Rilan sank ohnmächtig zu Boden. Sie wollte gar nicht wissen, was diese Tiere mit ihr vorhatten.

 

Sie erwachte von einem Schrei.

Hastig fuhr Rilan hoch und fühlte sich zurückgestoßen. Im ersten Moment wusste sie nicht, was überhaupt los war, bis der nächste Schrei erklang und die Erinnerungen zurückkehrten. Ihr Magen hob sich gefährlich, sie presste die Hand auf die Kehle und lag ganz still, damit sie sich nicht übergeben musste. Ihr Herz raste, und nur mit äußerster Anstrengung konnte sie verhindern, dass sie am ganzen Körper zitterte.

Der Schrei, der sie geweckt hatte, erfüllte sie mit bösen Vorahnungen. Vorsichtig schlug sie die Augen auf, sah um sich, wo sie sich überhaupt befand. Das war der Kronsaal von Gadon, und sie lag, wo sie niedergesunken war: vor den Stufen, die zum Thron hinaufführten. Sie drehte langsam den Kopf, bis sie den Sessel ihres Vaters sehen konnte. Die Krone lag auf dem Sitzkissen.

Zwischen Rilan und dem Thron saß ein Roter Krieger auf den Stufen, aß einen Apfel und behielt sie genau im Auge. Nicht einen Wimpernschlag lang wandte er den Blick von ihr, und in diesem lag so viel Hass, dass sie auf einen raschen Tod hoffte.

Ganz vorsichtig hob sie nur den Kopf. Daran hinderte er sie nicht. Offenbar hatte sie hier zu seinen schmutzigen Füßen liegenzubleiben. Sie sah um sich und erblickte ausschließlich Rot.

Die Leichen waren fortgeschafft worden, aber Nahoms Blut, das der Soldaten und Folterknechte blieb in Pfützen und Schleifspuren als unübersehbares Zeugnis der Morde auf dem Marmor sichtbar.

Kadars Leiche lag wenige Schritte von ihr entfernt. Aber sie konnte den Körper nur noch an Kleidung, Schmuck und Statur erkennen. Sie atmete keuchend ein, ihr Blick flog wieder zum Thron. Erst jetzt konnte ihr Verstand das Unfassbare erkennen: Nicht nur die Krone lag dort. Sie saß noch immer auf dem Kopf von Gadons letztem König. Die Wilden hatten Kadars Leiche enthauptet.

Wieder erklang ein Schrei, halb erstickt aus der Kehle eines Menschen, der zu stolz war, seine Qual zu zeigen.

Zahlreiche Rote Krieger standen oder saßen in der Halle herum. Sie sahen erschöpft aus, das war der einzige Trost.

Wer hatte geschrien? Folterten sie jemanden?

Rilans Herzschlag beschleunigte sich besorgt, bis sie einen Arm sah, dessen Handgelenk unter einem groben Soldatenstiefel auf den Boden gedrückt wurde. Ihr Blick folgte dem Arm bis zu einem kalkweißen Gesicht.

Nein. Alles war gut.

Da lag der junge Krieger, dem auf Kadars Befehl hin die Unterschenkel zerschlagen worden waren. Sie erinnerte sich, dass sein Name Kenna lautete. Der Feind – eine unzählbare Masse von Roten Kriegern – besaß nicht nur ein Gesicht, sondern auch einen Namen.

Auch Kennas rechter Arm wurde niedergehalten. Einer jener Roten Krieger kniete auf seinem Oberarm, eine Hand auf der Brust des Verletzten. Zwei Männer waren nötig, um ihn am Boden zu halten.

Götter, sie hoffte, dass er gerade verreckte.

Nein. Das wollte sie nicht. Er sollte leben, um die nächsten Jahrzehnte an diese Lektion zu denken: Lache niemals über das Königshaus von Gadon. Niemals. Bei jedem Schritt an Krücken sollte er an seine Anmaßung und deren Folgen erinnert werden.

Dann verstand Rilan. Sie richteten seine gebrochenen Knochen. Sie hoffte, dass das richtig weh tat. Hoffentlich war dort ein Knochenflicker am Werk, der sein Handwerk nicht verstand.

Kenna schrie wieder, und eine Gänsehaut überlief sie. Es war ein bitterer Triumph, aber er war besser als gar keiner. Das Hochgefühl hielt genau so lange an, bis Kenna den Kopf drehte, als hätte er Rilans Blick gespürt. Die grünen Augen funkelten – ob vor Tränen des Schmerzes oder aus reinem Hass konnte sie nicht entscheiden, aber sie zuckte vor diesem Starren zurück.

Kenna hatte gewonnen. Zum Krüppel geschlagen hatte er trotzdem gesiegt. Ihr wurde kalt vor Angst bei dem Gedanken, was er sich als Rache ausdenken mochte.

Denn Rilan lebte nur, weil er es so befohlen hatte. Sie war die letzte Überlebende der Königsfamilie – und sie war eine Frau, die uralte Beute einer siegreichen Armee.

Einmal noch schrie Kenna. Er konnte gar nicht genug leiden, und der Gedanke, dass sie wirklich zugesehen hätte, wie er zur Hure gemacht worden wäre, wuchs in Rilans Bauch, bis sie beinahe erbrechen musste.

Gerüstete Männer mit roten Mänteln brachten eine Trage herein. Die beiden Krieger halfen Kenna, sich aufzusetzen. Er war schweißnass, obwohl er auf dem eiskalten Marmorboden gelegen hatte.

Rilan kämpfte gegen Tränen der Verzweiflung. Ihre Angst wuchs mit jedem Atemzug. Sie weitete sich noch mehr aus, als Rilan Kennas von Peitschenhieben aufgerissenen Rücken sah, die Blicke der beiden Krieger, die ihn nun stützten.

Es wäre besser gewesen, wenn Kenna befohlen hätte, sie zu töten.

Viel besser.

Sie versuchte, sich einzureden, dass er sie nicht so sehr hassen könnte. Denn sie hatte den verhängnisvollen Befehl nicht gegeben! Es war Kadar gewesen, der die gebrochenen Unterschenkel zu verantworten hatte. Aber sie erinnerte sich, dass sie tatsächlich gewollt hatte, dass der Krieger für seine Frechheit, sein Lachen bestraft wurde. Er hatte sie direkt angesehen. Er wusste das. Und Kadar war tot und konnte nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden.

Nur ein Blick auf den blutüberströmten Rücken, und Rilan war klar, wem dieses Vieh die Schuld an allem geben würde. Nur deswegen lebte sie noch.

Krieger und Heiler verbanden seine Wunden und hoben ihn auf die Trage. Vier baumgleiche Krieger traten heran, um ihn aus dem Saal zu schaffen. Wohin? In das Schlafzimmer ihres Vaters? Ihres Bruders? Rilan hätte beinahe vor Wut aufgeschrien über diese Entweihung.

Aber Kenna hob eine Hand, und die Krieger beugten sich über ihn, um seine Worte zu verstehen. Das hätten sie nicht gemusst, denn seine Stimme erreichte jeden Winkel des Kronsaales mühelos. Jeder Satz war ein Peitschenhieb für Rilan. Ob er das absichtlich tat oder nicht, war vollkommen egal. Er tat es. »Verschont die Bevölkerung. Versorgt ihre Verwundeten. Wir sind keine Tiere, wir rächen uns nicht an ihnen. Bringt die Frau in ihr Zimmer. Nur eine Zofe darf zu ihr. Niemand sonst. Vernagelt alle Fenster, damit sie nicht springt. Wir brauchen sie möglicherweise noch.«

Rilans Zorn kochte über, aber sie schaffte es, ihre Stimme vollkommen normal klingen zu lassen. Sie lächelte sogar – oder zeigte zumindest die Zähne. »Ich werde meinen Bruder bestatten.«

Kenna wandte leicht den Kopf. Sie sah die grünen Augen wie Edelsteine in seinem kalkweißen Gesicht leuchten. »Das wirst du nicht. Sein Kopf kommt auf die Stadtmauer, der Rest ist Futter für Straßenköter. Tu jetzt nicht dumm und heldenhaft, dass du sein Schicksal teilen willst. Ich bin sehr versucht, dir zuzustimmen.« Er drehte den Kopf und sagte erheblich schwächer zu einem der Krieger: »Schaff sie weg.«

 

Über zwei Wochen verbrachte Rilan in ihren Zimmern. Die Fensterrahmen waren tatsächlich vernagelt worden, bevor die Krieger Rilan überhaupt hineingelassen hatte. Alle Schränke, Truhen und Kommoden hatten die Männer durchwühlt.

Zuerst hatte sie gedacht, dass die Roten Krieger geplündert und ihre Juwelen gestohlen hätten. Aber während sie zusammen mit ihrer Zofe aufräumte, musste sie erkennen, dass sie nicht beraubt worden war. Nichts schien zu fehlen.

Rilan ließ sich neben einer Truhe auf die Knie nieder und überlegte fieberhaft, bis sie endlich verstand: Die Roten Krieger hatten Waffen und womöglich Gift gesucht. Der letzte Ausweg schien ihr versperrt – sie hatte ihn ohnehin nicht beschreiten wollen. Sie lächelte böse. Die Krieger waren Idioten! Sie könnte sich immer noch mit einem Schal oder einer Gardinenschnur erhängen oder ihrer Zofe befehlen, sie zu erdrosseln oder zu ersticken.

Aber sie wollte nicht Selbstmord begehen. Sie war die Letzte des Königshauses, und obwohl dies in der Geschichte Gadons nie vorgekommen war, machte die Lage sie offiziell zur Regentin – normalerweise für ihren Sohn oder einen sehr viel jüngeren Bruder. Beides gab es nicht, aber zumindest ein Sohn war eine potentielle Gefahr. Gezeugt durch Vergewaltigung, ein Bastard eines Roten Kriegers. War es das, was Kenna gemeint hatte, als er gesagt hatte, sie würde möglicherweise noch gebraucht?

Um sich von ihrer Lage abzulenken, dachte Rilan über den jungen Krieger nach. Der einzige Überlebende eines Trupps, der die Zerstörung des Aquädukts zum Ziel gehabt hatte. Nie im Leben war der Kerl nur ein einfacher Krieger, dessen war sie sich ganz sicher. Sein ganzes Auftreten war allzu selbstsicher gewesen – beinahe selbstgefällig. Rilan rief sich die spottende Stimme ins Gedächtnis, die so kalt und beherrscht geklungen hatte, als er die Roten Krieger herumkommandiert hatte. Er war es offenkundig gewohnt, Befehle zu erteilen – und viel wichtiger: Er war es gewohnt, dass seine Anweisungen befolgt wurden.

Er musste ein hochstehender Kommandant sein, so lächerlich das angesichts seines Alters auch klang. Er konnte noch nicht einmal dreißig sein.

Sie entsann sich der langen, dunkelroten Haare, die in zahlreichen dünnen Zöpfen nach hinten geflochten waren, bis sie im Nacken mit einem Band zusammengefasst wurden. Wäre es ihm nur um praktische Erwägungen gegangen, trüge er kurze Haare. Er war vielleicht durch militärische Erfolge und seine eigenen Leistungen nach oben gekommen. Sein Körper war auf jeden Fall durch Kampf gestählt. Wie mochte er bei Frauen ankommen? Wahrscheinlich besser, als seinem Ego gut tat.

Eitel und jung, Rilan, und alle seine Anzüglichkeiten zielten auf dich ab. Möglicherweise nicht nur, weil du die einzige Frau im Kronsaal warst. Möglicherweise ist da etwas, was du ausnutzen solltest. Er ist anmaßend und wahrscheinlich Speichelleckerei gewohnt. Und Frauen, die ihm reihenweise in den Schoß fallen.

Sie schüttelte entsetzt über sich selbst den Kopf: auf gar keinen Fall!

Die Stimme der Vernunft erklang wieder in ihr und teilte ihr schonungslos mit, dass sie entweder eine vergewaltigte Regentin wurde, bis ihr Bastard gekrönt war, oder dass sie verdammt noch einmal tat, was ihr im Blut lag und ihre Ahnen von ihr erwarteten.

Gadon war nun ihr Königreich, und sie konnte nicht erlauben, dass auch nur ein einziger ihrer Untertanen unter der Willkür der Besatzer litt.

Wieder flogen ihre Gedanken zu Kenna. Was, wenn sie sich irrte? Jugend bedeutete nicht zwangsläufig Dummheit.

Das, was Rilan als stupide Tapferkeit erschienen war, als er stumm unter der Folter litt, konnte ebenso gut felsenfestes und berechtigtes Vertrauen in seine Männer demonstriert haben. Sie waren rechtzeitig erschienen, um ihn vor dem Tod zu retten. Aber sie waren zu spät gekommen, um die Ausführung von Kadars letztem Befehl zu verhindern.

Stolz war Kenna. Auch das konnte Dummheit bedeuten, aber Rilan hatte in seine Augen gesehen und darin mehr als blindes Vertrauen in seine Männer bemerkt.

Stolz, Intelligenz zumindest in gewissem Umfang, Selbstgefälligkeit und möglicherweise Unreife. Jugend stellte vielleicht den wichtigsten Schlüssel dar, denn jetzt war der Krieger ein Krüppel. Und nach Rilans Willen sollte er das auch bleiben.

Seine vorgetäuschte Fürsorge für ihr Volk konnte viele Gründe haben, aber keinen Moment lang hielt Rilan Kennas Ansinnen für redlich. Vielleicht wollte er sich bei den Bewohnern anbiedern, damit er leichteres Spiel hatte und die Massen ruhig halten konnte. Oder er hatte es tatsächlich nur getan, um Rilan zu imponieren! Diese Frechheit ließ sie vor Zorn zittern.

 

Rilan war erstaunt, dass sie in den nächsten Tagen zu einer gewissen Routine fand. Es gab regelmäßige Mahlzeiten. Ihre Zofe durfte einmal am Tag in die Stadt, um ihre Angehörigen zu besuchen. Das Mädchen wurde nie belästigt. Zu Rilans ehrlicher Verblüffung kam die Zofe immer zu ihr zurück, anstatt einfach in der Stadt zu bleiben oder zu flüchten.

