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Drakhall

von Tanja Rast (Autor:in)
404 Seiten
Reihe: Schmachten & Schlachten, Band 8

Zusammenfassung

Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet.

Als Seefürst ist es Drakhalls Aufgabe, das Reich vor der geheimnisvollen Nebelflotte zu beschützen. Doch der Thronfolger hat noch eine alte Rechnung mit ihm offen und nimmt ihn gefangen. Eine Handlung, mit der er aus reinem Eigennutz die Zukunft des gesamten Inselreichs riskiert.
Ausgerechnet die junge Zirys befreit Drakhall. Er erinnert sich gut an sie von einer wundervollen Nacht am Strand - bevor sie mit dem Thronfolger verheiratet wurde. Jetzt erscheint sie ihm an Leib und Seele gebrochen, und Drakhall schwingt sich nicht nur deshalb zu ihrem Beschützer auf, weil sie der Schlüssel zur Macht zu sein scheint …
Die Romane können unabhängig voneinander und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Der Kriegsprinz

 

Die alte Witwe hustete, würgte und schlug sich auf die Brust. Eben noch hatte sie unermüdlich erschreckende Massen an Nahrung in sich geschaufelt und gleichzeitig einen nicht enden wollenden Monolog reinsten Vorwurfs abgesondert, bis ihr offenbar etwas im Halse stecken geblieben war. Vielleicht eine besonders grobe Beleidigung.

Zwei Dienerinnen standen hinter der großen Frau und hieben ihr abwechselnd auf den Rücken. Doch trotz dieser Bemühungen verfärbte sich das Gesicht der Witwe blau. Die Zunge hing ihr aus dem mit halb Zerkautem gefüllten Mund, der Zirys mehr denn je an ein Froschmaul erinnerte.

Zirys selbst saß still auf ihrem Platz, den Löffel mit der Suppe immer noch auf halbem Weg von der Schale zu ihren Lippen. Sie ertappte sich dabei, mit erstaunlich distanzierter Aufmerksamkeit die Vorgänge am Kopf der Tafel zu beobachten. Eigentlich ihr Platz als Gemahlin des Kriegsprinzen, doch das störte die Witwe nicht, die diese Ehrenposition für sich beanspruchte, kaum dass ihr Sohn aus dem Haus gewesen war.

Es herrschte Krieg im Großen Meer. Seit wundervollen fünf Wochen. Die feindlichen Auseinandersetzungen fern von Lusias Hav bedeuteten für Zirys Frieden. Daran hatte bislang auch das überhebliche und anmaßende Gehabe der Witwe nichts ändern können. Und das schien nun zu einem Ende zu kommen. Als würden die Götter doch auf Gebete hören.

Zirys rümpfte die Nase, als die Witwe mit einem finalen Röcheln vornüber in ihren wohlgefüllten Teller fiel. Es klatschte, was an der vielen Sauce liegen musste.

Der halbe Hofstaat sammelte sich rund um die Witwe. Drei kräftige, junge Lakaien schufteten, die umfangreiche Dame aus ihrem Essen und dann in eine aufrechte Sitzposition zu wuchten.

Ratlose Blicke flogen zu Zirys, die nun den Löffel in der Schale versenkte und sich sammelte. Eines war sicher: Die ewigen Sticheleien der Witwe hatten jetzt ein Ende gefunden. Ebenso die Schikanen und das ausgiebige Rülpsen nach einer hastig verschlungenen Mahlzeit. Wenn jetzt noch der Kriegsprinz auf einem Schlachtfeld fiel oder über Bord direkt in den Rachen eines Hais fiel, schien Zirys’ Glück vollkommen.

Sie erhob sich langsam und würdevoll. Wer in diesem Augenblick und vielleicht auch für die Zukunft die Herrin in diesem Palast war, musste unbestritten jedem klar sein.

»Ein Bote, der den Kriegsprinzen vom Dahinscheiden seiner Mutter benachrichtigt«, befahl sie und freute sich, wie ruhig ihre Stimme klang. Niemand konnte den Jubel vernehmen, der in Zirys tobte. »Ruft die Priester, damit sie den Leichnam für die Bestattung abholen, reinigen und vorbereiten.«

Ausdruckslose Gesichter, die sich ihr zuwandten, als würden sie Zirys’ Stimme nun das erste Mal vernehmen. In den Augen von Lakaien, Zofen, Haushofmeister, und wer sich noch alles um die tote Witwe versammelte, lagen Ratlosigkeit und Verwirrung. Zumindest der Haushofmeister behielt anscheinend die Nerven, denn er salutierte und verließ den Speisesaal dann eilig. Es stand zu erwarten, dass er die empfangenen Befehle an niedrigere Untergebene weiterreichen würde, bis ganz am Ende der Hierarchie zwei arme Kerle verbleiben würden, die sich streiten durften, wer von ihnen die Priester und wer den auf Kriegspfaden wandelnden Prinzen benachrichtigen musste.

Es war Zirys gleichgültig. Sie blickte mitleidlos in das aufgedunsene Gesicht der Witwe, das eine der Zofen mit einem Spitzentaschentuch vom anhaftenden Bratensaft zu reinigen versuchte. Und dabei hatte die Mahlzeit so unangenehm begonnen, dachte Zirys und fühlte sich ganz leicht im Kopf.

Schmähungen seitens der Witwe, wie lange Zirys sie, den Prinzen und das ganze Reich noch auf einen Erben warten lassen wollte. Die üblichen Vorwürfe, an die Zirys sich inzwischen eigentlich gewöhnt haben müsste, doch noch immer schmerzte jedes Wort wie ein Schlag.

Zumal die fette Alte sich im Recht befunden hatte. Von der Geburt eines strammen Erben, den ihr Gemahl sich sehnlichst wünschte, lag Zirys Meilen entfernt.

Und da sie schon viel Schande als unfruchtbare Bürde auf sich geworfen sah, tauchte der Gedanke an noch mehr Schmach immer häufiger auf. Einfach davonlaufen, sich nachts aus dem Palast schleichen, über die Mauern entweichen, im Fischerhafen ein Boot stehlen. Die Welt war groß, das Meer weit, der Himmel unendlich. Nur endlich diesem Leben zwischen dem Kriegsprinzen und seiner Mutter entkommen.

Vorbei zumindest der ständige Druck seitens der Witwe. Erstickt nicht nur am gierig in sich hineingestopften Essen, sondern auch an ihren ganzen bösen Worten. Zirys konnte dieses Glück kaum fassen. Sie schritt die Länge des Tisches entlang und ließ die verschreckte Dienerschar hinter sich zurück.

Mit einem Mal erschien Zirys der Palast lichter und freundlicher, das Sonnenlicht klarer. Sie schien über die Bodenfliesen zu schweben. Ihr Herz hämmerte vor Aufregung und Erleichterung.

Vom ersten Tag an, da Rokiv Zirys heim nach Lusias Hav gebracht hatte, war die Witwe als Sinnbild der zänkischen Schwiegermutter erschienen, der nichts und niemand gut genug für den Sohn sein konnte. Und wie bezeichnend, dass Rokiv nach der Hochzeitsnacht wohl sofort zu seiner Mutter gerannt war, um ihr das Leid zu klagen, eine bereits erbrochene Blüte heimgeführt zu haben.

Vielleicht … vielleicht wurde es jetzt auch mit Rokiv einfacher, da seine Mutter nicht mehr lebte. Möglicherweise hatte die Witwe Druck auf ihn ausgeübt mit dem ewigen Fragen nach einem Erben. Das könnte doch wirklich sein, oder? Eventuell entpuppte er sich ohne den alten Drachen im Genick als annehmbarer Ehemann?

Zirys erreichte ihre Gemächer, die nach Rokiv stanken. Nach seinen Füßen und seinem bitteren Schweiß. Nein. Dieser Mann würde sich nicht ändern. Zu viel Freude bereitete es ihm offensichtlich, beim ehelichen Pflichtritual im Bett nur an sich zu denken und dabei zu grinsen, während ihm Schweiß von der Nase tropfte.

Zirys ließ sich auf einen Hocker vor dem kalten Kamin nieder und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf tobte ein Mahlstrom. Vorherrschend Freude und Erleichterung, dass die Witwe tot war. Doch das löste Zirys’ Probleme nicht.

Sie konnte keine Läuterung auf Rokivs Seite erwarten. Je schneller sie das wirklich begriff und als reine Wahrheit anerkannte, desto besser für sie. In diesem Raum, in dem alles nach ihm stank, vermochte sie das vielleicht am besten. Ihr Gatte würde bestimmt traurig sein, dass seine Mutter abgetreten war. Aber wie er sich tröstete, hatte er Zirys ja schon mehrfach bewiesen. Ebenso wie er seine Wut abarbeitete. An der einzigen Person, die niemand vor ihm schützen, die ihm nicht ausweichen konnte.

Doch jetzt fiel zumindest die Überwachung seitens der Witwe weg. Und Rokiv schlug sich mit Seeräubern und anderen Feinden – echt oder eingebildet – seines Königs herum. Der Kriegsprinz Rokiv, der für den König das Inselreich von Lusias Hav hielt. Bestimmt erachtete Rokiv sich für außerordentlich heldenhaft. Ein Grund mehr, jetzt zu handeln, solange Zirys sich nicht in seiner Reichweite befand.

Energisch stand sie auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah sich im Zimmer um. Was brauchte sie? Woher konnte sie die Dinge beschaffen, die sich naturgemäß nicht in ihrem Zimmer befanden? Und wann konnte sie fliehen? Am besten nachts. Doch schien es ihr sinnvoll, schon jetzt alles vorzubereiten, damit sie nach Einbruch der Dunkelheit ohne weitere Verzögerungen aufbrechen konnte.

Zirys’ Herzschlag beschleunigte sich wohlig, und dann spürte sie ein unvertrautes Ziehen im Gesicht. Sie musste die Hand heben und auf ihre Wange, ihre Lippen legen, weil es einfach unglaublich war. Sie lächelte. Zirys brach in Tränen aus, ließ die salzigen Tropfen einfach über ihre Wangen laufen und setzte sich in Bewegung. Keine Zeit zu verlieren, dann heulte sie eben, während sie ihre Sachen packte. Die Diener würden erleichtert sein, Spuren frischer Tränen auf ihrem Gesicht zu sehen. Es würde ihnen normaler erscheinen, wenn Zirys um die grauenhafte Witwe weinte. Freudentränen, nichts anderes.

Die Bewegung tat ihr ebenso gut wie der mit einem Mal fest gefasste Entschluss zu fliehen, bevor Rokiv zurückkehren und jeglichen Fluchtversuch durch seine bloße Anwesenheit vereiteln konnte. Alleine diese Entscheidung schmeckte schon nach Freiheit und Leben.

Zirys warf einen Mantelsack auf das Bett und ging dann so ruhig und methodisch wie möglich ihre Kleidung durch, was sie davon während einer Flucht tatsächlich gebrauchen könnte. Dünne Seide, viel Spitze. Kein Wunder, hatte doch Rokiv all das ausgesucht. Protzig und größtenteils halb durchsichtig.

Zirys atmete tief durch und öffnete dann Rokivs Wäschetruhen. Kniehosen aus festem Tuch, einfache Leinenhemden. Und überall dazwischen Samtmäntel und ähnlicher Firlefanz, ohne den jemand von königlichem Blut scheinbar nicht überleben konnte. Aber Zirys fand auch einen Soldatenmantel aus kräftigem, rotem Wollstoff. Die Farbe war bedauerlich, aber dick und warm schien dieses Kleidungsstück.

Ein zweites Paar Schuhe, Leibwäsche und ein dicker Schal, die Metallbüchse mit Feuerstein und Zunder vom Kaminsims, Kerzen.

