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Juran

von Tanja Rast (Autor:in)
448 Seiten
Reihe: Schmachten & Schlachten, Band 3

Zusammenfassung

Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet. Seit Jahren lebt der einstige Marschall Juran als scheinbar frommer Mönch in einem Kloster. Das ändert sich, als Vega auftaucht: kühl, stur und nur ihrem Prinzen treu ergeben. Dem soll Juran den Weg zum Thron ebnen. Rasch muss Vega erkennen, dass unter der Kutte nicht nur ein Krieger steckt, sondern ein unverbesserlicher Frauenheld. Doch auf der gemeinsamen Reise entdeckt sie zunehmend liebenswerte Eigenschaften an Juran, dessen Schutzwall zu bröckeln beginnt. Und auch Vega könnte schwach werden, wäre da nicht ihr eigenes düsteres Geheimnis. Die Schatten ihrer Vergangenheit holen sie endgültig ein, als sich die Toten erheben …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Bruder Juran

 

Das Kloster lag auf einer kleinen Anhöhe und schien wohlgefällig auf das fruchtbare Tal hinab zu lächeln. Oder selbstgefällig, auch das war möglich.

Der Wagen rumpelte über eine befestigte Straße zum großen Gebäudekomplex hinter dicken Mauern hinauf. Das Tor stand einladend offen. Zwei Mönche verbeugten sich tief und in offenkundiger Demut, als das Fahrzeug vorbei und auf den gepflasterten Innenhof fuhr.

Vega blickte aus dem Fenster auf die beiden Männer hinab, sah blaue, staubige Kutten und kahlgeschorene Köpfe. Nichts Bemerkenswertes, und schon gar nicht das, weswegen sie hierhergekommen war. Sie fühlte Anspannung und Sorge, da sie jetzt das erste Ziel erreicht hatte.

Das Hauptgebäude grenzte direkt an den Hof an, aber rechts und links lag freies Gelände. Obstgärten und kleine Felder wurden von Mönchen bewirtschaftet. Vega blickte sich neugierig um. Auf einem Getreidefeld nahe der Umfassungsmauer wurde sie fündig.

Sie holte tief Luft und lächelte. Es kam ihr vor wie ein Zeichen einer höheren Macht, dass sie ihn gleich nach ihrer Ankunft im Kloster sah. Er musste es sein.

Er stand mitten auf dem Acker, der schon zur Hälfte abgeerntet da lag. Die Sonne brannte vom Himmel, und der Mönch hatte seine Kutte von den breiten Schultern geschoben, sodass nur sein Gürtel den blauen Wollstoff über seiner Hüfte hielt. Außerdem, Vega sah es mit einem breiteren Grinsen, hatte der Mönch die normalerweise bodenlange Kutte geschürzt, sodass er ihr einen freien Blick auf muskulöse Waden preisgab, ohne es zu wissen.

Seinetwegen war sie hier. Sie war sich sicher, dass er der Mann sein musste, wegen dem sie eine äußerst ermüdende Reise hinter sich gebracht hatte. Sie sah ihn nur von hinten, aber das reichte vollkommen.

Er überragte jeden anderen Mönch. Ein so breites Kreuz, so starke Arme bekam man nicht vom Unkrautjäten. Er war sonnenverbrannt, was die Muskelstränge nur noch mehr betonte. Krass und weiß hoben einige Narben sich von der gleichmäßig dunklen Haut ab.

Dieser Kerl war niemals von klein auf an ein Mönch gewesen. Spätberufen, wie man das hier nennen mochte, war er ins Kloster gekommen. Was er vorher gewesen war, schrie jeder Zoll seiner hünenhaften, wuchtigen Gestalt dem Betrachter entgegen.

Ein Krieger. Aber nicht irgendein Krieger.

Juran, Marschall des Königs.

Und genau das sollte er wieder werden!

Der Wagen hielt an. Einer der Begleiter kletterte vom Kutschdach und öffnete den Schlag. Vega atmete noch einmal tief ein und stieg dann leichtfüßig und immer noch lächelnd aus. Sie konnte den Blick nicht von Juran wenden. Das war er, ganz bestimmt. In diesem Kloster konnte wohl kaum noch ein zweiter Krieger seines Formats Unterschlupf gefunden haben.

Sie hatte bloß die verschwommenen Erinnerungen ihrer Kindheit an diesen Mann. Doch wenn nur die Hälfte der Geschichten über ihn der Wahrheit entsprach, war Vegas Auftrag schon jetzt ein voller Erfolg. Falls sie den Marschall aus seinem sicheren, friedlichen Kloster zerren konnte.

Sie löste den Blick von diesem breiten Rücken, als eine Schar alter Mönche zum Wagen kam. Sie trugen Schüsseln mit Wasser und grobe Tücher. Die Sitten eines Klosters. Ein Gast musste sich reinigen können, bevor man auch nur mit ihm sprach. Wie hatte Juran es hier nur so lange ausgehalten?

Sie wusch sich artig die Hände und erkannte an fünf entsetzten Augenpaaren, dass diese ach so keuschen Männer gerade verstanden hatten, dass eine Frau in ihrer Mitte weilte. Ob die armen Kerle sich vor ihr fürchteten? Ob es reichte, einmal laut zu rufen, um diese alten Männer in wilder Flucht davon stürzen zu sehen?

Sie taten ihr leid, bemerkte Vega verwundert. Ihr ganzes Leben hier eingesperrt und von der Welt ferngehalten. Keiner von denen hatte je mit einer Frau geschlafen und musste bei unzüchtigen Gedanken garantiert zwei Stunden zusätzlich zur Strafe beten.

Mit einem Lächeln bedankte Vega sich für die Ehrerbietung, die man ihr erwiesen hatte. Sie freute sich über den Luxus, denn es war warmes Wasser, und sogar ein kleines Seifenstückchen war ihr gereicht worden. Eine Wohltat nach langer Reise. Aber Vega überließ es einem ihrer Begleiter, um eine Audienz beim Vorstand des Klosters zu bitten. Schlimm genug, dass die armen Mönche eine Frau in ihrer Mitte ertragen mussten.

Sie trat einen Schritt zurück und lächelte zufrieden, während sie ihrem alten Lehrer Tigenus zuhörte. Er machte das ganz wunderbar und sehr diplomatisch, fand sie. Er klang höflich und bescheiden. Was kein Wunder war, da er sein ganzes Dasein als Diener verbracht hatte. Ein Lehrer stand lange nicht so hoch im Ansehen wie ein guter Stallmeister. Tigenus war genügsam, er musste nicht so tun als ob.

»Wir erbitten eine Audienz beim Vorstand dieses Klosters. Und wenn es möglich ist, möchten wir eine Nacht seine Gastfreundschaft genießen. Ich weiß, dass dies ungewöhnlich ist, da wir eine Frau ins Kloster gebracht haben. Aber es ist wichtig.«

Allgemeines Getuschel. Vega sah über die Schulter zum Feld. Juran hatte sich – neugierig oder einfach aufmerksam – halb umgedreht. Sie sah ein kantiges Gesicht unter kurz geschorenem Haar und fragte sich, welche Farbe seine Augen wirklich hatten. Sie kannte ihn nur aus der Ferne und aus der unzuverlässigen Erinnerung der Kindheit. Zumindest der erste Eindruck enttäuschte sie nicht. Doch sie hatte Angst, dass der Marschall im Kloster alt oder weich geworden sein könnte.

Dann hätte sie ein Problem. Eines anderer Art als die schlichte Weigerung des Marschalls, sie zu begleiten. Vega wog beide Möglichkeiten gegeneinander ab. Die Vorstellung, einen Mann zurückzubringen, der seine Blüte hinter sich hatte, der nur noch dumm, fromm und untauglich für seine Aufgabe war, schnürte ihr die Kehle zu. Dann war es wirklich besser, wenn er diesen Hort nicht verlassen wollte.

Die Mönche gaben zu verstehen, dass sie den Vorstand benachrichtigen würden. Der Älteste von ihnen wagte schließlich, nach Knechten zu rufen, die die Zugtiere versorgen sollten. Dann sah er die Besucher des Klosters ein wenig unsicher an. »Ich bringe euch ins Gästehaus. Wir werden für eine warme Mahlzeit sorgen.«

Tigenus nickte und bedankte sich höflich.

Vega folgte den Männern und streichelte im Vorbeigehen das Zugtier. Sie fühlte dicken Schuppenpanzer über gewaltigen Muskelpaketen unter ihren Fingern. Die große Echse grunzte freundlich, offenkundig dankbar für die Liebkosung. Vega trat einen Schritt beiseite und streichelte auch das zweite Zugtier, bevor sie sich eilig den Männern anschloss, ehe sie diese im Gewirr der Klostergebäude aus den Augen verlieren konnte.

Stallungen, Lagerscheunen, dazwischen die Wohnhäuser der Knechte. Mägde gab es hier natürlich nicht. Wie überlebten die Mönche es, dass im Schatten des Klosters mehrere kleine Dörfer und noch kleinere Weiler lagen, in denen selbstredend Frauen lebten und Kinder geboren wurden? Oder war das weit genug weg? Wie hatte Juran das überstanden? War er keusch geblieben, wie die Regeln des Klosters es von ihm verlangten? Vega grinste ein wenig böse. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie der Marschall nachts über Mauern kletterte, um sich in einem Stall oder notfalls mitten auf dem Feld zu einer Verabredung mit einer Dorfschönheit einzufinden. Den Ruf eines Weiberhelden hatte er in der Hauptstadt Metis Hald auf jeden Fall gehabt.

Konnte ein Mann sich von einem Tag auf den anderen wirklich so ändern, dass er brav und tugendsam im Kloster hockte, während keine halbe Stunde Fußmarsch entfernt Mädchen nach ihm vergingen?

Vega rief sich selbst zur Ordnung, während sie leichtfüßig hinter den Männern hereilte. Es war gar nicht gut, wie sie über Juran dachte. Überhaupt nicht. Dazu war sie nicht hierhergekommen. Sie würde bestimmt nicht schmachtend zu seinen Füßen sitzen, seinen Heldenerzählungen lauschen und vor Sehnsucht nach seiner Berührung vergehen.

Aber er musste gut im Bett sein, nicht wahr? Bei all der Übung, über die hinter vorgehaltenen Händen getuschelt wurde – noch heute!

Doch Vega war nicht den langen Weg gekommen, um die Wahrheit hinter diesen Gerüchten zu erforschen. Sie war hier, weil das Reich seinen Marschall dringend brauchte. Der Thronfolger rief nach seinem besten Mann, doch dieser hörte die Rufe nicht, da er sich hinter Mauern, Keuschheitsgelübde und Gebeten verschanzte. Vega war zum Kloster gekommen, damit Juran die Stimme seines Prinzen vernahm. Oh, sie würde dafür sorgen, dass der alte Mann dieser Stimme lauschte und sich den Befehlen beugte, die sie ihm übermittelte!

Er musste einfach gehorchen. Vega kannte seinen Charakter und seine Auffassung von Ehre nur aus Erzählungen. Doch war Vega überzeugt, dass Marschall Juran nicht einen Augenblick zögern würde, dieses triste Asyl sofort zu verlassen.

Sie trat durch den Torbogen, wo ein Mönch mit missbilligender Miene auf sie wartete. Ganz offenkundig wurde Bummeln hier nicht gerne gesehen. Vega war es gleich. Die Mönche durften von ihr denken, was sie wollten. Sie waren nutzlos für ihren Prinzen.

Angenehme Kühle nach der Hitze zwischen den Gebäuden empfing sie. Sie konnte freier atmen und wischte sich Schweiß von der Stirn.

Das Gebäude roch ein wenig feucht, als würde es nicht oft benutzt werden. Wann verirrten sich schon einmal Besucher in diese Einöde? Ganz offensichtlich nicht häufig.

Vega folgte dem griesgrämigen Mönch in eine geräumige Halle mit großem, rußigem Kamin und Tischen und Bänken aus Holz. Ihre Begleiter luden gerade das Gepäck ab und sahen sich ein wenig unsicher um.

Sie nahm auf einer der Bänke Platz und winkte Tigenus zu sich, kaum dass die Mönche unter Verbeugungen gegangen waren.

»Wie lange mag es dauern, bis wir den Vorstand sprechen können? Muss ich mich ihm gegenüber ebenfalls im Hintergrund halten?«

»Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, Hohe Dame. Vielleicht einige Stunden. Der Vorstand ist zwar das Oberhaupt dieser Gemeinschaft, aber ohne Beratungen mit den Ältesten wird auch er keine Entscheidungen treffen. Es gibt kleinere Zimmer im ersten Stock. Du solltest dir als Erste eines aussuchen. Wir tragen dir dein Gepäck hoch.«

»Aber wie lange müssen wir wohl warten? Und fallen alle Mönche in Ohnmacht, wenn ich draußen spazieren gehe und mich ein wenig umsehe?«

Tigenus lächelte. »Hohe Dame, alleine wirst du dich hier nicht bewegen können. Ich komme gerne mit dir, wenn du an die frische Luft willst. Und zu deiner ersten Frage: Ich erwarte, dass man uns erst eine Mahlzeit servieren wird, bevor wir an eine Begegnung mit dem Klostervorstand auch nur denken dürfen.«

»Verdammt!«

»Tu das bitte nicht in Gegenwart von Mönchen, Hohe Dame.«

»Was?«

»Fluchen. Schlimm genug in den Augen dieser Männer, dass du nicht in langen Röcken und verschleiert bist.«

»Und dass ich keine Frau zur Gesellschaft und zum Hüten meiner Moral bei mir habe?«

»Das auch.« Sein Lächeln inmitten des weißen Barts wurde etwas deutlicher.

Vega nickte. »Damit müssen sie leben. Ich lasse mir keine Vorschriften machen, wie ich mich zu benehmen habe. Ich will ihren Erwartungen an das Betragen einer Frau auch gar nicht entsprechen. Je furchtbarer sie meine Anwesenheit in ihrem Haus finden, desto schneller kriegen wir diese Audienz. Tigenus, ich glaube, ich habe ihn gesehen!«

»Den Vorstand?«, fragte er verwirrt.

Sie wedelte mit einer Hand, als würde sie eine Fliege verscheuchen. »Nein: Juran! Ich bin mir ganz sicher, dass er es gewesen sein muss. Ein riesiger Kerl mit Muskeln wie gesponnener Stahl. Ich will ihn mir noch einmal aus sicherer Entfernung ansehen.«

»Vielleicht nicht gerade jetzt …«

»Aber in einer halben Stunde oder noch später muss er bestimmt zu irgendeinem Gebet. Komm, Tigenus, jetzt!«

Sie sprang auf und packte ihren Lehrer an der Hand, um ihn energisch hinter sich herzuziehen. Im Torbogen hielt sie an und drehte sich zu den Männern um. »Ich nehme das erste Zimmer links. Mir doch egal, wie es aussieht. Ich habe nicht vor, lange hierzubleiben.«

»Hohe Dame«, wollte Tigenus noch einmal einwenden, aber sie zog ihn mit sich aus dem Gästehaus hinaus.

Schweiß trat ihr aus den Poren, als sie in die Sonnenhitze kam. Aber sie begrüßte die frische Luft und den hellen Schein des Himmelsgestirns. Alles war besser, als in diesem muffigen Haus zu hocken und darauf zu warten, dass ein alter Mann mit Furcht vor Frauen zu einer Audienz lud.

Vega wusste, dass Ungeduld ihre größte Charakterschwäche war. Aber sie beschloss, dass sie damit umgehen konnte. Sie wollte Juran sehen. Einem Gespräch musste sie noch aus dem Weg gehen, bis der Klostervorstand ihr dazu die Erlaubnis gab. Es war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit für eine Frau, einfach einen Mönch anzusprechen. Wie albern!

Wie hatte der Marschall des Königs das nur jahrelang überstanden? Früher hatte er alle Befehle gegeben, die Anweisungen seines Königs notfalls sogar ignoriert oder zumindest abgewandelt, bevor er sie an seine Armeen weitergereicht hatte. Jetzt und hier musste Juran auch dem unsinnigsten Gebot gehorchen, demütig den Kopf senken und hatte bestimmt mehr als eine Moralpredigt über sich ergehen lassen müssen. Ein Krieger im Kloster, ein Wolf unter Lämmern – der vor dem Oberschaf auf die Knie fiel und Gehorsam versprach. Das musste ihm doch in der Seele wehtun!

Vega empfand es schon als furchtbar, wenn sie sich nur vorstellte, in einer ähnlichen Lage zu sein.

»Wir wollen nach unseren Tieren sehen. Das wird wohl selbst der Vorstand nicht übel nehmen können«, sagte Vega und strebte auf die Stallungen zu. Der Wagen stand neben einem großen Tor. Es war also anzunehmen, dass die Echsen in genau diesen Stall geführt worden waren.

Im Hauptbau wurde ein Gong geschlagen, und Vega beschleunigte ihre Schritte, wobei sie Tigenus einfach mit sich zog. Sie wollte noch einen Blick auf den Marschall erhaschen, bevor der sich im Gebet vor dem Altar zu Boden warf und der Welt noch ein Stück mehr entrückt war. Sie wollte ihn gerne von vorne und vor allem aus direkter Nähe sehen, besorgt überprüfen, ob er einen Wohlstandsbauch bekommen und Fett angesetzt hatte. Männern in seinem Alter geschah das allzu rasch, wenn sie nicht mehr in ständiger Waffenübung standen.

Aber sie wurde enttäuscht. Vom Feld her kam eine Gruppe Mönche, alle brav in ihre knöchellangen Kutten gehüllt, die Kapuzen über die Köpfe gezogen, diese gesenkt, sodass selbst Vegas spähender Blick nicht mehr die Gesichter im Schatten erkennen konnte. Einzig an seiner Körpergröße erkannte sie den Marschall mühelos, der seine Begleiter leicht und weit überragte.

Sie biss zornig die Zähne zusammen und stieß erbost das Tor auf, wobei sie Tigenus zuflüsterte: »Ich konnte nichts mehr erkennen. Werden die Knechte auch zitternd vor einer Frau zurückweichen? Müssen die sich ebenfalls an die Klosterregeln halten?«

»Sie tragen nicht die Kutte des Gottes. Sie werden Frauen in den Dörfern haben. Und Kinder.«

Vega kicherte böse. Doch selbst den Mönchen sollte klar sein, dass es ohne sündige Weiber, die Ehe und auch Sex keinen Nachschub an gottesfürchtigen Klosterschülern gab, die irgendwann die blaue Kutte überstreiften und dann ebenso keusch waren oder taten wie der Rest. Eine Welt ohne Frauen wäre auch eine Welt ohne Gottesdiener. Konnten die Mönche das noch erkennen und verstehen?

Ein Knecht kam ihnen entgegen, verbeugte sich wortlos und wies auf die beiden Echsen, die in geräumigen Abteilungen untergebracht, zugedeckt und gefüttert worden waren.

Als erinnerten sie sich an Vegas Freundlichkeit, hoben beide die massigen Schädel und grunzten leise.

Ohne zu fragen, ob ihr das erlaubt wäre, griff Vega zwei Äpfel aus einem Korb und fütterte die großen Tiere, die ihr die Früchte sanft aus den Händen nahmen und genüsslich kauten. Apfelsaft vermischt mit Speichel tropfte aus den gewaltigen Kiefern.