Mire war Rilans einzige Verbindung zur Außenwelt. Keiner der Roten Krieger, die das Essen, frisches Wasser und einmal einen Korb voll Kleidung aus der Wäscherei brachten, wechselte mehr Worte als absolut notwendig mit Rilan. Sie sah keinen Respekt in ihren Augen. Nur Gleichgültigkeit und oft Verachtung.

Nach fast zwei Wochen Arrest kam Mire eines Abends aufgeregt von ihrem Besuch in der Stadt zurück. Rilan folgte dem Mädchen auf dessen hastige Gesten hin in das Ankleidezimmer – der Raum, der am weitesten von der Tür zum Flur entfernt lag und somit ziemlich sicher vor Lauschern schien.

»Hohe Dame, die Flotte der Roten Krieger wird angegriffen«, wisperte Mire aufgeregt.

»Erzähl mir alles, was du weißt.«

Viel war es nicht, aber die Zofe hatte Augen und Ohren offen gehalten, nachdem sie die ersten Gerüchte aufgeschnappt hatte. Rilan hörte aufmerksam zu, füllte die Lücken in den Schilderungen mit Hoffnung und fügte bunte Mosaiksteine zu einem unvollständigen Bild zusammen.

Die anderen Städte Gadons waren seit Kadars Ermordung Stück für Stück an den Feind gefallen. Das Reich war führerlos, und natürlich hatte sich das auf die Moral der Soldaten ausgewirkt. Rilan verachtete die Männer deswegen, obwohl ein kleiner Teil von ihr die Gedankengänge des einfachen Pöbels zu verstehen versuchte. Wozu in einer Schlacht sterben, wenn es keinen König mehr gab? Es war feige und dumm, aber etwas anderes konnte man wohl nicht vom ungebildeten Volk erwarten, wenn diesem klare Befehle und starke Führernaturen fehlten. Was Rilan am meisten verärgerte, war die Gleichgültigkeit ihr selbst gegenüber. Sie war nicht tot! Aber niemand führte ein Heer zu ihrer Rettung herbei.

Rilan drängte Wut und Enttäuschung beiseite, um Mires Bericht hören und verstehen zu können. Wer kam Gadon da in zwölfter Stunde zur Hilfe? Rilan wusste, was von ihr als Königstochter erwartet wurde, wenn der unbekannte Retter siegreich hervorging. Aber es schien ihr besser, als auf eine Vergewaltigung seitens der Roten Krieger zu warten.

»Bislang lagen die Kriegsschiffe am Strand, aber jetzt schaffen sie sie eilig in die geschützten Häfen. Letzte Nacht wurden sechs auf dem Strand liegende Schiffe zerstört«, berichtete das Mädchen aufgeregt.

»Hast du gehört, wie viele Männer sie verloren?«

»Nein, Hohe Dame. Aber es geht weiter, und jetzt klingt es nicht mehr so gut: Heute Morgen sind Fischerboote ausgelaufen – auf Befehl der Roten. Bis Mittag ist keines zurückgekehrt.«

»Die Männer sind geflohen«, stellte Rilan mit einer gewissen Befriedigung fest. Ihre Untertanen holten Hilfe!

»Nein. Die Roten sind mit einem Kriegsschiff ausgefahren. Mein Vater war mit an Bord, da er die Fischgründe sehr gut kennt. Sie fanden Trümmer und im Wasser treibende Leichen, Hohe Dame.«

»Warum sollte jemand unsere Fischerboote angreifen?« Rilan war ehrlich verwirrt.

Mire zuckte hilflos die Schultern. »Mein Vater, Hohe Dame, erzählte mir von unheimlichen Geräuschen in der Nacht, als die Kriegsschiffe vernichtet wurden. Es wurde kein Feuer gelegt, und die Leute in der Stadt haben große Angst. Einige Lagerschuppen, die nahe am Wasser stehen, wurden geplündert und die Wächter getötet.«

»Rote oder Leute von Gadon?«

»Sowohl als auch, Hohe Dame.«

»Und die Roten reagieren darauf, indem sie ihre Schiffe in die Häfen schaffen? Verstärken sie die Wachen?«

»Das tun sie.«

»Gut. Mire, ich will, dass du dich morgen wieder sehr genau umhörst. Wenn dein Vater mit den Roten unterwegs war, dann weiß er auch, wie die reagiert haben. Es muss eines der Nachbarreiche sein.«

Und gerade nach diesen niederschlagenden Nachrichten beschloss Rilan, den Barbaren zu zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Zornig verbannte sie ihre üblichen Tageskleider in die Schränke und ging mit Mire ihre kostbaren Festroben durch, suchte diejenigen Kleider aus, die am reichsten mit Spitzen, Perlen, Stickerei oder Edelsteinen besetzt waren.

Nur weil sie eine Gefangene war, gab es keinen Grund, auch wie eine solche auszusehen, befand sie. Im Gegenteil, wenn sie sich jetzt klein machte, schlicht kleidete und nicht mehr auf ihr Äußeres achtete, fühlte es sich für sie selbst wie ein Eingeständnis einer Niederlage oder gar Schuld an.

Vielleicht würde sie die Wilden auch nur mit Edelsteinfunkeln blenden, aber auch das war ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn die Kerle erwarteten, dass sie in Sack und Asche ging, weil ihr Reich sich in feindlicher Hand befand und der junge Krieger ein Krüppel war, hatten sie sich geirrt!

 

Nachts lag Rilan lange wach und zerbrach sich den Kopf über diese Angriffe. Anfangs war ihr nach Jubel zumute gewesen. Sie hatte gedacht, dass ihre Befreier endlich gekommen wären, und ging im Geiste schon die heiratsfähigen Machthaber der Nachbarreiche durch, welcher es wohl sein könnte und welchen sie nicht vollkommen abstoßend fand.

Aber so einfach war es offenbar nicht.

Kein Befreier würde die Fischerflotte vernichten und Gadons Lager plündern. Viel wahrscheinlicher und damit deutlich unangenehmer war die Möglichkeit, dass ein anderes Reich die derzeitige Schwäche ausnutzen wollte. Das eigene Heer war in Auflösung begriffen, die Roten Krieger noch nicht vollkommen im Sattel. In dieser Zwischenphase war ein Angriff besonders gefährlich für Gadon und die Roten Krieger. Und besonders erfolgversprechend für jeden anderen. Verdammt.

Rilan setzte sich kerzengerade im Bett auf, als sie ein ungewöhnliches Geräusch vom Meer vernahm: Es klang wie das Weinen eines Kindes, schrill und irgendwie seelenlos. Gänsehaut überrieselte sie.

Sie sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Die Läden waren vernagelt, aber trotzdem konnte sie durch die schmückenden Aussparungen hinaussehen, und vor allem konnte sie das unheimliche Schrillen besser hören.

Die Schiffe lagen größtenteils noch am Strand. Fackelschein beleuchtete sie, und mit einem Mal erloschen sämtliche Lichter und Wachfeuer. Das Schrillen schwoll an und wurde im nächsten Augenblick vom Bersten des Holzes beinahe übertönt. Takelage stürzte krachend und knarrend hinab. Männer schrien Befehle. Rilan hörte Waffengeklirr, das schrille Heulen und bekam immer mehr Angst.

Vor ihrem Fenster rannten Rote Krieger über die Wehranlagen. Sie sah Feuerschein auf den Panzern der Männer blitzen, nahm die flatternden Mäntel wahr. Sie flog zur Zimmertür und lauschte dort. Auch im Palast erklangen Befehle und hastige Schritte. Was auch immer der Angreifer war, sie wusste sicher, dass die Roten Krieger es fürchteten – und dass sie es ihnen besser gleichtat.

2.

Auf See verschleppt

 

Mire huschte noch vor dem Frühstück aus Rilans Gemächern, nachdem sie ihre Herrin sorgfältig in ein hochgeschlossenes Kleid mit zahlreichen Unterröcken und mit reichem Edelsteinbesatz gekleidet hatte.

Rilan betrachtete sich im Spiegel, als die Tür zum Flur ohne jegliche Vorankündigung geöffnet wurde. Tief durchatmend drehte Rilan sich betont langsam um, hob in offener Empörung und Verachtung die Augenbrauen. »Was willst du?«

»Kenna will dich sehen.« Der Krieger hielt die Tür auf, und als Rilan nicht sofort gehorsam reagierte, kam er mit langen Schritten in das Zimmer und packte sie am Oberarm, um sie mit sich zu ziehen. Sie widersetzte sich nicht, denn die Genugtuung wollte sie ihm nicht geben. Sie musste große Schritte machen, um seine Geschwindigkeit mithalten und trotzdem den Kopf hoch halten zu können.

Sie fühlte sich wie Vieh oder wie ein Sklave, der zum Marktplatz geschleift wird. Aber alle ihre ehrfurchtgebietenden Ahnen versteckten sich vor den Roten Kriegern. Niemand kam ihr zu Hilfe, während der Krieger sie durch die Flure ihres Palastes führte.

Sie sah Diener auf den Gängen. Angesichts des Kriegers und der königlichen Herrin wichen die Leute zur Seite, senkten die Köpfe und mieden Rilans Blick. Feiglinge, alle wie sie da waren! Sie sahen einfach nur zu, und Rilan als angeblich so schwache Frau musste alleine die Kraft finden, den Angreifern die Stirn zu bieten.

Jeder breite Gang war ihr vertraut, und als der Marsch vor einer großen, mit Schnitzereien verzierten Tür endete, wusste Rilan, welches Schlafzimmer Kenna bezogen hatte. Zorn kochte in ihr. Die Demütigung schrie ihr ins Gesicht, die Beleidigung des Andenkens an ihren Vater bereitete ihr Übelkeit.

Der Barbar klopfte an, ihm wurde geöffnet, und Rilan überschritt hocherhobenen Hauptes die Schwelle ins Schlafzimmer ihres Vaters. Und da war der Feind!

Das Himmelbett schien geschrumpft, war ihr erster, schockierter Eindruck. Aber dann sah sie, dass Kenna blass war, seine vormals so kriegerische Ausstrahlung nur noch eine Maske, ein blasser Abschein von seinem ersten – und letzten – Auftritt im Kronsaal.

Er war frisch rasiert, trug ein sauberes Hemd aus weißer Wolle, aber die barbarische Kriegsbemalung lag immer noch als schwarzer Schatten unter seinen Augen. Ganz offensichtlich war das fettige Zeug nicht einfach mit Wasser und Seife zu entfernen. Denn gewaschen war der Krieger, wie Rilan am Fehlen jeglicher blutiger Spritzer erkannte.

Als sie das Zimmer betrat, blickte er von Pergamenten auf seinem Schoß auf, und ein äußerst gehässiger Ausdruck verzerrte sein Gesicht. »Wie reizend, dass du Zeit gefunden hast. Auf Anraten der Generale werden du und ich Gadon verlassen. Die Hauptstreitmacht bleibt hier. Wir werden angegriffen, und ich kann dir versichern, dass es keine hilfreichen Nachbarn sind, die dich aus meinen Klauen zu retten versuchen. Selbst wenn sie das wollen, du wirst dann nicht mehr hier sein. Wir segeln mit der Flut.« Er senkte den Blick wieder auf die Pergamente. »Das ist alles.«

Er gab ihrem Bewacher einen knappen Wink, aber dieses Mal ließ Rilan sich nicht brav wegführen. »Ich werde also als Kriegsbeute verschleppt.«

Kenna hob den Kopf mit einem Ruck, eine ungeduldige Falte zwischen den dunklen Augenbrauen. »Hast du mir nicht zugehört? Gadon wird angegriffen – nicht nur unsere Schiffe. Es gab Plünderungen und Tote – nicht nur bei uns. Du wirst dieses Reich verlassen, damit ich deine Sicherheit garantieren kann. Wie ich dir schon einmal sagte, wirst du eventuell noch gebraucht.« Er wandte sich über ihren Kopf hinweg an den Mann, der sie zu ihm gebracht hatte. »Area, sie wird unter Aufsicht Kleidung zum Wechseln und alles, was Frauen sonst so brauchen, packen. Dann bringst du sie an Bord der Kranich. Der Vulkan ist wieder aktiv, teilt man mir mit. Wir werden die Nordroute nehmen müssen.«

Rilan wollte in sein kaltes, arrogantes Gesicht spucken, ihm die spöttischen Augen aus dem Schädel kratzen. Da war nichts von dem jungen, stolzen, aber unerfahrenen Bengel, auf den sie gehofft hatte. Er klang gelangweilt und erweckte glaubhaft den Eindruck, Herr der Lage zu sein.

 

Rilan starrte durch die Lücken in ihren Fensterläden zum Strand, an dem die Schiffe der Roten Krieger lagen. Sie hatte diesen einen Augenblick, um von Gadon Abschied zu nehmen – ob für immer oder nur für begrenzte Zeit wusste sie nicht. Aber sie sah nicht auf die Stadt, sie sah zu den Schiffen.

Mast an Mast, ein schlanker Bug neben dem nächsten. Einige schaukelten sanft auf den Wellen, andere lagen auf den Strand aufgezogen, waren mit Zeltplanen überspannt und dienten offenkundig als Lager oder provisorische Häuser.

Zwischen diesen Kriegsschiffen sah sie zertrümmerte Wracks als Zeugen der Attacken. Wer auch immer Gadon angriff und auch die Vorratsscheunen von Rilans Volk plünderte, hatte die Roten Krieger überrascht und ihnen schwere Verluste zugefügt. Diese Rückschläge und die Gefahr, die von den Angriffen ausging, brachten selbst Kenna so weit, seine eigene Person und seine Gefangene in Sicherheit zu bringen.

Wen würde er mitnehmen? Verletzte, vermutete sie. Dazu eine körperlich unversehrte Mannschaft für mindestens ein Schiff – die Kranich, auf der er Rilan wegschaffen wollte.

»Bist du fertig?«, fragte Area von der Tür aus.