Zirys atmete tief durch. Noch hatte sie Platz im Mantelsack. Probeweise schnürte sie das Gepäckstück zu. Auch das dicke Leinen und vor allem die Lederbesätze rochen nach Rokiv. Kein Wunder, stammte dies doch aus seinen Beständen. Zirys selbst besaß überhaupt keine Gepäckstücke, da ihr Gatte nicht vorgesehen hatte, sie jemals verreisen zu lassen. Ihr Platz befand sich im Palast, und nach seinem Willen sollte sie ihn niemals verlassen.

Hatte der Kerl sich geirrt! Im Hafen lagen Fischerboote, und eines davon plante Zirys, heute Nacht zu stehlen. Auch ihre Heimat Cathinn Hav lag auf einer Insel. Sie konnte schwimmen, segeln und notfalls auch rudern. Dinge, die sie als Inselbewohnerin von Kindesbeinen an gelernt hatte.

Bedauerlicherweise war der Weg nach Cathinn Hav ihr versperrt. Niemals konnte sie dorthin zurückkehren, denn es würde der erste Ort sein, an dem Rokiv nach ihr suchte. Bestimmt nicht, um sein irregeleitetes Weib wieder heimzuführen, sondern um sie kalt lächelnd zu erwürgen, wie sie es hatte wagen können, sich ihm zu widersetzen.

Doch das war nicht der einzige Grund, der Zirys aus ihrer Heimat fernhielt. Vielmehr würde ihre Familie sie keinesfalls wieder aufnehmen, denn durch Heimkehr und vor allem Flucht vor ihrem Ehemann würde Zirys ihren Angehörigen Schande bereiten, die unauslöschbar als schwarzes Mal auf der Familie liegen würde. Ihr Vater wäre genaugenommen verpflichtet, sie selbst umzubringen – oder sie eilig an Rokiv auszuhändigen, falls er sich nicht überwinden könnte, seine Tochter zu töten.

Nun, es gab andere Reiche im Großen Meer. Bunte Städte, landwirtschaftliche Siedlungen, Handelshäfen. Alles war besser, als das Leben in Lusias Hav an Rokivs Seite auch nur einen weiteren Tag auf sich zu nehmen. Und Zirys machte sich klar, dass sie nicht auf das Ableben des Kriegsprinzen im Kampfeinsatz hoffen durfte. Das wäre dumm, und ganz bestimmt stand er eine Stunde später vor ihr und gaffte ihr auf die Brüste, bevor er ihr die Kleidung vom Leib riss. Sehr viel weiser, diese Rückkehr nicht abzuwarten und das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Ein Gedanke, der ihr leichte Schwindelgefühle bereitete, aber sie biss die Zähne fest zusammen. Sie war kein kleines Mädchen mehr, sie konnte und musste das schaffen.

Und wenn sie schon einmal dabei war, sich Rokivs Hass zuzuziehen, konnte sie auch den letzten Schritt gehen. Entschlossen klappte sie seine zweite Truhe auf und starrte einen Moment lang benommen auf die Waffen und Rüstungsteile, die sich darin befanden. Der Geruch vom Öl wallte Zirys entgegen. Sie brauchte Kraft, um sich zu überwinden, nicht gleich furchtsam wieder den Deckel zuzuschlagen. Sie benötigte eine Waffe. Einen Dolch, selbst wenn sie ihn nur zum Ausnehmen von Fischen benutzen würde. Aber ohne Waffe ging sie nicht von hier fort, so einfach war das. Sie mochte furchtsam und verzweifelt sein, aber dumm nicht.

Schließlich ergriff sie auf das Geratewohl einen recht kleinen Dolch in schlichter schwarzer Lederscheide, klappte den Truhendeckel hastig zu und verstaute ihren Schatz im Mantelsack.

Ihr war beinahe übel vor Anspannung und Wagemut. Noch während sie vor dem Gepäckstück kniete, fragte sie sich, ob sie ihre Flucht wirklich bewältigen konnte. Nicht wegen des Segelns, sondern weil Zirys Angst hatte, im entscheidenden Moment einfach ohnmächtig zu werden oder zitternd in einem Winkel zu hocken und sich nicht weiter zu wagen.

Sie ballte die Hände zu Fäusten, bis die Nägel schmerzhaft in die Handflächen bissen, rief sich mühelos Rokivs verschwitztes Gesicht mit dem fiesen Lächeln in Erinnerung.

Dann erst nahm sie wahr, dass draußen auf dem Palasthof ungewohnter Lärm herrschte, der sogar bis zum Schlafzimmer herauf brandete. Nervös blickte sie zum Fenster, verschnürte mit zitternden Fingern den Mantelsack, raffte Hose, Hemd und Mantel zusammen und legte diese Kleidungsstücke auf ihr Marschgepäck, bevor sie sich auf weichen Knien erhob und zum Fenster eilte.

Soldaten, Knechte, Bedienstete und Wachhabende aus dem Palast, einfache Bürger und Händler waren zusammengeströmt. Und obwohl die Kunde vom Tod der Witwe die Runde gemacht haben musste, wirkten diese Menschen alles andere als niedergeschlagen. Zirys starrte verwirrt. Nicht ein einziger von denen konnte ahnen, was für ein Aas die alte Frau gewesen war! Keiner von denen konnte es wagen, in Lusias Hav den Tod der Prinzenmutter zu feiern, selbst wenn Knechte und Mägde vielleicht errieten, welche Bürde aus der Stadt gerissen worden war.

Zirys wischte sich Schweiß von der Stirn. Nein, dieser Tumult konnte nur eines bedeuten. Sie beugte sich weiter vor.

Soldaten in Sechserreihen, bunte Wimpel an den Speeren. Einige der Männer mit Blumenkränzen geschmückt. Staubig sahen die Kerle aus, als wären sie vom großen Kriegshafen bis hierher marschiert. Saubere Kolonnen, flatternde Mäntel.

Rokivs Soldaten. Der Krieg schien vorbei. Die Wochen des Friedens für Zirys endeten.

Sie atmete zitternd ein. Ein furchtbarer Tag, der ein wenig Sonnenschein durch den Tod der Witwe erhalten hatte. Und nun Rokivs Rückkehr. Es war nicht gerecht. Irgendwo musste ein Gott sich jetzt gerade vor trunkenem Lachen auf die Oberschenkel klopfen, dass er die kleine Zirys so schön an der Nase herumgeführt hatte. Bastard!

Immer noch starrte sie auf die marschierenden Kolonnen. Keine Spur von Rokiv. Götter, konnte es sein? Hoffnung stahl sich auf leisen, federleichten Pfoten in Zirys’ Brust und verbarg sich unter dunkler Angst.

Doch wenn Rokiv gefallen wäre, würde niemand jubeln, keine Blumenkränze Speere und Helme krönen. Unmöglich!

Hinter den geschmückten Soldaten kam ein Sklavenzug in Sicht. Die erbeuteten Gegner, die Gefangenen aus geschliffenen Dörfern. So viele.

Zirys starrte betroffen auf die traurige Masse geschlagener Menschen, die sich in Ketten die steile Straße zum Palast herauf schleppten. Entweder plante Rokiv – oder ein Stellvertreter, falls er doch gefallen sein sollte – einen großen Sklavenmarkt am nächsten Morgen, oder diese Menge ihrer Freiheit beraubten Menschen wanderte geschlossen in die Kerker unterhalb des Palasts. Welches Ende dieser Gefangenen harrte, vermochte Zirys sich nicht auszumalen. Ja, sie hatte von den Wolfsgruben gehört, von den Belustigungen, denen man hier in Lusias Hav nachging. Gesehen hatte sie noch nichts davon mit eigenen Augen, da Rokiv sie nicht einmal aus dem Palast gelangen ließ.

Spähend ließ sie den Blick schweifen, beugte sich noch weiter über das Sims, bis sie auf Zehenspitzen stand. Müsste Rokiv nicht an der Spitze seiner Männer in die innere Stadt des Palasts kommen? Stolzgeschwellt, dass er – besser gesagt: seine Männer – gesiegt hatte?

»Was für ein anregender Anblick. So will ein heimkehrender Held begrüßt werden. Willst du da stehen bleiben? Mir wäre es recht, und du kannst dich ja am Fensterrahmen festhalten, wenn die Stöße dir mal wieder zu hart werden, kleine Prinzessin.« Eine Stimme wie Öl auf dem Wasser, wie Seide, in deren Stofffalten sich eiserne Dornen verbargen.

Mit einem entsetzten Keuchen wirbelte Zirys herum.

Da stand er. Nestelte schon an den seitlichen Verschnürungen seines Brustpanzers, um die Rüstung abzulegen. Das Grinsen auf dem Gesicht wirkte wölfisch, fehlte nur die zwischen den Lippen hervor baumelnde Zunge.

»Deine … deine Mutter …«, brachte Zirys hervor und hoffte, dass diese Todeskunde ihn ernüchtern würde.

»Ja, schon gehört. Zu Tode gefressen. War über kurz oder lang zu erwarten gewesen.« Er ließ den Panzer zu Boden fallen und zerrte den Gürtel auf. »Zieh die Röcke hoch, dreh dich um und halt dich am Fensterstock fest. Die Leute sollen sehen, wie ein siegreicher Kriegsprinz vom liebenden Weibchen belohnt wird.« So viel Zuneigung in der Stimme wie ein Hai, der pfeilschnell auf einen Schwimmer zuhielt.

Eine vollkommen fremde Stimme erklang im Zimmer. Eine, die Zirys noch nie gehört hatte. Ein einziges Wort, eine einzelne Silbe. »Nein.« Erst als Zirys den Mund zuklappte, wurde ihr klar, dass sie selbst dieses verhängnisvolle Wort gesprochen hatte.

Rokivs Augen verengten sich zu schmalen, glitzernden Schlitzen. Das Lächeln blieb starr auf seinen Lippen hängen. »Dafür sollte ich dir den Gürtel durch das Gesicht ziehen. Aber ich bin guter Laune und habe mit dem heutigen Tag Besseres vor, als dir die Zähne aus dem Maul zu schlagen. Röcke hoch, umdrehen. Sofort. Und sei froh und dankbar, wenn nur ich dich nehme. Ich kann meine Hauptmänner hereinrufen, die alle seit Monaten auf deine Brüste starren und sich ausmalen, dich zum Schreien zu bringen. Bei einem solchen Überfluss an Saft wirst doch wohl selbst du schwanger werden, oder?«

»Wage es nicht, Schwein.« Zirys spürte Eiseskälte in ihren Magen rieseln, als sie auch diese Worte sprach, obwohl sie genau wusste … nein, noch nicht einmal wusste, was ihr das einbringen würde. Aber ein wilder Teil von ihr wollte Rokiv vor Wut erbleichen sehen. Fassungslos vor Erstaunen wollte sie den Bastard vor sich haben.

»Wie konntest du es wagen, jemanden unter deine Röcke zu lassen, bevor ich dich zu mir nahm! Ich habe eine Armee, du Hure. Und ich schwöre, jeder meiner Männer wird zum Zuge kommen, wenn du nicht auf der Stelle parierst!«

Leere Drohungen, flüsterte ein kleiner Teil ihres Verstandes. Nie im Leben würde er jemand anderen an sie heranlassen, er wollte doch einen Erben und nicht einen Bastard an dessen Stelle. Inmitten des zu Eis erstarrten Hirns raunte dieser winzige Funken Wärme weise Worte, die Zirys nur noch mehr zittern ließen. Wieder der Hinweis, dass sie nicht als Jungfrau unter ihm zu liegen gekommen war. Immer wieder das.

Zirys’ Blick flog zur Seite zum Mantelsack, in dessen verschnürter Hülle der Dolch lag.

Rokiv war Soldat genug, dass er dies bemerkte. Er starrte auf die unförmige Gepäckrolle und zog den Gürtel mit einem unheilvollen Schnalzen aus den Schlaufen. »So ist das also. Da verreckt meine arme, liebe Mutter, und die kleine Prinzessin denkt, sie kann still und heimlich verschwinden.«

Er flog vor. Ein gedrungener, muskelschwerer Mann. Der Gürtel pfiff durch die Luft, und Zirys überraschte sich selbst, dass sie auf direkten Kollisionskurs ging, Rokiv die Schulter in den Magen rammte, bevor der Gürtel auf ihren Hintern und die Rückseite eines Oberschenkels klatschte.