»Schlaft gut, ihr Braven. Ihr habt uns gut hierhergebracht. Genießt die Ruhepause, denn wir müssen bald weiter.«

Wieder sanftes Grunzen, bevor die Echsentiere die Köpfe senkten und Heu kauten. Zumindest diese beiden waren zufrieden.

»Gehen wir zurück?«, fragte Tigenus, und Vega hörte, wie schwer es ihm fiel, ihre Ehrenanrede zu unterdrücken. Sein Leben lang war er ein Diener, und nun musste er anders denken und vorsichtig sein.

Vega tätschelte ihm die Schulter und lächelte. »Ja, wir gehen zurück. Die beiden sind gut versorgt. Jetzt kann ich beruhigt selbst etwas essen.«

Tigenus nickte und lächelte erleichtert, bevor er sie wieder aus den Stallungen führte.

Der Hof war wie leergefegt. Keine blaue Kutte mehr weit und breit.

»Wie vertraut bist du mit den Regeln dieses Klosters?«, fragte sie leise.

»Ich habe mich vor unserer Abreise so umfassend wie möglich informiert. Dieses Kloster dient dem Gott der Fruchtbarkeit …«

»Fruchtbarkeit? Und alle Mönche nehmen die Knie zusammen, sobald sie eine Frau sehen?«

»Fruchtbarkeit der Felder, Wälder und Tiere, Hohe Dame.« Ihr guter alter Tigenus klang tatsächlich ein wenig schockiert über ihre Respektlosigkeit. Dabei kannte er sie von klein auf an und sollte doch wirklich verstanden haben, dass Regeln für Vega nur dem Zweck dienten, gebrochen zu werden.

»Nicht der Mönche. Arme Kerle.«

»Wenn dich jemand hört!«

»Keine Sorge, die liegen alle vor dem Altar und beten. Oder warum sonst hat der Gong sie gerufen?«

»Zum Gebet, zu einer Besprechung, die sehr gut uns betreffen könnte. Vielleicht auch zum Essen.«

»Also werden Knechte uns unser Essen bringen?«

»Entweder das, oder einige Mönche haben eine Sondererlaubnis bekommen, dem Gebet fernzubleiben, um uns zu versorgen. In einer solchen Gemeinschaft kann nicht alles Knechten überlassen werden. Du hast selbst die Mönche auf den Feldern gesehen. Ebenso werden sie in der Küche und in den Stallungen arbeiten. Die Knechte sind nur zur Unterstützung hier, weil stets mehr zu tun ist, als die Mönche alleine schaffen können.«

Vega nickte und ließ sich weiter zu ihrem Quartier zurückführen. »Und was machen die Mönche sonst den ganzen Tag?«

»Arbeiten, beten – das reicht ihnen, und alles dient der Ehre des Gottes.«

Vega schüttelte sich vor Abscheu. Was für ein Dasein, das nicht einmal durch die Freuden des Familienlebens gemildert wurde. Und das hatte Juran mehr oder weniger freiwillig auf sich genommen? Das konnte Vega nicht glauben. Sie war gespannt, wie viel sie aus dem Marschall herausbekommen konnte, wenn er ihr nur endlich in die Hände geriet.

Das Haus roch nicht mehr ganz so muffig wie zu Beginn. Die Männer hatten das Gepäck auf Zimmer verteilt und jedes Fenster weit aufgerissen. Die Wärme des Tages war leichter zu ertragen als der feuchte Mief im Haus. Es roch, als würde in jeder Ecke Moos und Schimmel wachsen. Doch nun wurde es rasch besser.

»Vielleicht möchtest du dein Zimmer besichtigen, Hohe Dame?«, schlug Tigenus vor, und sie beugte sich seinem vorsichtigen Ansinnen. Er wollte sie für den Augenblick aus dem Gemeinschaftssaal heraushaben, damit sie keine Mönche verschrecken und somit ihre eigene Mission erschweren konnte.

Vega stieg die Treppe hinauf und stieß die erste Tür links auf. Ihr Gepäck stand auf dem Boden vor einem schmalen Bett. Auch hier war das Fenster geöffnet, und Vega trat an die breite Fensterbank, stützte die Ellenbogen auf das vom Sonnenschein erwärmte Holz, legte das Kinn in die Hände und sah nach draußen.

Hühner zogen würdevoll wie aufgeblasene Federkugeln ihre Runden, kratzten unter Bäumen und auch auf einem frisch umgegrabenen Feld. Stille lag lastend über dem Kloster. Hin und wieder sang ein Vogel, blökte eine Echse im Stall.

Vega hob überrascht den Kopf, als sie eine verdammt große Katze aus einer Scheune auftauchen sah. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie kannte Katzen wie diese! Ihr Vater hatte sie früher gezüchtet und war sehr stolz auf die Ergebnisse seiner Mühen gewesen. Dies war ein besonders schönes Exemplar in warmen Goldtönen mit schimmernden, hellbraunen Klecksen im Fell. Der kleine, wilde Kopf pendelte zur Seite, als das Tier die Hühner betrachtete, dann wie ein gelangweilter Mensch die Schultern zuckte und auf einer schurgeraden Linie zum Hauptbau des Klosters ging. Weich bewegte sich der muskulöse Körper auf großen Tatzen.

Vega sah der Katze nach, bis diese über eine niedrige Mauer sprang und im Grün hinter dem Hauptbau verschwand.

Unten im Gemeinschaftssaal brandeten Geräusche auf – kein Lärm, immerhin war dies ein würdevolles Kloster. Vega löste sich von der Fensterbank und trat zu ihrer Zimmertür, um zu lauschen. Sie hörte Schüsselklappern und leise Stimmen. Das Essen war also da.

Wie als Zeichen, dass es ihr Magen gewesen war, der die letzten Worte gedacht hatte, knurrte dieser vernehmlich. Vega drückte eine Hand auf ihre flache Bauchdecke und wartete ungeduldig, dass Tigenus nach ihr rufen oder sie höflich sogar abholen würde – sobald die verängstigten Mönche das Gebäude verlassen hatten.

Was für Geschichten erzählte man den Jungen, wenn sie ins Kloster zogen, um sie von den Verlockungen der Frauen fernzuhalten? Machte man ihnen Angst? Und konnte ein Spätberufener, der sich voller Ehrfurcht dem Leben der Gemeinschaft anschloss, diese Gruselgeschichten noch glauben, da er doch Frauen kennengelernt hatte und wusste, dass diese keinesfalls Männer zum Frühstück fraßen? Konnte Juran, der angeblich in ungezählten Betten gelegen hatte, die Schauermärchen auch nur einen Herzschlag lang ohne mühsam unterdrücktes Gelächter anhören? Ganz bestimmt nicht!

Es klopfte leise an der Tür, und Vega öffnete. Tigenus stand vor ihr und sagte schlicht: »Essen. Frisches Brot, Obst und kaltes Fleisch.«

»Haben Mönche es gebracht?«

Er nickte und setzte hinzu: »Danke, dass du abgewartet hast. Sie schlichen herein wie geprügelte Hunde.«

»Ob Juran auch so ist? Ob sie es geschafft haben, ihn so zu verändern?«

»Hohe Dame, er wird sich an seine Eide halten.«

»Das meinte ich nicht!«, sagte sie empört und fühlte, wie ihr Röte aus dem Kragen stieg.

Tigenus sah sie nur an und schwieg.

Natürlich hatte sie das nicht so gemeint! Sie war nicht darauf aus, einen alternden Helden des Königreichs zu verführen, verdammt. Sie wollte nur den Marschall dorthin bringen, wo er gebraucht wurde, wo seine Talente nicht länger brachlagen. Sollte er doch keusch bleiben, alle zwei Stunden beten und sich ausnahmsweise nicht durch alle verfügbaren Betten arbeiten! Umso besser, wenn er sich an seine Klostereide hielt, dann hatte er mehr Zeit, sich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen. Und mehr Kraft.

Sie rauschte an ihrem Lehrer vorbei und hastete die Treppe nach unten.

 

Vega war froh, dass das Gästehaus abseits des Hauptgebäudes, vom Tempel und den übrigen von Mönchen intensiv genutzten Häusern stand.

Kaum hatte sie die Schwelle des Klosterhauses übertreten, als sie auch schon eilig eine Falte ihres Schals nach oben zog und fest vor Mund und Nase hielt. Sie kannte Räucherwerk aus den Tempeln in Metis Hald. Aber diese dicke Rauchwand stellte alle bisherigen Erfahrungen in den Schatten.

Tigenus griff hilfreich nach ihrem Oberarm. »Geht es?«, fragte er leise.

Sie nickte, kniff die Augen halb zu und marschierte entschlossen weiter. Einer der alten Mönche vom Vortag führte sie durch hallende Gänge, in denen der Rauch wie Nebelfäden hing.

Verdammt, die halbe Nacht hatte der Gong sie wach gehalten, wenn er wieder und wieder die Mönche zum Gebet gerufen hatte. Kein Wunder, dass die Männer zu mehr als Beten und Gartenarbeit nicht taugten.

Ein Tor schwang auf, und Vega und Tigenus betraten die Gemächer des Vorstands. Ein sonniges, geräumiges Zimmer, fand Vega. An den Wänden hingen Szenen aus dem heiligen Buch des Ordens, kunstvoll mit Edelsteinfarben auf flachen Holzplatten angefertigt. Es roch nach Bienenwachs, Räucherwerk und ehrwürdigem Alter.

Tigenus und Vegas übrige Begleiter verbeugten sich leicht vor dem Klostervorstand, und Vega tat es ihnen zähneknirschend nach. Vielleicht würde es reichen, Marschall Juran an den Falten seiner Kutte zu packen und ihm ins Gesicht zu schreien, dass er gebraucht wurde, dass es keinen Grund für ihn mehr gab, sich hinter Klostermauern zu verschanzen. Dass die Zeit der Ausreden einfach vorbei war und er sich zu rühren hatte, weil Reich und Prinz ihn brauchten. Doch ohne das Einverständnis des Klostervorstands konnte der Mönch sein Dasein in dieser Gemeinschaft nicht aufgeben, durfte Vega noch nicht einmal mit dem ehemaligen Oberbefehlshaber der Armee sprechen.

Es war ihr egal. Wenn dieser alte Kerl auf seinem thronähnlichen Stuhl nicht parierte, würde sie trotzdem zu Juran gehen. Sie war sich sicher, dass sie ihn zum Mitkommen bewegen könnte. So viel Ehre musste er noch im Leib haben. Wenn Pflichtgefühl und Gehorsam nicht reichten, dann war der Marschall gewiss immer noch stolz genug, um sich nicht zu verkriechen, während er gebraucht wurde.

Tigenus trat vor und legte dem Vorstand eine Pergamentrolle in die welken Hände. »Wir reisen unter dem Siegel des Thronfolgers, Ehrwürdiger. Und wir …«

»Ihr seid hier, um Bruder Juran um Unterstützung zu bitten«, unterbrach der alte Mann und sah auf das königliche Siegel hinab. Er atmete tief durch.

Vegas Kopf ruckte hoch. Woher wusste der alte Kerl das? Wenn er Gerüchte gehört hatte, dann konnten diese auch schon anderen Personen zu Ohren gekommen sein – den falschen Personen!

»Ja, ich denke, das ist eindeutig, wenn der Prinz uns sendet«, antwortete Tigenus freundlich.

»Zur Unterstützung oder will sein König jetzt Rache an ihm üben? Bruder Juran ist ein wertvolles Mitglied unserer Gemeinschaft. Er ist fromm, arbeitsam und schier unermüdlich. Ich werde nicht meine schützende Hand von ihm abziehen, nur weil ein König nach seinem Blut dürstet.«

Tigenus warf einen besorgten Blick zu Vega. Ja, jetzt war es an der Zeit, fand sie. Sie trat mit einem Lächeln vor. »Der König, dessen Rache du fürchtest, ist tot. Wir sind offenbar schneller gereist, als diese Nachricht durch das Königreich gejagt ist. Es ist sein Sohn, der die Hilfe des Marschalls braucht.«

»Die Hilfe Bruder Jurans. Er ist kein Marschall mehr«, antwortete der Alte milde. »Aber es liegt in der Macht des jungen Thronerbens, Bruder Juran wieder dieses Amt zu übertragen. Wenn Bruder Juran mit euch gehen möchte.«

»Ich denke, das liegt auch in deinen Händen, nicht wahr, Ehrwürdiger?« Vega legte den Kopf ein wenig schräg und lächelte freundlich. Dieser alte Mann war nicht halb so senil, wie sie befürchtet hatte. Vielleicht war das gut, aber möglicherweise erschwerte es auch alles.

»Ich diene meinem Gott, liebes Kind. Ich habe keinen Herrn außer ihm. Das ist etwas, was für Könige und Fürsten sehr schwer zu verstehen ist. Vor sechs Jahren kam ein entehrter Marschall hier an und bat um Aufnahme in unseren Orden. Er war auf der Flucht vor der Wut seines Königs, wie er mir ebenso glaubhaft versicherte, wie Gerüchte über seine überstürzte Abreise aus Metis Hald mir schon berichtet hatten. Aus dem Marschall Juran wurde Bruder Juran. Er ist ein guter Mönch und ein Bruder, über dessen Anwesenheit wir uns freuen. Ich kann keinem König gehorchen, wenn mein Gott mir anderes befiehlt. Aber ich achte den freien Willen der Menschen, denn auch er ist ein Geschenk meines Gottes.«

Vega ballte im Schutz ihres Mantels die Hände zu Fäusten. Jeder hatte dem König zu gehorchen. Der alte Mann sollte sehen, welchen Schutz sein Gott bedeutete, wenn Kriegsmaschinen vor den Toren standen, wenn marodierende Soldatenbanden die Klosterschätze plünderten und die Vorräte wegtrugen. Dazu würde es kommen, wenn das Reich seinen Marschall nicht zurückbekam!

»Ich halte Bruder Juran nicht auf. Ich werde mit ihm sprechen und ihm den Befehl – es ist doch ein Befehl? – seines Königs übermitteln. Aber es ist seine Entscheidung, ob er sein Leben im Dienste des Gottes – wenn auch vielleicht nur vorübergehend – aufgeben will. Er wird alleine entscheiden, ob er in die Welt zurückkehren möchte und kann, die ihn verstoßen hat.«

Vega wollte eine scharfe Antwort geben und hielt sich nur mit Mühe zurück. Wusste der Vorstand nicht, warum Juran vor der Rache des Königs hatte fliehen müssen? Oder stellte der Kerl sich absichtlich dumm? Konnte Frömmigkeit das Hirn soweit erweichen, dass ein Klostervorstand nur noch das als wahr erkannte, was er so sehen wollte?

Fest biss Vega sich auf die Unterlippe. Mit Königen war es wohl nicht anders.

Der Vorstand sah sie an, lächelte zahnlos und nickte. »Ich werde mit ihm sprechen und ihn bitten, euch im Gästehaus aufzusuchen. Ich bin kein Tyrann, und ich werde keinen meiner Brüder gegen dessen Willen zu etwas zwingen. Aber er wird euch aufsuchen und eure Argumente anhören. Das kann ich versprechen.«

Das ist wenig genug, verdammt, dachte Vega bitter. Aber wo bei diesem Kerl Hopfen und Malz verloren waren, weil er schon seit Jahrzehnten in seiner frommen Hochburg hockte und sein kleines bisschen Macht genoss, konnte es vielleicht ganz einfach sein, den Marschall zu überzeugen. Der besaß hier nicht einen Funken seiner gewohnten Befehlsgewalt. Das musste doch an ihm nagen.

 

Wieder hieß es warten, im Gästehaus herum hocken und darauf lauern, dass ein Mönch es betrat. Meistens brachten sie nur Essen und verschwanden hastig wieder. Einer kam und erklärte, dass der Vorstand des Klosters die Wünsche der Gäste bei der Abendversammlung der Bruderschaft besprechen wollte. Ein weiterer Tag Verlust! Vega kochte vor Wut.

In einem unbeobachteten Moment schlüpfte sie aus dem Haus. Sie brauchte Luft und Platz, sie lechzte nach einem Spaziergang, nach irgendeiner Abwechslung, die ihr die Wartezeit verkürzte.

Sie wanderte entlang der Außenmauer des Klosterhauptbaus. Schließlich blieb sie stehen und legte den Kopf in den Nacken. Diese verzierten Fenster über ihr gehörten zu den Gemächern des Klostervorstands, dessen war sie sich sicher. Die Fensterflügel standen ein Stück weit auf, Rauch zog nach draußen.

Vega sah sich behutsam in alle Richtungen um. Sie war ganz alleine hier. Vor nicht allzu langer Zeit war der Gong geschlagen worden. Sie spitzte die Ohren. Ja, von dort oben vernahm sie leise Stimmen. Also lagen nicht alle Mönche platt am Boden zur Lobpreisung ihres Gottes.

Noch einmal sah sie sich verstohlen um, dann trat sie an die Mauer heran, betrachtete mit einem Lächeln den am Gemäuer nach oben rankenden Wein und suchte sich einen stabilen Ast aus.

Sie war klein und leicht, und nachdem sie probeweise am Stamm gerüttelt hatte, war sie sich sicher, dass der Wein ihr Gewicht mühelos tragen würde. Außerdem war die Fassade unter dem wuchernden Gewächs mit vielen Vorsprüngen und Simsen verziert. Vega war schon an Gebäuden hinaufgeklettert, deren Mauern erheblich weniger Halt geboten hatten!

Sie klomm rasch und lautlos nach oben, duckte sich hin und wieder in das üppige Laub des Weins und sah sich um, ob vielleicht doch gerade jetzt ein Mönch, Knecht oder einer ihrer eigenen Begleiter unter ihr entlang ging.

Endlich erreichte sie ein gemütliches Plätzchen direkt unter dem Fenster. Sie konnte sich in eine breite Astgabelung setzen, sich dicht an die Mauer drücken und hoffte, so ziemlich unsichtbar zu sein.

Die Stimme des Vorstandes erkannte sie mühelos. »Es ist deine Entscheidung. Das habe ich unseren Gästen auch gesagt. Sie legten mir ein Dokument mit königlichem Siegel vor. Ich gehe davon aus, dass sie die Wahrheit sagten.«

Eine tiefe Stimme mit dem unverkennbaren Akzent von Metis Hald antwortete. Der Mann klang gereizt, aber beherrscht. »Sie sind die Ersten, die vom Tod des Königs berichten. Ehrwürdiger, du weißt, warum ich in diesem Orden Schutz suchte. Wir beide fürchten seit Jahren, dass ich unter Beobachtung stehe. Es wäre keine gute Idee, wenn ich auf ein Gerücht hin diesen Ort verlasse.«

»Ich weiß, mein armer Bruder. Ich bin mir aller Unwägbarkeiten nur zu genau bewusst. Und ich sage dir ehrlich, dass ich dich nicht verlieren will – dich und den Schutz, den du bedeutest.«

»Ich habe mir stets Mühe gegeben, alle Regeln unserer Gemeinschaft zu befolgen. Ich bin kein Krieger mehr. Ich bin der Diener unseres Gottes.« Das klang schon richtig böse.