War sie es? Nein. Sie wollte Gadon nicht verlassen, nicht jetzt, da ihr Reich sie brauchte. Sie gestand sich ein, dass sie Angst hatte vor einer Zukunft, die auf keinerlei Weise berechenbar war.

Ihr Wohlergehen hing von Kenna und seinen Launen ab. Solange der junge Krieger der Meinung war, dass Rilan ihm nützlich sein konnte, blieb sie zumindest am Leben – wenn man ihre Zukunftsaussichten Leben nennen konnte.

Rilan straffte ihre Schultern und richtete sich gerade auf, bevor sie sich umdrehte und den Krieger verächtlich ansah. »Ich bin bereit, verschleppt zu werden.«

Er lachte leise auf, schüttelte den Kopf und gab zweien ihrer Diener den Wink, ihre Wäschetruhe aus dem Raum zu tragen. Dann packte er wieder Rilans Arm und zog sie mit sich.

Er führte sie aus dem Palast auf die Wehranlage des Hafens zu. Rilan bekam Seitenstechen, aber sie hielt mit ihrem Bewacher Schritt, der sich keine Mühe gab, seine Geschwindigkeit der anzupassen, die Rilan möglich gewesen wäre. Die langen Roben, Reifröcke und schweren Stoffe ließen Rilan schwitzen. Der unnachgiebige Griff um ihr Handgelenk blieb stählern, die Geschwindigkeit unvermindert. Wahrscheinlich würde das Schwein sie hinter sich her schleifen, falls sie wirklich stürzen sollte. Doch diesen letzten Triumph wollte sie ihm nicht geben. Wie eine Leiche hinter ihm hergezerrt werden – keinesfalls.

Im Hafenbecken lagen sechs der kleineren Kriegsschiffe. Sie waren an der Mole vertäut und wurden für die Abfahrt vorbereitet und beladen, während Rilan zu ihnen geführt wurde – immer näher zu Sklaverei und die rachsüchtigen Zwecke eines gefallenen Kriegsgottes. Sie mochte nicht darüber nachdenken, ihr Magen zog sich zusammen.

Überall schwitzende, arbeitende Männer – und viele davon aus ihrem Volk. Sie versuchte, einen Blick zu fangen, für einen Moment in ein Augenpaar zu sehen. Aber ihre Leute starrten zu Boden und taten so, als ob sie sie nicht sehen würden. Sie verachtete die Bauern, die sich für die Eroberer verdingten und ihrer Regentin nicht einmal in die Augen blicken konnten.

Doch blieb keine Zeit zum Nachdenken, denn ihr Bewacher zog sie zur Bordwand. Eine Lauftreppe war ausgelegt worden, und da selbst die kleinen Schiffe der Roten Krieger sich von den Schiffen Gadons unterschieden, lag diese Planke steil an. Rilan wusste, dass sie diese Steigung in den langen Röcken nicht bewältigen konnte. Aber das störte ihren Bewacher nicht.

Sie biss fest die Zähne zusammen, um jeglichen Laut und allen Protest zu unterdrücken, als Area sie hinter sich her zog. Das letzte Stück fühlte sie sich hochgerissen, hochgeschleudert und auf Deck geworfen.

Sie stieß sich die Knie, schürfte sich die Hände auf und kam nicht auf die Beine. Nun hatte sie sich in ihren langen Röcken verheddert.

Rilan war zornig – auf den Roten, auf ihre eigene Unfähigkeit, das Hindernis würdevoll zu überwinden. Ihr Zorn drohte, sie zu ersticken, als sie Kennas beinahe sanfte Stimme vernahm.

»Area.« Seine Trage war an Bord gebracht worden, bevor die Regentin von Gadon auf das Deck geworfen worden war.

Rilan rieb sich die schmerzenden Hände und verfluchte im Geiste alle Roten und auch alle Bürger Gadons, die sie mit offenen Mündern angafften, statt ihr ritterlich beim Aufstehen zu helfen. Sie sah sich mit zornig blitzenden Augen um, und jeder wich ihrem Blick aus.

Der Mann, der sie an Bord gebracht hatte, ging gehorsam zur Trage: Seine Beute konnte nicht weglaufen. Zu viele Krieger umstanden Rilan, und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie angesichts der zahlreichen, sehr hinderlichen Röcke überhaupt alleine aufstehen konnte. In diesen Unmengen von Tüll und Rüschen zu laufen, stellte eine Unmöglichkeit dar. Sie blieb also auf dem Deck sitzen.

»Sie soll in einem Stück bleiben, bis ich entschieden habe, was mit ihr geschehen wird, und bis ich Gelegenheit habe, mich um sie zu kümmern. Bring sie ins Zelt.«

»Ist das weise, Kenna?«

»Sei unbesorgt. Sie wird mich nachts nicht erdrosseln. So viel Mann bin ich noch.«

»Entschuldige, Kenna, das wollte ich nicht sagen.«

»Es ist gut. Wir legen ab, sobald alle Ladung verstaut ist.«

Auf dem Deck stand ein Zelt, denn die Kranich war zu klein, als dass sie eine große Kabine im Heckaufbau beherbergen könnte. Die Seitenwände waren im Augenblick größtenteils aufgerollt, um Luft und Licht in diese behelfsmäßige Unterkunft zu lassen. Die Krieger trugen Kenna in den luftigen Schatten und stellten die Trage behutsam ab.

Rilan wollte nicht mit Kenna alleine dort sein. Aber das würde sie niemals zugeben. Sie begann, Angst vor ihm zu empfinden. Er war zu ruhig, zu kühl. Kadar hatte ihn zum Krüppel gemacht, und der junge Krieger nahm diese Tatsache einfach viel zu gelassen hin.

Area kam zu Rilan zurück, und sie ließ sich wortlos auf die Beine ziehen, schüttelte mit der freien Hand ihre Röcke aus und kämpfte mit aller Kraft darum, mindestens ebenso gelassen zu wirken wie Kenna. Sie würde sich niemals vor den gaffenden Kriegern und Bauern lächerlich machen. Mit allen Anzeichen von Gleichmut, aber mit heftig klopfendem Herzen ließ sie sich zum Zelt führen.

Sie war verloren. Die Götter mochten wissen, was Kenna mit ihr vorhatte – und bestimmt wandten sich selbst sie schaudernd ab. Aber noch war es nicht so weit.

Er war halb tot und hatte die Tage im Bett zu nichts als Grübeln nutzen können. Ganz bestimmt hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wie er sich an Rilan rächen konnte – vielleicht um sich von seinen Schmerzen und der Aussicht auf ein Leben als Krüppel abzulenken.

Rilan war sich vollkommen sicher, dass er ihr die Schuld an seinen Zustand gab. Ein primitives Hirn wie Kennas konnte nicht anders, als auf Rache zu sinnen. In seinem Zustand konnte er auch nicht wirklich etwas ausrichten.

Sie duckte sich unter aufgerolltem Segeltuch hinweg und betrat tapfer das Zelt.

»Hoheit, Willkommen«, ließ Kenna sich spöttisch vernehmen.

Sie atmete tief ein. Noch lag er auf der Trage, gleich würde er umgebettet werden. Das würde weh tun. Und egal, was er sagte: Sobald sie ihre Chance sah, würde sie ihn ins Jenseits befördern!

Die Krieger hoben Kenna auf das schmale Bett, und dieses Mal schrie er nicht. Aber es durchlief seinen ganzen Körper wie ein Krampf, als der Schmerz ihn überrollte.

Rilan ballte die Fäuste und zog aus dieser deutlichen Qual einen Hauch von Befriedigung. Und sah einen Weg, wie dieser Krieger bezwungen werden konnte. Hass schmeckte bitter, aber er war alles, was sie noch besaß.

Der Grundriss des Zeltes war klein und beengend, was dem schmalen Deck geschuldet blieb. Außer dem Bett aus Palastbeständen bildeten Kisten und Truhen die einzige Möblierung. Die sparsame Ausstattung einer Kriegerunterkunft stand im krassen Gegensatz zu dem Luxus, den Rilan gewohnt war.

Ein knapper Wink Kennas, und zwei der Roten Krieger traten zu ihr, drückten sie auf eine der Kisten nieder und legten ihr eine Metallklammer um das Handgelenk. Eine kurze Kette verband diese mit einem massiven Beschlag der Truhe.

»Nur damit du nicht auf Deck rennst und den Männern im Weg stehst«, sagte Kenna mit seinem widerwärtigen Lächeln, das die grünen Augen inmitten der frischen schwarzen Kriegsbemalung kalt aufblitzen ließ.

Rilan fügte sich in ihr Schicksal. Jegliche Gegenwehr angesichts der Krieger wäre sinnlos und hätte jede Frau noch mehr ihrer Würde beraubt.

Die Krieger verließen nach einem weiteren knappen Wink das Zelt und ließen zwei der Seitenwände hinab. Jene, die zum Heck wies, und eine mit Blick auf die Sitzbänke der Ruderer blieben oben. Es war nur die Illusion von Privatsphäre, aber Rilan fand, dass es für den Moment reichte – und dass es ihr gegenüber den Kriegern einen kleinen Vorsprung verschaffte, falls sie Gelegenheit bekommen sollte, irgendwie an Kenna heranzukommen.

Rilan fühlte, wie sich das Schiff unter ihr bewegte, als es von der Mole in das tiefere Wasser des Hafenbeckens glitt. Ihre Reise in das Unbekannte hatte begonnen.

Sie fühlte Kennas kalten Blick auf sich ruhen und suchte Zuflucht in königlicher Würde, was ihr im Augenblick schwer fiel. Sie wollte weinen, aber gleichzeitig unter dem feindlichen Blick keine Schwäche zeigen. Sie war sich sicher, dass er demonstrative Hilflosigkeit verachtete und nach Schwachpunkten Ausschau hielt. Er lauerte nur auf ein Jammern. Bestimmt würde er die ganze Mannschaft auf Tränen aufmerksam machen. Von einem Krüppel verspottet zu werden, mochte noch angehen. Sehr viel mehr konnte er ja nicht tun. Aber von einer ganzen Horde von Kerlen? Nein, danke.

Rilan konnte sich hinter einer kalten Maske verstecken. Sie wusste nicht, wie lange sie das durchhalten konnte. Sie hatte nichts getan, um diese Behandlung zu verdienen. Ja, sie war ein Faustpfand, und als solches musste er sie zumindest anständig behandeln. Je weniger Grund für Spott sie ihm gab, desto besser war es.

Sanft bewegte sich das schnelle Kriegsschiff auf den Wellen des Hafens von Gadon.

»Du darfst nach draußen sehen, wenn wir den Hafen verlassen«, sagte Kenna mit einem Mal. »Dein letzter Blick auf Gadon.«

»Was hast du mit mir vor?«

Er setzte sich mühsam auf und betrachtete sie kritisch von oben bis unten. »Ich habe noch keine Ahnung«, sagte er leichthin.

»Ich bin ein Mitglied der königlichen Familie. Ich bin die Regentin von Gadon! Du tust gut daran, mich mit Respekt zu behandeln.«

»Du bist eine verwöhnte Göre ohne die geringsten Manieren, Kleines. Deine Familie gibt es nicht mehr. Schon vergessen? Als wir deinen Vater tödlich verwundet auf dem Feld fanden, haben wir erwartet, dass die Stadt aufgibt. Dass dein Bruder ihm nicht das Wasser reichen konnte, wussten wir. Aber statt aufzugeben, hat er weitere gute Männer in eine Schlacht geworfen, die keinen Sinn mehr ergab.«

»Ihr habt ihn nicht gefunden, denn die Generale brachten ihn zurück in die Stadt.«

»Weil wir es ihnen erlaubten.« Er lachte leise und ungläubig. »Gadon gibt es nicht mehr. Es gehört jetzt ebenso zu Kivons Hav wie du. Verdammt, im Kronsaal hatte ich nicht das Gefühl, dass du so dumm bist. Machst du das absichtlich, um mich auf Abstand zu halten? Es wird dir nichts nützen, Kleines. Du befindest dich jetzt in meiner Gewalt, wie ich mich vor wenigen Tagen in deiner befunden habe. Was ich mit dir mache, hängt vielleicht auch von dir ab.«

»Vielleicht?«, schnappte sie atemlos.

»Wenn mir nichts eingefallen ist, bis wir Kivons Hav erreichen, wird mein Vater sich etwas ausdenken. Ich kann dir versichern, dass er vor Wut fast kotzen wird, wenn er mich in meinem derzeitigen Zustand sieht. Du könntest ja versuchen, ein wenig netter zu mir zu sein.«

Was das bedeuten sollte, konnte sie am belustigten Funkeln in seinen Augen ablesen. Angewidert verzog sie das Gesicht. »Eher sterbe ich!«

»Vielleicht wirst du das, wenn mein Vater deine Nützlichkeit anders einschätzt als ich«, versprach er mit einem Lächeln und seidenweicher Stimme. »Aber es hängt von dir ab, wie lange es dauern wird.«

»Ich verachte dich.«

»Deine Gefühle werden vollkommen erwidert, Kleines. Sieh hinaus. Deine letzte Chance. Das Schiff dreht.«

»Meine Leute werden mich befreien«, sagte sie beinahe liebenswürdig.

»Reden wir von den gleichen Leuten? Von denen, die meine Schiffe beladen haben? Von denen, die uns aus freien Stücken Proviant brachten und glücklich aussahen, weil der König tot ist? Sieh hinaus, Prinzessin.«

Sie tat es. Sie sah, wie Gadon sich immer weiter von ihr entfernte, bis sie vor lauter Tränen nichts mehr erkennen konnte. Die ganze Zeit blieb Kenna still und ließ sie in Ruhe. Kein spöttischer Kommentar, keine beißende Boshaftigkeit.

Der Blick über das Heck des Kriegsschiffes hinweg war Grausamkeit genug. Rilan wurde aus ihrer Heimat verschleppt von einem Mann, der sie mit jeder Faser seines Herzens hassen und verachten musste.