Brennender Schmerz fraß sich durch die Haut in die Muskeln. Doch Rokiv war aus dem Gleichgewicht geraten, und Zirys sprang leichtfüßig an ihm vorbei, als er zu Boden ging. Ganz klar konnte sie die Tür sehen. Wie mit schwarzer Kohle an die Wand gemalt. Alles andere verkam zu einem verschwommenen Hintergrund, der aus buntem Flirren und Angstschweiß bestand.

Wie eine kochend heiße Stahlklammer schloss seine Hand sich um Zirys’ Knöchel. Ein Ruck, der bis zur Hüfte herauf schmerzte, und auch Zirys stürzte auf den dicken Teppich, fing ihren Fall gerade noch mit den Händen ab und zog das freie Bein in einer krampfartigen Bewegung an.

Ihr Atem flog in harten, flachen Stößen, tat bei jedem Luftholen weh, als würde sie zerstoßenes Glas in ihre Lungen ziehen. Keine Angst mehr, begriff sie. Sie würde sterben. Er würde sie umbringen. Sie wimmerte leise vor Entsetzen über die Klarheit dieser Erkenntnis, und etwas in ihr zerriss mit einem ohrenbetäubenden Geräusch wie tausendfaches Flügelschlagen von Tauben. Das Wimmern erstarb.

»Auch gut. Dann werde ich das hier auf dem Teppich machen, Hure. Bis du rohes Fleisch bist, das schwöre ich dir. Bis du endlich schwanger bist. Dich kriege ich zahm!« Er zog sich vorwärts.

Zirys’ Herz hämmerte in Kehle, Schläfen und Brust, ließ ihr kaum noch Platz zum Atmen. Schweiß tränkte das dünne Seidenkleid.

Sie schrie halb erstickt auf und rammte den freien Fuß in das grinsende Wolfsgesicht. Holte Schwung, trat noch einmal zu, während Rokiv ihr fast den Knöchel brach, weil er sie so fest hielt.

Sein Grinsen verschwand. Das erste Mal seit dem Ritual vor dem Priester aus seinem Gesicht gewischt. Nein, das zweite Mal. Zirys entsann sich seiner wutverzerrten Fratze in der Hochzeitsnacht, als er entdeckte, dass sie keine Jungfrau mehr war. Vier Wochen lang hatte sie sich nicht aus ihren Gemächern wagen dürfen, weil ihr Gesicht grün und blau angeschwollen gewesen war, ein Auge geschlossen dank Fausthieb, die Unterlippe aufgeplatzt …

Zirys schrie erneut, dieses Mal mit mehr Kraft – und doch leise, um selbst jetzt niemanden auf diesen Kampf aufmerksam zu machen. Ein Fauchen, das in ihrer verkrampften Lunge Platz für mehr Atem machte. Zirys’ Ferse krachte auf Rokivs Nase, und durch die dünne Schuhsohle spürte sie, wie etwas in seinem Gesicht zerbrach, sich verschob und nachgab.

Er spuckte Blut und einen Zahn aus, keuchte – mehr vor Wut denn Schmerz, dachte sie. Sie hämmerte ihm die Ferse noch einmal auf das rote, geplatzte Ding, das einst seine Nase gewesen war.

Für einen Moment spannte die Hand um Zirys’ Knöchel sich schmerzhaft an, schien sich in ihr Fleisch graben und die Knochen zermahlen zu wollen. Dann lockerten die Finger sich, wurden weich wie Pudding. Der Kopf fiel mit einem leisen Knall auf den Teppich.

Stille.

Hektisch strampelte Zirys sich aus dem Griff frei, ertrug nicht einen Herzschlag länger das Gefühl von Rokivs Haut auf ihrer. Sein Schweiß schien sich bis in die Muskeln und Knochen hindurch zu ätzen.

Sie kroch rückwärts wie eine Krabbe von ihrem Ehemann fort, stützte sich mit zitternden Händen auf, schob ihren Hintern mit wilden, unkontrollierten Beinbewegungen über den Teppich, bis sie mit dem Rücken gegen ihre Kleidertruhe stieß.

Keuchend verharrte sie, fühlte sich wie ein gefangenes Tier und war sich vollkommen sicher, dass Rokiv gleich den Kopf heben, sich fluchend hochstemmen und auf Rache sinnend wie ein wildes Tier auf sie stürzen würde.

Ein Schluchzen zitterte in Zirys Kehle. Ihre Beine fühlten sich kalt, fremd und weich an, unfähig, auch nur einen Schritt zur Rettung zu tun.

Durch Entsetzen und Erschöpfung zu Boden gezwungen, harrte Zirys aus und wartete auf das Unvermeidliche.

Draußen rauschte immer noch Jubel. Niemand schien sich daran zu stören, dass ausgerechnet der Kriegsprinz der Prozession des Sieges fernblieb. Wie eine feuchte Decke brandete das Hochgeschrei aus Hunderten von Kehlen bis zu Zirys und hielt sie auf dem Boden fest.

Sie hatte das Gefühl, dass ihre Augäpfel eintrockneten. Jede Bewegung, jedes kleine Flackern zur Seite, zu Rokivs großen Händen, zurück zu seinem Kopf, vermittelte Zirys den Eindruck, dass ihre Augenhöhlen mit Sand ausgepudert worden waren.

Rokiv regte sich nicht.

Nach einer Zeit, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, kam Zirys zu der überraschenden Erkenntnis, dass er sich überhaupt nicht rührte. Wie lange konnte ein mordlüsterner Ehemann die Luft anhalten?

In ihrer Not hielt Zirys selbst die Luft an. Dreimal.

»Rokiv?«

Keine Bewegung, kein Laut.

Zitternd stemmte Zirys sich auf die Seite, dann auf Hände und Knie und kroch auf den stillen Mann mitten auf dem Teppich zu.

Die Fransen vor seinem Mund hatten sich mit Blut vollgesogen. Zirys entsann sich des ausgeschlagenen Zahns, den Rokiv ausgespuckt hatte. Dafür würde er ihr jeden einzelnen ihrer Zähne ausgerissen haben …

Sie sah nur ein Auge. Und das glotzte merkwürdig schief zur nicht mehr vorhandenen Nasenspitze.

»Rokiv?« Sie traute sich nicht, ihn anzufassen. Bestimmt würde er dann nach ihr greifen … Sie atmete tief durch. Das war Unsinn. Rokiv sah wirklich nicht so aus, als würde er überhaupt jemals wieder etwas machen.

Sie streckte die Hand aus, einen einzelnen Finger und stupste Rokiv eine eiskalte Fingerkuppe auf das Ohr.

Nichts.

Ein winziger Teil von ihr, jener, der bei allen Schmähungen und Drohungen seitens Rokiv versucht hatte, sich über dem Toben der Panik bemerkbar zu machen, hatte gewusst, dass keine Reaktion erfolgen würde.

Zirys stupste vorsichtshalber noch einmal. Dann nahm sie ihren letzten verbliebenen Mut zusammen. Den Großteil hatte sie damit verbraucht, sich Rokiv zum ersten Mal zu verweigern.

Die Hand zitterte, die Zirys nach Rokivs Schulter ausstreckte, um den Dahingestreckten nicht eben sanft zu schütteln. Immer noch nichts. Sie tastete an seinem Hals nach der Stelle, wo ihm immer die Ader schwoll, wenn er zornig war oder kurz vor seinem Höhepunkt stand. Weiches Fleisch, beinahe wabbelig wie eine Qualle. Kein Herzschlag.

Zirys versuchte, Rokiv auf den Rücken zu drehen, scheiterte an seiner schieren, weichen Masse. Als besäße der Kerl nicht einen einzigen Knochen mehr im Leib. Sie setzte sich schließlich auf den Hintern, stemmte die Füße gegen Rokivs Seite und stützte sich auf den Ellenbogen ab, um Kraft ihrer Beine den großen Kerl herumzuwälzen.

Mittlerweile war sie sich beinahe sicher, ihn in ihrer wilden, panikdiktierten Gegenwehr umgebracht zu haben. Ein furchtbarer Gedanke, der wie ein eisiges Leichentuch versuchte, Zirys einzuhüllen und jeden klaren Gedanken zu ersticken.

Trotzdem tastete sie ein zweites Mal nach Rokivs Herzschlag, dieses Mal in der kleinen Mulde, wo die Schlüsselbeine zusammentrafen. Sehr darum bemüht, nicht in sein blutiges Gesicht zu sehen. Trotzdem fiel ihr auf, dass dort alles ein wenig verschoben wirkte.

Auch in der Drosselgrube herrschte absolute Stille. Zirys atmete erschrocken tief ein, dann blickte sie fahrig um sich, nahm wieder den Jubel von draußen wahr. Irgendwann würden Rokivs Generale ihren Prinzen gerne zurückhaben wollen. Spätestens zum großen Bankett. Oder die Priester würden an die Zimmertür hämmern, da sie die Witwe für die Beisetzung vorbereitet hatten. Denn der musste der Sohn doch beiwohnen.

Und dann? Zirys stünde als Mörderin da, und welches Schicksal ihr dann drohte, konnte sie nicht einmal in der momentanen Abgeschiedenheit ihres Zimmer halbwegs erfassen.

Der Blick wanderte zurück zu Rokiv. Dann zum breiten Bett, das auf stabilen Pfosten stand und im Augenblick noch mehr als der tote Kriegsprinz das Symbol für Schmerz und Gemeinheit darstellte.

Mit einer zitternden Hand wischte Zirys sich schweißfeuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Und fasste einen Entschluss, der ihr noch schwerwiegender erschien als jener, in dieser Nacht zu fliehen. Rokivs Tod untermauerte diese erste Entscheidung, doch dafür musste der Kriegsprinz verschwinden. Sicher würde man ihn in einem oder zwei Tagen finden. Spätestens nach einer Woche, wenn der Leichnam zu stinken begann.

Zirys zwinkerte Tränen fort. Das hatte sie nicht gewollt. Er hatte sie nur endlich loslassen sollen! Wirklich nicht mehr. Ja, sie hatte gehofft, dass Rokiv auf dem Schlachtfeld blieb, weil sie solche Angst vor ihm gehabt hatte. Nein, immer noch hatte, selbst jetzt, da er still auf dem Teppich lag und sein Dasein ausgehaucht hatte.

Sie wischte die letzten Tränen fort, zog die Nase hoch und machte sich dann daran, den schweren Mann auf das Bett zuzurollen. Auf die gleiche Weise, wie sie ihn herumgedreht hatte, weil sie einfach zu klein und schwach war, um die Arbeit anders zu bewerkstelligen.

Schweißgebadet zog Zirys sich am Bettpfosten auf die Beine, als sie Rokiv endlich unter dem Bett verstaut hatte. Es war ja nicht für lange. Er würde eine anständige und pompöse Beisetzung erhalten. Im großen Tempel unter den kalten Marmorplatten neben seinen Eltern. Rokiv würde gesalbt und in seine besten Kleider gehüllt werden.

Keinerlei solche Fürsorge hatte Zirys zu erwarten, sollte sie noch in Lusias Hav sein, wenn der Leichnam entdeckt wurde.

Ihr war schwindelig von der Anstrengung und den Nachwirkungen der Ängste, die sie ausgestanden hatte. Einen Moment lang ließ sie sich auf der Bettkante nieder, blickte auf ihren geschundenen Knöchel, der glutrot leuchtete und sich an den Rändern des Blutergusses bereits violett verfärbte.

Doch die rachsüchtig unter dem Bett hervorschießende Hand des Gatten blieb aus. Es würde dauernd, bis Zirys sich an den Gedanken gewöhnte. Doch begriffen hatte sie es: Rokiv stellte keine Gefahr mehr dar. Zumindest keine Direkte.