Vega lächelte. Ja, so hatte sie seine Stimme in Erinnerung und sich seine Launen vorgestellt. Lag er etwa noch auf Knien vor seinem Vorstand? Er hörte sich vielmehr so an, als würde er unruhig auf und ab gehen. Aber sie vernahm keine Schritte. Sechs Jahre sollten auch einem Marschall klösterliche Manieren beigebracht haben. Es schien nun unmöglich, dass das Kloster ihn für seine Aufgabe verdorben hatte. Die Stimme und vor allem der Tonfall klangen nicht danach.

»Als dein Vorstand muss ich dir befehlen, mit jenen Gästen zu sprechen. Ich kann mich hinter meinem Gott verstecken und sagen, dass ich nur ihm Gehorsam und Rechenschaft schuldig bin. Wir beide wissen es besser, Bruder Juran. Du kommst aus der Welt, die ich fürchte. Ich lebe in dieser Gemeinschaft, seit ich ein kleiner Junge war. Ich kenne die Welt da draußen nicht, aber ich weiß, dass Klostermauern kein Schutz vor ihr sind.«

Juran klang erheblich sanfter, als er darauf antwortete: »Nein, das sind sie nicht, Ehrwürdiger. Die Belange der Mächtigen betreffen auch die Kleinen und Schwachen. Ein Grund mehr, warum ich nicht mehr in der Welt der Machtkämpfe und Intrigen leben möchte. Ja, es stimmt. Ich kam hierher, weil ich mich auf der Flucht befand und es meinem König genügte, dass ich diesem Orden beitrat. Entweder die Mönchskutte oder mein Kopf. Aber ich kann hier das erste Mal frei atmen. Ich bin zuhause angekommen, Ehrwürdiger. Dies ist mein sicherer Hafen.«

»Der vielleicht nicht mehr sicher ist, Bruder Juran.«

Sie hörte, wie jemand tief einatmete. Es mussten Jurans Lungen sein, die sich da mit Luft füllten, weil dieses Volumen niemals Platz finden würde in der schmächtigen Brust des Klostervorstands.

»Ich weiß, Ehrwürdiger. Ich unterwerfe mich gehorsam deinem Gebot. Ich werde mit deinen Gästen sprechen.« Wieder ein tiefer Atemzug, bevor die dunkle Stimme erneut mehr an Kraft gewann. »Aber dir ist klar, dass ich das Kloster schutzlos zurücklasse, wenn ich wirklich mit ihnen gehen muss?«

Vega horchte auf. Schutzlos? Was hatte Juran die letzten Jahre alles getan außer Unkrautjäten und Beten?

»Das habe ich durchaus bedacht, Bruder Juran. Aber du schützt das Kloster dann auf andere Weise. Du hast meinen Segen, mein Bruder. Ich weiß, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst.«

»Du wirst mich nicht dieser Mauern verweisen, Ehrwürdiger? Wenn ich mich entschließe, nicht mit jenen zu gehen und hierzubleiben, werde ich immer noch willkommen sein?«

»Natürlich wirst du das, mein armer Sohn. Wer bin ich, dir die Tür zu weisen, wenn du hier deine wahre Berufung gefunden hast? Dein Seelenheil und deinen Frieden? Du bist einer von uns, Bruder Juran. Dein Platz in unserer Mitte wird schmerzhaft leer bleiben, wenn du gehst. Aber er wird für dich freigehalten, solltest du jemals zurückkommen wollen.«

»Ich werde zurückkommen.«

Eine Gänsehaut überlief Vega. Nicht nur, weil dieser beinahe kalt ausgesprochene Satz den Erfolg ihrer Mission andeutete. Sondern weil Juran so selbstsicher und überzeugt klang. Ihm musste klar sein, welche Gefahren auf ihn lauerten, und doch war er sicher, diesen die Stirn bieten zu können, den Auftrag seines Königs zu erfüllen – und dann hierher zurückzukehren. Zu Frömmigkeit, Keuschheit und Gebet.

Doch seine Stimme klang nicht wie die eines Mönches. Vega hörte den Oberbefehlshaber, der sich notfalls sogar über die direkten Befehle eines Königs hinwegsetzte, wenn er diese für unsinnig oder sogar gefährlich hielt.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

 

Der Gong schlug noch zweimal. Vega langweilte sich. Tigenus hatte ihre Abwesenheit sehr wohl bemerkt und war ungehalten darüber – soweit ihm das als Diener nur möglich war.

Die Abenddämmerung kroch über den Hügel, auf dem das Kloster lag, als es endlich an der Tür klopfte. Vega setzte sich angespannt auf. War das jetzt nur das Abendessen? Oder … Sie hatte Mühe, sich ein triumphierendes Grinsen zu verkneifen, als sich eine hünenhafte Gestalt tief unter dem Türrahmen duckte und sich zur vollen Größe aufrichtete, kaum dass Juran den Gemeinschaftssaal erreicht hatte.

Die verdammte blaue Kutte verbarg viel zu viel von seiner Figur, doch hielt sich Vega an dem Klang seiner Stimme fest, dass er keinesfalls alt und weich geworden sein könnte.

Mit einer nahezu beiläufigen Bewegung schlug Juran die Kapuze zurück und sah sich dann um. Sein Blick schien beinahe gelangweilt über die kleine Gesandtschaft hinwegzugehen. Sonnengebräunt, wie er war, leuchteten die grünen Augen wie regenfeuchte Edelsteine, umgeben von klarem Weiß und dunklen Wimpern. Es war ein wachsamer Blick trotz der zur Schau gestellten Trägheit. »Ich bin Bruder Juran. Mein Vorstand sagte mir, dass ihr mit mir sprechen wollt.«

Tigenus stand auf. Hunderte Male hatten sie besprochen, wer zuerst mit dem Marschall reden sollte, wie sie ihm den Befehl des Königs überbringen sollten. Es war kein Befehl, denn der Erbe war noch ungekrönt und auf der Flucht. Es war ein Hilferuf. Die Armeen standen in den Städten, und wenn Soldaten sich langweilten, kamen sie auf merkwürdige Ideen und neigten dazu, jedem ihr Ohr zu schenken, der ihnen rasche Beute, leichte Siege und gute Anteile versprach. Es gab keinen Oberbefehlshaber des Heeres mehr. Er war der Erste gewesen, der den Klingen der gedungenen Mörder zum Opfer gefallen war. Es gab keinen König, zu dem die Soldaten vertrauensvoll aufblicken konnten. Da war niemand mehr, der Ordnung in die Horden bringen konnte, um sie zur Verteidigung der Krone zu führen.

Niemand außer Juran.

»Marschall Juran …«

»Ich bin kein Marschall. Das solltest du wissen, wenn du schon einmal von mir gehört hast. Dieser Titel wurde mir ebenso aberkannt wie meine weltlichen Besitztümer.«

»Durch den alten König.«

»Der tot sein soll.« Juran klang ungeduldig, als wollte er dieses Gespräch nur rasch hinter sich bringen. Er erweckte nicht den Anschein, Tigenus aussprechen lassen zu wollen.

»Er ist tot«, sagte Vega sanft. »Er wurde wie ein Schwein abgestochen.«

Sie hörte, wie ihre Begleiter entsetzt nach Luft rangen, weil sie den Königsmord so respektlos beschrieb, weil sie keinerlei Gefühl zu empfinden schien. Es war ihr egal, was diese Männer von ihr dachten. Sie waren alle ersetzbar und unwichtig. Außer Tigenus, dem sie viel verdankte, dem sie deswegen auch vieles nachsah. Verstand keiner von den Kerlen, dass sie alle nichts waren gegen den Marschall? Alleine sein Einverständnis, zurück nach Metis Hald zu kommen und die Armee an der Gurgel oder an den Eiern zu packen, war wichtig.

Er wandte den Kopf mit einem Ruck, und seine Augen weiteten sich aufmerksam. Kutte oder nicht, Vega konnte die Anspannung des großen Körpers sehen und spüren.

»Berichte weiter. Er hat einen Sohn.«

Vega nickte. »Und dieser Sohn bittet dich um deine Hilfe.«

Juran warf den Kopf zurück und lachte trocken auf. Er schüttelte sein Haupt und sah Vega tief in die Augen. Als könnte er auf den Grund ihrer Seele blicken. »Ein König bittet nicht. Und schon gar nicht bittet er einen Mann, der in Unehre vertrieben wurde.«

»Er bittet. Er weiß, dass er keine Befehlsgewalt über dich hat, Marschall Juran.«

Dieses Mal nahm er den Titel hin, ohne mit der Wimper zu zucken oder diese Bezeichnung so vehement wie kurz zuvor abzulehnen. »Ich denke, ich sollte alles erfahren, bevor ich mich zu einer Entscheidung hinreißen lasse, die nicht auf Fakten basiert – und die ich später von Herzen bereue. Welche Rolle spielst du, Mädchen? Bist du der Köder, falls alle Bitten und Erklärungen nicht reichen?«

Röte kroch in Vegas Wangen. Sie richtete sich gerade auf und funkelte Juran erbost an. Sie hörte Tigenus nach Luft schnappen angesichts eines Angriffs, den er wohl nicht vorausgesehen hatte.

Juran machte einen Schritt zurück und senkte den Blick. »Entschuldige, mein Kind. Ein böser Gedanke, meiner und deiner nicht würdig. Ich bitte um Vergebung, falls ich dich gekränkt haben sollte.«

Sie musste die Zähne zusammenbeißen und sich zwingen, die geballten Fäuste zu öffnen, bevor sie antworten konnte. »Ich nehme deine Entschuldigung an, Marschall Juran.«

»Ich bitte dich inständig, diesen Titel nicht zu verwenden. Wir wissen beide, dass ich das nicht mehr bin. Und wenn der Sohn meines Königs noch nicht gekrönt ist, kann er mich ebenfalls nicht so nennen. Ich bin Mönch, und ich lebe im Einklang mit den Geboten meines Gottes. Der Erbe bittet mich, diesen sicheren Hafen zu verlassen. Ein außergewöhnlicher Fall, liebes Kind.«

Sie nickte. Ja, mit dieser Umschreibung hatte er vollkommen recht. Sie gab Tigenus einen kleinen Wink, und der Lehrer fasste all das zusammen, was im Reich offiziell bekannt war und dieses Kloster in seiner idyllischen Abgeschiedenheit nur noch nicht erreicht hatte.

»Der König wurde ermordet. Wer genau dahintersteckte, ist noch nicht bekannt. Aber wer auch immer es war: Er wiegelt den Adel auf und hetzt die Meute gegeneinander auf. Drei Fürsten sind nachts in ihren Betten getötet worden, ehe wir aufbrachen. Drei, von denen wir wissen. Wie viele inzwischen tot sind, können wir dir nicht beantworten, Bruder Juran.«

»Und die Armee?«

»Ist überall verteilt stationiert.«

»Und wird unruhig«, ergänzte Vega. »Es gab bereits Gerüchte von Übergriffen, zerstörten Palästen und geplünderten Tempeln.«

Jurans Kiefermuskeln spannten sich an, aber das kantige Gesicht blieb ansonsten ausdruckslos. Als er nickte, war es eine knappe, beinahe abrupte Bewegung. »Wo ist der Prinz?«

Ja, der Prinz. So hast du ihn früher schon genannt, nicht wahr, Juran? Du hast ihn selten gesehen, da er ja immer im Sommerpalast lebte, nachdem sein Vater die zweite Königin heiratete. Weißt du überhaupt seinen Namen?

»Im Augenblick in Sicherheit«, antwortete Tigenus.

»Er ist der Schlüssel«, erklang Jurans ruhige Stimme. Vega meinte, ein leises Vibrieren zu hören, mehr zu spüren, als würde hinter dieser kalten Maske ein Vulkanausbruch reinster Empörung drohen. Ja, der König hatte ihn seines Amtes enthoben, aber im Grunde seiner Seele hatte Juran niemals diesen Titel abgegeben. Das war genau das, worauf sie gehofft hatte.

»Wenn sie ihn ebenfalls ermorden, versinkt das Reich im Bürgerkrieg. Eine Kostprobe davon liefern uns bereits die Fehden der Adelsfamilien. Bruder Juran, das Reich braucht dich. Es braucht seinen Marschall«, sagte Vega eindringlich.

Wieder das Anspannen der Kiefermuskeln. Doch dieses Mal war es mehr. Die breiten Schultern hoben, der Brustkorb weitete sich. Ein tiefer Atemzug, dann trat ein beinahe flehentlicher Blick in die kalten grünen Augen, ließ die Farbe ein wenig zu Regengrau wechseln, als wären diese Iriden wirklich der Spiegel einer Seele. »Wo ist die Königin?«

Vega fühlte einen kalten Klumpen in ihrem Magen. Wusste er es wirklich nicht? Hatte er nicht einmal diese Nachricht aus der fernen Hauptstadt vernommen? Oder wollte er einfach die Worte von jemandem ausgesprochen hören, der wusste, dass sie wahr waren?

»Sie starb vor drei Jahren.«

»Woran?«

»Sie war lange krank. Ihre Ärzte sagten, sie wäre der Krankheit erlegen.«

»Und der König nahm sich die nächste Hure in sein Schlafzimmer und vögelte sich durch die Gesindekammern.« Er wandte den Kopf mit einem Ruck, sog zischend Luft ein. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Sie ist tot. Der Erbe ist auf der Flucht und derzeit in Sicherheit. Das Reich braucht seinen Marschall. Ich komme mit euch. Ich werde dafür sorgen, dass der Sohn gekrönt wird. Ich will, dass er mir meinen Titel zurückgibt, sodass ich das Amt in Ehren ablegen und hierher zurückkehren kann. Ich verlange Gerechtigkeit und Anstand. Ich denke, ich habe ein Recht, diese Dinge zu fordern.«

Vega nickte, bevor sie diese Forderung auch nur im Ansatz überdenken konnte. Das stand ihm zu. Der Marschall kehrte zurück. Das war das Entscheidende.

Der Prinz war anders als sein Vater. Er würde ein guter König werden. Er würde Leistung und Treue mit Respekt vergelten. Sonst sollten ihm die Götter gnaden.

»Ich werde meinen Vorstand und meine Brüder unterrichten. Von ihrer Entscheidung hängt es ab, wann wir abreisen können. Ich bitte um Verständnis für die Gebräuche dieser Bruderschaft.«

Vega nickte wieder nur. Sie zitterte vor Anspannung. Sie hatte den ersten Schritt geschafft. Den Ersten von wie vielen? Sie wusste es nicht, und der vor ihr liegende Weg war furchterregend. Doch sie hatte Juran für die Sache des Thronerben gewonnen. Ein kleiner Sieg. Dem hoffentlich weitere folgen würden. Sonst ging das ganze Reich in Flammen auf, bis die Erde sich mit Blut vollgesogen hatte. Eine Gänsehaut überlief Vega.

Juran deutete eine Verbeugung an, wandte sich um und verließ den Gemeinschaftssaal und das Gästehaus. Mit Bewegungen, die kraftvoll und meilenweit von der würdevollen Behäbigkeit eines alternden Mönches entfernt waren.

 

Der Vorstand berief seine Gäste noch einmal zu sich, aber Vega verzichtete darauf, den Herrn der Mönche noch einmal zu sehen. Ihre Aufgabe war zum Teil erfüllt, sodass sie sich einen erneuten Besuch in den nach Räucherwerk stinkenden Gängen und Räumen des Hauptgebäudes gern ersparte.

Stattdessen sah sie nach den Zugtieren, fütterte sie mit Äpfeln und Möhren, streichelte dicke Schuppenpanzer und freute sich, dass die Tiere sie bereits beim Betreten der Stallungen begrüßt hatten. Wahrscheinlich war es eher die Aussicht auf Leckereien gewesen, die die fröhlichen Grunzlaute erzeugte, aber das war Vega im Augenblick gleich.

Als sie sich umwandte, saß die Katze hinter ihr. Große, bernsteinfarbene Kulleraugen wurden fest auf Vegas Gesicht geheftet.

Das Äußere mit dicken, runden Ohren, in deren Innenseite flaumiges Fell wuchs, die leuchtend rosa Nase und die treuherzigen Kinderaugen täuschten, dessen war Vega sich sicher. Sie kannte Katzen wie diese. Und so wie das Gesicht mit dem breiten Nasenrücken geschnitten war, vermutete sie, dass diese Katze aus einer guten Zucht stammte und nicht eher zufällig durch eine freie Verpaarung entstanden war.

Sie ging nicht in die Hocke, lockte das Tier auch nicht mittels eines verniedlichenden Kosenamens, sondern betrachtete die muskulöse und doch so graziöse Gestalt kritisch.

Die Katze legte den Kopf schief und maunzte leise.

»Tu nicht so harmlos. Ich habe Deinesgleichen schon gesehen. Ich weiß, was du bist, und ich kann mir denken, zu wem du gehörst. Deine Zeiten als gelangweilter Rattenfänger sind vorbei.«

Wieder ein kurzes, beinahe gebelltes Maunzen als Antwort. Die Katze stand auf, reckte sich mit weit nach oben erhobenem Hinterteil, streckte den dicken Schwanz zur Decke und gähnte hemmungslos. Schneeweiße Dolche saßen im kraftvollen Kiefer. Die Katze fuhr die Krallen aus, jede einzelne ein Krummsäbel.

»Nein, ich habe keine Angst vor dir.«

Ein fröhliches Maunzen, dann sprang die Katze auf, als hätte jemand sie nass gespritzt, wirbelte einmal um die eigene Achse und rannte über den gepflasterten Hof, sprang über eine Hecke und verschwand im Gemüsegarten.

Vega sah dem Tier nach, wandte sich halb um und blickte zum Hauptgebäude, wo Tigenus und die anderen beim Klostervorstand saßen. Was mochten sie aushandeln? Sonderangebote für das Kloster? Irgendeine Art von Schadenersatz?

So wie Juran aussah, hatte er seine Zeit hier nicht nur mit Gottesdiensten und Gemüseernten verbracht. Ein solcher Körper erhielt sich nicht von alleine. Auch ein derartiger Athlet verfiel ohne tägliche Arbeit an den Waffen rasch der Fettsucht, weil seine Muskeln sich abbauten. Davon war beim Marschall wirklich nichts zu erkennen gewesen, und Vega hatte ihn genau betrachtet.

Es stand also zu erwarten, dass der angeblich so friedliche und fromme Mönch womöglich das Kloster vor Räubern verteidigt hatte. Er alleine gegen Rotten von zwanzig Mann und mehr.

Vega lächelte beinahe selbstvergessen. Das Gemetzel konnte sie sich leicht vorstellen. Ein unfairer Kampf. Eine Horde Halbwilder gegen einen vollausgebildeten Krieger der Krone. Aber wer konnte unter der blauen Kutte schon einen ernsthaften Gegner vermuten?

Sie grinste: jeder mit Augen im Kopf!

Kein Wunder, dass der Klostervorstand den Hünen nur widerstrebend gehen ließ.

Vega stieß sich vom Türpfosten ab und schlenderte zurück zum Gästehaus, wobei sie immer wieder zu den Gärten spähte. Sie hatte das Gefühl, zu wenig über Juran zu wissen. Alte Geschichten, mehr besaß sie nicht. Doch er hatte sich in den vergangenen sechs Jahren gewiss verändert. Wie sehr er das getan hatte, würde sie wohl erst auf dem Heimweg entdecken können. Sie hoffte, dass die Frömmigkeit ihm nicht im Weg stehen würde, sein Amt zu erfüllen.