Sie hatte Kadar nicht aufgehalten, obwohl sie verstanden hatte, dass sein Verstand verwirrt war – was noch freundlich ausgedrückt war. Sein Befehl hatte sie entsetzt, und trotzdem hatte sie nichts getan. Sie hatte Kenna aus fehlgeleitetem Stolz und voller Empörung eine Lektion erteilen wollen. Und doch war sie auch über sich selbst entsetzt gewesen: Ein wilder, zorniger Teil von ihr hatte diese Bestrafung gewollt, weil sie beleidigt worden war.

Selbst wenn sie es nicht gewünscht hätte, welche Möglichkeit hätte sie gehabt, ihren Bruder aufzuhalten? Es war ein königlicher Befehl gewesen, und kein Mann in ganz Gadon hätte der Stimme einer Frau mehr Gewicht zugebilligt als der des Königs. So einfach war das! Falls Kenna meinte, Rilan deswegen bestrafen zu dürfen, so war er im Unrecht – setzte sich genauso ins Unrecht wie Kadar das seiner Meinung nach getan hatte.

 

Rilan hockte auf der Kiste, an die sie gekettet worden war, fror vor Angst und wusste, dass Kenna sie nicht einen wachen Moment lang aus den Augen ließ.

Diese Zeiten waren nie von langer Dauer, erkannte sie bald. Er versank in leichten Schlaf oder sogar in Ohnmachten. Er war nur ein Mensch, und Schmerzen und Erschöpfung forderten ihren Tribut. Ein gefallener Kriegsgott, der nun bewies, dass auch seine Kraft am Ende war.

Schon bald lernte Rilan die Anzeichen seiner Schwäche zu deuten. Sein Blick verschwamm, die Schärfe und Wachsamkeit verließen seine Gesichtszüge. Egal wie prächtig und unbesiegbar er ihr im Kronsaal vorgekommen war, er konnte dieses Bild nicht mehr aufrechterhalten.

Wenn sein Kopf zur Seite rollte, wusste sie nicht, ob er schlief, nur so tat oder tatsächlich ohne Bewusstsein war. Jedes Mal spürte sie stärker Sorge in sich aufsteigen.

Was, wenn der Bastard starb?

Das Verhalten seiner Leute hatte Rilan deutlich gemacht, dass nur Kenna zwischen ihr und Grausamkeiten stand, die sie sich nicht einmal vorzustellen wagte. Sie konnte kaum atmen und zwang sich, nicht daran zu denken.

Mit jedem Tag, den Kenna zur Untätigkeit verdammt war, gewann Rilan ein wenig Zeit, und vielleicht fand sich ein Ausweg. Je weiter ihre Bestrafung entfernt lag, desto bessere Aussichten hatte Rilan. Aber falls Kenna jetzt starb, war sie umgehend verloren.

Wie viele Männer befanden sich an Bord? Sie schloss mit einem Schauder die Augen, schlang die Arme um den Oberkörper und zitterte vor Angst. Und das würde erst der Anfang sein. Götter, sie wollte sterben – einfach nur sterben, ohne Angst vor Vergewaltigung durch eine Horde halbwilder Barbaren haben zu müssen, ohne Furcht vor deren Rache, weil Kenna starb.

Sie kämpfte ein erschrecktes Zusammenzucken nieder, als die Zeltplane zur Seite geschlagen wurde, und auch Kenna tauchte mit einem Ruck wieder aus seinem Dämmerzustand auf. Offenbar hatte er dieses Mal wirklich nur geschlafen. Er stöhnte leise, da er sich zu heftig bewegt hatte. Er war immer noch auffallend blass.

Ein Krieger kam in das Zelt, reichte Rilan eine Schüssel mit Suppe und einem Löffel, ging weiter zur Koje und stellte eine zweite Schüssel behutsam auf einer Kiste in Kennas Reichweite ab. Er nickte dem jungen Krieger zu und wollte sich wieder entfernen.

Kenna hielt ihn zurück. »Vela, hat einer der Männer in die Suppe der Frau gespuckt?«

»Nein, Kenna.«

Rilans Löffel verharrte auf halbem Weg zu ihrem Mund. Sie hatte entsetzlichen Hunger, aber jetzt wurde ihr beinahe übel. Zuerst hatte sie stolz jegliche Nahrung verweigern wollen, aber die Suppe duftete köstlich, und ihr Magen knurrte laut.

»Vela, hat einer der Männer etwas anderes Widerwärtiges in die Suppe der Frau getan?«

»Nein, Kenna!«

»Und wenn ich mit ihr tausche?«

Der Krieger sah kläglich aus und murmelte: »Ja, Kenna.« Er nahm Rilan, die Kenna fassungslos anstarrte, die Schüssel aus der Hand. »Ich hole frische Suppe.«

»Das will ich dir auch geraten haben, Vela. Meine Befehle waren eindeutig.«

Vela starrte Rilan für einen Moment an, dann nickte er gehorsam und verließ das Zelt wieder.

»Nimm meine Portion. Dann bist du auf der ganz sicheren Seite.«

Rilan schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte nichts von Kenna. Selbst dieser kurze Wortwechsel hatte ihr wieder in Erinnerung gerufen, wie hilflos sie war. Seine scheinbare Freundlichkeit verstärkte dieses Gefühl nur.

Vela kehrte zurück und reichte Rilan eine Schüssel, von der sie nur hoffen konnte, dass sie frische Suppe enthielt.

»Vela?«

»Niemand hat etwas getan, Kenna! Du weißt, dass wir deine Befehle befolgen.«

»Trotzdem hast du eben versucht, mich zu belügen.«

»Es tut mir leid.«

»Versuche das nie wieder. Ich entscheide, was mit ihr geschieht. Ich bin als Einziger dazu berechtigt, verstanden?«

»Ja, Kenna.« Dieses Mal sah der Krieger sie nicht an, als er das Zelt verließ.

»Womit habe ich diese Fürsorge verdient?«, fragte Rilan noch vor dem ersten Löffel.

»Wie ich sagte: Du gehörst mir. Ich alleine entscheide, was dir wann geschehen wird. Den Männern fällt es aus Loyalität schwer, das zu akzeptieren. Du kannst das nun essen. Es sei denn, du willst heldenhaft hungern, um mir zu zeigen, wie mutig und stark du bist.«

Sie starrte ihn einen Moment lang trotzig an.

»Es würde mir nicht imponieren«, sagte er mit seinem spöttischen Lächeln, »denn das wäre nur dumm.«

»Das denke ich auch«, schnappte Rilan und löffelte ihre Suppe. Diese war heiß, frisch und köstlich. Unter normalen Umständen hätte sie diese Mahlzeit sehr genossen.

 

Rilan lehnte sich an das raue Holz der Kiste und zog die Beine an. Sie schlang die Arme um diese und stützte die Stirn auf die Knie.

Unter ihr bewegte sich das Schiff immer weiter von ihrer Heimat fort, die nicht mehr ihr Zuhause war. Auf dem Bett lag Kenna, schwankend zwischen Ohnmachten, leichtem Schlaf und kurzen, klaren Momenten. Sie spürte seinen Blick, wenn er wach war und zu ihr herüber sah.

Die Angst nagte wie eine hungrige Ratte an ihr. Was, wenn er starb? Er konnte jeden Moment zu atmen aufhören.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange die Reise in sein Reich dauerte. Er konnte an Wundbrand verrecken, bevor sie die Fahrt noch halb geschafft hatten. Was dann?

Als es dämmerte, trat ein Krieger in das Zelt und entzündete Lampen. Kenna winkte ihn an sein Bett. »Schaff sie unter Deck.«

Mehr sagte er nicht, und sie hatte fast den Eindruck, dass er zu mehr auch keine Kraft besaß. Sie sah, dass seine Wangen ungesund gerötet waren. Seine Augen hatten einen Schimmer, der ihr nicht gefallen konnte. Fieber. Götter, ein Kerl wie ein junger Gott, und er fieberte!

Sie sah an der bulligen Gestalt vorbei zum Bett und erkannte das inzwischen beinahe vertraute spöttische Glitzern in Kennas Augen. Er versuchte heldenhaft, über seinen schlechten Zustand hinwegzutäuschen. Ob es ihn sehr ärgern würde, dass er Rilan nicht übertölpelte?

Während des vergangenen Tages hatte sie ihn ein oder zwei Mal stöhnen gehört. Seine Schmerzen waren schlimmer geworden. Er wollte Rilan für einige Zeit los sein. Für einen Moment erwog sie, sich seinem Befehl offen zu widersetzen, damit Kenna Kraft damit verschwendete, weiterhin den unbesiegbaren Kerl zu markieren. Aber das war dumm. Der Krieger konnte sie leicht aus dem Zelt zerren, und wenn Kenna das Alleinsein gebrauchen konnte, um vielleicht länger zu leben, dann sollte sie ihm diese Zeit geben.

Der Krieger löste die Kette von der Kiste und packte das Ende fest mit seiner riesigen Pranke. Jetzt erkannte Rilan ihn: Es war Area, der sie durch den Palast zum Hafen gezerrt hatte. Der Mann drehte sich noch einmal zum Bett um. »Ich sage dem Heiler Bescheid.«

Ein allzu schwaches Kopfschütteln war die Antwort, und Area zog Rilan mit sich nach draußen auf Deck.

Sie atmete tief durch. Die Luft im Zelt war trotz der zum Teil aufgerollten Segelbahnen stickig gewesen. Die frische Seeluft überfiel Rilan nahezu mit ihrer Klarheit.

Rilan fühlte Blicke, die sie auf sich zog. Sie spürte Hass und Verachtung, aber sie trug den Kopf hoch. Gadon war angegriffen worden, und natürlich hatte Gadon sich gewehrt. Was hatten die Roten erwartet? Dass das Heer sich sofort beim ersten Anzeichen eines fremden Segels ergab? Dass Rilans Vater Reich, Krone und Tochter umgehend und demütig übergab – womöglich mit Blumen und allen Schätzen des Reichs geschmückt?

Nein, Kenna hatte sich alles selbst zuzuschreiben. Er hatte gewusst, dass seine Krieger fast die Mauern überwunden hatten. Er hätte nicht den Helden spielen müssen. Er hätte auf Nahoms Fragen antworten können, selbst wenn er nur Lügen aufgetischt hätte. Aber er hatte sie alle verspottet und gelacht.

Er hatte gelacht. Eine zornige Gänsehaut überlief Rilan.

Area führte sie zu einer Ladeluke und zwang sie, die Leiter hinabzusteigen. Wie sie ihn hasste! Aber ihre Zeit würde kommen.

Der Laderaum war nicht sehr groß. Das Schiff war schmal und schnittig gebaut, da war nicht viel Platz unter Deck zu erwarten. Rilan war trotzdem schockiert über die Enge.

Ihre Wäschetruhe befand sich hier, musste seit der Abfahrt unter Deck stehen. Ringsum aufragende Ladung bot Rilan auf jeden Fall mehr Privatsphäre als das luftige Zelt.

Der Krieger kettete Rilan an der Kiste fest, verschwand dann, um kurz darauf mit zwei Eimern zurückzukehren. Einer war leer und sollte offensichtlich für ihre Notdurft dienen. Im anderen befand sich frisches Wasser. Area legte Seife und ein Handtuch in Reichweite, dann ging er erneut los und kehrte mit Decken und Fellen zurück.

Rilan thronte auf ihrer Kleiderkiste und sah dem Krieger wortlos und ohne die geringste Dankbarkeit oder gar Anerkennung zu.

Endlich war er weg, und sie konnte sich ungestört umsehen. Ihr kleines Reich lag zwischen Wasserfässern und Proviantkisten. Und wahrscheinlich war diese Ecke von Anfang an für sie vorgesehen gewesen, denn auf Kennas knappen Befehl war sie einfach unter Deck gebracht worden, ohne dass jemand vorher Umräumarbeiten hatte vornehmen müssen.

Gemütlich und ihrer Person angemessen war auch diese Unterbringung nicht, aber wenigstens fühlte Rilan sich nicht länger Kennas stechendem Blick ausgesetzt. Ihre Gedanken flogen zu dem jungen Krieger. Viel zu jung, um Kommandant zu sein, obwohl sie es schwierig fand, sein Alter zu schätzen. Die bartlosen Wangen gehörten einem Jungen. Der Schmerz hatte tiefe Linien in sein Gesicht gegraben, die noch nicht dagewesen waren, als er sie ausgelacht hatte. Sie hielt sich daran fest, dass er keinesfalls älter als sie sein konnte.

Aber Mitleid empfand sie nicht mit ihm. Kenna hatte bekommen, was er verdiente. Daran musste sie festhalten. Götter, ebenso gut hätte er in der Schlacht getötet oder noch schlimmer zum Krüppel geschlagen werden können. Er war nur ein Feind, mehr nicht. Nun war er ein Mann weniger, der ein fremdes Reich überfallen konnte.

Kenna hatte noch Glück, befand Rilan, denn in diesem Moment drängten die Bilder an die Oberfläche, wie ihr Vater ausgesehen hatte, als er in den Palast zurückgetragen worden war. Die Götter mochten wissen, was die Roten Krieger ihm angetan hatten. Nein, Kenna verdiente kein Mitleid. Nicht einen Funken davon. Nur durfte er nicht sterben!

Sie kauerte still auf ihrer Kiste und betete zu den Göttern, dass sie ihn nur so lange am Leben erhielten, bis Gadon ein Lösegeld für sie zahlte oder sie irgendwie fliehen oder sich selbst in ein Messer stürzen konnte. Sie wollte nicht sterben, aber ein rascher Tod von eigener Hand erschien ihr als erheblich angenehmer, als Kenna und vor allem seinen Männern weiterhin ausgeliefert zu sein. Noch hielt der junge Krieger in gewisser Weise seine Hand schützend über Rilan. Aber wenn er starb – dann wollte sie lieber tot sein!