Zirys musste diesen Tag im Palast überleben, damit sie sich nach Einbruch der Dunkelheit davonschleichen konnte. Sie brauchte Vorräte, zumindest eine Wasserflasche, etwas Salz und einen Laib Brot.

Ihr Blick flackerte zum Mantelsack, zur bereitgelegten Männerkleidung. Eine ernstliche Tarnung würde dies nicht darstellen. Aber vielleicht zumindest auf den ersten Blick verschleiern, wer da in Kniehosen – die ihr wohl bis zu den Fesseln hinab reichen würden – und Leinenhemd schwer an seinem Gepäck schleppte.

Draußen immer noch Lärm, der mit einem Mal schrill anstieg. Als wäre etwas geschehen. Oder auch nur Begeisterung, Zirys konnte es nicht sagen.

Mühsam stemmte sie sich hoch und ging zum ersten Mal seit Rokivs Angriff aufrecht und auf ihren zwei Beinen durch das Zimmer. Es schmatzte leise, als sie versehentlich auf die nass geblutete Stelle des Teppichs trat. Mit einem leisen Stöhnen beeilte Zirys sich, auf sauberes Terrain und schließlich zum Fenster zu gelangen.

Von hier konnte sie die Hauptstraße einsehen und hatte ebenso freien Blick auf einen Teil der Palastgärten, deren hohe Umfassungsmauer das erste Hindernis auf der nächtlichen Flucht darstellen würde. Im Augenblick stand das Tor zur Straße offen, und zwei Ochsen zogen einen vergitterten Wagen auf den sauberen Kiesweg. Darin … mindestens ein Mensch, der sich klein in der Mitte des Käfigs zusammengekauert hatte. Den Boden des Käfigs bedeckten Unrat und fauliges Gemüse. Selbst an den Gitterstäben haftete vergammeltes Obst. Der Mensch sah nicht viel besser aus.

Der Karren kam zum Stillstand, das Tor in der Gartenmauer wurde geschlossen, die Ochsen ausgespannt und davongeführt. Auf der Straße und in der Stadt ging die Feier weiter – ungeachtet des Tods der Witwe, der jedem Bürger bekannt sein sollte. Niemand da draußen ahnte, dass Rokiv ebenso entseelt unter dem Bett lag. Auf dem er sonst so ausdauernd, häufig und heftig seine junge Braut in die Matratzen rammelte. Zirys schluckte hart, um Brechreiz zu unterdrücken. Eine frische Träne rann über ihre Wange.

 

Dämmerung zog auf, während Zirys am Fenster verharrte, tief die klare Luft aus den Gärten und vom Meer her atmete.

Freudenfeuer flammten in der Stadt jenseits der Mauern auf.

Es klopfte an der Tür.

Zirys richtete sich gerade auf und stieß sich vom Fensterstock ab. Ihr Rücken schmerzte vor Anspannung, doch sie eilte erstaunlich rasch zu ihrer Truhe, zerrte einen spitzenbesetzten Umhang und einen Schal hervor, legte beides in fieberhafter Eile an und ging zur Tür, um zu öffnen.

Bemüht riss Zirys die Augen weit auf und versuchte, noch kleiner und jünger auszusehen.

Ein Hauptmann auf dem Flur. Wenigstens kein General. Das war schon eine Menge wert. Hinter dem Mann drei Soldaten, die unverkennbar schon nach Wein rochen. Die Siegesfeier war in vollem Gange, schien es Zirys.

Der Hauptmann deutete einen knappen Salut an. »Gebieterin, die Generalität würde sich freuen, den Kriegsprinzen in ihrer Mitte zu begrüßen.«

Zirys blickte mit allen Zeichen von Verblüffung zu dem Hauptmann auf, zwinkerte und antwortete leise: »Aber mein Herr und Gemahl ist doch gar nicht mehr hier.«

»Wann ist er gegangen? Und wohin, Gebieterin?«

Sie runzelte die Stirn, als würde sie scharf über die Antworten zu diesen beiden Fragen nachdenken. »Es war noch hell. Entschuldige, ich habe geschlafen.«

»Wohin, Gebieterin? Sagte der Kriegsprinz dir das?«

Sie schüttelte den Kopf. »Warum sollte er das?«

Der Mann rollte mit den Augen, trat von der Tür zurück, und Zirys schloss diese nach einem Augenreiben und erneutem Zwinkern.

Deutlich vernahm sie auf der anderen Seite des Holzes die Worte, die der Hauptmann einem seiner Männer – oder allen drei – mitteilte: »Götter, ist das Weib dumm.« Leises Gelächter, gedämpft durch die Tür.

Zirys atmete auf. Für den Augenblick war sie in Sicherheit und vor einer Entdeckung gefeit. Doch nun musste sie handeln. Die Feierlichkeiten konnten ihr die benötigte Deckung verschaffen. Dumm nur, dass in den Palastküchen reger Betrieb herrschen würde.

Ob das Küchenpersonal sie erkennen würde? Besser, kein Risiko einzugehen. Sie eilte zum Mantelsack, zerrte sich Umhang, Schal und Seidenkleid vom Körper und schlüpfte in Hose und Hemd, legte den Soldatenmantel an und blickte noch einmal zum Bett. Dann ließ sie sich auf die Knie hinab und kroch halb zu Rokivs stiller Gestalt unter das Möbel.

Er war schon kühler, fühlte sich nicht mehr ganz so weich an. Zirys tastete nach seiner rechten Hand, suchte den Ringfinger und spürte schließlich das kalte Metall des Siegels. Behutsam streifte sie den Ring von Rokivs Hand, kroch wieder unter dem Bett hervor und schob sich das Schmuckstück mit den prinzlichen Insignien auf den Daumen. Selbst da saß der Ring noch locker. Sobald sie mehr Zeit hatte, würde sie den Ring am Mantelkragen festbinden. Oder aus einer Schnur eine Halskette damit verfertigen, sodass sie den Ring unter dem Hemd verbergen konnte. Doch jetzt spürte Zirys drängende Eile.

Jeder würde auf den Beinen sein, aber bis Ruhe einkehrte, konnte sie nicht warten. Freudenfeuer, betrunkene Feiern um bratendes Nutzvieh, angetrunkene Soldaten. Die beste Gelegenheit, um in der Masse unterzutauchen, betete Zirys.

Sie schulterte den Mantelsack und hoffte, dass sie auf dem Fest noch an Vorräte gelangen konnte. Oder … oder es musste eben ohne gehen!

Sie schlich zur Tür und lauschte an ihr. Stille auf dem Flur. Zirys atmete tief durch und zog die Tür einen winzigen Spaltbreit auf, spähte hinaus und seufzte erleichtert. Lautlos huschte sie aus dem Schlafzimmer und schloss die Tür behutsam hinter sich. Es fühlte sich wie ein Schlussstrich unter anderthalb Jahren Tyrannei und Schmerz an. Obwohl Zirys sich vor jedem Schritt fürchtete, empfand sie eine kleine Genugtuung über ihre Flucht. Das Herz hämmerte ihr ganz oben in der Kehle, und ihre Hände waren schweißnass.

Die Siegesfeier fand in der Stadt und in der großen Halle statt, sagte sie sich. Die Gärten lagen verlassen. Also zuerst dorthin, um durch das Portal oder eine der kleinen Pforten zu entwischen.

Bedauerlicherweise zitterten Zirys’ Knie vor Angst, sodass sie sehr langsam vorwärtskam. Hinter jeder Biegung des Flurs erwartete sie einen Wächter, doch lag dieser Teil des Palasts in absoluter Stille da. So leise war es, dass Zirys ihren eigenen Herzschlag in den Ohren dröhnen hörte.

Sie erreichte unangefochten die große Treppe am Ende des Gangs, die nach zwei Etagen in eine Halle münden würde, von wo aus Flügeltüren den Weg in den Garten freigaben.

Die schrecklichsten zwei Stockwerke in Zirys’ Leben. Sie hangelte sich regelrecht am Handlauf nach unten, verharrte immer wieder bebend und lauschend und wusste, dass sie als reines Nervenbündel den Garten erreichen würde – falls ihr niemand in den Weg trat.

Es half alles nichts. Ihre Angst lähmte sie beinahe, und die Pausen, die Zirys zum Lauschen einlegte, zogen sich bedrohlich in die Länge. Als sie endlich das Erdgeschoss erreichte, zitterte sie am ganzen Körper, das Hemd klebte an ihrem Rücken fest, und das Gewicht des Mantelsacks drohte, sie einfach zu Boden zu drücken.

In der Halle vernahm sie leise Überreste der Siegesfeier. Musik, betrunkenes Grölen, Gelächter. Der Duft von gebratenem Fleisch und das Aroma von Wein wehten bis hierher.

Mit beinahe letzter Kraft drückte Zirys die Klinke der Gartentür hinab, dann die Pforte auf und wurde von milder Nachtluft empfangen, die nach Rauch und Ausgelassenheit schmeckte. Der Himmel leuchtete rot und golden von den vielen Feuern in der Stadt.

Einen Moment lehnte Zirys sich gegen die Palastmauer, sah sich im Garten um und fürchtete die ganze Zeit, dass jemand sie anrufen würde, dass sich etwas zwischen Büschen und Blumenbeeten bewegen würde. Doch der Kiesweg lag beinahe leer vor ihr. Denn dort stand der Gitterwagen. Keine Wachen bei ihm, offenkundig war der Gefangene bereits fortgeschafft worden.

Zirys sammelte sich, wischte sich erneut Schweiß von der Stirn und schlich geduckt los, den Riemen des Mantelsacks so fest umklammert, dass die Hand wehtat.

Eine Hecke stellte einen Sichtschutz dar, sodass Zirys zwischen dem Grün und dem Gitterwagen hindurch huschen konnte. Oder es zumindest versuchte.

2.

Drakhall

 

Eine Stimme erklang, die Zirys’ Puls beschleunigte, ihre Atmung stocken ließ und die Beine nun endgültig in weiches Gelee verwandelte.

»Bitte … Wasser.«

Eine Stimme aus der Vergangenheit, als das Meer in kleinen Wellen am Strand ausgelaufen war. Der Geruch von frischem, sauberem Schweiß, Wein im heißen Atem, Sterne am Himmel.

Zirys erstarrte an Ort und Stelle, wandte ganz langsam wie auf sandigen Lagern den Kopf und stierte die nur schemenhaft auszumachende Gestalt im Gitterwagen an.

Er musste es sein.

Götter! Warum er? Warum hier? Warum jetzt?

»Bitte.« Rau klang die Stimme. Nach Schmerzen und einer Kehle wie mit Glasscherben gefüllt. Alleine dieses Wort hervorzubringen, um Wasser zu betteln wie ein Obdachloser auf der Straße um ein Almosen … Welche Erniedrigung für ihn, und doch nahm er sie auf sich.

Es gab ein leises, pochendes Geräusch direkt neben Zirys’ Fuß. Sie blickte hinab, und da lag der Mantelsack auf dem Kies. Fallen gelassen, ohne dass Zirys sich an einen bewussten Entschluss dazu entsinnen konnte. Sie rang nach Atem und flüsterte einen Namen, der ihr fremd geworden war in den anderthalb Jahren, die sie als Rokivs Ehefrau und Privatbesitz in Lusias Hav verbracht hatte. »Drakhall?«

So leise, hell und atemlos klang ihr die eigene Stimme in den Ohren, dass Drakhall sie nicht vernommen haben konnte.

Auf Knien, weil der Käfig einem Hünen wie ihm nicht genug Platz bot – und auch einen kleineren Mann in diese erniedrigende Haltung gezwungen hätte. Die Finger in das Gitter eingekrallt, dessen Abstände viel zu klein waren, als dass ein Gefangener eine Hand hätte hinausstrecken können. Aber das war Drakhall, unverkennbar trotz Drecks, der ihm und dem Käfig anhaftete, trotz der nahezu verfilzten Haare und des gepeinigten Gesichtsausdrucks.