2.

Von Königen und Vergangenheit

 

Der Karren stand bereit. Die Zugtiere wurden aus dem Stall geführt und eingeschirrt. Vegas Begleiter trugen Gepäck heran, und der Klostervorstand war aus seinem verräucherten Haus getreten, um den Reisenden seinen Segen zu erteilen.

Es maunzte deutlich hinter Vega, und da saß die Katze wieder und sah neugierig aus.

»Ja, es geht los. Wo ist dein Herr?«

Sie war sich vollkommen sicher, dass ein solches Tier nur einem Marschall gehören konnte. Je länger sie die Farbkleckse des Fells betrachtete und den Schimmer der seidigen Haare bewunderte, desto überzeugter war sie, dass die Katze aus fürstlicher wenn nicht sogar königlicher Zucht stammte. Sie musste ein Vermögen gekostet haben.

»Bruder Juran«, sagte der Klostervorstand leise. Vega hatte die beinahe geflüsterten Worte ebenso vernommen wie die Katze, die die Ohren aufstellte und leise schnurrte.

Er kam die Stufen der großen Treppe des Hauptgebäudes langsam und fast lässig herab.

Bruder Juran war die falsche Anrede. Das war der Marschall des Reiches, der begleitet nur vom leisen Klirren seiner Rüstung die Stufen herab schritt. Hinter ihm fegte ein langer, blauer Mantel die Treppe, während das Sonnenlicht auf den zahllosen metallenen Beschlägen blinkte und die ziseliert wirkenden Verzierungen des Helmes blitzen ließ.

Juran war groß, das wusste Vega, aber nun wirkte er riesig. Drei Paar Schulterstücke verliehen ihm noch mehr Wucht, während der Brustpanzer einem Körper angepasst worden war, der von der Natur mehr als gütig ausgestattet worden war. Vegas Gedanken flogen zum jungen Prinzen, zu Fürsten, die sie in Metis Hald kennengelernt hatte. Kein Wunder, dass das Heer auf diesen Mann hören musste. Er sah aus wie der ideale Krieger, und was die Kutte vorher verschleiert hatte, betonte die Rüstung. Wer sich mit diesem Kerl anlegte, musste wirklich an Hirnerweichung leiden.

Sie biss sich auf die Lippe. Er war alt genug, ihr Vater zu sein. Er hatte zahlreiche Skandale hinter sich, deren unverschämtester ihm die Verbannung ins Kloster eingebracht hatte. Aber er würde seinen Zweck erfüllen und dem Thronerben den Weg zur Krone ebnen. Wenn Juran dann unbedingt zurück und dieser Pracht und Macht entsagen wollte, sollte er das gerne tun.

Die Katze neben ihr machte ein leises, zufriedenes Geräusch in der Kehle und rannte dem gerüsteten Hünen dann entgegen. Der Schwanz wehte wie ein Banner hinter der geschmeidigen Gestalt her.

Vegas Gesicht verzog sich zu einem selbstzufriedenen Grinsen, als Juran sich hinab beugte, um über den dreieckigen Kopf der Kriegskatze zu streicheln. Natürlich hatte Vega recht gehabt. Ein solches Tier fand man nicht im Hinterland auf einem Bauernhof oder in einem Kloster. Dies war die Kriegskatze eines großen Mannes. Ein Wunder, dass Juran es geschafft hatte, das Tier auf seiner Flucht mitzunehmen. Jeder musste ihn um diesen Besitz beneidet haben.

So wie jeder Vega beneiden würde, dass sie diesen Krieger zurückgeholt hatte? Ihr stieg Hitze in die Wangen, und so beeilte Vega sich, zur Kutsche zu treten.

Juran kam die letzten Stufen herab und hielt direkt auf den Klostervorstand zu. Er nahm den Helm ab.

Vega hatte den Marschall im Verdacht, den Helm nur aufgesetzt zu haben, um noch eindrucksvoller zu wirken. Eitel und sich seiner Wirkung nur zu bewusst. Egal, denn genau diese Wirkung brauchte ihr Prinz!

Juran fiel vor dem alten Mann auf ein Knie. »Ich bitte um deinen Segen, Ehrwürdiger.«

Seine tiefe Stimme trug weit und mühelos über den ganzen Hof, erreichte jeden Mönch und Knecht, die respektvollen Abstand hielten. Sie erklang auch bis zu Vega, die die Zähne zusammenbiss. Machte er das absichtlich? Oder war er wirklich so fromm geworden? Sie hatte das Gefühl gewonnen, dass hinter der Maske des braven Mönches noch immer das große Tier lauerte, das jahrelang für das Reich gekämpft hatte. Irrte sie sich, oder war Juran nur ein guter Schauspieler? Aber warum sollte er ihr etwas vorspielen? Das machte sie zornig, und sie fühlte Hitze in ihrem Inneren brodeln.

»Bruder Juran, geh mit meinem Segen, den Hoffnungen dieser Gemeinschaft für das Reich, für den König und für deinen Gott. Wir werden für dich und deinen Erfolg beten.«

Die Mönche murmelten den Gottesgruß, und endlich stand Juran wieder auf. Vega beobachtete ihn dabei ganz genau. Es gefiel ihr, wie mühelos er sich trotz seiner eindrucksvollen Körpermasse und des wahrscheinlich nicht mehr allzu sehr vertrauten Gewichts der Panzerung bewegte.

Ein Knecht trug ihm eine Reisetruhe nach und hob sie auf das Dach der Kutsche. Die Katze sah dieser Vorbereitung misstrauisch zu und sprang dann aus dem Stand auf das Wagendach, um sich zwischen Kisten und Reisesäcken zusammenzurollen.

»Faulpelz«, sagte Juran freundlich, und zum ersten Mal sah Vega ihn wirklich lächeln. Ein wenig selbstvergessen, als er zu seiner Kriegskatze aufsah, die zur Antwort auf diese Anschuldigung nur frech schnurrte.

»Aus welcher Zucht stammt sie?«

»Er. Sein Name ist Civo. Aus der Königlichen.«

Vega errötete leicht vor Freude, dass sie mit ihrer Schätzung erneut richtig gelegen hatte.

»Steig ein, meine Liebe. Wir wollen los.«

»Willst du nicht mit mir in der Kutsche reisen? Es ist bequemer als auf dem Dach.«

Er setzte den Helm wieder auf und zog den Lederriemen unter dem Kinn stramm. »Weder noch. Ich gehe. Ich muss mich erst wieder an das Gewicht der Rüstung gewöhnen. Es war hier in letzter Zeit sehr friedlich.«

»Du willst laufen?«

»Gehen. Deine Echsen sind keine Renntiere, sie werden mich schon nicht abhängen. Die Bewegung wird mir gut tun. Erwarte nicht, dass ich wie ein Tattergreis neben dir im Wagen sitze. Sollten wir angegriffen werden, bin ich erheblich schneller zur Hand, wenn ich draußen bin. Ich bezweifle, dass wir attackiert werden. Ich weiß, wie ich in Rüstung aussehe.«

Eitler, selbstgefälliger Geck, dachte Vega spöttisch.

»Außerdem bin ich ein bescheidener Mönch, der Luxus abhold sein sollte. Ein Fußmarsch ist genau das Richtige, um sich in Demut zu üben.«

»Ganz wie du meinst«, gab sie zurück, kletterte leichtfüßig in den Wagen, dessen Kabine sie nur mit Tigenus und Lebensmitteln teilte, und knallte den Schlag mit mehr Schwung als notwendig zu.

Der Karren setzte sich in Bewegung, und Vega starrte aus dem Fenster auf die hochgewachsene Gestalt, die neben dem Wagen herging.

Dunkelblaue Seide – vom gleichen Farbton wie der lange Umhang – auf mehreren Schichten Leinen, alles miteinander verleimt und so zu der Härte von Knochen gebracht, ohne viel zu wiegen. Die Schichten wurden dem Körper des Trägers angepasst, sodass der Panzer wie maßgeschneidert saß. Dann wurden die Metallplättchen aufgebracht, in Ketten miteinander verbunden. Selbst komplett gerüstet trug Juran kein einem Metallpanzer vergleichbares Gewicht. Er konnte sich in seiner Rüstung leicht bewegen und einen längeren Marsch durchaus problemlos bewältigen.

Vega vertiefte sich in die Muster der Metallornamente auf einem Schulterstück, ließ den Blick tiefer gleiten über den sichtbaren Rest des muskulösen Oberarmes, bis zum eingearbeiteten Gelenk der Armpanzer, weiter bis zu den dünnen und gepanzerten Handschuhen, auf deren Fingerknöcheln Dornen saßen.

Eine wundervolle Rüstung, anders konnte Vega es nicht nennen. Die kampferprobte Panzerung des Marschalls. Wozu einen hochstehenden Titelträger in eine Prunkrüstung stecken, die niemals einen Tropfen Blut zu sehen bekam, ihren Träger behinderte und somit in tödliche Gefahr brachte? Auch ein Marschall zog in den Krieg, watete wie seine Männer durch Morast und Bäche und tauchte in Blut, wenn es nötig war.

Vega wandte den Kopf ab, schloss die Augen und kämpfte die Hitze nieder, die in ihrer Magengrube brodelte.

Das alles und noch viel mehr lag möglicherweise vor ihnen. Es gab genügend Getreue, die den Prinzen aufnehmen und verteidigen würden. Wo hatte der Thronfolger die letzte Nacht geschlafen? Wer hatte über ihn gewacht?

Vega hob die Lider wieder, sah auf ihre im Schoß verkrampften Hände hinab und bekam es mit einem Mal mit der Angst. So lange waren sie im Kloster durch die betuliche Art der Mönche und des Vorstands aufgehalten worden. So viel Zeit war zwischen ihren Händen zerronnen. Sie hatte Angst um ihren Prinzen, dem sie auf ewig treu dienen würde. Aber jetzt war sie nicht an seiner Seite, wo sie ihrer unumstößlichen Meinung nach hingehörte.

Sie schrak aus ihren Gedanken hoch, als sich etwas über ihr bewegte. Nur Momente später blickte ein auf dem Kopf stehendes Katzengesicht zu ihr in die Kutsche. Civo gab etwas von sich, was nur aus Ms und Rs zu bestehen schien.

»Er möchte bei dir reisen. Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte Juran höflich.

Der Helm ließ seinen Gesichtsausdruck im Schatten liegen. Nur die Augen leuchteten spöttisch. War das ein Lächeln gewesen, das in seiner Stimme mitklang? Vega hoffte es ein wenig.

»Das darf er, aber …« Sie wollte hinzufügen, dass es in der Kutsche relativ ungemütlich war, doch so lange wartete die Kampfkatze nicht ab, wand sich wie ein Aal auf vier Pfoten durch das Seitenfenster des Schlags, sprang auf den Wagenboden, sah sich kurz um und kletterte dann ganz nach oben auf die Vorratskisten, rollte sich ein und schnurrte leise.

»Danke«, sagte Juran, und er klang aufrichtig. »Civo hat Luxus offenbar bitterer vermisst als ich.«

Vega sah zu der nun offensichtlich zufriedenen Katze und lachte. Sie prustete los, als sie Tigenus‘ Gesicht sah, da dieser das Tier beobachtete. Natürlich, jeder, der in Metis Hald groß geworden war oder auch nur einige Jahre dort gelebt hatte, kannte diese Katzen und wusste, wozu sie imstande waren. Wer sie einmal in einem Schlachtgetümmel gesehen hatte, konnte dies niemals vergessen. Die Tiere, die zur Stadtwache gehört und zusammen mit ihren Führern Patrouillen durchgeführt hatten, stammten niemals aus der königlichen Zucht. Vega war gespannt, wie gut Civo war.

Die Reise war ermüdend, da langweilig. Die Echsen legten kein großes Tempo vor. Vegas Begleiter und auch Juran konnten leicht mit ihnen Schritt halten. Der Wagen war eher robust denn sportlich und die Straßen nicht sehr gut. Nicht zu vergleichen mit den gepflasterten Alleen im Umkreis der Hauptstadt. Hier handelte es sich nur um befestigte Wege, die normalerweise von Bauernkarren und Viehherden genutzt wurden.

Vega wusste, dass sie im Wagen nicht schlafen konnte. Dafür rumpelte das Gefährt zu schwer über Unebenheiten und durch Wasserlöcher. Eine höhere Geschwindigkeit wäre gar nicht möglich gewesen.

Nach der ersten Stunde holte Tigenus seine Pergamentrollen hervor, sah Vega auffordernd an und wartete auf ihre Bereitwilligkeit, sich mit den letzten bekannten Truppenaufstellungen und natürlich mit vergangenen Schlachten zu beschäftigen. Nein, danke. Das Wetter war warm und sonnig, Vögel sangen, und neben dem Karren ging der hünenhafte Marschall des Königreiches.

»Heute nicht«, sagte sie, öffnete den Schlag und schätzte die Geschwindigkeit des Wagens ab. Sie wollte nicht, dass die Echsen anhalten mussten, damit sie aussteigen konnte. Eine Hand im Lederhandschuh reckte sich ihr entgegen, und dankbar legte sie ihre Finger in die weiche Innenseite des Leders. Jurans Hand schloss sich kraftvoll, aber doch behutsam um ihre, und Vega sprang leichtfüßig aus dem Wagen, landete sicher auf dem sandigen Boden und spürte, wie der Krieger ihre Bewegung ausglich.

»Danke«, sagte sie einfach, reckte sich und fiel neben Juran in Schritt.

»Du hast mir noch nicht alles gesagt.«

»Was willst du wissen, Marschall Juran?«

Er sah aus den Schatten des Helmes auf sie herab und sagte nichts.

»Muss ich wirklich Bruder Juran sagen?«

»Es ist mir ziemlich egal, wie du mich nennst, solange du mich nicht mit einem geborgten Titel bedenkst.«

»Du bist empfindlich.«

»Du bist zu jung, um zu wissen, was mein König mir alles an den Kopf geworfen hat, bevor er mich aus der Stadt jagte. Eines ist mir deutlich in Erinnerung geblieben: Was immer ich auch bin, der Marschall bin ich nicht mehr. Bevor der Prinz nicht gekrönt ist, kann ich das auch niemals wieder sein. Und wenn ich die Worte meines Königs bedenke, werden die Götter es verhindern. Oder waren es die Geister der Unterwelt? Möglich, dass es auch die waren.«

»Er dürfte sehr viel gesagt haben.«

»Das hat er, und ich habe keinen Grund, seine Worte leicht zu nehmen.« Er senkte den Kopf, und trotz vor Beschlägen schimmernder Rüstung schaffte er es, demütig auszusehen.

Wenn nur die Hälfte aller Gerüchte über ihn stimmte, dann sollte er die Flüche und Verwünschungen seines Königs ernst nehmen, fand Vega. Sie selbst war froh, dass der alte Mann tot war. Sie hatte den König niemals gemocht, und er hatte wirklich alles getan, um sie in dieser Einstellung zu bestärken. Er war ungerecht und hart gewesen, und seine Königinnen hatten einem leidtun können. Keiner von beiden war er treu gewesen und hatte sich nicht einmal bemüht, diesen Umstand vor ihnen geheim zu halten.

Die erste Königin hatte ihm einen Sohn geschenkt, Vegas Prinzen, für den sie sogar durch die Unterwelt gehen würde, für den sie Juran aus seinem Kloster geholt hatte. Vor zehn Jahren war diese Königin gestorben. Sie hatte ihr Ehrenbegräbnis bekommen, und noch am Abend der Beisetzungsfeierlichkeiten hatte der König sich seine Gespielinnen für die kommende Nacht ausgesucht. Bauernmädchen, Mägde, die jüngsten Töchter von Adligen. Seinen Sohn hatte er mitsamt einem Gefolge von Lehrern und Leibwächtern in den Sommerpalast geschickt und ihn niemals wieder zu Gesicht bekommen. Vega vermutete, dass der Prinz seiner toten Mutter einfach zu ähnlich sah. Ein schlechtes Gewissen seitens des Königs konnte sie nicht erwarten.

Dann hatte er erneut geheiratet, die Götter mochten wissen, warum. Vielleicht war er der Meinung, die Fortschritte seines Erben wären nicht ausreichend. Möglicherweise wollte er auch nur ganz sicher gehen und zusätzlich zu seiner Horde von königlichen Bastarden noch einen zweiten ehelichen Sohn zeugen, falls dem Erstgeborenen etwas geschah. Vor sieben Jahren war das gewesen, und die junge Königin hatte Vega von Anfang an leidgetan. Die jüngste Tochter eines Adligen, im Kloster erzogen und dort verwahrt, bis ihr Vater sie verheiraten konnte. Sie wusste nichts von der Welt des Hofes, von Intrigen und Männern.

Dann hatten die Gerüchte begonnen, ihre hässlichen Köpfe mit den breiten Mäulern zu heben. Grinsende Fratzen, die im Verborgenen tuschelten, dass die Königin sich wohl eher zu einem gewissen Marschall hingezogen fühlte. Jedes Lächeln, wenn sie den ersten Diener ihres Mannes begrüßte, wurde beobachtet und bewertet. Jede kleine Geste.

Das arme Ding hatte keine Ahnung, worauf sie sich einließ. Und der König tat nichts, um diese vielleicht aufkeimende Verliebtheit zu beenden. Vega war sich beinahe sicher, dass er nichts davon mitbekam. Wahrscheinlich hätte es ihn auch nicht gestört, da er das Ehebett selten genug frequentierte. Aber die Gerüchte wurden lauter.

Wer es war, der das Gespräch zwischen Seiner Hoheit und dessen Marschall begann, wusste Vega nicht. Aber es musste die schrecklichste Unterhaltung im Leben dieser beiden Männer gewesen sein.

Sie endete mit Jurans Entehrung und seiner Flucht in ein Kloster. Drei Jahre später starb die Königin, und niemand in ganz Metis Hald glaubte der Diagnose der königlichen Leibärzte. Niemand, der auch nur eine Unze Verstand im Schädel hatte, zweifelte daran, dass der König seine späte Rache an ihr genommen hatte. Sie starb kinderlos. Vielleicht, weil der König selten genug bei ihr schlief, möglicherweise, weil sie unfruchtbar war. Traf Letzteres zu, hätten all die Gerüchteköche niemals erfahren, ob Juran und die Königin miteinander geschlafen hatten.

Vega sah zu dem Hünen auf. Hatte er? Hätte er tatsächlich die Tollkühnheit besessen, dieses Risiko einzugehen, dem König seinen eigenen Bastard als zweiten Thronerben unterzuschieben? War er so wahnsinnig verliebt gewesen, dass er die Königin in solche Gefahr bringen würde? Er war ebenso ein Gast vieler Betten gewesen wie sein Herrscher. Aber war er in diesem einen Schlafzimmer gewesen?

Die Hitze stieg wieder in Vega auf, und sie verdrängte den Gedanken an die kleine Frau, die das Reich seines Marschalls beraubt hatte, weil sie Angst vor ihrem Ehemann gehabt hatte. Wie unglücklich musste eine Frau sein, um sich einem anderen Mann hinzugeben? Vega konnte sie nicht verachten. Sie bemitleidete sie immer noch, selbst Jahre nach der Bestattung.