Sie sah sich um, während sie nach einem Ausweg aus ihrer mehr als misslichen Lage suchte. Sie machte die Waffen der Roten Krieger aus: Klingenstäbe, Schwerter, Bögen – alles fein säuberlich in hölzernen Gestellen außerhalb ihrer Reichweite. Sie erkannte Ersatzsegel und große Körbe, deren Zweck sich ihr nicht erschloss. Aber egal was das alles war, sie konnte nichts davon erreichen. Sie saß hier fest, bis Kenna beschloss, sie wieder an Deck bringen zu lassen.

Rilan zitterte vor Wut. Sie war es nicht gewohnt, dass ihr Schicksal in fremden Händen lag. Selbst ihr Vater hatte es irgendwann aufgegeben, ihr einen Ehemann zu suchen, da sie jeden Bewerber unweigerlich abgewiesen und manchmal nur zollbreit von einer Brüskierung abgesehen hatte. So schön die hoffnungsvollen jungen Männer sie vielleicht gefunden hatten, so wichtig sie für Bündnisse vielleicht gewesen war – sie hatte keinen der Jungen respektieren können, und sie waren alle mit eingezogenem Schwanz aus Gadon abgereist.

Sie wusste nicht, ob ihr Vater aufgegeben hatte, weil keiner der Bewerber ihre Gunst fand – oder weil er als König von Gadon Angst bekam, sie könnte wirklich jemanden beleidigen. An seiner Zuneigung zu ihr hatte es nicht gelegen, das war ihr allzu gut bekannt. In seiner Welt und Auffassung von Prioritäten war sie stets an dritter Stelle nach Kadar und Gadon gekommen. Wenn sie überhaupt so weit oben rangierte. Trotzdem hatte sie ihren Vater geliebt und bewundert. Und tief in ihrem Herzen immer gewusst, dass Kadar ihm niemals das Wasser reichen konnte. Aber der Wahnsinn, den sie im Kronsaal hatte sehen müssen – den hatte sie niemals vorausahnen können.

So saß sie hier also: Eine Gefangene der Roten Krieger auf dem Weg nach Kivons Hav, und ihrer Jungfräulichkeit würde sich irgendeiner dieser Barbaren annehmen. Vielleicht Kenna, wenn er wieder gesund war. Sie spürte eine unvertraute Hitze in ihrem Bauch aufsteigen und straffte die Schultern: auf gar keinen Fall!

Sie sah wieder zu den Waffen.

Rilan biss die Zähne fest zusammen. Sie hatte keinerlei Ausbildung im Waffenhandwerk erhalten. Solche Dinge ziemten sich nicht für die Tochter eines Königs. Aber so schwer konnte es doch nicht sein, etwas Spitzes, Scharfes in einen Gegner zu rammen, oder? Selbst Bauernjungen und Handwerksburschen, mit denen vorher nur tagelang – wenn überhaupt – exerziert wurde, wurden in die Schlachten geschickt.

Rilan hatte dies von ihrem Zimmer oder aus einer Sänfte aus beobachten können: Hunderte von schwitzenden Jungen, die wild und meistens sehr ungelenk mit Waffen hantierten. Ein Wunder, wenn sie sich nicht schon auf dem Übungsplatz gegenseitig versehentlich umbrachten. Mit ein wenig Sinn und Verstand sollte doch auch eine Regentin einen Feind niederstechen können.

Wenn sie an die Waffen heranreichte.

Was sie nicht konnte.

Sehnsüchtig starrte sie auf Dolche, Klingenstäbe und andere Mordinstrumente, die alle außerhalb ihrer Reichweite lagen.

Die Vorstellung, nachts jedem schlafenden Krieger die Kehle durchzuschneiden, war verlockend und machte ihr nur beinahe Angst. Als Letztem Kenna die Dolchklinge in den Hals rammen, in geweitete hellgrüne Augen sehen, die entsetzt zu ihr hochstarrten, weil er niemals mit einem Angriff von ihrer Seite gerechnet hatte.

Sie hob ihren Arm und sah auf die Metallspange, die ihr Handgelenk umspannte. Die Kette bestand aus dicken, stabilen Gliedern. Aber der Schließmechanismus der Spange wirkte primitiv und grob. Alles, was Rilan jetzt brauchte, um zumindest zu versuchen, dieser Fessel zu entkommen, war etwas, das lang, spitzzulaufend und stabil war.

Rilan starrte die Spange an und blinzelte mehrfach, dann stand sie langsam auf und sah auf ihre Kleidertruhe hinab. Etwas Langes, Spitzzulaufendes, mit dem sie auch ein wenig Hebelwirkung ausüben konnte …

Mit klopfendem Herzen kniete sie vor der Truhe nieder, öffnete den Verschluss und klappte den Deckel auf. Sie erinnerte sich kaum noch, was sie unter Areas Aufsicht alles eingepackt hatte. Teure Kleider, daran entsann sie sich, Seife, Parfum, Schleier und Hüte, Schuhe, Strümpfe, Wäsche. Hüte!

Sie schob Seidenpapier und Schals beiseite, stieß auf den kleinen Deckelkorb, in dem sich ihre Duftwässer befanden, schob diesen ungeduldig beiseite und zerrte grob einen riesigen Strohhut aus der untersten Ecke der Truhe. Weder hatte ihm das Gewicht der auf ihm lastenden Wäsche gut getan, noch hatte die Behandlung ihrer Truhe durch die Roten Krieger seine Form verbessert.

Vorsichtig tastete sie die ausladende Kopfbedeckung ab und atmete tief ein, als sie die Nadel fand. Die Krieger hatten sie bei der Durchsuchung ihrer Gemächer übersehen. Sie hatten nach Waffen und womöglich Gift gesucht, den Hut aber nicht als Versteck angesehen. Götter!

Rilans Knie wurden weich, und sie sank auf die Fersen nieder, während sie die Hutnadel mit beiden Händen umklammerte. Es war keine wirkliche Waffe, aber immerhin ein Stab aus Metall, dessen Durchmesser leicht in die Öffnung des Schlosses passte.

Der Blick schnellte wieder zu den Waffen. Unmöglich, dass sie sich zwei Klingenstäbe schnappte und als messerschwingende Kriegerin auf Deck sprang, um alle Roten umzubringen. Selbst wenn sie das gekonnt hätte, wäre es selten dämlich, das Schiff seiner Mannschaft zu berauben. Außerdem waren zusammen mit der Kranich vier weitere Schiffe mit Verletzten ausgelaufen.

Rilan benötigte einen Punkt, an dem sie einen Hebel ansetzen konnte, um die Kriegerhorde zur Aufgabe zu zwingen, damit die Männer sie zurück nach Gadon brachten. Dort waren immer noch genug Soldaten, und wenn Rilan nur das passende Druckmittel in Händen hielt, dann konnte Gadon sich von den Roten Kriegern befreien. Sie wusste ganz genau, an wessen Kehle sie ein Messer legen musste, um genau diese Ziele zu erreichen.

Sie hatte lange genug im Zelt in der Nähe von Kennas Bett gesessen, um ein Gefühl für die Fürsorge seiner Krieger zu bekommen. Es war ständig jemand in der Nähe, oft sah ein Krieger nach ihm, brachte Wasser, Essen, beugte sich lauschend über ihn, wenn er schlief.

Der Weg von der Ladeluke bis zum Zelt betrug nicht mehr als ein paar Schritte. Aber das erschien angesichts einer ganzen Schiffsladung Roter Krieger viel zu weit. Niemand würde sie über das Deck spazieren lassen. So hatte sie keine Möglichkeit, an ihr Druckmittel heranzukommen.

Sie betrachtete die Nadel und danach die Eisenklammer gedankenverloren. Rilan beschloss, dass alles besser war, als dumm herumzusitzen und darauf zu warten, wofür Kenna sie denn nun als nützlich erachtete. Sie konnte sich diverse Sachen vorstellen, und sie war mit nicht einer einzigen einverstanden.

Sie betrachtete den Schließmechanismus der Handschelle. So wenig sie zu kämpfen gelernt hatte, so wenig war sie in der Kunst des Öffnens von Schlössern unterrichtet worden – außer normalen Türschlössern, für die sie selbstverständlich einen Schlüssel besessen hatte. Aber das konnte doch eine durchschnittlich intelligente Frau nicht vor unlösbare Probleme stellen, sagte sie sich. Ein Schlüssel war dazu da, etwas im Schloss zu bewegen, sodass sich dieses wunschgemäß öffnete. Mit ihrer Haarnadel musste sie nun im Schloss diese Mechanismen bewegen, bis die Klammer das Handgelenk freigab.

Rilan setzte sich wieder auf ihre Wäschetruhe und rückte dicht an die Bordwand, wo eine Laterne hing und gelbes Licht spendete. Ein Blick in die Öffnung des Schlosses offenbarte möglicherweise so etwas wie einen metallischen Riegel darin. Rilan schob die Hutnadel in die Öffnung, drückte gegen den inneren Sperrmechanismus und wurde fast sofort durch ein leises Klicken belohnt. Fassungslos starrte Rilan auf ihre Fessel, dann löste sie das metallene Armband von ihrem Handgelenk und atmete schaudernd tief ein. Jetzt war sie frei und musste sich überlegen, wie es weiterging, was sie jetzt tatsächlich mit dieser neugewonnenen Freiheit anstellen wollte.

War es normal, dass ein Gefangener so leicht seinen Ketten entkam? Nicht jeder besaß eine Hutnadel, tröstete sie sich grinsend und betrachtete das Schloss zufrieden. Sie konnte die Metallspange auch unbesorgt wieder schließen, sodass ihre Wächter ahnungslos blieben.

Aber zuerst wollte sie Maßnahmen zu ihrem Schutz ergreifen. Die Roten hielten den Inhalt der Wäschetruhe für harmlos, nachdem sie Rilans Gemächer durchsucht und obendrein Area ihr beim Packen zugesehen hatte. Also konnte Rilan getrost jegliche Waffe unter ihrer Wäsche verstecken. Götter, sie konnte Dolche und ähnliche Dinge sogar offen zuoberst auf ihre Kleidung legen! Niemand würde in die Truhe sehen, dessen war sie sich sicher.

Sie fühlte sich sofort besser, nicht mehr vollkommen ausgeliefert. Sie spähte zur Leiter, dann sprang sie auf, raffte ihre umfangreichen Röcke und rannte zum Waffenlager der Roten Krieger.

Die Klingenstäbe waren viel zu groß, um sie in der Truhe zu verstecken, aber Rilan hob trotzdem eine dieser Waffen an, fand sie furchtbar schwer und unhandlich, trug sie zu ihrem Winkel und legte sie hinter der Kiste ab. Sie trat einige Schritte zurück, dann wieder vor und drapierte den ruinierten Hut über eine der beiden Messerspitzen. Jetzt war die Waffe so gut wie unsichtbar.

Wieder kehrte Rilan zum Waffenlager zurück und suchte sich zwei Dolche aus der reichen Auswahl. Eine dieser Stichwaffen legte sie in die Truhe, schloss den Deckel und schob sich das zweite, erheblich kleinere Messer in den Ausschnitt.

Das kühle Metall der Dolchscheide jagte ihr eine Gänsehaut über Brust und Bauch, aber das beruhigende Gewicht der Waffe, das nun gegen ihr Brustbein drückte, sprach von ein wenig Sicherheit und dem Ende der totalen Ungewissheit. Wenn die Lage vollkommen eskalierte, konnte sie sich nun auch notfalls selbst töten.

Ihr Schicksal lag wieder in ihrer eigenen Hand, und so kettete sie sich erneut an, versteckte die Hutnadel unter ihren Decken, legte sich hin und schlief vor totaler Erschöpfung ein.

3.

Sturmangriff

 

Rilan wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie wieder erwachte. Von draußen drang kein Lichtschimmer zu ihr, nur ihre Laterne spendete ein wenig Helligkeit.

War es Tag, immer noch oder schon wieder Nacht? Rilan wusste es nicht. Aber neben ihrem Lager hatte jemand – ohne sie zu wecken – einen Wasserkrug, Brot und eine Schüssel mit Eintopf abgestellt.

Sie richtete sich vorsichtig auf, blickte sichernd um sich, bevor sie einen Finger in die Suppe steckte: Kalt.

Dann sah sie nach dem Klingenstab, der immer noch versteckt zwischen Truhe und Bordwand lag. Rilan war sich sicher, dass die Waffe entfernt worden wäre, falls ein Krieger sie entdeckt hätte.

Gut.

Sie öffnete die Truhe: Der Dolch lag auch noch da.

Sie fröstelte. Es war erheblich kälter geworden. Hieß das, dass es Nacht war? Dann entsann sie sich an Kennas Worte: Der Vulkan war aktiv, die Kriegsschiffe mussten die Nordroute nehmen.

Der Vulkan! Bislang hatte er wohl Gadons Schutz vor Angriffen aus dem Westen bedeutet. Stetig stieß er Lava und Asche aus, die vom Wind weit über das Meer getragen wurde. Ein grauer Wall gegen alle westlichen Reiche. Doch die letzten Monate war der Vulkan allzu friedlich gewesen, und diese Phase der Ruhe hatte offenkundig den Roten Kriegern ausgereicht, ihren Angriff auf Gadon zu planen und in die Tat umzusetzen.

Nordroute, was bedeutete das für Rilan? Sie wusste, dass nördlich von Gadon das Festland lag, an dessen südlicher Küste der Vulkan seit Jahrzehnten für Frieden sorgte.

Plante Kenna nun tatsächlich, das große Landmassiv zu umrunden, um Kivons Hav zu erreichen? Dann musste die Lage der Roten Krieger wirklich verzweifelt erscheinen, schloss Rilan. Denn wäre die Nordroute so leicht zu meistern, hätten die Roten Krieger Gadon schon vor Jahren angegriffen.

Wer auch immer nun die Schiffe der Roten Krieger am Strand zerstörte und Gadons Speicher plünderte, Rilan gewann langsam die Überzeugung, dass dieser Gegner den Roten Kriegern überlegen war. Nur das erklärte Kennas Flucht über den langen Weg um das Festland.