So hatte Zirys den großen Kerl nicht in Erinnerung. Sie entsann sich an sein Lächeln, ein wenig träge und gelassen, wie ein großer Kater, der in der Sonne döst.

Langsam trat Zirys näher, fassungslos die große Masse Mann betrachtend. Schmutzstarrend alles an ihm, selbst die beiden Verbände, einer quer über seinen Oberkörper, als hätte jemand versucht, eine Wunde über den Rippen zu versorgen. Ein ebenso dreckiges Leinentuch um einen Oberarm. Es war zu dunkel, als dass Zirys Details hätte erkennen können.

»Bitte. Wasser.« Kein Vergleich zu seinem Lachen am Strand, zu dem vertraulichen Flüstern in Zirys’ Ohr.

»Drakhall«, brachte sie deutlicher hervor.

Er ließ den Kopf sinken, und Zirys brauchte eine Weile, bis sie begriff, warum er das tat. Er war ein Gefangener in Lusias Hav, und dass jemand ihn erkannte, verhieß nichts Gutes. Vor allem kein Wasser. Der gewaltige Brustkorb arbeitete in drei mühsamen Atemzügen, dann löste Drakhall die Finger aus dem Gitter und zog sich ein Stück zurück. Als wollte er Stößen mit einem Stock oder anderen Gemeinheiten ausweichen.

Zirys hätte ihm alles Trinkbare gegeben, das sie mit sich herumtrug – wenn sie denn welches gehabt hätte. Sie biss die Zähne zusammen, um sich selbst Mut zu machen, huschte halb um den Käfigwagen herum, bis sie den Riegel an der kleinen Pforte fand. Außerhalb Drakhalls Reichweite dank des engen Gitters, mit einem Holzkeil zusätzlich gesichert, den jemand unter den Riegel geschoben hatte.

Nur auf Zehenspitzen erreichte Zirys diesen Verschluss und zerrte das Holzstück mühselig frei. Dann zog sie den Riegel auf und öffnete die Tür.

Den Geruch, der ihr aus dem Käfig entgegenschlug, und den sie vor wenigen Momenten am Gitter kaum wahrgenommen hatte, konnte Zirys nur als widerwärtig bezeichnen. Schmutz. Sie sagte sich lautlos, dass es nur Schmutz wäre.

»Drakhall, komm. Ich habe kein Wasser, aber da hinten ist ein Springbrunnen.« Wie vertraut die Silben seines Namens sich anfühlten. Zirys wunderte sich ein wenig über sich selbst. Verglichen mit Drakhall war Rokiv nur klein und pummelig zu nennen. Und doch strebte alles in Zirys danach, den Hünen zu befreien. Niemand sollte der sehr fragwürdigen Gnade, die in Lusias Hav dank des Kriegsprinzen zur Mode geworden war, ausgesetzt sein, sagte sie sich lautlos, während sie mit verhaltenem Atem wartete.

Bewegung im Käfig. Unendlich langsam, auf Händen und Knien folgte Drakhall der Aufforderung, und als das Sternenlicht sowie der rote Widerschein aus der Stadt auf sein Gesicht fielen, erkannte Zirys das Misstrauen in seiner Miene.

»Beeil dich. Ich habe Angst, dass doch noch ein Wächter vorbeikommt. Die feiern alle, aber hin und wieder gibt es einen, der dienstbeflissen ist.« Sie trat einen Schritt zurück, um Drakhall Platz zu machen. Den er dringend brauchte, als er sich ganz langsam, wachsam in scheinbar alle Richtungen spähend, aus dem Wagen schob. Die muskulösen Beine in speckigem Leder zuerst, vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf den Boden setzend. Die Silberknöpfe der langen Stiefel blitzten auf und schienen das einzig Intakte an dem ganzen großen Kerl zu sein. Den bandagierten linken Arm hielt der Mann wie schützend vor seiner Bauchdecke, mit der rechten Hand fand er Halt am Türrahmen, und endlich stand Drakhall vor Zirys.

»Warum?«, fragte er leise.

»Erst Wasser«, antwortete Zirys und wunderte sich selbst, woher sie mit einem Mal die Kraft nahm. Aber es tat so gut, Drakhall wiederzusehen. Höchstwahrscheinlich, dachte sie benommen, stellte es auch eine Wohltat dar, jemanden zu sehen, der noch übler zugerichtet worden war als sie selbst.

Er nickte und ließ endlich den Türrahmen los, schwankte einen Moment gefährlich. Der Kopf sank nach vorne, und Zirys sah die Muskeln arbeiten, um diesen riesigen Kerl in der Senkrechten zu halten.

»Hier entlang. Mach dich klein.«

Keine Antwort, aber er zog tatsächlich die Schultern nach vorne, beugte ganz leicht den Rücken und folgte ihr. Zuerst zum Mantelsack. Irgendwie hatte Zirys erwartet, dass Drakhall das Gepäckstück an sich nehmen würde. Doch er wartete nur stumm neben ihr, bis sie sich den Lederriemen über die Schulter geworfen hatte.

Hastig eilte Zirys voran, sah immer wieder ängstlich um sich und fühlte sich widersinnigerweise ein wenig sicherer mit Drakhall in ihrem Rücken.

Der große Kerl war langsam. Erschreckend langsam. Doch endlich kam der Springbrunnen in Sicht. Ein leises, kehliges Geräusch hinter Zirys, und Drakhall schaffte es, seine Schritte zu beschleunigen. Er erreichte die niedrige Umfassungsmauer, brach davor in die Knie, umkrallte den Stein mit beiden Händen und tauchte den Kopf in das sprudelnde Nass.

Tropfen spritzten auf seinen nackten Rücken, der von Peitschenstriemen gezeichnet war und irgendwie sehr faltig und spröde aussah. Ebenso Drakhalls Hände und Arme, bemerkte Zirys erst jetzt, da warmer Feuerschein von den Öllampen rund um den Brunnen die hünenhafte Gestalt beleuchtete.

Zirys entsann sich, dass Rokiv sie einmal für einen ganzen Tag im Zimmer eingesperrt hatte. Ohne Wasser und Nahrung. Es hatte wehgetan. Der Hunger war erträglich gewesen, aber der Durst hatte sie am Denken behindert, für Kopfschmerzen gesorgt und in jedem Muskel geschmerzt.

Dem Gestank nach zu urteilen hatte Drakhall sich erheblich länger als einen Tag im Gitterwagen befunden. Die Göttin der Unterwelt, die grinsend Rokiv in ihrem Reich hatte begrüßen dürfen, mochte wissen, wann jemand zuletzt Wasser an den Gefangenen gereicht hatte.

Drakhall tauchte wieder auf, rang keuchend nach Atem und ließ sich auf die Fersen sinken. Sein Kehlkopf bewegte sich zweimal rasch auf und ab, dann wandte Drakhall den Kopf zur Seite und erbrach das gierig getrunkene Wasser wieder. Reines Wasser, kristallklar.

Zirys blickte besorgt ringsum, ob diese Geräusche Wächter anlockten. Doch da die Feierlichkeiten im Palast und auch auf der anderen Seite der Gartenmauer offenbar mit jedem Atemzug lauter wurden, bildete der Springbrunnen eine kleine Insel der Stille. Abgesehen vom Plätschern des Wassers und Drakhalls leisem Würgen. Hinzu kam wohl auch, dass Bezechte sich dauernd übergaben, da fiel das hier gar nicht auf.

Es schüttelte den großen Kerl deutlich.

»Drakhall …«

»Gleich.« Er rang nach Atem, beugte sich wieder vor und trank erneut, wobei er dieses Mal Wasser mit der hohlen Hand schöpfte und es langsamer angehen ließ.

Zirys’ Unruhe und Ungeduld wuchsen. Was, wenn der Hauptmann noch einmal an die Zimmertür klopfte? Wenn er ungeduldig eintrat, weil er keine Antwort bekam? Würde er das wagen? Doch was blieb ihm übrig, wenn er seinen Prinzen nicht finden konnte?

Ängstlich ließ Zirys den Blick zwischen Drakhall, der Mauer und dem Palast hin und her fliegen. Auch jemand, der nach dem Gefangenen sah, würde Alarm schlagen. Und dann?

»Zirys, nicht wahr?« Er kauerte immer noch am Brunnenrand, doch sah Drakhall nun erheblich wacher aus.

Röte kroch ihr in die Wangen, dass er sich ihrer offensichtlich nicht so klar entsann wie sie sich seiner. Es beschämte und erleichterte sie zugleich.

Zirys nickte.

»Ich konnte deine Stimme nicht gleich erkennen, als du mich ansprachst.« Wie ein Schatten im Nebel flackerte sein Lächeln auf. Müde, doch sonst wie vor so langer Zeit. »Was machst du hier, Kleines?«

»Flüchten. Und ich wäre schon lange fort, wenn du nicht …«

»Wenn ich dich nicht aufhalten würde. Tut mir leid.« Er stemmte sich auf die Beine. »Ich möchte auch gerne verschwinden. Darf ich dich begleiten?«

»Sonst hätte ich dich wohl kaum aus dem Wagen geholt und neben dir gewartet«, schnappte sie, obwohl sie spürte, wie ungerecht diese kleine Attacke war.

Das Lächeln blieb. Es erhellte das dunkle, leicht kantige Gesicht und erinnerte Zirys nur zu sehr an den Strand im Mondschein, an das Feuer, über dem sie gemeinsam Fische gebraten hatten.

»Du hast einen Plan?«

»Ich will zum Hafen.«

»Da wimmelt es nur so von Soldaten.«

»Nein. Das ist der Kriegshafen. Ich meine den des Fischerdorfs auf der anderen Seite der Insel. Das sollte von hier nicht allzu weit fort sein. Ich kenne die Richtung.«

Drakhall sah sie ein wenig durchbohrend an. Das konnte er sehr gut, erinnerte sie sich. Das Gesicht verschlossen und ernst, der Blick ganz ruhig. Doch Zirys hatte nicht vor, sich davon beeindrucken oder verwirren zu lassen. Ganz gewiss würde sie sich nicht in ein unsicher kicherndes junges Mädchen verwandeln. Das hatte Drakhall einmal geschafft, ein zweites Mal würde sie es ihm nicht gestatten.

»Gibt es hier eine Seitenpforte? Es wäre selten dämlich, durch das Haupttor zu marschieren. Als sie den Wagen hereinbrachten, tummelte sich dort die halbe Stadtbevölkerung.«

Zirys hoffte, dass es dunkel genug war, ihr Erröten zu verbergen. Genau dieses Tor hatte sie benutzen wollen. Aber sie alleine wäre bestimmt unbeachtet geblieben. Hemd, Hose, junge Frau. Doch mit diesem hünenhaften Krieger, der obendrein halb nackt war, an ihrer Seite konnte sie nicht darauf bauen, denselben Erfolg zu verbuchen. Sie löste die Kette des Umhangs und reichte Drakhall Rokivs Soldatenmantel. »Er ist rot. Eine dumme Farbe, aber besser, als wenn du verdreckt und voller Schrammen jedem ins Auge stichst. Wenn du nur nicht so groß wärst.«

Er nickte, warf sich den Mantel über die Schultern, was sehr mühsam aussah, da Drakhall kaum den linken Arm zu bewegen wagte, und schloss die Kette. »Seitenpforte?«

»Ich weiß es nicht.«

»Dann lass uns suchen. Ich möchte ungern mitten in die Feier platzen, die meine Gefangennahme bejubelt.«

»Warum?«, fragte sie und fiel neben ihn in Schritt, als er dicht zur Mauer aufschloss, um in deren Schatten ihrer Linie zu folgen und nach einer Tür zu suchen.