Juran hatte all das wieder in ihr aufgewühlt. Er hatte ja unbedingt fragen müssen, was mit der Königin war. Es war kaum zu glauben, dass er wirklich keine Nachricht aus Metis Hald bekommen hatte, dass die Kunde vom Tod der Königin das Kloster nicht erreicht hatte.

Seine Nachfrage nach der Königin hatte Vega aber bestätigt, was die Gerüchte noch heute behaupteten: Er hatte die Königin geliebt und nicht nur begehrt. Ein solches Risiko konnte ja auch nur ein verliebter Hohlkopf eingehen, dem Vernarrtheit das letzte bisschen Verstand aus dem Schädel sog.

Sie entsann sich, wie seine Iriden ein wenig die Farbe gewechselt hatten, wie sie grauer geworden waren. Er hatte Angst gehabt, diese Frage zu stellen. Er musste gewusst haben, dass selbst ein so junges Ding wie Vega die Gerüchte gehört haben könnte, dass er diesem Hofklatsch damit neue Nahrung gab. Aber es war egal. Das königliche Paar war tot und alles, worüber sich die Menschen die Mäuler zerreißen und die Hirne zermartern konnten, lag mit dem Ehepaar im Grab.

Sie ließ den Blick über die Rüstung schweifen, bis sie das Schwertgehenk eingehend betrachten konnte. Eine gebogene Klinge, und wenn es noch das gleiche Schwert sein sollte, mit dem er vor sechs Jahren bewaffnet gewesen war, dann wies die Klinge einen sanften Wellenschliff auf, der ihre Schneidkraft noch mehr verstärkte.

Es musste das gleiche Schwert sein. Es war auf jeden Fall die gleiche Rüstung. An einigen Stellen zwischen den Metallplättchen und deren verzierter Oberfläche sah die Seide dunkler aus, wirkte matt. Blut hatte sie dort getränkt. Jurans und das seiner Feinde. Vega suchte nach Flickstellen, aber sie konnte nur einige wenige Metallscheiben entdecken, die etwas frischer und weniger kunstvoll gefertigt wirken. Hatte er diese Arbeiten selbst vorgenommen? Aber wer sonst als ein Krieger besaß in einem Kloster die Fähigkeit, eine Rüstung auszubessern?

»Einige Meilen von hier ist eine Wallanlage. Sie liegt in Ruinen, aber sie wird uns für die Nacht Quartier bieten. Bei der nächsten schattigen Gelegenheit werden wir eine Mittagsrast einlegen. Die Tiere halten länger durch, wenn wir ihnen diese Pause gönnen.«

Keine Vorschläge – Tatsachen und ein Beschluss, auch wenn er ihn aus reiner Höflichkeit mit einer Begründung versah.

»Das denke ich auch«, sagte Vega.

Juran hob den Kopf und sah zum Himmel. »Außerdem wird es Zeit für meine Gebete.«

Sie starrte ihn offenen Mundes an. Meinte er das ernst? Wollte er ihre ganze Reise im Stundentakt auf den Knien verbringen?

Mit einem Grinsen sah er auf sie herab. »Nein, ich werde nicht alle vorgeschriebenen Zeiten wie im Kloster einhalten, mein liebes Mädchen.«

»Ich habe gar nichts gesagt!«

»Das brauchst du auch nicht. Ich kann immer noch in Gesichtern lesen. Ich bin im Kloster weder senil noch blind geworden. Drei Gebete am Tag gestehe mir zu. Und habe keine Sorge, ich werde nicht mitten auf einem Schlachtfeld niederknien. Alles hat seine Zeit und seinen Platz. Aber solange ich Gelegenheit dazu habe, werde ich meinen Gott preisen.«

»Für die übrige Zeit hoffst du auf sein Verständnis?«

»Das auch. Aber auch darauf, dass ihm im Gebet meiner Brüder eine fehlende Stimme nicht ganz so sehr auffallen wird.« Jetzt lachte er Vega an. Die arme Königin.

 

Ein kleiner Hain bot Schatten und Windschutz für die Mittagspause. Vegas Begleiter kochten Tee und sahen immer wieder verstohlen zum Marschall – ob es ihm nun passte, so genannt zu werden, oder nicht.

Vega konnte die Männer verstehen. Es war, wie mit einer lebenden Legende zu reisen. Ihr ging es kaum anders. Doch sie hoffte, nicht ganz so offensichtlich zu gaffen. Und sollte sie das doch tun, dann bangte sie, dass Juran das nicht bemerkte. So bescheiden, wie er tat, war er garantiert nicht. Er war eitel und selbstgefällig. Er kannte seinen Wert.

Er hatte beim Versorgen der Tiere geholfen, Feuerholz gesammelt, Civo gestreichelt und dann den Waffengurt abgenommen. In seiner Reisetruhe hatte er doch wirklich die grässliche Kutte mitgebracht, die er sich über Kopf und Schultern zog, bevor er niederkniete, die Augen schloss und lautlos betete.

Es war ein abartig friedliches Bild, in dem nichts zusammenpasste. Selbst auf Knien ragte er so hoch auf wie Vega.

Prickelnde Wärme stieg in ihr auf: Er müsste knien, damit sie ihn bequem küssen könnte … Ein sehr dummer Gedanke! Sie schob ihn hastig von sich.

Rüstung und Mönchskutte widersprachen sich lauthals. Die Dornen auf den Handschuhen standen im Gegensatz zu den gefalteten Händen. Der Helm am Boden schrie von Blutvergießen und Krieg. Die Haltung des knienden Mönchs erzählte von nichts anderem als der Demut vor einem Gott.

Wie friedlich Juran aussah, wie sehr er in sich zu ruhen schien, dachte Vega, während sie über den Rand ihres Teebechers hinweg den Hünen betrachtete.

Und wie erschütternd aufrichtig.

Die Männer bemühten sich, leise zu sein, als sie den Wagen wieder beluden und die Tiere erneut einspannten. Juran schien sie nicht zu hören. Wie konnte man stundenlang so unbequem auf der nassen Erde knien?

Vega war versucht, zu dem Marschall zu treten und ihn aus seiner Kontemplation zu reißen. Es tat nicht not, denn kaum waren sie reisebereit, als der Mann aufstand, feuchte Erde von seinen Knien wischte, die Kutte ablegte, Helm und Waffengurt aufnahm und erwartungsvoll in die Runde sah. »Können wir weiter? Sehr gut. Dann erreichen wir die Wallanlage noch vor Dunkelheit.«

Vega hätte ihn schütteln können! Wer hielt sie denn auf mit seinem dusseligen Gebet? Er hatte nichts gegessen, keinen Tee getrunken – und sah erheblich frischer und ausgeruhter aus als ihre Begleiter.

Es waren allesamt Diener. Zwei Stallknechte für die Versorgung der Zugtiere, Tigenus natürlich, drei Soldaten aus der persönlichen Leibgarde des Prinzen sowie zwei Männer, die im letzten Augenblick einberufen worden waren, und von denen Vega noch nicht wusste, welchen Beruf sie ausübten. Auf jeden Fall waren sie selbst zum Teekochen zu ungeschickt.

Zumindest die Soldaten sollten mit Juran Schritt halten können, fand Vega. Die Kerle waren erheblich jünger als er und hatten nicht die letzten Jahre fast ausschließlich auf ihren Knien verbracht.

Sie sah die Bewunderung in den Augen dieser Männer. Natürlich, sie hatten die Heldenlieder über Juran von Metis Hald schon mit der Muttermilch eingesogen! Vega schnaubte verächtlich und kletterte wieder in den Wagen.

Civo hob den Kopf, gähnte ungeniert von seiner Hochburg der Vorratsbehälter, reckte sich und ließ den dreieckigen Schädel dann wie tödlich erschöpft wieder auf die Vordertatzen sinken.

Tigenus stieg zu Vega in die Kutsche, sah seine Herrin für einen Moment besorgt an und nahm dann wortlos Platz.

»Zeig mir die Unterlagen«, bat sie, und ihr Lehrer lächelte erleichtert und zog seine Rollen hervor, um sie behutsam über ihrer beider Knie auszubreiten.

Die Katze hob erneut den Kopf und sah zu ihnen herab. Vega störte es nicht, während sie Landkarten und Truppenaufstellungen zum wohl hundertsten Mal betrachtete. Aber auch mit reiner Willenskraft waren die Kräfteverhältnisse nicht zu optimieren.

Ihre Gedanken flogen zurück zu den zwei Wochen heftiger Diskussion vor ihrer Abreise. Wessen Idee war es gewesen, den Marschall zurückzuholen? Ihre. Und ihr Prinz hatte nach einem überraschten Blick vorsichtig nachgefragt, was denn bitte ein einzelner Mann bewirken sollte.

Vega hatte sich zu ihm auf die Sesselkante gesetzt. »Das will ich dir gerne sagen. Geh einmal nur für ein paar Minuten an die frische Luft und frage die Menschen auf der Straße, wer der größte Held dieses Reichs ist. Sie werden die alten Helden, die das Feuer von den Göttern gestohlen haben sollen, mit keinem Wort erwähnen. Den Reichsgründer, der sich durch ganze Heerscharen von Gegnern zum Thron geschlagen hat? Vergiss ihn! Nur ein Name wird dir genannt werden, mein Prinz: Juran von Metis Hald. Und das ist nicht nur dummes Nachplappern von Legenden. Der Mann hat so viele Schlachten überlebt, wie du in deinen staubigen Büchern nur finden kannst. Das Volk hat es deinem Vater nie verziehen, dass Juran in die Verbannung geschickt wurde.«

»Vega, kannst du dich noch an ihn erinnern?«, fragte der Prinz vorsichtig.

»Ja, das kann ich. Nicht sehr deutlich, das gebe ich gerne zu. Als er die Stadt verlassen musste, war ich fünfzehn, wie du genau weißt, mein lieber Prinz. Er kam nicht oft zu dir in den Sommerpalast. Aber immerhin öfter als dein Vater. Er muss dir doch im Gedächtnis geblieben sein.«

»Das ist er: Ein großer, derber Kerl ohne Manieren, aber mit mehr Arroganz gesegnet, als einem König zustände. Was soll er bewirken, liebste Vega? Denkst du, er marschiert alleine gegen die Heere des Adels?«

»Nein, nicht alleine. Warte nur, bis bekannt wird, dass der Marschall wieder im Reich ist und vor dem wahren Thronerben niederkniete. Er und alle Heere des Adels marschieren gegen den aufständischen Adel, mein dummer Prinz.«

»Und was springt für dich dabei heraus, Vega?«

»Dich auf dem Thron zu sehen, Dummkopf. Ich will, dass du dein Recht bekommst. Du bist besser als dein Vater. Du wirst diesem Reich Frieden geben.«

Er lehnte sich zurück und sah zu ihr auf. »Und noch?«

Vega schlug die Augen nieder und zwang die kochende Hitze in ihrem Bauch zur Ruhe. »Was willst du noch wissen?«

»Ich weiß, dass du mich liebst und viel deswegen auf dich nimmst, Vega, für das du niemals geboren warst. Aber du bist ebenso wenig selbstlos wie ich. Also?«

Sie hob den Kopf und sah dem Prinzen in die Augen. »Ich will Rache, mein Prinz. Ich will den Kopf des Schweins auf einem Silbertablett. Ich will sein Blut.«

Er hob die Hand und streichelte ihr sanft über die Wange. »Siehst du, Vega? Ich wusste es. Das sollst du haben, mein armer Liebling.«

 

Es war ein altes Bollwerk gegen Tiere und noch gefährlichere Räuberbanden. Meterhoch türmte der Sandwall sich auf, auf dessen Krone einst eine hölzerne Palisade gestanden haben musste. Reste eines gemauerten Fundaments waren noch vorhanden.

Vega stieg auf den Wall und sah in das wilde Land hinab. Am Fuße der Erderhebung war ein Graben ausgehoben worden, in dem nun Brombeeren und Sträucher wucherten. Einzig ein Turm erhob sich noch in den von Dämmerung violett gefärbten Himmel.

Tief atmete Vega durch, fühlte das Land unter dem Wall sich vor ihr ausbreiten. Irgendwo dort lag Metis Hald. Und auf halber Strecke zur Hauptstadt versteckte sich der Prinz.

Vega vernahm beinah unhörbare Schritte und fuhr hastig herum.

Juran stand hinter ihr. Das Klirren seiner Rüstung hätte ihn verraten müssen, dachte sie noch verwirrt, bis sie die Mönchskutte erkannte, die er statt seiner Panzerung trug. Er sah so schlicht darin aus, und das lag garantiert in seiner Absicht. Fromm, demütig, ein einfacher Mönch mit prachtvollen Schultern und Händen voller Narben, wie jeder Schwertkämpfer sie in seinem Dasein davonträgt. Narbig, aber noch vollständig.

Sein Blick flog über das Land. »Man glaubt fast, einen Lichtschimmer am Horizont zu sehen, nicht wahr? Ich weiß, dass wir drei Wochenreisen von der Hauptstadt entfernt sind, aber Metis Hald ist so riesig, dass man sein Leuchten erwartet.«

Sie hatte sich von ihrem Schrecken erholt und nickte jetzt. »Ja, ich gebe zu, dass ich deswegen auf den Wall gestiegen bin. Ich wollte überprüfen, ob man es schon sehen kann.« Sie wandte sich zum Gehen.

Juran griff nach ihrem Oberarm. Seine Hand war groß und warm – und erstaunlich sanft. »Wovor rennst du davon, Mädchen?«

»Vor nichts!«

»Deine Tugend ist bei mir sicher, liebes Mädchen. Das weißt du, nicht wahr?«

Sie sah zu ihm auf. War seine angebliche Keuschheit echt? Hatte er sechs Jahre tatsächlich in Enthaltsamkeit gelebt? Vega wollte ihm das nicht abnehmen!

»Hatte ich dir nicht gesagt, dass ich in Gesichtern lesen kann?«, fragte er sanft, und seine Stimme war so tief, dass Vega fast meinte, sie in ihrer eigenen Kehle vibrieren zu spüren.

»Warum?«, gab sie zurück, nachdem sie geschluckt hatte, um dieses Kribbeln aus ihrem Hals zu bekommen.

»Du zweifelst an mir, Vega. Du glaubst nicht an meine Treue zu meinem Gott und meine Überzeugung, dass ich meine Seele nur durch Gebete und das Befolgen aller Regeln retten kann. Gutes Kind, ich bin für meinen König durch Blut gewatet. Das hinterlässt Spuren. Früher einmal wärst du nicht sicher vor mir gewesen. Aber ich habe die Fehler meines bisherigen Daseins eingesehen. Du hast nichts von mir zu befürchten.«

»Das glaubst du wirklich?«, entschlüpfte es ihr, ehe sie ihre Zunge hüten konnte.

»Dass nur der Segen meines Gottes mein Sünderdasein reinwaschen kann? Oder dass du vor mir sicher bist?«

Sie sah das Lachen in den Augen, wie sich die winzigen Fältchen rund um sie vertieften. Ein behagliches, spöttisches Lachen, das die fromme Kutte Lügen strafte.

»Beides. Bruder Juran, ich kann nicht glauben, dass du in den vergangen sechs Jahren nur fromm und brav gewesen bist. Es gibt so viele Geschichten über dich, dass du rot anlaufen müsstest, weil ich sie alle gehört habe!«

Jetzt lachte er – nicht laut, aber er warf den Kopf leicht zurück, die ebenmäßigen Zähne leuchteten im Dämmerlicht auf, wirkten beinahe unheimlich wie das Gebiss eines Raubtieres. »Kann ein Mann sich nicht ändern, kleine Vega? Und wie unschicklich, deine Ohren mit solchen Einzelheiten zu beschmutzen.«

»Wasser und Seife, mein frommer Bruder. Aber die Geschichten blieben in meinem Hirn.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Was hast du freches kleines Ding nur alles aufgeschnappt?«

»Genug.« Sie lachte ihn aus. Es gefiel ihr, ihm so nahe zu sein, keinen besorgten Tigenus in der Nähe zu haben, keinen Aufpasser außer Juran. Sie war sich sicher, dass er sie vor allen weltlichen Gefahren beschützen würde – wenn sie diesen Schutz denn überhaupt brauchte. Um ihre Seele machte sie sich keine Sorgen. Er war zu alt. Er konnte ihr nicht gefährlich werden, selbst wenn er es darauf anlegte, sagte sie sich.

Er gefiel ihr, und sie war so ehrlich, das vor sich zuzugeben. Doch mehr als zwanzig Jahre lagen zwischen ihnen, und er hatte diese zwei Jahrzehnte auf unrühmlichste Weise verbracht, wenn er nicht gerade den Helden mimte. Es konnte nichts geben, was er über einen weiblichen Körper nicht wusste. Oh, er musste gut sein, zumindest war er selbst davon überzeugt. Doch der König war ebenso umtriebig gewesen wie sein Marschall, und Vega bezweifelte, dass eine Frau in den Armen des Königs wirklich jemals glücklich gewesen war. Vielleicht war Juran anders. Sie würde es nicht herausfinden, weil sie kein Interesse an ihm hatte.

»Wer bist du, Vega? Warum hat mein Prinz es nötig, eine so bunte Truppe zusammenzustellen – ein Lehrer, Knechte, Soldaten, zwei Priester – und dieser dann noch ein Mädchen hinzuzufügen, das kaum trocken hinter den Ohren ist?«

»Priester?« Sie starrte ihn entsetzt an.

»Die beiden Kerle, die sich nicht einmal alleine ihre Hosen hochziehen können, nachdem sie im Gebüsch waren.« Er verlagerte leicht sein Gewicht, und jetzt wirkte er wie Civo – sprungbereit und wachsam.

»Das sind Priester? Ich meine … bist du dir sicher, Juran?«

»Kleiner Sonnenschein, ich lebe seit sechs Jahren zwischen solchen Figuren. Natürlich bin ich sicher. Ihre Anwesenheit scheint dich nicht zu freuen. Was ist so schlimm daran?«

Sie hörte ihn kaum noch. Es pochte in ihren Ohren und ihrer Kehle, drückte ihr die Luft ab. Juran hatte sie zwischenzeitlich losgelassen, aber jetzt packte er sie mit beiden Händen an den Oberarmen und zog sie mit einem kraftvollen Ruck näher zu sich, als wollte er eine tröstende Umarmung anbieten, ohne sie aufzudrängen.

»Werde mir nicht ohnmächtig, Vega.«

Eine große Hand tätschelte ihre Wange, und Vega spürte die Schwielen an den Fingern und in der Handfläche, die vom Schwertheft kamen. Sie legte ihre Hand auf seine und hielt sie für einen Moment auf ihrer Wange fest. Keuchend rang Vega nach Atem. Aber der Schwindel verflog, zurück blieben Hitze in ihrem Bauch und Schmerz von Zorn und Enttäuschung.

»Wozu brauche ich Priester?«, würgte sie hervor, weil sie irgendetwas sagen musste, weil Juran sie prüfend und besorgt ansah und nicht daran dachte, den Blick von ihr zu nehmen und ihr die Einsamkeit zu gönnen, die sie nun brauchte.

»Ich möchte viel mehr wissen, warum du dich darüber so aufregst. Ja, sie sind Ballast. Aber falls wir wirklich in Schwierigkeiten geraten, brauchst du gar nicht mehr zu deinem Schutz als Civo und mich. Und das ist keine Prahlerei, kleiner Sonnenschein.«

»Gehört es sich für einen Mönch, eine Frau so anzusprechen?«, schnappte Vega, bevor er weiterbohren konnte.