Der Seegang hatte zugenommen, bemerkte sie. Das Schiff bewegte sich deutlich stärker in schwerer See. Die Ladung knarrte in ihren Seilen, und Rilan richtete sich lauschend auf. Sie hörte die Wellen gegen die Bordwand schlagen, vernahm über sich Rufe und eilige Schritte.

Waren sie in eine Sturmfront gesegelt? Gadons Flotte hatte niemals den Weg nach Norden eingeschlagen. Die See dort war wild und unberechenbar, hieß es. Es gab sogar Gerüchte über Riffe und Eisberge. Das war ein zusätzlicher Grund dafür, warum selbst die Roten Krieger diesen Weg niemals genommen hatten, um die Inselreiche östlich der vulkanischen Barriere anzugreifen.

Der Bug des Schiffes hob und hob sich. Rilan klammerte sich an der Truhe fest. Der Herzschlag beschleunigte sich. Einen Moment schien das Schiff still zu stehen, wie auf einer gefrorenen Woge, dann stürzte es vorwärts in das Wellental. Rilan schloss die Augen. Ihr Magen war ganz bestimmt oben auf dem Kamm geblieben.

Wasser schlug auf dem Deck über ihr zusammen. Salzige Tropfen fanden ihren Weg bis in Rilans Winkel. Die Temperatur fiel beinahe schmerzhaft.

Ungebeten drängten sich Gedanken an das Zelt auf Deck in Rilans Kopf. Sie atmete erschrocken tief ein: Kenna! Wenn er über Bord gespült wurde, verlor sie ihr einziges Druckmittel. So wie sich alle um ihn kümmerten, war er wichtig. Da er schwer verwundet und so gut wie bewegungsunfähig war, war seine Kehle die einzige, an die sie ihren Dolch legen konnte. Sie gab sich keinen falschen Vorstellungen hin, dass sie womöglich gegen einen gesunden Krieger dieser hochgewachsenen Rasse auch nur den Hauch einer Erfolgsaussicht hätte.

Die Ladeluke schlug auf und riss den Gedankengang in Fetzen. Wasser stürzte herunter, und eine eisige Windböe blies bis zu Rilan. Sie zerrte eine Decke über ihre Beine, umklammerte die Hutnadel mit eiskalten Fingern, beugte sich vor und blickte zur Leiter, was die Roten Krieger da taten.

Sie atmete tief durch, als sie sah, dass Kisten unter Deck geschafft wurden, die sie vor Stunden – Tagen? – im Zelt gesehen hatte. Ein Krieger folgte mit Decken und Fellen, und kalte Entschlossenheit flutete Rilans Eingeweide. Ihre Muskeln spannten sich unwillkürlich an.

Das war doch zu schön, um wahr zu sein!

Zu viert brachten sie Kenna die Leiter herab, und die Männer behandelten ihn wie ein rohes Ei. Es nutzte nichts: Er war kreidebleich und keuchte vor Schmerz und Anstrengung. Die hellen Augen waren geweitet, frischer Schweiß perlte auf seinen Wangen. Er hielt sich an seinen Trägern fest, und Rilan atmete aus. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah, welches Geschenk die Roten Krieger ihr da unwissentlich direkt vor die Nase setzten.

Direkt am Mast – außerhalb ihrer Reichweite, wenn sie nicht die Kette nach Belieben öffnen könnte – breiteten sie Decken und Felle aus und betteten Kenna darauf, während das Schiff im Sturm schlingerte und sich wie ein bockendes Pferd über Wellen kämpfte.

Sie konnte nicht den Blick von Kenna nehmen: Kalkweiß, sodass die hellgrünen Augen unheilvoll wie Smaragde in seinem Gesicht funkelten und sein dunkelrotes Haar wie geronnenes Blut leuchtete. Er atmete mühsam und versuchte, eine erträgliche Lage zu finden. Leicht konnte ihm das nicht fallen, dachte Rilan gehässig. Das Bett ihres Vaters war bestimmt sehr viel bequemer gewesen.

Seine Knochen waren geschient, aber so wie er nach Atem rang, taten sie ihm entsetzlich weh.

Sein Schwachpunkt – ihr Vorteil.

Bevor Kadars letzter Befehl vollstreckt worden war, hätte Rilan keinerlei Handhabe gegen Kenna gehabt. Doch jetzt war er alles, was sie brauchte, um eine ganze Schiffsbesatzung zu Gehorsam zu zwingen.

Sie musste nur den richtigen Zeitpunkt abwarten.

 

Die nächsten Stunden hörte Rilan lediglich Kennas mühsame Atemzüge, über sich auf dem Deck die Schritte und das Geschrei der Seeleute. Ihr war kalt, alles war nass und ungemütlich, und sie wartete auf ihre Gelegenheit.

Es war Unsinn, befand sie, während sie sich lautlos von der Kette befreite, Kenna jetzt als Geisel zu nehmen. Sie konnte nicht stundenlang mit einem Messer an seiner Kehle ausharren, bis einer der Krieger herabstieg, um nach ihm zu sehen. Angeschlagen wie der junge Krieger war, würde er sich trotz allem zu wehren versuchen. Und da er ein verdammt großes, muskelschweres Vieh war, wollte Rilan kein stundenlanges Risiko eingehen.

»Du denkst, dass ich nützlich bin«, sagte sie schließlich, als sie das lastende Schweigen nicht länger ertrug und irgendeine Ablenkung vom Donnern der Wellen haben musste.

»Ob du das wirklich bist, werde ich noch herausfinden müssen«, kam die prompte Antwort. Kenna drehte leicht den Kopf und sah sie an. Selbst im Halbdunkel sah sie die Augen im weißen Gesicht funkeln.

»Ich hasse dich!«

»Und dieses Gefühl wird immer noch voll und ganz erwidert, Königstochter.«

»Du bist ein primitives Geschöpf! Dein Hass ist erbärmlich. Wenn es dir nur um Rache geht, hättest du die schon lange haben können«, schnappte Rilan zornig.

»Bist du wirklich so scharf darauf, für fünfzig Mann oder mehr die Beine breit zu machen, Kleines?«

Sie rang nach Luft, fühlte sich in einem Atemzug heiß, als wäre sie mit kochendem Öl gefüllt, im nächsten Atemzug kalt, so kalt, dass ihre Zähne zu klappern begannen.

»Kein Wunder, dass sie selbst deinem irren Bruder gestattet haben, mit der Krone herumzurennen. Dich konnten sie ja wegen deiner Blödheit nicht einen Herzschlag lang als Regentin dulden. Wie hast du deine Jahre bislang verbracht? In Watte verpackt? Bist du auch taub und blind, Rilan? Verstehst du überhaupt etwas?«

Sie sprang auf, rote Flecken auf den Wangen. Ja, Kadar war gekrönt worden, während man sie, die erheblich besser für Gadon hätte sorgen können, übergangen hatte. Frauen konnten nichts erben – schon gar nicht einen Thron, eine Krone und die Verantwortung für ein Königreich. Aber dies von Kenna hören zu müssen, der überhaupt keine Ahnung hatte, der sie nicht kannte und nichts über Gadon wusste, machte Rilan zornig. Sein Tonfall belegte deutlich, dass ihre Gefühle, Antworten und vor allem Reaktionen überhaupt nicht von Belang waren. Die grünen Augen verspotteten sie.

Sie hatte seinen wachen Blick zu ihrem Handgelenk flackern sehen. Er wusste, dass sie nicht länger angekettet war, und er zeigte nicht das geringste Erstaunen oder Erschrecken.

Selbst in dieser Lage, in der er ihr hilflos ausgeliefert war, lachte Kenna immer noch über sie. War er zu dumm, um zu verstehen, dass er Rilan bis zum Äußersten trieb? Sie war verzweifelt und alles zu tun bereit.

Er sah zu ihr auf, das süffisante, beharrliche Lächeln im Gesicht, und sie trat voller Wucht in seine Rippen, ehe seine Hand vorschoss, ihren Knöchel umspannte und sie mit einem brutalen Ruck zu Boden riss.

Sie schrie auf, fing ihren Fall halbwegs ab, und da war er schon über ihr, eine Hand in die Stofffülle ihres Kleides gekrallt, um sich daran weiter hochzuziehen. Die andere Hand umspannte Rilans Hals. Der Bastard ließ sie spüren, wie viel Kraft er trotz seiner Verletzungen besaß. Rilan schlug nach seinem Gesicht, bevor der Druck seiner Finger zu schmerzhaft wurde. Da krallte sie ihre langen Fingernägel in seine Hand und versuchte, diese von ihrem Hals zu zerren.

Kennas Gesicht war ihrem so nahe, dass sie sogar die winzigen Sommersprossen auf seinen hohen Wangenknochen sehen konnte, wo Schweiß die schwarze Kriegsbemalung zum Teil verwischt hatte. Rilan sah den Hass in seinen Augen lodern. Begriff, dass eine Ohnmacht das Schlimmste war, was ihr jetzt passieren konnte.

Sein Oberkörper lag auf ihrem, und er war schwer. Endlich lockerte Kenna seinen stählernen Griff um ihre Kehle, und Rilan schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Mach das nie wieder, du verdammtes Miststück! Warte, bis meine Knochen wieder verheilt sind, dann wirst du sehen, was ich dir antun kann!«

»Wage es nicht, mir damit zu drohen, du Vieh!«, würgte Rilan hervor.

»Wer hat mir damit gedroht, als ich mich in deiner Gewalt befand? Wer wollte mir ein ganzes Rudel von Kerlen auf den Hals hetzen? Du solltest dir selbst zuhören, Kleines. Vielleicht sollte ich dich wirklich hier und jetzt erwürgen. Damit würde ich mir dein dummes Gezänk ersparen.«

»Dann tu es doch!«

»Ja, das wäre dir lieber, als meine Männer unter deine Röcke zu lassen, nicht wahr? Nein, Rilan. So ein Dreckstück wie dich will ich nicht unter mir haben. Wenn die Zeit kommt, wirst du wirst dafür bezahlen, dass du einen Krüppel aus mir gemacht hast.«

Er zog die Hand von ihrem Hals zurück und stemmte sich halb hoch, um Rilan freizugeben, als wäre ihm ihre Nähe zuwider.

Sie sprang auf, so schnell es eben ging, verhedderte sich fast in ihren Röcken. Mit einem Satz war sie bei ihm und trat voller Wut und Hass gegen seinen geschienten Unterschenkel. Sie sah seine vor Entsetzen geweiteten Augen, aber er kam nicht an Rilan heran. Als er schrie, rannte sie zurück in ihre Ecke. Dort kauerte sie sich hin und zog die Beine an. Zitternd presste Rilan das tränennasse, kochendheiße Gesicht gegen ihre Oberschenkel und wünschte sich, dass Kenna sie wirklich getötet hätte, als er die Gelegenheit dazu hatte.

Seine Atemzüge klangen entsetzlich. Sie wollte, dass er endlich starb. Sie wollte das nicht mehr hören. Jeder Atemzug ein leises Stöhnen, fast ein Schluchzen. Jedes Luftholen eine schmerzhafte Anstrengung. Eine Anklage. Rilan ekelte sich vor sich selbst.

Ihre erste Attacke war noch halbwegs vom Verstand diktiert gewesen. In ihr hatte sie noch menschliche Rücksicht walten lassen. Aber nachdem er sich auf Rilan geworfen hatte und sie seine Macht und Kraft hatte spüren lassen, war Rilan blindwütig auf ihn zugeflogen. Sie hatte zugetreten, bevor ihr Verstand und ihre Würde ihr das untersagen konnten. Sie schämte sich. Das war einer Königstochter von Gadon nicht würdig gewesen. Damit hatte sie sich auf eine Stufe mit den Roten Kriegern gestellt.

Das Schiff schien sich unter dem Ansturm einer Welle zusammenzukrümmen, kippte zur Seite, kam triefend und unsicher wieder in eine halbwegs normale Lage, und Rilan wurde hart gegen die Bordwand geschleudert.

Kenna stieß einen erstickten Schrei aus, als er zur Seite geworfen wurde. Fast glaubte Rilan, dass sie das unheilvolle Knirschen hörte, als seine gebrochenen Knochenenden aneinander rieben.

Entschlossen zerrte sie den Klingenstab aus dessen Versteck. Sobald sie eine Bewegung wahrnahm, die sich der Luke näherte, wollte sie zu Kenna rennen. Dieses Mal würde er sie nicht zu packen bekommen, schwor sie sich.

Egal, wie widerwärtig sie sich nur vor wenigen Augenblicken noch gefühlt hatte, sie war die Regentin Gadons. Es lag an ihr, sich um ihr Reich zu kümmern, und sie wollte dieser Pflicht gerecht werden. Noch wollte sie Kenna nicht töten. Er sollte bei lebendigem Leib auf dem Vorplatz des Palastes brennen, sobald Gadon befreit und gegen weitere Angriffe gesichert war.

Sie umklammerte den kalten Holzschaft der Waffe, die für eine Frau viel zu groß und unhandlich war. Aber Rilan war zu allem entschlossen. Der Klingenstab verlieh ihr einen wichtigen Vorteil: Abstand.

Wenn die Klinge an Kennas Kehle lag, stand Rilan trotzdem weit außerhalb der Reichweite des jungen Kriegers.

Ein heftiger Stoß traf das Schiff. Holz barst, Ladung riss sich los, krachte durch den engen Laderaum, donnerte mit ohrenbetäubendem Lärm gegen die andere Bordwand.

Rilan hielt den Klingenstab fest, rutschte hilflos zusammen mit Kisten und Fässern quer durch das Schiff und kam mit einer Wucht, die alle Luft aus ihr presste, gegen weitere Ladung zu liegen. Sie keuchte, Flecken tanzten vor ihren Augen, und über dem Krachen und Donnern hörte sie schrilles Geschrei, bevor ein weiterer Aufprall das Schiff wirklich auf die Seite zu kippen drohte.

Kenna! Seine Krieger konnten jeden Augenblick unter Deck kommen, um zu sehen, wie er dies überstanden hatte.