»Warum ich die Siegesfeier nicht mit meiner Gegenwart beehren möchte?«

»Du bist ein Ekel.«

»Darin könnte der Grund liegen. Erklärt aber nicht, warum die königliche Kriegsmarine den Kopf meines Oheims per Katapult auf dem Marktplatz landen ließ, bevor sie angriff.«

»Götter! Aber ich verstehe es nicht.«

»Das tue ich auch nicht, tröste dich.« Mit der rechten Hand suchte Drakhall immer wieder Halt an der Mauer. »Aber ich habe vor herauszufinden, was den König zu diesem Schritt gebracht hat.« Er keuchte, stolperte und fing sich mühsam wieder. »Und vor allem, wie er es wagen konnte, mir seinen treuen Hund Kriegsprinz Rokiv auf den Hals zu hetzen.«

»Was ist mit Cathinn Hav?«

»Meines Wissens unversehrt. Doch verlasse dich nicht auf dieses Wissen. Es ist über eine Woche alt.«

Er wurde schneller, und Zirys musste deutlich längere Schritte machen, um mit dem großen Kerl mithalten zu können. Sie hatte den Krieg als Ruhepause vor Rokiv begrüßt, und nun erfuhr sie, dass es sich keineswegs um eine Strafaktion gegen Seeräuber oder andere Eindringlinge gehandelt hatte, sondern ein wildes Kämpfen und Ringen mitten im Großen Meer gewesen sein sollte.

Ihr Kopf schwirrte, während sie sich Seekarten, die Lage der Inseln ins Gedächtnis zu rufen versuchte. Lusias Hav, Cathinn Hav, die anderen größeren Landmassen, die vielen kleinen Atolle und Marschlandinseln, die sich wie grüne Tierrücken aus den Fluten erhoben, bevor das Große Meer in Richtung der Mittagssonne in den Ozean überging, der bis zum Horizont reichte und scheinbar nicht ein einziges Stück Land aufwies. In der Gegenrichtung das große Feuerland, auf dem Vulkane wüteten und nicht eine Handbreit Boden bewohnbar ließen. Zirys entsann sich der Einschätzung ihres Vaters, dass das Feuerland irgendwann so weit wuchs, dass es die Inselreiche des Großen Meeres verschütten würde. Dann gab es nur noch einen riesigen Klotz karstigen Lavafels und das unendliche Meer. Eine erschreckende Vorstellung, doch lag sie so weit noch in der Zukunft, dass diese gegen die Nachricht von einem Krieg verblasste.

Drakhall blieb stehen. Er hatte eine Ecke der Mauer erreicht, an der sich ein schlanker Turm in den roten Nachthimmel bohrte.

»Bleib hier. Ich sehe nach, ob dort Wachen sind.«

Sie wollte protestieren, doch da war Drakhall schon durch die kleine Pforte im Inneren des Turms verschwunden. Das Geräusch von Drakhalls Schritten, ohnehin nicht laut, verklang binnen eines Herzschlags. Zirys blieb zitternd und dicht an die Gartenmauer gedrückt zurück.

Drakhall kehrte nach einer Zeit zurück, die Zirys sich mühsam als kurz erklärte, die ihr aber wie eine Ewigkeit vorgekommen war.

»Hast du in der Tasche noch Platz? Keine Wächter, aber Vorräte und zwei volle Wasserflaschen. Ich konnte mir einen Überblick verschaffen. An dieser Seite sollte in einigen Hundert Schritt Entfernung ein Tor sein – oder eine Pforte. Ich hoffe, dass wir die Feier weiträumig umgehen können.«

»Das klingt gut.« Zirys schnürte den Mantelsack eilig auf.

»Bleibt nur noch die Stadtmauer. Bei der kann ich mir wirklich nicht vorstellen, dass sie unbemannt ist.« Drakhall verstaute Käse, Brot und die Flaschen im Gepäckstück, schnürte es selbst wieder zu und schwang sich den Lederriemen über die rechte Schulter. Den linken Arm hielt er immer noch auffällig nahe am Körper, den Daumen in den Gürtel eingehakt, um offenbar Gewicht vom Oberarm zu nehmen.

Zirys beschloss, dumme Fragen nach der Schwere und Ursache der Verletzung auf später zu verschieben. Sie entsann sich ihres Vaters – und schmerzhaft auch Rokivs –, wie dieser auf solch weiblich besorgtes Auskunftsersuchen reagiert hatte. Außerdem schien der Hüne erstaunlich schnell geistiges Gleichgewicht zurückerlangt zu haben – oder spielte es bewundernswert, um über seinen Zustand hinwegzutäuschen. Der nicht gut sein konnte, denn immer wieder suchte Drakhall Halt an der Gartenmauer, sog scharf Atem ein und machte ganz den Eindruck, seinen muskelschweren Körper durch reine Willenskraft zum Weitergehen zu zwingen. Ein Wunder, dass er nicht nur in ganzen Sätzen sprechen konnte, sondern offenkundig auch des Denkens mächtig war.

Hastig schloss sie sich ihm wieder an, da er nicht nur Vorräte, sondern auch alle Besitztümer, die Zirys noch hatte, mit sich trug. Auch den Dolch. Einzig Rokivs Ring war ihr verblieben, und sie musste die Hand zur Faust ballen, damit das Siegel nicht vom Daumen rutschte.

Tatsächlich kam bald ein kleines Torkastell in Sicht. Nicht so riesig wie jenes, durch das der Gefangenenwagen in den Garten gerollt worden war. Zirys fragte sich, was Rokiv wohl mit Drakhall vorgehabt hatte. Und wie viel schlimmer diese Pläne ausgefallen wären, wenn Rokiv auch nur den Verdacht gehabt hätte, dass es jene Stunden am Strand gegeben hatte.

Drakhall ließ den Mantelsack lautlos zu Boden sinken, bedeutete Zirys, daneben zu warten, und eilte zum Kastell. Nur Augenblicke später kehrte er zurück. Nur das Mondlicht beleuchtete ihn nun, die Freudenfeuer lagen weit genug entfernt. Doch konnte Zirys im kalten, leicht bläulichen Schein erkennen, wie erschöpft Drakhall wirkte. Beinahe verdurstet, wahrscheinlich ausgehungert, und obendrein bereiteten die Verwundungen unter den verdreckten Verbänden Zirys Sorge. Dass der Kerl sich noch aufrecht hielt und obendrein den Kundschafter spielen konnte, erschien ihr immer mehr wie Zauberei.

»Niemand da. Ich stelle mir vor, dass Rokiv morgen ein paar Köpfe rollen lassen wird, weil seine Wächter alle auf der Feier sind und sich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen. Bereit?«

Einen wilden Moment lang wollte Zirys sich in die vertraute Sicherheit der Gärten flüchten, zurück in ihr Zimmer. Noch nie war sie außerhalb der Palastmauern gewesen, und das Unbekannte machte ihr entsetzliche Angst, sodass sie kaum noch atmen konnte. Rokiv und seine grausame Mutter standen nicht länger als Antrieb hinter Zirys’ Flucht aus Lusias Hav. Und doch stellte gerade der Kriegsprinz den gewaltigsten Ansporn dar, da er ja tot unter Zirys’ Bett lag. Sie musste sich dies tatsächlich stumm zweimal vorsagen. Rokivs Leiche würde nicht lange unentdeckt bleiben. Auf gar keinen Fall. Ein Wunder, dass nicht schon jetzt nach ihm gesucht wurde. Oder … Zirys blickte zurück zum Palast, zu ihrem Fenster. Kein Licht. Hätte sie eine Lampe brennen lassen sollen? Unter der Bettdecke mittels Kissen und Kleidung die Kontur einer Schlafenden bilden sollen, damit die Soldaten dachten, dass sie brav dort lag? Ihr Mund wurde staubtrocken. Was hatte sie alles falsch gemacht, um die Generale mit der Nase darauf zu stoßen, dass etwas nicht stimmte?

Und als Drakhall ihr eine Hand auf die Schulter legte, hätte Zirys beinahe geschrien vor Erschrecken. Mühsam riss sie sich zusammen und starrte zitternd zu ihm auf.

»Ich fragte, ob du bereit bist, Zirys.«

Sie nickte. Obwohl sie alles andere als vorbereitet war, weil die Welt außerhalb der Palastmauer nur Unbekanntes und dadurch namenlose Schrecken bereithielt.

Er nickte und zog mühsam den Riegel beiseite, der die kleine Pforte verschlossen hielt. Alles nur mit der rechten Hand, und die Art und Weise, wie Drakhall sich dabei krümmte und die unter dem Verband verborgenen Rippen der linken Seite zu schonen versuchte, klärte Zirys’ Kopf wieder ein wenig. Sie konnte Drakhall zur Hilfe kommen, ohne sich zitternd und weiterhin nutzlos in seinen Schatten zu drücken.

Energisch nahm sie auch den Mantelsack wieder an sich.

Drakhall quittierte dies mit einem eindeutig dankbaren Nicken. Wenigstens markierte er nicht den Unbesiegbaren, um dann irgendwo auf halbem Weg zur Fischersiedlung zusammenzubrechen. Hoffentlich.

Behutsam öffnete er das Tor, und gemeinsam spähten sie nach draußen. Ein gepflasterter Hof, der im Dunkel lag. Angrenzende Gebäude standen still und offenbar nicht als Herberge für Feiernde am Rand des großen Freibereichs.

»Was ist das? Sieht fast nach Kasernen aus«, flüsterte Drakhall und trat geduckt vor.

»Ich weiß es nicht.«

Drakhall schnupperte. »Korrigiere mich. Stallungen. In welcher Richtung liegt dein Fischerdorf, Mädchen?«

Sie wies ihm die grobe Richtung. Zwischen ihnen und dem Dorf lag natürlich der Rest der Stadt, in dem immer noch ausgelassen gefeiert wurde. Keine Zeit, sich in den Stallungen zu verkriechen, ein paar Stunden Schlaf zu erhaschen. Denn jeden Moment konnte Rokivs Leichnam entdeckt werden. Nur wusste leider Drakhall das nicht. Nach der ersten deutlichen Erfrischung durch das Brunnenwasser wurde er nun wieder langsamer. Die Diener der Unterwelt mochten wissen, wie lange er im Käfig gesteckt hatte und dort Misshandlungen ausgesetzt gewesen war. Denn er sah verschrammt und insgesamt sehr mitgenommen aus.

Kein Wunder. Einen Kerl wie Drakhall fing niemand unversehrt ein. Er musste etliche Gegner erschlagen haben, bevor er entweder dank seinen Verwundungen das Bewusstsein verloren hatte oder durch die schiere Überzahl der Soldaten von Lusias Hav niedergerungen worden war. Und keiner von denen war dann noch sonderlich vorsichtig mit ihm umgegangen. Wer in das Antlitz eines erschlagenen Freundes blickt, neigt dazu, dem Verursacher des Todes dies heimzahlen zu wollen. Und wann bot sich eine bessere Gelegenheit dazu, als der Augenblick da dieser Verursacher am Boden lag?

Genauso sah Drakhall aus!

Er hielt sich nun im Schatten der Mauer, und Zirys folgte ihm mit dem Mantelsack, der scheinbar bei jedem Schritt schwerer wurde. So viel hatte sie gar nicht eingepackt. Auch die Lebensmittel, die Drakhall aus dem Turm gebracht hatte, waren nicht so umfangreich gewesen, fand sie. Das Zittern ihrer überlasteten Muskeln vermischte sich mit dem Beben aus schierer Angst.

Gesang aus zahllosen Männerkehlen stieg auf der äußerst belebten Hauptstraße auf, und Zirys schauderte unwillkürlich. Da wäre sie alleine vielleicht noch durchgekommen. Doch nicht mit dem angeschlagenen Drakhall an ihrer Seite, der nur unvollkommen durch Rokivs Mantel verhüllt wurde. Selbst jedem Besoffenen musste auffallen, wen er da vor sich hatte.

Doch Drakhall bog nach links ab, bevor die Straße, der er bislang gefolgt war, mitten in die Festlichkeiten führen konnte. Eine schmale Gasse, die hinter den herrschaftlichen Häusern am Hauptweg verlief. Zur Rechten erhoben sich Mauern, über deren Kronen sich Baumwipfel in den Nachthimmel reckten. In den Gärten hinter diesen Schutzwällen tobte die Feier in voller Ausgelassenheit. Natürlich eine edle Festlichkeit, an der die einfachen Leute auf der Hauptstraße keinen Anteil haben durften.