»Wahrscheinlich nicht, nein. Entschuldige, das ist mir so herausgerutscht. Doch wenn wir bedenken, welche Attribute meinem Gott der Vielfalt und Fruchtbarkeit …«

»Wenn du weiter solchen Unsinn erzählst, Marschall, werde ich schreien!«

»Ich hatte dich gebeten, mich nicht so zu nennen.«

»Dann verschone mich mit deinen Attacken von Frommheit.«

»Dir kann man es aber auch gar nicht recht machen, kleines Entzücken. Nun gut. Was ist mit den Priestern? Sollen wir sie morgen früh einfach hier vergessen?«

Sie sah mit einem Ruck zu ihm auf und konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. »Das würdest du tun?« Wie hat er mich eben genannt?

»Wie ich schon sagte: Sie sind Ballast.«

»Und was ist mit Nächstenliebe?«

»Sie gehören nicht zu meinem Orden. Und mein Gott propagiert Fruchtbarkeit – keine Nächstenliebe.«

»Fruchtbarkeit und keusche Mönche passen nicht recht zusammen, finde ich.«

»Ich bin leider weder ein Acker noch ein Obstbaum. Ich bin nicht einmal ein Rindvieh – auch wenn du mir bestimmt etwas anderes sagen möchtest. Meine Fruchtbarkeit ist nicht gefragt. Wenn ich meinem Vorstand glaube, was ich selbstverständlich tue, habe ich all meine Fruchtbarkeit in jungen Jahren ausgelebt und sollte meinem Gott danken, dass er mir das ermöglichte.«

Sie kicherte begeistert, schlug die Hand vor den Mund und prustete laut los, als Juran wie ein waidwundes Reh seufzte.

Vega bekam kaum noch Luft und konnte nur mit Tränen in den Augen zu dem alten Quälgeist aufsehen, als das Lachen endlich verebbte.

»Schön, dass es dir jetzt besser geht. Sind die Priester ein Problem für dich, Vega?«

»Nein«, log sie.

»Warum stören sie dich so? Und warum hat man sie dir mitgegeben? Um mich auf Abstand zu halten?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin enttäuscht, dass man mir so nutzlose Leute mitgab, denke ich.« In ihr kreisten die Gedanken: Wussten die Priester, warum sie hier waren? Dachten die Kerle womöglich, dass sie für Jurans Seelenheil den Trupp begleiteten? Was hatte der Prinz ihnen gesagt?

»Du wirst es mir sagen, wenn du die Zeit für richtig erachtest, vermute ich.« Er reckte sich und reichte ihr die Hand, um Vega sicher vom Wall zu gleiten.

Vega legte ihre in seine, spürte wieder die Schwielen und fühlte sich merkwürdig geborgen, obwohl dieser unmögliche Kerl sie beständig zu durchschauen schien. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Das tat er doch nicht wirklich, oder?

»Wenn sie mir auf die Nerven gehen, werde ich sie schon loswerden, kleines Lieb.« Er lächelte auf sie herab, und die Hitze in ihrem Bauch nahm für einen Moment beinahe schmerzhaft zu, bevor es sich freier atmete.

Noch nie hatte sie einen Menschen wie Juran getroffen. Er war unberechenbar, eingebildet und tat ganz bestimmt nur so fromm. Trotzdem verspürte sie vollkommene Gewissheit, dass sie bei ihm in Sicherheit war.

Er führte Vega zum Fuß des Turmes, wo bereits ein Feuer brannte, der Wagen als Schlafgemach für Vega vorbereitet war und wo Civo unruhig um ein dunkles Bündel herumstrich.

Der Geruch von frischem Blut stach Vega nahezu in die Nase.

»Hast du für unser Abendessen gesorgt, Civo? Das ist ganz reizend. Aber du musst ihnen deine Beute auch überlassen.« Juran klang zärtlich tadelnd, und Vega ertappte sich dabei, dass sie sich fragte, ob er im Bett ebenso klang. Ein verbotener, gefährlicher Gedanke. Sie schob ihn energisch beiseite.

Civo maunzte anklagend und sprang mit einem langen Satz auf das Wagendach, rollte sich ein, legte beide Vordertatzen auf den Kopf und behielt die weitere Behandlung seiner Beute misstrauisch im Auge.

Vega nahm am Feuer Platz und sah zu den beiden Männern, die laut Juran Priester sein sollten. Der Schmerz kehrte zurück. Ihr Prinz hatte ihr diese beiden mitgegeben. Nicht wegen Juran, um auf dessen Seelenheil achtzugeben. Um auf sie aufzupassen. Ihr Prinz traute ihr nicht. Hätte er ihr klar gesagt, dass er ihr Priester mit auf den Weg gab, hätte sie dies mit so viel Anstand wie möglich hingenommen. Aber die Heimlichkeit bereitete ihr Sorgen. Die reine Anwesenheit der Männer machte sie zornig. Vielleicht sollte sie wirklich den Mönch drängen, diese lästigen Anhängsel irgendwo zurückzulassen. Sie konnte ihn gewiss überzeugen, dass die Anwesenheit der beiden eine Beleidigung für ihn war, denn er war ja brav, fromm und keusch. Sah man von verbalen Entgleisungen ab, die mehr als nur nah an Koseworten waren.

Der arme Kerl war seit sechs Jahren ohne weibliche Nähe ausgekommen. Wenn tändelnde Anreden das Einzige waren, das sie von ihm zu befürchten hatte, war es gut und machte ihr auch nichts aus. Zu mehr würde es nicht kommen. Dafür konnte sie sehr gut sorgen – noch besser sogar, wenn sie die verdammten Priester los war!

Der Stachel saß tief, dass von allen Menschen auf dieser Welt ausgerechnet ihr Prinz ihr misstraute.

Etwas rieb sich warm und weich an Vegas Schulter, und sie zuckte zusammen, rutschte auf dem Hintern herum und sah in Civos schimmernde Augen. Jetzt schnurrte er – nachdem er sie so erschreckt hatte! Über das Lagerfeuer hinweg trafen sich ihre Augen mit Jurans. Der wissende Ausdruck in ihnen machte ihr ein wenig Angst.

Vega streckte behutsam die Hand aus und streichelte das dichte, weiche Fell der Kriegskatze, die genüsslich die Augen schloss, die Krallen in den Boden schlug und sich der Liebkosung schnurrend entgegen drückte.

Hatte Juran die Katze zu ihr gesandt? Oder hatte Civo ganz alleine bemerkt, dass sie ein wenig Aufmunterung brauchte? Es war gleich, denn es tat gut, die Finger tief in den Pelz zu bohren, die warmen Muskeln zu fühlen. Sanft vibrierte der ganze Körper der Katze mit einem Schnurren unter Vegas Fingerspitzen.

3.

Dorfleben

 

Das Problem, wie sie die Priester loswerden sollte, erledigte sich von ganz alleine. Später schämte Vega sich über ihre Erleichterung, aber nicht in dem Moment, in dem es geschah.

Ihr Weg führte entlang einer hochaufragenden Bergkette durch ein breites Tal. Bereits auf dem Hinweg zum Kloster hatten sie es passiert, und Vega wusste ganz genau, dass sie irgendwann auf ein kleines Dorf stoßen würden, das sich an die aufsteigenden Berghänge schmiegte. Der Trupp hatte nur eine Nacht dort verbracht und Wasser und Vorräte aufgefüllt. Doch die kleinen, grasgedeckten Häuser, die in Stufen vom fruchtbaren Weideland den Berghang hinaufzuklettern schienen, hatten Vega gefallen. Als sie sich nun auf dem Rückweg dem Dorf näherten, fühlte sie eine gewisse Vorfreude auf etwas Vertrautes, mehr nicht.

Civo war vorgelaufen und kehrte nun mit wild peitschendem Schwanz zurück. Er eilte an Jurans Seite und maunzte, und als würde er die Sprache seines vierbeinigen Gefährten verstehen, nickte Juran, kontrollierte mit einer beiläufigen Bewegung den Sitz seines Helms und zog das Schwert.

Vega, die ihm auf seinem Fußmarsch erneut Gesellschaft geleistet hatte, sah ihm bei diesen Vorbereitungen mit großen Augen zu, bis ihr Blick auf die schwarze Klinge fiel, deren geschliffene Fläche ebenso mattsilbern glänzte wie die Beschläge auf Jurans Rüstung.

»Steig in den Wagen. Hast du eine Waffe, um dich notfalls verteidigen zu können?«

»Warum? Juran, was ist los?«

»Ich weiß es nicht. Civo hat Gefahr entdeckt, das ist alles, was mir bekannt ist. Steig ein, Kleines. Streite nicht mit mir.«

Vega nickte und gehorchte ihm, und er gab den beiden Priestern einen Wink. »Aufs Dach. Männer, zu mir. Wir gehen vor und sehen uns an, was Civo entdeckt hat.«

Die Soldaten folgten umgehend der Stimme der Autorität. Etwas anderes hatte Vega nicht erwartet, aber es tat gut, diese Bestätigung ihrer Hoffnungen zu sehen. Ebenso würden die Armeen auf die Rückkehr des Marschalls reagieren, sie war sich ganz sicher. Die Nachricht von seiner Heimkehr würde wie ein Lauffeuer durch die Ränge rasen und jeden Soldaten in das Feuer der Begeisterung stürzen. Die Adligen, die den Prinzen bedrängten, hatten gar keine Chance.

Vega kletterte zu Tigenus in den Wagen, zog den Schlag zu und stieg über Vorratskisten zu ihrer Reisetasche.

»Hohe Dame …«

»Still, er kann dich noch hören, du Dummkopf!«

»Was kann ich tun? Du weißt, dass ich dich mit meinem Leben schützen werde.«

»Ich bin wehrhafter, als du glaubst.«

»Das weiß ich. Aber ich denke, es ist in deinem Interesse, wenn niemand außer mir das begreift.«

»Warum?«

»Weil die Überraschung dann größer ist.«

»Die beiden Männer«, sie verdrehte die Augen nach oben, von wo Geräusche zweier sehr Ungeschickter erklangen, die sich zwischen Gepäckstücke quetschen mussten, »sind Priester. Dreimal darfst du raten, wer sie mir auf den Hals gehetzt hat. Die wissen, dass ich mich wehren kann.« Sie lächelte böse und erkannte an Tigenus‘ Gesichtsausdruck, wie erschreckend dieses Lächeln tatsächlich gewesen war. »Es tut mir leid«, sagte sie leise.

Tigenus nickte tapfer, stopfte seine Rollen unter den Sitz und packte seinen Wanderstab fest in beiden Händen.

Armer Tigenus. Dafür bist du nicht gemacht. Du bist ein guter Lehrer und ein tapferer kleiner Kerl. Aber nicht mehr. Was hat mich nur geritten, dich auf diese gefährliche Reise mit mir zu nehmen? Ich weiß es. Ich wollte ein bekanntes Gesicht um mich haben, jemanden, dem ich vertraue, weil er weiß, wie ich sein kann, wenn ich zornig werde. Jemanden, der dann keine Angst vor mir hat.

Vega sich zog ein Schwert aus ihrem Bündel. Kleiner als die mächtige Klinge, die der Hüne Juran führte. Klein, gebogen und rasiermesserscharf. Vega konnte sich ihrer Haut wehren. So oder anders. Aber es war besser, das Schwert zu verwenden, um einen befürchteten Angreifer zu seinen Ahnen zu schicken.

Für sie – und sehr viel mehr für Juran und den Prinzen. Deswegen die Priester, verdammt!

Sie beugte sich aus dem Fenster, um mehr sehen zu können. Mit etlichen Schritten Vorsprung marschierte Juran umgeben von seiner winzigen Armee vor dem Karren. Der lange blaue Umhang wehte leicht in der Brise und zeichnete die kraftvollen Bewegungen des Mönchs nach. Die ersten Häuser kamen in Sicht.

Vega hielt angespannt die Luft an. Civo trabte neben der Kutsche, als hätte Juran ihn als besonderen Leibwächter ein Stück weit zurückgeschickt. Aber ebenso gut konnte es sein, dass er der Katze nur viel Platz für einen tödlichen Anlauf geben wollte. Es war erschreckend, wie rasch diese Tiere beschleunigen konnten – um sich dann ihrer Gegner anzunehmen.

Juran bewegte den freien Arm ein wenig. Eine kleine Geste, und zwei seiner Soldaten schwenkten sofort in die angegebene Richtung, während der dritte Mann halb hinter dem Marschall blieb.

Marschall, kein Mönch. Das da vorne war einer der besten Krieger, die dieses Reich gesehen hatte. Wenn tatsächlich Räuber in dem kleinen Dorf lauerten, konnten sie Vega beinahe leidtun. Aber wer Juran aus der Ferne sah, wie er die drei Soldaten um mehr als Haupteslänge überragte, wie geschmeidig seine Bewegungen waren, und dann nicht türmte, war selbst schuld, diesem Kerl zum Opfer zu fallen.

Und wer meint, die derzeitige Lage des Prinzen ausnutzen und auf Raub gehen zu können, hat es ohnehin nicht besser verdient.

Sie streichelte angespannt das lederumwickelte Heft ihres Schwertes und starrte voraus, um genau zu wissen, was da los war. Nichts regte sich. Keine Tiere, keine Menschen, keine schreienden Kinderhorden, die der Kutsche neugierig entgegen rannten. Das Dorf lag da wie ausgestorben.

Mit einer weiteren kaum sichtbaren Geste schickte Juran den dritten Mann seitlich von sich weg und ging alleine und in der vollen Pracht seiner teuren Rüstung über den Sandweg, der ins Dorf führte.

Civo gab ein leises, murrendes Geräusch von sich, senkte den Kopf tief zwischen die Schultern und war so offensichtlich bereit für einen Angriff, dass Vegas Kehle trocken wurde.

Juran ging langsam und wachsam weiter. Die Schwertspitze zeigte von seinem Körper weg und zu Boden. Der muskulöse Arm war nur ein wenig zur Seite gerichtet.

Vega hielt die Anspannung nicht mehr aus. Da vorne ging ihr Marschall, den der Prinz so dringend brauchte. Mit einem Mal bekam sie Angst um Juran. Er war zu kostbar, um sein Leben in einem kleineren Scharmützel zu riskieren. Was, wenn der alte Mann seinem sicheren Tod in den weitaufgerissenen Rachen spazierte?

Das Zittern von Vegas Muskeln übertrug sich auf die Schwertklinge, die leise zu summen schien.

Dann ein Schrei! Vom Wagendach, wo die Priester saßen und die beste Aussicht hatten.

Der blaue Umhang flatterte im Wind, als Juran in eine atemberaubend schnelle und leichtfüßige Drehung wirbelte. Wie etwas Lebendes zuckte das Schwert nach oben, vollzog den Wirbel um die eigene Achse gemeinsam mit dem Marschall, und ein Körper sank zu Boden. Der Kopf rollte den Weg hinab.

Aus den Häusern erhob sich Geschrei, das nicht aus menschlichen Kehlen stammen konnte. Doch waren es Menschen wie jener, den Juran enthauptet hatte, die nun auf die sandigen Wege stürmten, aus Türen und Fenstern quollen wie Ratten aus einem überfluteten Keller.

Es waren so viele!

Und Juran stand nur da, das Schwert wieder entspannt halb gesenkt, während der Wind mit dem Mantel spielte und die Sonnenstrahlen auf seiner Rüstung reflektierten, sie golden und rot aufleuchten ließen.

Civo machte ein ungeduldiges Geräusch, duckte sich zum Sprung.

Juran gab der Katze einen Wink mit der freien Hand, und Civo raste als goldener Schimmer von der Kutsche weg, beschleunigte, bis er nur noch ein heller Streifen in der Landschaft war. Er erreichte Juran und sprang über diesen hinweg den ersten Gegner an. Blut spritzte, als die Kriegskatze eine Kehle zerfetzte.

Vega gab ein leises Knurren tief in der Eigenen von sich, und Tigenus’ Hand schoss vorwärts und packte ihr Handgelenk.

»Hohe Dame«, flüsterte der Lehrer eindringlich.

Aber sie wollte dort hinaus und die Schweine abstechen, die dem Marschall zu nahe kamen. Sie … Ihr stockte der Atem, als Juran aus seiner scheinbaren Starre erwachte und sich vorwärts warf.

Alter Mann, hatte sie das wirklich gedacht? Wie blind hatte sie sein können?

Das Schwert glitt scheinbar mühelos durch Hälse und Brustkörbe, hieb Arme und Beine ab.

Die Angreifer stürmten zu fünft und sechst auf ihn zu, und er rührte sich nicht vom Fleck, behauptete seinen Standort, während er jeden, der ihm auch nur zu nahe kommen könnte, niedermähte.

Irgendwo im Getümmel befand sich Civo und hielt seinem Herrn den Rücken frei. Vega hörte das Fauchen und Schreien der großen Katze bis zur Kutsche – die sich immer noch bewegte! Warum hielten die Fahrer nicht an?

»Tigenus? Warum stehen wir nicht?«

Er starrte sie aus angstgeweiteten Augen an, und nichts hielt Vega mehr in dem engen Kasten. Sie riss den Schlag auf, sprang mit gezücktem Schwert auf den Sandweg und rang um ihr Gleichgewicht, bevor sie zwei Schritte nach vorne rannte.

»Hohe Dame!«, schrie einer der Priester. »Wage es nicht!«

Sie ignorierte ihn, denn nun sah sie, warum die Echsen immer noch behäbig vorwärtsmarschierten. Menschliche Kämpfe interessierten die Tiere nicht. Sie gingen einfach weiter und weiter, bis ein Gegenbefehl kam. Und der konnte nicht kommen, da beide Knechte fort waren.

»Wo sind sie? Warum haltet ihr den Wagen nicht an? Seid ihr zu gar nichts nütze?«, schrie Vega in heller Wut. Und wie immer, wenn sie zornig wurde, brannte etwas heiß in ihren Eingeweiden, kratzte von innen an ihrer Bauchdecke.

Sie erntete nur entsetzte Gesichter.

»Ich habe euch etwas gefragt, Priester! Antwortet mir, wenn ihr nicht meinen Zorn spüren wollt, ihr verdammten Schweine!«

Einer hob die Hand und deutete auf etwas hinter ihr.

Vega atmete tief ein und wirbelte im gleichen Herzschlag herum.

Die beiden Soldaten, die Juran zur Seite geschickt hatte, um die Kutsche zu beschützen, um sie nicht in seiner Nähe zu haben, wo sie allzu leicht ihm selbst zum Opfer fallen konnten, waren verloren. Die Dorfbewohner zerrissen sie mit bloßen Händen. Blut spritzte – mehr noch als bei Civos erstem Opfer.

Rot bespritzt standen die Dorfbewohner einen Moment still da, bis ihre Blicke zur Kutsche flogen und somit auf Vega fielen.

»Marschall!«, schrie sie, als eine Gruppe von mehr als zwanzig Männern beinahe im Gleichschritt auf sie zukam. Die Münder verzerrt zu Grimassen, die Zähne gebleckt und voller Blut. Die Gestalten krümmten die Finger zu Klauen. Bis zu den Ellenbogen waren die Arme rot gefärbt.