Sie rappelte sich auf, nutzte für einen Moment den Klingenstab wie einen Wanderstock, hieb die scharfe Stahlspitze in die Planken unter sich und erkannte alarmiert, dass Wasser ihre Knöchel umspülte, und dass das, was sie für den Boden gehalten hatte, in Wahrheit die Bordwand war.

Das Schiff drohte, im tosenden Meer vollends zu kentern.

Götter, was hatte sie getroffen? Es war eine kleine Flotte ausgelaufen, das wusste sie. Hatte im Sturm eines der anderen Schiffe die Kranich gerammt? Es gab eigentlich keine andere Erklärung.

Rilans Röcke sogen sich mit Wasser voll, aber sie eilte zum Mast, wo Kenna zuletzt gelegen hatte. Der Frachtraum füllte sich mit eiskaltem Wasser. Es gurgelte und blubberte überall, und beinahe hätte sie über diesen Geräuschen Kennas keuchende Atemzüge überhört, die im Augenblick das Einzige waren, das ihr den Weg wies.

Sie stürzte hart zu Boden – dieses Mal wirklich der Boden – als das Schiff aus der beinahe vollendeten Seitenlage zurückrollte. Wasser schwappte in einer dunklen Welle durch das Innere des Schiffsrumpfes, und Rilan hielt schweratmend und angestrengt auf ihr Ziel zu.

Kenna riss den Kopf hoch. Vielleicht hatte er sie gehört, vielleicht die Bewegung im Wasser gespürt. Es war einerlei, denn entkommen konnte er ihr nicht. Zu sehr hatten ihre Tritte weiter dazu beigetragen, ihn bewegungsunfähig zu machen.

Hellgrüne Augen, in deren Tiefen Schmerz und aufkeimende Panik lagen, starrten zu ihr hoch. »Rühr mich nicht an! Weib, ich schwöre, ich bringe dich um. Leg die Waffe weg!«

Aber er musste doch genau wissen, dass er ihre Geisel sein würde, dass er keine Möglichkeit hatte, ihr in dem halb gefluteten, mit losgerissener Ladung gefüllten Schiffsrumpf zu entkommen, dass sie schneller war als er.

Ihre Röcke wogen schwer vom kalten Wasser, aber trotzdem kam Rilan dank brodelnder Wut im Bauch rasch vorwärts. Sie keuchte und kämpfte um Geschwindigkeit. Denn Kenna war keinesfalls so hilflos und bewegungsunfähig, wie sie gehofft hatte. Seine Muskelmassen – und wohl auch seine Angst vor weiteren Schmerzen – ermöglichten ihm eine Flucht, und Rilan folgte ihm keuchend, als sie zornig erkennen musste, dass er durchaus Distanz zwischen sie bringen konnte!

Er kroch rückwärts von ihr weg, stemmte die Ellenbogen gegen den Plankenboden und zog sich so zurück. Sein Atem kam in schmerzhaften, raschen Stößen, die Augen waren geweitet, und dann stieß er mit den Schultern und dem Hinterkopf gegen den Mast, stieß einen halblauten Schrei aus, der nach Wut und Verzweiflung klang, versuchte, sich auf die Seite herumzuwälzen, keuchte vor Schmerz, und Rilan war bei ihm.

»Ich bringe dich um!«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und erstarrte, hielt sogar den Atem an, als Rilan einen Fuß auf ein geschientes Schienbein stellte.

Jeder Muskel, jede Ader an Kennas Hals standen hervor, seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er lag ganz still unter ihr, starrte zu ihr herauf. Der Fuß auf seinem Bein bedeutete eine Drohung, aber noch legte Rilan kein Gewicht darauf.

Kenna holte wieder Atem, den Blick der hellen Augen auf ihr Gesicht geheftet. Er musste begreifen, dass er von ihr keine Gnade zu erwarten hatte. Seine Knochen waren gerichtet worden, seine Beine geschient, und ganz offenbar hatte der Knochenflicker sein Handwerk verstanden, denn Kenna war doch erstaunlich rasch vor Rilan weggekrochen, obwohl er niemals wirklich hätte entkommen können.

Rilan hatte ihn zu einem Krüppel machen wollen, aber seine Knochen würden heilen. Vielleicht würde er ein leichtes Hinken oder Schmerzen bei Wetterwechseln nachbehalten, aber das war auch alles. Er würde weiter töten, Kriege führen und Städte überfallen, wenn sie sein Dasein nicht beendete oder ihn für den Rest seines Lebens in Gadons Kerkern vermodern ließ. Der Scheiterhaufen erschien ihr immer reizvoller. Fetter, schwarzer Rauch würde von Gadons Befreiung künden, wenn Kenna als Geisel nicht mehr gebraucht wurde.

Sie blickte auf ihn hinab und sah nur, was jeder Frau gefallen musste: Körperliche Vollkommenheit war seit jeher etwas, das Männer und Frauen anstrebten, und Kenna hatte es erreicht. So ehrlich musste sie sein – ihm gegenüber und vor allem vor sich selbst. Denn sie durfte keine Schwäche zeigen, wenn sie seinen Tod befahl oder im ungünstigsten Fall selbst die Klinge in seine Kehle jagen musste. Er kannte selbst keinerlei Gewissensbisse. Seine kalte Überheblichkeit und vor allem sein spöttisches Lachen hatten Rilan gezeigt, was für ein Monster er war. Er war ihr Feind und würde es immer bleiben.

Und wenn es das Letzte war, das sie auf dieser Welt tat: Sie würde ihn abstechen wie das Vieh, das er war.

Aber nicht jetzt, nicht hier. Er befand sich in ihrer Gewalt, und sie ließ ihn das spüren, wie er es sie vor nicht allzu langer Zeit hatte spüren lassen, als er seine kraftvollen Finger um ihren Hals gespannt hatte. Jetzt standen die Vorzeichen vertauscht. Kenna atmete flach und hastig, rührte sich nicht im Geringsten, sah nur zu ihr auf und hielt still. Wissend, dass sie wirklich bereit war, ihr volles Gewicht auf seinen Unterschenkel zu stützen.

Ein Schauder überlief den jungen Krieger, als sie den Klingenstab mühsam herumschwingen ließ – sorgfältig darauf bedacht, Kenna keine Möglichkeit zu geben, danach zu greifen. Er lag ganz still da und starrte sie nur an. Sie sagte sich, dass der Eindruck täuschte.

Das Vieh verging keinesfalls vor Angst, und Mitleid verdiente es schon gar nicht. Jeder Zoll seiner muskulösen, allzu hochgewachsenen Gestalt sprach von Gewalt. Das hatte Rilan im Kronsaal gedacht, und auch jetzt so dicht neben Kenna, dem Blick der glitzernden Augen voll ausgesetzt, dachte sie es wieder. Jeder seiner Atemzüge, jeder seiner Herzschläge waren eine Kriegserklärung und die Wiederholung seiner Drohung, sie umzubringen, wenn sie ihn nur anrührte. Die Welt wäre friedlicher und ungefährlicher, wenn er nicht mehr in ihr war.

Die Ladeluke wurde aufgerissen, schwere Männer stürzten nahezu in den Frachtraum, und Rilan stieß den Klingenstab vorwärts, bis er Kennas Kehle beinahe berührte. Sie legte ein wenig Gewicht in ihren rechten Fuß, hörte zufrieden, wie Kenna nach Atem rang, und holte selbst tief Luft. Die Krieger blieben stehen, fielen fast übereinander, da die beiden ersten Männer zuerst erkannten, dass sie zu spät kamen, um ihren Anführer zu schützen.

Rilan lächelte. Es fühlte sich kalt und fremd auf ihrem Gesicht an. Sie hob den Kopf, unterbrach den Blickkontakt zu Kenna, der sie – anders konnte sie es nicht nennen – wie ein Kaninchen im Angesicht einer Schlange anstarrte.

»Wir kehren um nach Gadon«, sagte sie ruhig.

»Wir werden angegriffen! Kenna, wir werden angegriffen.«

»Er hat hier nicht mehr das Sagen. Das habe ich. Wir kehren um.«

Sie hatte recht gehabt. Sie standen wie angenagelt da und glotzten hilflos. Was auch immer Kenna war, sie wagten nicht, sein Leben aufs Spiel zu setzen.

»Götter, Weib, du verstehst nicht!«, brach es aus einem der Krieger hervor, und im gleichen Augenblick ging ein Ruck durch den Klingenstab. Rilan stieß einen erschrockenen Schrei aus. Sie hätte Kenna nicht einen Wimpernschlag lang aus den Augen lassen dürfen!

Sie warf sich mit ihrem vollen Gewicht auf ihren rechten Fuß, aber Kenna hatte den Klingenstab bereits in beiden Händen und versetzte ihr einen solchen Hieb mit dem hölzernen Schaft, dass sie zur Seite flog, bevor Kenna viel von ihrem Angriff hatte spüren können.

Sie prallte gegen eine Kiste, schüttelte den Kopf und sprang wieder auf die Beine, bevor die Krieger an ihrem gefallenen Anführer vorbei und bei ihr waren.

Kenna blass zu nennen, war eine Untertreibung. Er sah aus wie seine eigene Leiche und schien am Rande einer Ohnmacht zu schwanken. Rilan hatte ihn nicht voll erwischt, aber ihm immerhin so starke Schmerzen zugefügt, dass er sich garantiert wünschte, das Bewusstsein zu verlieren.

Jetzt lag der Klingenstab in seiner Hand, und obwohl die Spitze zitterte, richtete Kenna die Waffe gegen Rilan. Sie blieb stehen und sah über den Stab hinweg diese flammend grünen Augen.

Schweiß tropfte aus seinen langen Haaren. Seine Atmung klang angestrengt und nach Schmerzen, aber die grünen Iriden waren von einem unheimlichen Feuer erfüllt. »Bleib verdammt noch einmal, wo du bist! Ich kann jetzt kein hysterisches Weib gebrauchen, das uns ständig in die Quere kommt. Area, wer greift an? Wie sind die Kräfteverhältnisse?«

»Die gleichen wie in Gadon! Kenna, die anderen Schiffe sind weg! Vom Sturm von uns getrennt oder versenkt – ich weiß es nicht. Sie haben uns gerammt, aber der Wind hat sie wieder abgetrieben.«

Rilan stand zitternd vor Kälte und Wut da und starrte den Klingenstab an, der immer noch drohend auf ihre Brust zielte.

Kenna hatte den Blick nicht einen Moment von Rilans Gesicht abgewandt. Sie wusste, dass sie niemals schnell genug sein konnte, ihm die Waffe zu entreißen oder die Klinge auch nur abzulenken, um wieder dicht an ihn heran zu kommen. Außerdem war es Unsinn, wenn sie angegriffen wurden. Es konnten keine Befreier aus Gadon sein, denn die Roten hatten Gadons Flotte versenkt und kein Krieger Gadons würde sich auf die Nordroute wagen. Diese Angreifer standen nicht auf Rilans Seite. So abartig der Gedanke sich auch anfühlte: Kenna und seine verbliebenen Krieger waren im Augenblick Rilans einzige Chance.

Als hätte er erkannt, was sie dachte, senkte Kenna den Klingenstab. Vielleicht baute er auch nur auf ihren gesunden Menschenverstand. »Such dir ein Versteck, Kleines«, sagte er unvermutet sanft, bevor er versuchte, auf die Knie zu kommen.

Sie sah seine Muskeln beben, als er gegen den Schmerz ankämpfte.

Er schaffte es nicht, denn in diesem Augenblick traf wieder ein harter Schlag das Schiff. Unmenschliches Johlen erklang an Deck, und fast im gleichen Augenblick sprang Etwas die Leiter herab in den Laderaum.

Rilan keuchte vor Entsetzen und Ekel auf. Kenna hielt sich am Mast fest, und Rilan rückte unwillkürlich dichter an den Krieger, suchte Deckung hinter seiner breitschultrigen Gestalt und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Kenna war so groß, dass er doch ein wundervolles Ziel bot – auffälliger auf jeden Fall als eine kleine Frau!

Das, was durch die Luke zu ihnen herabgestürzt war, sah wie ein Fisch aus. Ein riesiger, hässlicher Fisch, dachte Rilan noch, bevor die Kreatur Beine entfaltete und mit mächtigen Kiefern und Klauen zwei Krieger niedermachte. Keiner der Männer hatte überhaupt reagieren können.

Area taumelte unter einem Schlag beiseite, das Gesicht blutüberströmt.

Kenna griff mit der Linken hinter sich, packte Rilans Unterarm schmerzhaft – wie hatte er wissen können, dass sie genau da stand? – und zog sich mit ihr als Gegengewicht auf die Beine. Sie keuchte fassungslos vor Erschrecken über die Berührung auf. Panische Angst ergriff sie, dass er sie einfach vorwärtswerfen würde, dem Monster in die Greifarme, um sich selbst Zeit zu verschaffen. Aber da hatte Kenna sie schon wieder losgelassen und schleuderte kraftvoll den Klingenspeer, der das fischige Etwas nicht nur durchbohrte, sondern auch rückwärts schleuderte und an die Bordwand nagelte.

Dort hing es und zuckte, während Blut aus der Wunde strömte. Nutzlos klappten die Kiefer immer wieder auf und zu. Hilflos fuhren die mit Schwimmhäuten bewachsenen Klauenhände über den Schaft der Waffe. Endlich hörte es zu zappeln auf. Rilan kämpfte Brechreiz nieder.

Kenna brach schwer in die Knie, ließ sich vornüber fallen, fing seinen Sturz mit beiden Händen ab und machte ganz den Eindruck, sich vor Schmerzen übergeben zu wollen. Jeder Muskel stand stahlhart hervor, alle bebten vor Überanstrengung angesichts Schmerzen, die Rilan sich nicht einmal vorstellen wollte.

Sie vernahm ihre eigene Stimme und konnte kaum glauben, dass sie selbst es war, die diese Worte sprach: »Was kann ich tun?«

»Klingenstab. Sei schnell, Kleines.«

Sie nickte, bevor sie noch verstand, dass sie gerade mit ihrem Feind Hand in Hand arbeitete. Sie warf sich herum und watete mit rasendem Herzen zum Waffenlager. In ihrem Kopf wirbelte allzu viel herum. Sie konnte kaum begreifen, was sie tat, dass sie Gadons Feind bewaffnen wollte. Aber wenn jemand sie hier und jetzt beschützen konnte, dann Kenna.