Ein paar Schritte weiter, und Drakhall verharrte, stützte sich schwer an der Mauer ab und atmete mit hängendem Kopf und gekrümmter Wirbelsäule mehrfach tief durch.

Zirys schloss zu ihm auf und wartete besorgt, ob und wie rasch er sich erholen würde. Sie blickte auch zurück zum Palast, ob dort die verräterischen Zeichen von Fackeln auf den Mauern erscheinen würden, die ein Signal wären, dass jemand auf Rokivs Tod und das Verschwinden der Prinzengemahlin aufmerksam geworden wäre. Aber dort herrschte Stille. Wie lange noch? Und wie lange brauchte Drakhall, bis er wieder gehen konnte?

Er stieß sich von der Mauer ab, richtete sich halbwegs auf und nickte Zirys zu. »Weiter.«

»Wie lange stehst du das durch? Du bist schwer verletzt worden.«

»Nicht schwer – aber schmerzhaft. Ich denke, dass ich es bis zu deinem Fischerdorf schaffe.«

»Du weißt nicht einmal, wie weit es dorthin ist.«

»Ich frage mich, ob du das weißt.«

»Ungefähr.« Götter, sie konnte die Entfernung überhaupt nicht abschätzen, ahnte nur grob, wie weit es noch bis zur Stadtmauer war.

»Ich weiß, dass wir dort ein Boot stehlen und von dieser sehr ungastlichen Insel verschwinden können. Das reicht mir im Augenblick als Ziel.« Sein Gesicht wirkte hart und erschöpft, die Augen dunkel, ihr Ausdruck überhaupt nicht auszumachen.

Zirys mochte seine Augen, die Farbe der Iriden erinnerte sie an eine sturmgepeitschte See, ein dunkles Blau mit einer kalten Unterströmung von Grau. Doch so, wie der große Kerl nun vor Zirys stand, hatte sie ihn noch nie gesehen. Nun, so viel wusste sie ohnehin nicht über ihn, dazu war ihre Bekanntschaft am Strand einfach zu kurz gewesen. Ja, sie hatte Drakhall in seinem verwundbarsten Augenblick erleben dürfen, doch jetzt bekam sie erst wirklich Einblick, da Drakhall keine Kraft mehr zu verschwenden hatte, um den Anschein eines unbesiegbaren, kraftstrotzenden Mannes aufrechtzuerhalten.

Als sie nicht antwortete, setzte Drakhall hinzu: »Ich werde keinesfalls so dämlich und edelmütig sein, dir vorzuschlagen, mich zurückzulassen. Du bist ein Küken, Zirys, und ich möchte wetten, dass du es alleine niemals bis in das Dorf schaffst.«

»Das ist eine boshafte Unterstellung.«

»Kommst du jetzt, oder willst du meinen letzten Atem mit einem Streit verbrauchen, damit ich auf Händen und Knien bis zu deinem blöden Fischerdorf krieche?«

Zirys biss die Zähne fest zusammen und ging wortlos weiter. Um ein leises Auftreten musste sie sich nicht sorgen, zu sehr tobten auf der anderen Seite der Garteneinfassungen wilde Gesänge, Gelächter und weibliches Kreischen, das eine Gänsehaut nach der anderen über Zirys’ Rücken jagte. Von Drakhall vernahm sie deutlich angestrengte Atemzüge. Der Hüne hielt dank langer Beine und viel Muskelmasse mit, egal wie schwer er nun verwundet war.

Die Straße stieß auf eine weitere, die quer zu ihr verlief. Zirys und Drakhall hielten sich im Schatten einer gewaltigen Zypresse und verschafften sich einen Überblick.

Die geschäftigsten Feiern fanden zur Rechten statt. Dort verlief die Hauptstraße, auf der alle paar Schritte ein Freudenfeuer zu brennen schien. Der Duft bratenden Fleisches stieg Zirys lockend in die Nase, und ihr Magen knurrte schmerzhaft. Das Mahl am Tisch der Witwe lag Stunden in der Vergangenheit, und mehr als ein paar Löffel der Suppe und ein Stück Brot hatte Zirys dabei auch nicht zu sich genommen. Lust, den Mantelsack aufzuschnüren und nachzusehen, was Drakhall im Wachturm genau an Vorräten aufgestöbert hatte, überkam sie. Doch das war Unsinn und musste warten, bis das Stadttor irgendwie überwunden war.

Vor diesem Tor graute es Zirys. Der Umstand, dass die Palastmauern unbewacht da gelegen hatten, war verblüffend gewesen. Nie hatte sie solches in den anderthalb Jahren ihres Lebens in Lusias Hav zuvor gesehen. Selbst in den Gärten hatte sie immer das Gefühl gehabt, beschattet und kontrolliert zu werden. Doch auch wenn die Palastmauern unbemannt waren, konnte das doch auf das Stadttor nicht zutreffen.

Drakhall wies auf die wüste Feier. »Das Haupttor liegt am Ende dieser besoffenen Meile. Ist dir ein anderes bekannt? Ein kleineres?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Gut, dann gehen wir hier nach links und arbeiten uns auf Umwegen auf die Umfassungsmauer und damit auf das Tor zu. Bete zu deinen Göttern, Kleines, dass die Wachmannschaft sich an einem Feuer den Wanst vollschlägt und so viel Wein in sich gießt, wie sie nur bekommen kann.«

Sie nickte, auch wenn sie sich das nicht vorstellen konnte. Rokiv hatte nicht nur seine Frau durch Angst und Grausamkeit unter Kontrolle gehalten, sondern auch seine Soldaten. Das zumindest wusste Zirys sicher.

 

Dass sich Lusias Hav so groß und vor allem verzweigt ausbreitete, hätte Zirys nie gedacht. Vom Palast aus wirkte das Häusermeer immer friedlich und geordnet. Breite Straßen, prachtvolle Häuser, Alleen und Parks. Doch nun, auf der Suche nach der Stadtmauer, die den Blicken durch aufragende Bäume oder schlichtweg im Weg stehende Häuser immer wieder entzogen wurde, während kleine Gassen und breitere Straßen in Windungen zwischen Häusern, Werkstätten, Lagerhallen und Parkanlagen verliefen und immer wieder die Richtung wechselten, erkannte Zirys erschöpft, dass sie sich geirrt hatte.

Der Mantelsack wog schwer, und bald begann Zirys, die kurzen Pausen herbeizusehnen, da Drakhall zitternd stehen bleiben und nach Atem ringen musste. Gleichzeitig machte jede Rast Zirys Angst, weil Drakhalls Zustand sich so offensichtlich verschlechterte. Die Abstände zwischen diesen Unterbrechungen verkürzten sich immer mehr.

Was sollte sie tun, falls er vollkommen zusammenbrach? Ihn im Stich zu lassen, bedeutete, ihn der sehr fragwürdigen Gnade von Rokivs Generalen und des neuen Kriegsprinzen zu überlassen. Denn der König würde einen Nachfolger bestimmen, sobald er von Rokivs Ableben erfuhr. Doch auf der anderen Seite musste Zirys sich klar machen, dass sie keine Aussicht auf Erfolg hatte, den großen Krieger wieder auf die Beine zu stellen oder gar hinter sich herzuziehen, falls er nicht mehr alleine gehen konnte.

Der Lärm der Feierlichkeiten brandete ihnen entgegen. Zu Beginn waren auch Musik und Gesang erklungen, als Zirys noch alleine durch die Palastgärten schlich. Kinderlachen, das Stampfen von tanzenden Füßen. Jetzt erscholl nur noch betrunkenes Grölen. Vielleicht stellte sich das als hilfreich heraus, wenn die tüchtigen Männer von Lusias Hav sich besinnungslos gesoffen hatten. Aber die Wachen konnten sich nicht samt und sonders an dem Gelage beteiligt haben.

Der Widerschein der Feuer erhellte nun auch die breite Straße, die im Schatten der Mauer rund um die Stadt verlief. Und die zu einem der Tore führen musste. Zu genau jener Öffnung in der Wehr, die den Weg zum Fischerdorf freigab.

Zirys spürte, wie das Zittern in ihren Knien begann und sich ganz gemächlich nach oben arbeitete. Der widerwärtige Gedanke, dass sie alleine es schon irgendwie geschafft hätte, aus der Stadt zu kommen, tauchte wieder auf. Denn Drakhall war alles, aber nicht unauffällig. Niemand würde ihn übersehen, weil er einfach zu groß war. Und jeder konnte doch auf den ersten Blick sehen, dass dieser Hüne schwer gezeichnet und leichte Beute war.

»Hast du eine Waffe?«, fragte er und klang furchtbar atemlos.

»Einen Dolch.«

»Besser als nichts. Gib her.«

»Du wirst nicht alle Wächter erstechen können, bevor sie dich niedermachen.«

»Ich habe nicht vor, überhaupt jemanden umzubringen, wenn es sich vermeiden lässt. Im Gegensatz zu gewissen Kriegsprinzen empfinde ich nicht das geringste Vergnügen daran, Menschen von dieser in die Unterwelt zu befördern.« Immer noch atemlos, doch deutlich energischer.

Woher er die Kraft zu so bissigen Bemerkungen nahm, blieb Zirys ein Rätsel. Doch jedes Wort tat ihr gut, vertrieb aber die Angst nicht. »Hast du einen Plan?«

»Ich bin nicht im Besitz aller Fakten. Ich schaffe es bis zum Fischerboot, das ist das Einzige, was ich sicher weiß. Ein Plan … Ich will mich am Rand halten und so wenig Aufsehen wie möglich erregen. Sonst lande ich wieder im Käfig, das ist mir klar.«

Ihr Mut sank. Das war noch sehr viel weniger geplant, als sie gehofft hatte.

Drakhall lächelte. Eindeutig müde, aber es zauberte ein verrücktes Funkeln in die dunklen Augen. »Lass den Kopf bitte nicht ganz so offensichtlich hängen. Unser Vorteil ist, dass die meisten Leute da vorne stockbesoffen sind.«

»Aber bestimmt nicht die Wachen.«

»Deswegen will ich den Dolch haben, Kleines.«

Sie hatte das Gefühl, überhaupt keine Argumente gegen Drakhall anbringen zu können. Angeschlagen und planlos, und doch verströmte er eine solche Selbstsicherheit, um die Zirys ihn beneidete. Er war es allzu offensichtlich gewohnt, Befehle zu erteilen, die stets umgehend befolgt wurden, sodass er sich nicht einmal um einen schärferen Tonfall bemühen musste, um alles durchzusetzen.

Ergeben setzte sie den Mantelsack ab, schnürte ihn auf und suchte den Dolch hervor, um diesen an Drakhall zu reichen.

Er prüfte die Klinge, nickte und schob sich die Stichwaffe in den Gürtel. »Ich werde mich bemühen, mich klein zu machen. Wenn ich dir eine Richtung weise, beeil dich einfach nur, Kleines. Wir kommen hier irgendwie weg. Versprochen.«

»Wie kannst du das versprechen, wenn du keine Ahnung hast, wie es gelingen soll?« Sie schulterte das Gepäck erneut.

»Weil ich nicht einsehe, warum der verfluchte Kriegsprinz morgen mit meinem Kopf ein Ballspiel veranstalten darf. Komm jetzt. Sieh niemandem direkt in die Augen. Wir halten uns soweit wie möglich im Schatten und werden ganz lieb und leise sein.«

Zirys zweifelte an allem. An Drakhalls Verstand, an seiner Fähigkeit, lieb zu tun. Doch was blieb ihr anderes möglich, als ihm zu folgen? Dabei drückte sie sich eng an die Stadtmauer, wie Drakhall es ebenfalls tat. Bis der große Kerl sich mit einem Mal von dieser Stütze und Tarnung löste, sich wirklich verblüffend klein machte, obwohl er weit davon entfernt war, ein verhutzeltes altes Männchen zu sein. Doch er wirkte alt – und lief in dezenten Schlangenlinien, als wäre er volltrunken. Ganz bestimmt war sein Zusammenbruch nur noch wenige Herzschläge entfernt.