Vega bezog schwer atmend Position. Hinter sich hörte sie die Räder über Sand knirschen. Die Echsen stapften immer noch ungerührt weiter. Die Priester waren wirklich zu nichts zu gebrauchen! Gut, dann konnte das Gefährt Vega wenigstens nicht behindern, ihr nicht den Raum zum Schwungholen nehmen.

Civo schrie, fauchte ohrenbetäubend und flog rücklings in die heranmarschierende Gruppe. Unter seinem Gewicht und dem Schwung seines Angriffs ging einer der Männer zu Boden. Wenn es Männer waren. Sie stanken. Sie rochen nach Verwesung und verschimmeltem Blut. Ihre Haut war grau, in den Augen loderten Leere und Blutdurst.

Was waren sie? Vega zwang sich, ruhig und tief zu atmen.

Über dem Kreischen der großen Katze und dem Stampfen der nackten, blutigen Füße hinweg vernahm sie ein leises Klirren, spürte eine Bewegung an ihrer Seite und wollte mit einem heiseren Aufschrei zur Seite springen und angreifen. Etwas mit Klauen griff nach ihr, während sie einen Blick in katzengrüne Augen erhaschte – so weit über ihr – und endlich verstand, dass Juran da war, um sie zu verteidigen.

Er roch nach frischem Schweiß, nach altem Blut und faulendem Fleisch. Seine Rüstung dampfte in der kalten Luft von seiner Körperwärme. Seine Hand schloss sich fest um Vegas Unterarm. Die Dornen seiner Handschuhe waren es gewesen, die sie so erschreckt hatten.

»Bleibe hinter mir. Greife nicht ein. Versuche nicht, mich zu retten. Verteidige nur dich selbst, falls einer an mir vorbeikommt.«

Die Ruhe in der tiefen Stimme sickerte in Vegas bebende Muskeln, vertrieb das lodernde Feuer in ihrem Inneren und gestattete ihr, freier zu atmen.

Dann war er weg.

Sein Mantel flatterte hinter ihm her, zeichnete seine großen Schritte, beinahe Sprünge nach, wehte wie ein Kriegsbanner um ihn herum, als er in eine Drehung flog und gleich fünf Gegner auf einen Streich enthauptete.

Er war zu schnell. Kein Mann seiner Größe und seines Gewichts sollte sich so rasch bewegen können. Kein Krieger seines Alters sollte so leichtfüßig und unermüdlich kämpfen können.

Sie hörte seine Atemzüge, das leise Keuchen, fast ein Fauchen wie das der Kriegskatze, wenn er zustieß, das Schwert durch Muskeln, Knochen und Sehnen trieb.

Die Kutsche rumpelte weiter, aber Vega merkte es kaum. Sie konnte den Blick nicht von Juran wenden. Sie atmete Blutgeruch ein, aber es machte ihr nichts aus. Sie roch seinen Schweiß, hörte Juran atmen, arbeiten und Gegner um Gegner in Stücken zu Boden senden. Er watete durch Blut und Eingeweide. Er schien nicht zu ermüden.

Dann war es mit einem Mal vorbei. Der Mantel hing in ordentlichen Falten hinab, das untere Drittel mit Blut und anderen menschlichen Körperflüssigkeiten vollgesogen.

Vega atmete durch den Mund. Es war so schwer, ruhig zu bleiben, nicht vorwärtszustürmen und sich an den Arm dieses Mannes zu hängen, sich zu überzeugen, dass er in einem Stück war.

Sie sah, wie sein Brustkorb sich heftig hob und senkte, als er langsam das Schwert wieder in Ausgangsstellung brachte und um sich sah.

Civo tauchte aus dem Leichenhaufen neben ihm auf und maunzte. Es klang fröhlich und unbeschwert. Die runden, bernsteinfarbenen Augen waren mit einem unschuldigen, anbetenden Ausdruck auf den Herrn der Kriegskatze gerichtet.

Langsam drehte Juran sich um und lächelte angesichts Vegas. Er wies mit einer lässigen Geste auf ihr Schwert. »Wunderschön. Wie gut kannst du damit umgehen?«

»Ich wäre nicht mit ihnen allen fertiggeworden, falls du das wissen willst. Vor allem niemals so schnell.«

»Ich biete dir Ausbildung an. Es ist dumm, bewaffnet herumzurennen, wenn du nicht mit der Klinge umgehen kannst. Jeder, der dich mit einem Schwert erblickt, wird dich als Gegner sehen. Es ist eine schöne Waffe. Du wirst eins mit ihr werden, ich verspreche es.« Seine Stirn legte sich in Falten. Schweiß lief ihm über die Wangen. »Wo ist die Kutsche hin? Civo, sieh zu, ob du den letzten Mann findest, bring ihn zu uns. Wir gehen dem Wagen nach.«

Mit einer Selbstverständlichkeit, die sie empören sollte, streckte er die Hand nach Vega aus. Aber sie legte ihre Finger darein und ließ sich bereitwillig mit ihm ziehen.

Sie war froh, vom Blut und den Leichen wegzukommen, frischere Luft zu schöpfen – auch wenn das bedeutete, dass sie den Geruch eines siegreichen Helden in ihre Lungen ziehen musste. Egal was die Balladen und Gedichte verkündeten: Ein Mann, der frisch aus einer Schlacht kam, stank nach Schweiß und allem, was er getötet hatte.

Sie atmete tiefer ein: Auf diesen Kerl schien das nicht zuzutreffen. Trotz Blut und des widerwärtigen Verwesungsgeruchs, der wie ein feuchter Film an ihm klebte, roch Juran gut. Viel zu gut. Solcher Duft sollte nicht von einem keuschen Mönch aufsteigen. Verdammt. Und schon gar nicht von einem so Alten.

Sag dir das noch ein paar Mal, Vega, vielleicht glaubst du es dann ja auch. Hast du je einen jungen Mann so kämpfen sehen? Je solche Bewegungen und Kraft in einer Person vereint gesehen? Verdammt, der Mann ist seine eigene Armee! Ein dunkler Gedanke folgte: Der keine Aussicht auf Erfolg hat.

Der Wagen stand am Rande des Dorfes. Die Echsen schrien und stampften an der Deichsel.

»Verdammter Mist!«

»Mönche dürfen nicht fluchen!«

»Heiliges Licht!« Er ließ sie los und rannte begleitet vom Klirren der Rüstung zum Wagen.

Die Kutsche war kaum noch zu sehen. Über und über hingen Dorfbewohner wie Trauben an einem Rebstock an ihr, rissen Gepäck vom Dach. Blut lief in Bächen über das Holz.

»Tigenus!« Der Schrei kam aus Vegas tiefster Seele.

Er beschleunigte Juran noch mehr.

Hinter ihr erklang ein Fauchen, das zu einem Brüllen anschwoll, wie Vega es einer so kleinen Katze nicht zugetraut hätte – er reichte Juran doch nur bis zum Knie! Wie konnte er so schreien?

Es war ein Laut, der ohne Umwege über die Ohren direkt die Wirbelsäule packte, das Knochenmark aus ihr riss und sie stattdessen mit zerstoßenem Eis füllte, bis das Herz gefror.

Vega wirbelte herum, und da waren zwei der Dorfbewohner – und Civo fegte wie ein goldener Blitz über eine leichte Erhebung hinweg auf diese beiden zu, die Vega angreifen wollten.

Der Schrei war eine Warnung an sie gewesen, verstand sie endlich und suchte sich einen festen Stand, packte das schlanke Heft ihrer Waffe mit beiden Händen und holte tief Luft.

Zwei, nur zwei, und Civo war fast heran. Einer für Civo – einer für sie.

Die Gestalten bewegten sich nicht wie normale Menschen. Eher ruckartig, schlurfend. In ihren Gesichtern war nichts, was eine Seele haben konnte.

Civo flog wie ein Pfeil von der Sehne, die Vorderpranken vorgereckt, alle zehn Krallen zur Gänze ausgefahren, das schneeweiße Gebiss gebleckt. Er landete auf den Schultern des Gegners, hieb die Krallen mit solcher Gewalt ins Fleisch, dass es leise knackte, als sie Knochen trafen und Kopfhaut und Gesicht in einem einzigen, kraftvollen Ruck vom Schädel zogen. Civo brüllte noch einmal, und dann flog der Kopf zur Seite, als die Kriegskatze die Wirbelsäule durchbiss. Ein schauerliches Knirschen hallte noch in Vega wieder, als ihr Gegner sie erreichte.

Sie hielt das Schwert waagerecht in Kopfhöhe, die Spitze zum Gegner, die Arme eng angezogen, dann warf sie sich vorwärts, streckte die Arme und sprang auf ihren Gegner zu, wodurch sie ihm die Klinge durch den Hals trieb, durch Wirbel hindurch.

Der Gestank war Brechreiz verursachend und ließ Vegas Augen vor Ekel tränen. Sie drehte das Schwert und zerrte es zur Seite aus der zusammensinkenden Gestalt.

Civo sprang zu ihr, maunzte und rannte dann los – zu Juran, natürlich.

Vegas Knie wurden ein wenig weich, aber sie zwang sich, der Katze zur Kutsche zu folgen, wo sich nichts mehr rührte – außer den Echsen, die unruhig stampften und ihren weiteren Fortschritt offenkundig verwundert blockiert sahen. Dazu hätten sie über einen Ringwall von Kadavern treten müssen, und das vermochten sie nicht.

Das gesamte Gefährt war in Rot und das Grau von Eingeweiden gehüllt.

»Tigenus!« Vega stolperte von Entsetzen und Angst geschüttelt vorwärts.

Der Schlag stand offen, und nur ein blauer Umhang und breite Schultern waren zu sehen, bis Juran sich endlich umdrehte, einen kreidebleichen Lehrer hinter sich herziehend.

»Ruhig, mein kleines Licht. Er ist in einem Stück.«

»Tigenus!« Vega warf sich vorwärts und an die Brust ihres Lehrers, hielt ihn zitternd fest und konnte es nicht glauben.

»Ich habe gute und schlechte Nachrichten«, sagte Juran nach einiger Zeit.

Das Stampfen und Grunzen der Zugtiere war verstummt. Vega, die die ganze Zeit Tigenus nicht losgelassen hatte, vermutete, dass der Marschall die Echsen beruhigt hatte.

»Zuerst die Schlechte«, sagte Vega und gab Tigenus endlich frei, der stockstarr in ihrer Umarmung verharrt hatte.

»Die Soldaten sind tot. Die Knechte sind entweder ebenfalls Würmerfutter oder getürmt.«

»Verdammt.«

»Ja, genieße es nur, dass du fluchen darfst! Das ist nicht gerecht!«

Sie wischte sich Schweiß und Tränen der Erleichterung von den Wangen. »Was ist die Gute?«

»Die Priester sind tot.«

Sie starrte ihn für einen Moment fassungslos an, sah das träge Lächeln in seinen Augen, bis es seinen Mund erreichte, der sich in die Breite zog. Dann warf Juran den Kopf in den Nacken und lachte. Das weiße Gebiss schimmerte im Sonnenlicht. Er lachte, als hätte er niemals einen besseren Witz gehört.

Tigenus starrte ihn an, dann klappte dem armen Lehrer der Mund auf, als Vega in das Gelächter einstimmte. Sie platzte fast, als sie Tigenus‘ entsetztes Gesicht sah, legte ihm eine Hand auf die Schulter und brachte keuchend hervor: »In seinem Orden stört man sich nicht um Nächstenliebe.« Sie bekam Seitenstechen vom Lachen.

Civo grollte leise, und schlagartig war Juran ernst und wachsam. »Ich korrigiere mich. Einer der Jungen hat überlebt. Tapferer Kerl.«

Tatsächlich kam einer der Soldaten vom Schlachtfeld. Er humpelte, war kreidebleich und dreckverschmiert. Juran wischte das Schwert am Hemd eines Gefallenen ab, schob die Waffe zurück ins Gehenk und ging dem Soldaten entgegen.

Vega drehte sich halb um, um dem Mann entgegenzusehen.

Er kam bis zu Juran und fiel vor diesem auf die Knie. »Verzeih, mein Marschall, dass ich nicht an deiner Seite war.«

»Bei den Heiligen, mein Junge, du hast überlebt und dich tapfer geschlagen. Sei nicht dumm, steh auf und freue dich, dass dieser Tag nicht dein Ende gesehen hat.« Von der Stimme der absoluten Autorität zu einem kameradschaftlichen Ton, der einen einfachen Soldaten zum Ebenbürtigen eines Marschalls machte.

Kein Wunder, dass der König diesen Kerl hatte loswerden wollen. Vielleicht hatte er sogar nur deswegen geheiratet, um seine junge Frau in die Arme dieses Kriegers zu treiben, damit er endlich einen Grund hatte, Juran aus Amt und Würden zu entfernen. Wie konnte man einen solchen Krieger neben sich dulden, von dem ein Wort ausreichte, um alle Armeen den Palast stürmen und den König enthaupten zu lassen?

Wie Brüder kamen die beiden Männer zur Kutsche, und Vega sah das Leuchten in den Augen des jungen Soldaten.

»Können wir hier weg, bitte?«, murmelte Tigenus, der aussah, als wollte er erbrechen oder ohnmächtig zusammensinken.

Civo grollte leise. Er zerrte an dem Leichnam, dessen Hemd das Blut von Jurans Klinge aufgesogen hatte.

»Ich weiß, mein Freund. Du wirst es kaum glauben, Civo, aber das ist mir selbst im Schlachtengetümmel aufgefallen. Wir können hier nicht weg. Wir müssen die Leichen verbrennen.«

»Wegen der Seuchengefahr? Marschall, mach die Augen auf: Hier lebt niemand mehr, der sich eine Krankheit einfangen kann!«, schnappte Vega.

Er sah sie an, und wieder hatten seine Iriden sich leicht verfärbt. Jetzt waren sie schillernd grün wie die Schuppen einer Schlange. Er wies auf den Kadaver. »Sieh genau hin. Du führst ein Schwert. Wenn du noch kein Blut sehen kannst, wirst du dich daran rasch gewöhnen müssen. Dieser Mann ist seit mindestens drei Tagen tot.«

»Tot?«, echote Vega und setzte energisch hinzu: »Jetzt ist er tot. Eben griff er noch diesen Wagen an!«

»Sein Fleisch ist grau, seine Eingeweide grün. Sein Blut ist verklumpt und schwarz. Der hat seinen letzten Atemzug lange vor diesem Angriff getan. Wir werden die Leichen verbrennen.«

»Juran, der Prinz wartet auf uns!«

»Dann wird er warten müssen. Oder willst du in seine Festung flüchten - mit einer ganzen Armee dieser Kerle in deinem Nacken? Was einmal tot wieder aufgestanden ist, wird das vielleicht ein zweites Mal tun, denkst du nicht?«

Sie blickte auf die Leiche. Jedes von Jurans Worten entsprach der Wahrheit.

»Was ist das?«, fragte sie und fühlte sich mit einem Mal kleiner und noch jünger. Jetzt hätte sie nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn dieser riesige Kerl ihr tröstend die Wange getätschelt oder ihre Hand in seine genommen hätte.

Doch er zuckte nur die eindrucksvollen Schultern, was die Schulterstücke leise in ihren Verbindungen knarren ließ. »Civo, hol bitte die Waffen der beiden toten Soldaten. Und sei wachsam. Sobald sich etwas rührt, schlägst du Alarm, mein Freund.«

Die Antwort waren ein leises Miauen und ein goldener Schemen, der über das blutige Schlachtfeld sauste.

»Lehrer, du kletterst auf das Wagendach und hältst die Augen auf. Kleiner Sonnenschein, glaubst du, dass du für den Moment alleine bleiben kannst? Ich schwöre, dass ich niemals weit von dir weg sein werde.«

»Ich komme klar.«

»Sehr schön. Mein Sohn, lass uns gehen. Ich denke, wir schmeißen alles, was im Weg herumliegt, in die kleine Scheune da. Sie sollte um diese Jahreszeit gut mit Stroh und Heu gefüllt sein und eine ausreichende Ausgangsbasis für unseren Scheiterhaufen bilden. Wenn es erst einmal brennt, können wir immer noch Tote hineinwerfen.«

»Ja, mein Marschall.«

Juran klopfte dem Jungen auf die Schulter. Der Marschall beugte sich hinab, packte einen Toten am Handgelenk, einen zweiten an der speckigen Jacke und schleifte beide hinter sich her auf die Scheune zu.

»Das wird Stunden dauern«, flüsterte Tigenus.

»Ich weiß, aber was bleibt uns anderes übrig? Er hat leider recht. Stell dir vor, wir reisen weiter, und die ganzen Toten hier stehen auf und folgen uns. Sie bringen doch jeden um, der ihnen begegnet. So werden es immer mehr.«

»Hohe Dame, was mag dahinterstecken?«

»Ich weiß es nicht. Es muss Magie sein. Eine entsetzliche Abart davon.« Vega wandte sich um und sah zu ihrem Lehrer auf. »Und ich bin sehr froh, dass dir nichts geschehen ist.«

»Ich dachte, mein letztes Stündchen hätte geschlagen«, sagte er ehrlich und immer noch mit einem verdächtigen Zittern in der Stimme. »Sie waren überall. Ich hörte, wie sie die Priester töteten. Blut rann vor meinen Augen an den Fenstern hinab. Hohe Dame, noch nie hatte ich solche Angst. Sie kamen durch das Fenster. Dieser Gestank, ihre wahnsinnigen Augen! Und als ich dachte, dass jetzt alles zu Ende ist, war der Marschall da. Ich hatte mich ja gewehrt, so gut es ging.«

»Du bist kein Krieger, Tigenus«, sagte Vega sanft.

»Aber er … ich habe noch nie einen solchen Krieger gesehen, Hohe Dame.«

»Tröste dich. Ich war in Kasernen und am Rande von Schlachtfeldern. Ich bin am Schwert ausgebildet worden, und ich komme mir vor wie ein blutiger Anfänger. Tigenus, wie alt ist er? Weißt du das? Er muss doch jenseits der Vierzig sein!«

Er wischte sich angewidert Eingeweidereste vom Ärmel, bevor er nach einem vorsichtigen Blick ringsum antwortete: »Anfang vierzig. Glaube ich zumindest.«

»Das dachte ich auch. Aber ich kann es nicht fassen, wenn er sich bewegt. Hast du gesehen, wie schnell er ist?«

»Nein«, antwortete der Lehrer, ohne zu erröten. »Als er endlich auftauchte, schloss ich die Augen. Ich wollte dem Tod nicht ins Gesicht sehen. Ich habe nur gehört, wie er unter seinen Gegnern wütete, das hat mir vollauf gereicht.«

Sie lachte, ein wenig erstaunt über sich selbst.

»Hohe Dame, versprichst du mir, ganz vorsichtig zu sein?«

Sie hob die Brauen und sah fragend zu Tigenus auf.

»Der Marschall sieht und begreift mehr, als du denkst, fürchte ich.«

»Er ist im Kloster nicht senil geworden, sagte er mir schon. Von früher her hat er sich den Ruf einer gewissen Allwissenheit erworben. Ich denke, er besitzt einfach eine besonders gute Menschenkenntnis.« Sie dachte zurück an die Augenblicke, in denen Juran ihr vom Gesicht zumindest einen Teil ihrer Gedanken abgelesen hatte.