Wie gefährlich der Kerl war, hatte er soeben bewiesen. Götter, wie furchterregend war er gewesen, bevor er in Kadars Hände gefallen war? Wenn sie seine Kraft für ihre eigenen Zwecke einspannen konnte, war es gut. Aber Kenna war nun vorgewarnt, was ihre eigenen Pläne beinhalteten. Er würde sie niemals wieder so leicht an sich heranlassen. Sie hatte ihm deutlich gezeigt, dass sie eine Gefahr für ihn darstellte. Das würde er in Zukunft bedenken.

Aber jetzt war das egal, denn jeden Augenblick konnte ein weiteres Monster in den Laderaum kommen. Fiel Kenna, dann war auch Rilan verloren. So einfach war das.

Über sich hörte sie Schritte, Schreie, das unmenschliche Johlen, Kampflärm auf dem Deck. Hier unten lagen zwei Erschlagene, vielleicht drei, denn sie wusste nicht, ob Area noch lebte. Kenna war als einziger noch in der Lage, sich zu verteidigen. So beängstigend Rilan es fand, dass er trotz seiner Verletzungen an Kampf dachte, so erleichterte es sie doch, dass sie nicht schutzlos war. Sie würde alles tun, um ihn gegen die Fischmonster zu unterstützen.

Sie zerrte einen Klingenstab aus der Halterung und stolperte keuchend und viel zu langsam durch mehr als knietiefes Wasser in scheinbar tonnenschweren Röcken zurück zu Kenna, der auf Händen und Knien zu seinen toten Kriegern gekrochen war. Er musste die verstrichene Zeit genutzt haben, um nachzusehen, ob noch einer lebte, um die Männer auf Waffen zu durchsuchen. Denn er sah auf, als Rilan ihn erreichte. Ein Dolch glitzerte in seiner Faust, und der junge Krieger atmete schwer.

Er zog einen gespannten Bogen aus der Hand eines der Toten und fluchte leise. »Ich bin kein guter Bogenschütze. Und das ist nicht einmal mein Bogen. Lauf und such Pfeile, Kleines.«

Sie verschwendete nicht einmal Zeit für ein Nicken. Sie watete wasserspritzend zurück zum Waffenlager, zog einen gefüllten Köcher aus dem wilden Haufen, der dem Sturm und dem Rammen durch das feindliche Schiff geschuldet war, und hetzte durch eiskaltes Wasser zurück zu Kenna, der sich bis zur Leiter vorgearbeitet hatte.

»Hier ist keinem mehr zu helfen, verdammt.«

»Was jetzt?«

Er nahm ihr den Köcher ab und prüfte dann mit beruhigend sicheren Bewegungen die Stärke der Bogensehne, bevor er die blutbeschmierte Waffe an Rilan reichte. »Ich hangele die Leiter rauf, und du folgst sofort. Wenn ich oben bin, brauche ich den Bogen.«

»Das schaffst du niemals!«

»Meine Arme sind heil, keine Sorge. Du wirst mehr Probleme haben in den nassen Röcken.«

»Ich schaffe das!«, zischte sie zornig zurück.

Das Schiff wurde angegriffen, drohte zu sinken, aber Kenna fand die Zeit, über ihren Ausbruch leise zu lachen und ihr einen sehr frechen Blick zuzuwerfen. Blut stieg ihr in die Wangen.

Er schlang sich den Riemen des Köchers über den Kopf, atmete einmal tief durch und wies sie knapp an: »Eins noch, Rilan: Wo auch immer du bist, sieh zu, dass du dich unterhalb meiner Schulterhöhe aufhältst. Ich will dich nicht versehentlich aufspießen. Halte dich dicht bei mir, dann geschieht dir nichts.«

Sie starrte ihn an, aber er hatte sich schon umgedreht und nach der ersten erreichbaren Sprosse gegriffen. Wie hatte sie fürchten können, dass er sie dem Monster zum Fraß vorwerfen wollte? Es ging ihm nicht nur ums nackte Überleben, das hatte er ihr gerade deutlich gemacht. Er wollte sie schützen! Rilan bekam kaum noch Luft und konnte nur auf den breiten Rücken sehen, auf die arbeitenden Muskeln. Sie musste ihre Verblüffung beinahe gewaltsam abschütteln. »Warte«, brachte sie hervor, und er wandte ihr den Blick zu, ungeduldig.

Sie raffte ihre nassen Röcke und zog die Zipfel unter dem Gürtel hindurch. Die Unterröcke reichten immer noch fast bis zum Boden, aber zumindest das Kleid war somit aus dem Weg.

»Fertig?«

Sie nickte, und Kenna würdigte sie keines weiteren Wortes.

Schnell und scheinbar mühelos zog er sich Sprosse um Sprosse nach oben, und Rilan hatte Probleme, ihm zu folgen. Ihr langer Rock war im Weg, ihre Beine zitterten vor Angst und Kälte. Immer wieder wurde das Schiff von den Wellen hin und her geworfen.

Mittlerweile hörte sie die Wassermassen über dem Deck zusammenbrechen. Zweimal kam ein kalter Sturzbach durch die Öffnung und drohte, Rilan von den Sprossen zu reißen.

Kenna erreichte die Luke, stemmte sich in die Höhe und landete auf seinem Hintern, griff nach unten – an Rilans Handgelenk vorbei nach dem Bogen. Für einen Moment hatte sie wirklich gedacht, Kenna würde ihr wie ein Ehrenmann behilflich sein.

Zornig zog sie sich das letzte Stück hinauf, knallte den Stab neben Kenna aufs Deck und wäre beinahe zurück in die Tiefes des Schiffsrumpfes gestürzt, als der Bug sich in eine Welle bohrte und dabei in die See gezerrt zu werden schien. Rilan hielt sich verzweifelt an der Sprosse fest und sah alarmiert, dass Kenna keinen festen Halt besaß.

Er versuchte, sich herumzudrehen, konnte sich mit den verletzten Beinen nirgends abstützen und drohte, auf Rilan zu fallen. Spätestens seine Masse würde sie gemeinsam in die Tiefe stürzen lassen.

Rilan warf sich vorwärts, prallte gegen ihn, griff an ihm vorbei nach dem kleinen Geländer, das Unvorsichtige davor bewahren sollte, kopfüber durch die Luke zu stürzen.

Sein Knie drückte hart gegen Rilans Brust. Sie kam nicht an Kenna vorbei, um auch mit der zweiten Hand einen Halt zu erreichen, um sie beide am Rand der Luke festzuhalten. Über sich hörte sie den Bogen leise knarren, dann das Geräusch wie ein harter Schlag, als der Pfeil von der Sehne flog, und Kenna nahm die Oberschenkel auseinander.

Jetzt konnte sie sich enger an ihn heranziehen. Ganz kurz flackerte der Gedanke in ihrem Kopf auf, dass es der Körper ihres Feindes war, dem sie sich so näherte. Dicht gefolgt von dem Gedanken, dass ihr Vater ohnmächtig werden würde vor Scham, wenn er sie so sehen könnte. Sie kam zwischen Kennas Beine, griff links an ihm vorbei und bekam nun auch mit der zweiten Hand das Geländer zu packen, während sie auf Zehenspitzen auf der Sprosse stand und nicht wusste, wie lange sie sie beide halten konnte.

Die Oberschenkel schlossen sich, nahmen Rilan in die Zange und hielten sie fest. Sie rang erschrocken nach Atem. Sie hatte eher instinktiv gehandelt, und jetzt verstand sie, dass Kennas Bewegung nicht zufällig gewesen war. Selbst im Kampf hatte er erkannt, dass er handeln musste, um ihrer beider Sturz zurück in den Laderaum zu verhindern.

Regenwasser strömte auf sie herab. Ihre Wange glühte vor Wärme so fest an Kennas flachen Bauch gepresst, weil der junge Krieger derart massig war, dass sie kaum um ihn herumreichen konnte.

Er tat das, wozu er ihrer Meinung nach viel zu gut geeignet war: Er beendete Leben. Sie hörte immer wieder die Sehne leise summen, wenn er den Bogen spannte, zielte und dann das tödliche Geschoss fliegen ließ. Rilan war sich sicher, dass keiner der Pfeile fehl ging. Obwohl er behauptet hatte, kein guter Schütze zu sein.

Ihre Arme schmerzten, ihre Füße taten weh. Kennas muskulöse Beine umspannten Rilan stählern, und ihre zitternden Arme hielten sie beide am Rande der Luke fest.

Rilan sah nichts. Sie roch nur nasse Wolle und Männerschweiß, spürte Kennas Muskeln sich immer wieder anspannen. Mit einem Mal beugte er sich zur Seite, und sie wusste, dass nun der Klingenstab seine Arbeit aufnehmen würde. Sie schloss die Augen, als der erste Todesschrei ihre Ohren erreichte.

Der Bug des Schiffes hob sich, stieg immer weiter in den tobenden Himmel, während das Heck im tosenden Meer versinken wollte.

Plötzlich war Kennas Hand an ihrem Gürtel, zerrte an ihr, und in einem Gewirr von Röcken und Körpern stürzten sie rückwärts über das niedrige Geländer in kaltes Salzwasser. Rilan schluckte Meereswasser, spuckte, hustete und fühlte sich empor gerissen.

»Verdammt, lass mich los! Du wirst uns noch beide ertränken!«, fauchte Kenna irgendwo unter ihr.

Sie konnte ihn nicht loslassen. Sie wollte nicht ertrinken! Noch immer hielt sie die Augen fest geschlossen, spürte seine brutale, starke Hand, die ihren Oberarm umschloss und Rilan von ihm weg stieß. Sie prallte gegen etwas Hartes, riss die Augen auf und krallte sich am Treppengeländer zum Heckaufbau fest. Wellen überspülten das Deck, gurgelten durch die Ladeluke in den Bauch des Schiffes. Alles stand unter Wasser, nur noch Treppe und Heck schienen aus den Fluten aufzuragen.

Rilan würgte und hustete, hörte ein nasses, reißendes Geräusch und warf sich herum. Der Klingenstab fuhr durch eine feindliche, fischige Kehle. Kaltes, halb durchsichtiges Blut spritzte den Schaft entlang, und das Fischmonster brach lautlos in sich zusammen.

Im hüfttiefen Wasser konnte Kenna sich bewegen. Das Salzwasser trug einen Teil seines Gewichtes. Trotzdem war er langsam, als er zu Rilan aufschloss. Er klammerte sich neben ihr am Geländer fest. »Kannst du schwimmen?«

»Sinkt das Schiff?«

»Möglicherweise. »Du wirst dich ausziehen müssen, sonst gehst du wie ein Stein unter.«

Sie tat so, als hätte sie diesen letzten Satz nicht gehört. Rilan hielt sich zitternd fest und ließ den Blick über das Deck fliegen, über dem immer wieder Wellen zusammenbrachen. Sie sah Leichen, die vom Wasser fortgezogen wurden, Pfeile, die in Hälsen und Brustkörben steckten. Da lagen tote Rote Krieger bis zur Unkenntlichkeit zerfleischt neben erschlagenen Fischwesen. Rote Federn ragten an Pfeilschäften empor. Wie viele davon gingen auf Kennas Konto?

Dann sah sie etwas aus den Wellen auftauchen und schrie hell auf.

»Wo?«, fragte Kenna nur. Er suchte einen Feind – sie sah ein Monster aus den Wogen auftauchen, sich meterhoch über den Bug des schlingernden Schiffes auftürmen.

»Da! Da!«, keuchte sie, weil sie einfach keine Kraft für einen zweiten Schrei mehr besaß, und floh die Treppe hinauf auf den Heckaufbau, während Kenna mit gespanntem Bogen nach einem Gegner Ausschau hielt, der ihm irgendwie entgangen war.

Sie hörte, wie er einen halb unterdrückten Schrei ausstieß, und dann war er hinter ihr, zog sich am Geländer nach oben, fluchend, keuchend und schwitzend.

»Was ist das?«, schrie Rilan ihn an und hörte selbst, wie schrill ihre Stimme klang.

Kenna zog sich die letzte Stufe hinauf, fiel auf die Knie und wandte sich um, um das aus den Fluten auftauchende Etwas anzustarren. Er schüttelte den Kopf. Sie sah die vollkommene Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht.

»Ein Schiff!«, brachte er hervor, »ein Schiff aus Alpträumen!«

Das kann kein Schiff sein, dachte Rilan, die von kaltem Entsetzen erfüllt war. Niemand konnte ein solches Schiff bauen. Es lebte!

Der Bug klaffte weit auf. Sie sah Reihe um Reihe von Zähnen. Es konnte nichts anderes sein: Es war ein Maul!

Wie ein Hai, kroch es durch Rilans vor Entsetzen benommenes Hirn. Instinktiv streckte sie die freie Hand nach Kenna aus und hielt ihn fest, indem sie die Finger in den Wollstoff seines Hemdes krallte. Außer ihr war er die einzige lebende Seele auf diesem Schiff – wenn er denn eine Seele besaß.

Zu groß für einen Hai, viel größer als ein Wal. Rilan machte Fangarme aus, die sich um den vorderen Mast der Kranich schlangen, dann gab es ein Knirschen tief unter ihr, und die Bestie zog sich zurück.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739425382
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (August)
Schlagworte
Seeungeheuer Seeschlacht Schlacht Heroic Magie Held Fantasy Romance Liebe

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Nun habe ich neben meinen bisherigen und zukünftigen Verlagsveröffentlichungen das Abenteuer Selfpublishing für mich entdeckt. Ich schreibe Fantasy in allen möglichen Richtungen: Urban, Geistergeschichten, Gay Romance und Heroic Romance („Schmachten & Schlachten“, wie ich dieses Subgenre mit einem Augenzwinkern nenne) und noch viel mehr.
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Titel: Kenna