»Das kann schon reichen, Hohe Dame. Der Prinz hat dir die Priester nicht zum Vergnügen mitgegeben.«

»Das war zweideutig, Tigenus.«

Jetzt lief Tigenus rot an.

Freundlich sagte sie: »Ich nehme es dem Prinzen übel. Er hätte es mir sagen müssen. Aber er hat sie klammheimlich mitgeschickt, ohne mich zu unterrichten, dass es Priester sind. Er hat mich wie ein dummes Kind behandelt und mir bewiesen, dass er mir nicht traut.«

»Ich bin überzeugt …«

»Das war ich bislang auch. Jetzt nicht mehr. Ich bin traurig und verletzt. Wenn er mir nicht vertraut, wer dann?«

 

Das Feuer brannte die ganze Nacht. Keine der Leichen rührte sich, was eine ungemeine Erleichterung darstellte. Trotzdem kam Vega nicht auf die Idee, Jurans Entscheidung anzuzweifeln.

Tigenus bereitete Essen und Tee zu, aber kaum jemand aß. Kein Wunder, bei der widerwärtigen Aufgabe, die Marschall und Soldat gemeinsam erledigten. Vega überredete beide, zumindest Tee zu trinken.

Jetzt meldete sich auch ihr schlechtes Gewissen wegen der beiden Priester. Es half nichts, dass selbst Juran die beiden als Ballast und störend bezeichnet hatte. Es waren Menschen gewesen, und es war gleichgültig, dass Vega die Anwesenheit der beiden als persönliche Beleidigung seitens des Prinzen angesehen hatte.

Sie war mit beiden bis zum Kloster gereist, hatte sich mit ihnen unterhalten, gemeinsam mit ihnen gegessen und nachts auch unter deren Schutz geschlafen. Jetzt waren sie tot, und Vegas anfängliche Erleichterung, die beiden Störenfriede los zu sein, wandelte sich in dunkle Schuldgefühle.

Angesichts dieses Schlachtfeldes war es widerwärtig, sich über ein solcherart gelöstes Problem zu freuen. Hinzu kam, dass Vega ja für sich selbst beschlossen hatte, dass die Priester weder notwendig noch störend waren. Sie hatte keinesfalls vor, sich anders zu benehmen. Sie war Vega, und das wollte sie auch bleiben.

»Sieh dir Civo an, Hohe Dame«, sagte Tigenus leise neben ihr.

Sie hob den Kopf und sah, wie die Kriegskatze versuchte, einen Leichnam aus einem Graben zu ziehen. Die Fänge in den Nacken des Toten geschlagen, Hintern zuerst hopste sie fauchend rückwärts und zog die Leiche jeweils ein Stück weit mit sich.

»Das ist zu schwer für ihn«, sagte Vega überflüssigerweise und wollte aufstehen, um der Katze zu helfen.

Doch Juran trat aus den Schatten einer Hütte und sah die Mühen seiner Katze, bevor Vega sich erheben konnte.

»Dummer Kerl. Geh zu Vega und leg dich schlafen. Morgen wirst du unser aller Wächter sein.«

Civo ließ von dem Kadaver ab, maunzte unzufrieden und schlurfte dann mit hängenden Ohren und eindeutig unwilligem Gesichtsausdruck zum Lagerfeuer. Es fehlte nur noch, dass er unlustig ein Steinchen vor sich her trat.

Juran schaffte den Kadaver zur brennenden Scheune.

»Armer Civo«, begrüßte Vega die Kriegskatze, und Civo blieb stehen, legte den Kopf schief und musterte sie genau aus seinen goldenen Augen. Dann schnurrte er leise, kam zu ihr und ließ sich neben ihr zu Boden plumpsen.

Der Wind trieb den Gestank des Feuers vom Wagen weg. Tigenus kümmerte sich abwechselnd um die Echsen, das Gepäck und das kleine Lagerfeuer, neben dem ein Topf mit langsam abkühlender Grütze stand.

»Hohe Dame, willst du versuchen, ein wenig Schlaf zu finden? Ich passe hier auf.«

»Du siehst genauso müde aus wie ich.«

Er ging vor ihr in die Hocke. »Ich bin müde. Aber sieh zum Marschall und dem Soldaten. Sie werden die ganze Nacht arbeiten. Wir beide werden morgen gebraucht.«

Civo maunzte leise. Ganz offensichtlich wollte er in Erinnerung rufen, dass er auch noch da war.

»Lege dich zuerst schlafen, Tigenus. Ich wecke dich, wenn ich die Augen nicht mehr aufhalten kann.«

Der Lehrer nickte dankbar und kletterte in die Kutsche, ohne ein weiteres Wort zu verschwenden.

Civo presste seinen Kopf gegen Vegas Oberschenkel und schnurrte leise.

 

Vega erwachte von Rauch und Vogelgesang. Sie wühlte sich hustend aus ihren Decken und spähte aus dem Fenster des Wagens.

Zuerst sah sie nur den Soldaten, der zusammengerollt am Feuer schlief. Über allem lag Qualm wie eine dicke Decke. Die beiden Krieger hatten tatsächlich die Nacht hindurch gearbeitet. Nicht ein Kadaver war mehr in Sicht.

Dann trat Juran in ihr Gesichtsfeld, immer noch in voller Rüstung. Nur den Helm hatte er abgenommen. Mit einer sehr schmutzigen Hand wischte er sich über die raspelkurzen Haare, reckte sich und blickte zum Himmel auf.

Er sah zu Tode erschöpft aus. Tiefe Linien hatten sich in sein verdrecktes Gesicht eingegraben. Wie viele Menschen hatten in diesem Dorf gelebt? Waren die Angreifer nur jene gewesen, oder war die Armee der wandelnden Leichen von weiter weg gekommen und hatte die Dorfbewohner nur als zusätzliche Verstärkung geschluckt?

Vega drückte den Kutschschlag behutsam auf und kletterte nach draußen. Es war kalt, beinahe frostig. Der Rauch kitzelte in ihrer Kehle.

Juran wandte sich langsam nach ihr um. Nicht alarmbereit. Er wusste, wer da hinter ihm war.

»Möchtest du Tee?«, fragte sie, weil sie nicht einfach nach dieser Schlacht und der Nacht des Feuers einen Guten Morgen wünschen oder den Marschall fragen konnte, wie seine Nacht gewesen war.

»Tee wäre wunderbar.«

»Wir haben auch noch Grütze von gestern Abend.«

Er schüttelte den Kopf und ließ sich neben dem Feuer zu Boden, zog die langen Beine an und stützte für einen Moment den Kopf auf die Knie. Sie sah den mächtigen Brustkorb arbeiten und war ein wenig erleichtert, dass auch diese Kampfmaschine müde werden konnte.

Er atmete einmal tief durch und sah sie dann wieder an. »Du hast ein Schwert. Hast du eine Rüstung?«

»Nun …«

»Keine Ausflüchte. Bitte sag mir nicht, dass du wie ein dummes romantisches Mädchen Väterchens Schwert geklaut hast, um auf Heldenreise zu gehen und einem alten Mann zu imponieren.«

»Ich habe eine Rüstung«, sagte sie empört. »Und es ist mein Schwert! Der Prinz hat es für mich fertigen lassen.«

»Hol die Rüstung. Ich wäre dankbar, wenn du mir das Schwert für den Moment reichst. Ich möchte es mir ansehen.«

Diese Höflichkeit verwirrte sie, bis sie wieder vor Augen hatte, wie Juran in eine Drehung gewirbelt war und fünf Gegner auf einmal getötet hatte. Sein Schwert war sein verlängerter Arm, ein absolutes Werkzeug seines Willens. Vielleicht wirklich ein Teil seines Körpers. So eine Waffe gab ein Krieger bestimmt nicht gerne aus der Hand.

Sie nickte, stand auf und holte das Schwert aus der Kutsche, um es wortlos an Juran zu reichen. Dann stand sie da und wartete sein Urteil ab, anstatt gehorsam die Rüstung zu holen. Ein wenig Angst hatte sie, musste sie sich überrascht eingestehen.

Seine Augen waren vor Müdigkeit leicht gerötet, aber sie wirkten hellwach, während seine starken Finger über Heft und Klinge glitten. Er prüfte die Stärke und Biegsamkeit des Stahls und nickte schließlich. »So schön, wie mein erster Eindruck mir gesagt hat. Wie gut kannst du damit wirklich umgehen? Du hast einen von ihnen gestern abgestochen.«

»Ich kann mich gegen ein oder zwei Gegner verteidigen – wenn sie nicht so gut wie du sind.«

Er lachte auf. Es gefiel ihr, wie weiß seine Zähne in dem schmutzigen Gesicht blitzten, wie ehrlich erheitert er wirkte.

»Wir wollen hoffen, dass du niemals gegen jemanden wie mich antreten musst. Ich bin zu groß und zu stark für dich.«

»Und zu gut.«

»Ich hatte ein wenig mehr Zeit, meine Fähigkeiten zu vervollkommnen.«

Sie ließ sich vor ihm im Schneidersitz nieder, als er ihr das Schwert zurückgab. »Ich hatte den Eindruck, dass du die sechs Jahre im Kloster nicht vollkommen vertrödelt hast. Lag ich richtig?«

»Das tust du. Es gab immer mal Räuberbanden, die durch das Tal zogen. Zweimal kamen Soldaten von jenseits der Grenze. Sie alle haben lernen müssen, dass es kein Vorbeikommen am Kloster gibt. Civo und ich geben eine gute Wachmannschaft ab. Nach dem ersten Zwischenfall bestand der Vorstand glücklicherweise darauf, dass mir täglich einige Stunden zum Üben zur Verfügung gestellt wurden. Er versprach, dass er und meine Brüder während dieser Zeit besonders innig beten würden, um mein Fehlen im Gottesdienst zu entschuldigen und auszugleichen.«

»So in etwa hatte ich mir das vorgestellt«, sagte sie grinsend.

»Sonst wäre ich nach sechs Jahren auch nicht mehr wirklich nützlich für den Prinzen gewesen, kleiner Sonnenschein.«

Sie legte den Kopf schief und lächelte frech. »Dein Name hat immer noch Gewicht.«

»Noch viel mehr, wenn das Schwert in meiner Hand liegt. Lauf und hole deine Rüstung. Kannst du sie alleine anlegen, oder brauchst du Hilfe dabei?«

»Warum soll ich sie anlegen? Das Ding wird mir auf Dauer zu schwer. Du bist doch da, Juran.«

»Auch ich kann in einem Handgemenge feststecken und vielleicht einen Atemzug zu spät bei dir ankommen. Diskutiere nichts, wovon ich mehr verstehe als du. Dein Prinz hat dich zu mir geschickt. Bis ich dich heil wieder bei ihm abliefern kann, stehst du unter meinem Schutz und unter meinem Kommando. Solltest du auf die Idee kommen, in einer Gefahrensituation mit mir streiten zu wollen, wirst du Dresche beziehen – von mir höchstpersönlich. Sei versichert, dass ich auch Frauen schlagen kann, wenn sie sich durch Blödheit in Lebensgefahr bringen. Oder mich angreifen. Aber so dumm war noch keine.«

Sie ließ ganz offen den Blick über seine Gestalt fliegen, und Juran lachte wieder auf, schüttelte den Kopf und drängte: »Hol deine Rüstung. Ich helfe dir notfalls.«

»Ich kann sie alleine anlegen.«

»Tu nicht prüde. Nach der Musterung eben nehme ich dir das nicht ab, kleines Entzücken. Und ich bin ein vollkommen keuscher, frommer Mönch. Du hast nichts von mir zu befürchten.«

»Das glaube ich nicht einen Herzschlag lang, Marschall.«

Seine Augen blitzen vor Vergnügen. »Doch, glaub mir. Sechs Jahre Enthaltsamkeit liegen hinter mir. Du ahnst gar nicht, wie lang …« Eine kaum sichtbare Röte zog in seine Wangen. Seine Augen weiteten sich. Er verschluckte den Rest des Satzes mühsam und setzte trocken hinzu: »Hol die Rüstung, Mädchen.«

Sie ahnte, was er ungesagt gelassen hatte. Etwas kribbelte in ihr, das Thema weiter zu verfolgen. Aber dazu hatte sie noch Zeit, später, wenn er nicht länger beständig auf der Hut war.

Sie sprang auf und holte die kleine Kiste aus der Kutsche, in der ihre Rüstung zwischen geölten Lappen lag. Sie trug das Behältnis zum Lagerfeuer. Aber statt den Deckel selbst zu öffnen, überließ sie das Juran. Sie wollte sein Gesicht dabei im Auge behalten. Kantig und verschlossen wie immer, aber mittlerweile hatte sie den Mönch ein wenig besser kennengelernt und hoffte, dass sie zumindest einige seiner Gefühle erkennen konnte.

Er hob die einzelnen Panzerteile beinahe behutsam aus der Truhe. Vega fand das rührend. Als würde ein Gegner so vorsichtig mit einer Rüstung und vor allem dem darin steckenden Menschen umgehen.

Sie mochte diese Wappnung. Wie das Schwert auch ein Geschenk des Prinzen. Die grüne Seide unter den Metallscheiben sah noch immer so frisch und sauber aus wie an jenem Tag, als ihr Prinz die Rüstung überreicht hatte. Alle Metallbesätze schimmerten silbern und waren von einem Schmiedemeister gefertigt worden, der verstanden hatte, dass diese Rüstung besonders leicht und möglichst schön zu sein hatte.

Endlich nickte Juran, was Vega als ein Gütesiegel betrachtete.

»Leg sie an. Ich helfe dir notfalls. Ich weiß, wie hinderlich die ganzen Schnallen und Bänder sein können.«

Vega legte Panzer und Beinschützer an, und Juran stand wortlos auf, um ihr mit den Verschlüssen zu helfen – ob sie das nun wollte oder nicht. Sie fühlte seinen warmen Atem in ihrem Nacken, als er dicht und zu ihr herabgebeugt hinter ihr stand.

Sie schob die dreigeteilten Armpanzer über ihr Hemd, und wieder war Juran da, um die Bänder zuzuknoten. Vega gab auf und stand ergeben still. Sie konnte die Rüstung wirklich alleine anlegen, aber es dauerte ihm offenbar zu lange. Geschickt und sehr schnell setzte er ihr die Schulterstücke an und hob die vierteilige Rüstungsschürze vom Boden, schüttelte sie aus, zog die Bänder glatt und griff dann von hinten unter Vegas Armen hindurch, um ihr das Bundband um die Mitte zu legen.

Vega atmete flach und fühlte den beinahe unwiderstehlichen Drang, sich rückwärts gegen eine starke Schulter sinken zu lassen, nur für einen Moment Wange an Wange mit Juran zu sein, seinen Atem nicht nur zu fühlen, sondern auch zu riechen und zu hören.

Es kostete Vega einiges an Selbstbeherrschung, dieser niederen Regung nicht nachzugehen. Sie musste sich vorsagen, dass sie einen alten Mann nicht aus seinen Gewohnheiten reißen durfte, dass er sechs Jahre Enthaltsamkeit erduldet hatte und wohl auf den kleinsten Reiz anspringen würde.

Sie wickelte sich fünf Ellen grüne Seide um die Taille, verknotete die Enden und legte das Schwertgehenk darüber an. Nur noch Handschuhe und Helm fehlten, aber Juran packte sie sanft an den Schultern und drehte sie zu sich herum.

In seinem Blick lag nichts von Begehren oder Anerkennung. Kühl musterte er die Rüstung und deren Sitz, bis er Vega auf die Schulter klopfte – wie einem Jungen, einem seiner Schüler.

»Gut. Sie wiegt nicht viel. Du wirst dich rasch daran gewöhnen. Denkst du, dass dein Tigenus den Wagen fahren kann? Der Soldat kann auf dem Dach weiterschlafen. Wenn du gestattest, steige ich zu dir in die Kutsche. Ich brauche ein paar Stunden Schlaf. Und vielleicht ein wenig Luxus. Trägst du einen Umhang zur Rüstung?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Herz raste ganz oben in ihrer Kehle. Verdammt, sie war sicher bei ihm. Mit einem Mal wollte sie das nicht mehr sein.

Sie sah auf in seine tief in den Höhlen liegenden grünen Augen unter braunen Brauen, sah das kurze Haar, das noch dunkel und frei von jedem verräterischen Silber war. Seine Bartstoppeln waren heller, und hier war auch ein wenig Weiß zu sehen. Es war ein hartes, beinahe grausames Gesicht, und doch hatten sich ungezählte Lachfältchen in seinen Augenwinkeln eingegraben, helle Linien im sonnenverbrannten Gesicht.

»Kann Tigenus das?«, wiederholte er mit einer scheinbar unermüdlichen Geduld.

Sie nickte. Jetzt bekam sie keinen Ton heraus. Seine Hände lagen immer noch auf ihren Schultern, und selbst durch Metall, Leinen und Seide fühlte sie die Kraft dieser warmen Finger.

»Darf ich zu dir in die Kutsche und schlafen?«

Sie nickte wieder und kam sich so töricht und albern vor. Wie das Mädchen, über das Juran gespottet hatte, das das Schwert ihres Vaters stahl, um in eine dumme, idealistische Schlacht zu ziehen, aus der sie niemals zurückkehren konnte. Wenn der erste Gegner das Mädchen nicht erschlug, endete es als Truppenhure, weil die Männer ringsum sofort erkannten, was für einen Fang sie gemacht hatten.

Aber Vega war nicht so wie dieses Mädchen. Sie konnte auf sich achtgeben. Sie war stärker als die Figuren aus Geschichten, über die man Balladen dichtete. In den Gesängen klang es alles so romantisch und edel, bis ein alter Mönch daherkam und das Bild mit seinem Spott zerstörte und Träumer wachrüttelte.

»Danke«, sagte er schlicht, ließ sie los und wandte sich um, den Soldaten zu wecken und ihm Befehle zu erteilen.

Für einen Augenblick hatte Vega das Gefühl, dass ihre Knie nachgeben wollten und sie zu Boden stürzen würde, jetzt da Juran sie nicht mehr festhielt.

Statt etwas so Dämliches zu tun, sammelte sie Kochtöpfe, Teller und Becher ein, packte alles in ihre Rüstungskiste und verstaute diese wieder im Wagen. Sie weckte Tigenus und teilte ihm die Befehle des Marschalls mit. Dann kletterte sie mit immer noch weichen Knien in die Kutsche, zog ein Fell an sich heran und deckte sich verwirrt damit zu.

Sie wollte nur noch nach Hause – wo auch immer das nun war. Nicht mehr in Metis Hald, das stand fest. Sie wollte zu ihrem Prinzen, der sie mittels der Priester verraten hatte. Sie wollte in seine Umarmung flüchten, sich bei ihm ausweinen und wissen, dass er sie verstand und trotz allem liebte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739433684
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Krieger Untote Königreich Verrat Schlachten Held Fantasy Romance

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Nun habe ich neben meinen bisherigen und zukünftigen Verlagsveröffentlichungen das Abenteuer Selfpublishing für mich entdeckt. Ich schreibe Fantasy in allen möglichen Richtungen: Urban, Geistergeschichten, Gay Romance und Heroic Romance („Schmachten & Schlachten“, wie ich dieses Subgenre mit einem Augenzwinkern nenne) und noch viel mehr.
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Titel: Juran