Eilig schloss sie zu ihm auf und warf besorgte Blicke ringsum. Die Feier hatte ihren Zenit überschritten, erkannte Zirys sofort. Überall am Straßenrand lagen dunkle Gestalten, während einige wenige noch schwankend beisammensaßen und sich weiteren Wein in die Hälse schütteten. Zirys vernahm das charakteristische Geräusch, das die Versuche eines Mannes begleitete, seinen Magen zu leeren, bevor der Alkohol tödliche Konzentrationen annehmen konnte.

Drei Männer torkelten Drakhall entgegen, hoben Krüge und grölten herzhaft.

Zirys ertappte sich dabei, eine Hand um den Seitensaum von Drakhalls Mantel zu krallen. Drakhall sank noch ein wenig mehr in sich zusammen und schien, als die drei Betrunkenen beinahe mit ihm zusammenstießen, kaum größer als diese. Einer der Feiernden ging zu Boden, als wäre er über ein unsichtbares Hindernis gestolpert. Weit flog der Weinkrug und zerschellte an der Stadtmauer. Ein Jammerschrei entrang sich dem Gestürzten, den seine Kameraden aufzuklauben versuchten. Zirys starrte fassungslos, als aus diesem Manöver unvermutet eine Keilerei wurde.

Im gleichen Augenblick, da der Mann stürzte, schloss sich schon Drakhalls Hand um Zirys’ Unterarm, der Hüne entfaltete sich und beschleunigte, hielt ohne weiteres Torkeln oder Umwege auf das Torkastell zu. Zirys schnappte verwirrt nach Luft.

Hinter ihnen wurde es noch sehr viel lauter, als die drei Betrunkenen sich ernsthaft in die Haare bekamen. Der Mann am Boden schrie und wehrte sich erbittert gegen jeden Versuch, ihm aufzuhelfen. Die beiden anderen stießen mit den Köpfen zusammen, als sie sich hinab beugen wollten. Das erzürnte beide. Verwünschungen flogen, dann folgten die Fäuste, und dass nicht sofort jemand zu Boden ging, lag an der eingeschränkten Sehkraft und Körperkontrolle der beiden Betrunkenen. Auf jeden Fall erregte ihr zänkisches Geschrei ebenso Aufmerksamkeit wie das Brüllen des Mannes am Boden, auf den die Streithähne im Gerangel traten.

»Wie …«, brachte Zirys erstaunt hervor.

»Dolchstich im Oberschenkel. Tut weh, und er ahnt nicht, warum. Auf so viel Lärm hatte ich kaum zu hoffen gewagt.«

Andere Feiernde strömten in die Mauerstraße, offenkundig neugierig, was da Lautes vor sich ging.

Da Drakhall Zirys festhielt und Richtung und Geschwindigkeit vorgab, sah Zirys über die Schulter nach hinten. Der Verletzte wehrte sich vehement und laut gegen jeden Versuch, ihm aufzuhelfen – natürlich. Dass er dabei wild um sich schlug, unverständlich brüllte und sich schließlich über die Schuhe eines verhinderten Helfers erbrach, dürfte für weitere Unruhe sorgen.

Zirys stolperte, drehte sich wieder halb um und erkannte, dass sie sich die Zehen an einer Stufe gestoßen hatte. Drakhall schlüpfte in das Wachhaus am Kastell und zog Zirys dabei noch immer mit sich.

Hinter ihr schlug die Tür zu, und Drakhall ließ Zirys los, flog verblüffend schnell vorwärts und packte einen Soldaten, der leicht schläfrig am Wachtisch gesessen hatte und nun aufsprang. Schädel krachte an Schädel, dass Zirys beim Geräusch schon Kopfschmerzen bekam. Der Soldat sank zu Boden.

Drakhall machte sich nicht die Mühe, den Mann aufzufangen. Wahrscheinlich wäre es ihm auch gar nicht möglich gewesen, und er hätte sich nur neben seinem Gegner am Boden wiedergefunden. Schwer stützte der Hüne sich auf den Tisch auf, wobei er immer noch nur den rechten Arm verwandte. Dann stemmte er sich in die Senkrechte und packte einen Krug, der auf dem Tisch stand.

»Wenn das Bier ist, hattest du schon bessere Ideen«, sagte Zirys ganz ruhig. Halb verhungert und dann Alkohol in einen leeren Magen gießen?

Drakhall schnupperte. »Wein.«

»Ebenso dumm.«

Er stellte den Krug wider Erwarten ab. »Ich will unsere Vorräte nicht jetzt schon dezimieren.« Ein Zittern überlief den großen Kerl.

»Halte durch bis ins Fischerdorf. Drakhall, wir müssen hier weg.«

Er nickte, dann wies er auf ein Waffengestell an der Wand. »Ich will eine Axt.« Er legte den Weg eindeutig unsicher zurück, stieg über den gefällten Soldaten und versuchte, eine Waffe aus dem Gestell zu heben. Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, bis dies gelungen war. Drakhall stand einen Moment still, hielt die Augen geschlossen und atmete mehrfach tief durch.

Zirys hatte diese Zeit genutzt, sich rasch in der kleinen Wachstube umzusehen. Dabei hatte sie einen Tontopf mit Tee entdeckt, den sie in einen halbwegs sauberen Becher füllte. »Tee, Drakhall. Es ist gar nicht mehr weit zum Fischerdorf. Trink etwas, und dann müssen wir weiter. Wenn man uns beim Wachwechsel hier findet …«

Die Sorge, dass der große Mann auf halber Strecke oder womöglich noch innerhalb der Stadtmauern einfach umsinken würde, wuchs an und verdichtete sich zur Gewissheit. Im flackernden Licht der Öllaterne konnte Zirys sehen, wie sehr Verwundungen und Gefangenschaft Drakhall gezeichnet hatten. Vor zwei Jahren hatte sie ihn kennengelernt. Er sah aus, als wäre er seitdem um zwei Jahrzehnte gealtert. Wenn nicht noch mehr.

Die harten Linien in seinem Gesicht, die sie bei der schlechten Beleuchtung im Palastgarten halbwegs hatte ausmachen können, waren zu ausgewachsenen Furchen geworden. Das Gesicht wirkte grau, die Schatten unter Drakhalls Augen schimmerten in einem dunklen Violett. Er sah mehr tot denn lebendig aus. Toter auf jeden Fall als Rokiv, bevor Zirys den unter das Bett geschoben hatte.

Doch gehorsam kam Drakhall heran, nahm den Teebecher entgegen und leerte dessen Inhalt in einem Zug. Der Blick der sturmtosenden Augen wurde etwas klarer. »Lebensmittel?«

»Fleisch am Spieß. Ich packe es gleich ein. Drakhall, du stehst keinen Fußmarsch von einer halben Stunde oder mehr durch.«

»Ich muss. Lass mich nicht zurück, Zirys. Bitte.«

Sie atmete tief durch und stopfte das heiße, angebrannte Fleisch in den Mantelsack, wo es Fettflecken auf der Kleidung verteilen und selbst nicht appetitlicher werden würde. »Ich habe nicht vor, dich zurückzulassen. Aber ich kann dich nicht mit mir schleifen, falls du umfällst. Du wiegst mehr als doppelt so viel wie ich.«

Er nickte und blickte sehr kläglich in seinen leeren Becher. Zirys nahm ihm das Behältnis aus der Hand und verstaute es ebenfalls im Mantelsack.

»Ich werde nicht umfallen.« Es klang mehr wie eine Bitte denn ein Versprechen.

Zirys sah zu ihm auf und fühlte sich, als würde jemand ihr einen Spiegel vorhalten. Da stand Drakhall, riesiger, muskelschwerer Krieger. Und in Wirklichkeit kauerte dort nur ein tödlich geschwächtes Bündel Elend, das Angst hatte, alleine zurückzubleiben, wie Abfall am Wegesrand der Gnade seiner Feinde ausgeliefert.

So wie Zirys sich voller Angst Rokivs Wünschen gefügt hatte, damit es nicht alles noch schlimmer wurde. Nicht viel schlimmer.

Sie begriff, dass Drakhalls demonstrierte Stärke während des Marschs durch die Stadt seine Kräfte weit überschritten hatte. Zur Schau gestellte Tapferkeit, weil er sich verantwortlich für Zirys fühlte? Oder weil Angst vor Rokivs Folter ihn beflügelt hatte? Den ersten Schub Kraft nach dem Brunnen hatte Drakhall schnell genug aufgebraucht.

Irgendwann würde sie ihm sagen müssen, dass der Kriegsprinz tot war. Aber nicht jetzt. Denn im Augenblick stellte Drakhalls Angst vor Rokivs viehischer Erfindungsgabe vielleicht alles dar, was den großen Kerl noch vorwärtspeitschte.

»Willst du noch etwas trinken oder essen?«, fragte sie und wunderte sich selbst, wie sanft und geduldig sie klang.

»Wir brauchen die Vorräte.« Worte wie ein Schutzschild. Vorräte bedeuteten, dass sie später genossen werden würden. Dass es ein Später auch für Drakhall gab.

»Du wirst nicht umfallen, Drakhall. Du schaffst es bis zum Fischerdorf und in ein Boot. Ich kann segeln, ich kann nach Sternen und Sonne navigieren. Dann kannst du ein wenig ausruhen.«

Er nickte und wischte sich schmutzige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Der dunkelblaue Blick heftete sich fest auf Zirys’ Gesicht. So viel Hoffnung darin. Drakhall nickte noch einmal, wie um sich selbst zu versichern, dass es gelingen würde. »Bleib dicht hinter mir. Ich sehe erst nach, ob es im Kastell friedlich ist. Du wirst mir bei dem Riegelbalken helfen müssen.«

»Das mache ich gerne.«

Dieses Mal widerstand Zirys der Versuchung, sich am roten Mantel festzuhalten. Drakhall spähte nach draußen, nickte ihr zu und verließ auf eindeutig müden Beinen die Wachstube.

Das Kastell entsprach in der Größe einem Bürgerhaus, fand Zirys. Ein viereckiger Kasten, auf dessen Dach Wachen stehen konnten. Eine Höhle, in der sich wundervoll jemand verbergen könnte, wenn nicht vier große Öllampen gelbes Licht spenden und die Decke des Kastens mit Ruß schwärzen würden. Im Vergleich zur Straße mit den ganzen Freudenfeuern stellte das Kastell nahezu eine Bühne dar, auf der Zirys und Drakhall rasch handeln mussten, bevor jemand auf sie aufmerksam wurde.

Er war schon beim Tor angelangt und zerrte an dem als Riegel fungierenden Balken.

Zirys legte den Mantelsack zu Boden und kam Drakhall zur Hilfe. Jeden Augenblick würde einer der Feiernden Alarm schlagen. Bestimmt!

Der Riegel glitt beiseite, und eine kleine Pforte im großen Tor schwang auf.

Es musste nur ein einziger Bewohner von Lusias Hav hierher sehen … Weiter kam Zirys nicht, denn Drakhall schob sie durch die kleine Öffnung, warf das Gepäck ins Freie und folgte selbst nur einen Herzschlag später.

Er schloss die Tür hinter sich und lehnte dann keuchend an der Mauer, den Kopf in den Nacken gelegt, um über sich nach Wachen Ausschau zu halten. Zirys hielt sich dicht bei ihm, roch den Schmutz des Käfigs, die Hitze der überlasteten Muskeln, den frischen Schweiß, der aus Drakhalls Poren strömte. Und leise wie eine Melodie, die aus einem Zimmer am anderen Ende des Flurs erklingt, nahm Zirys den Duft des Meeres, des Strands wahr.

Drakhall sah zu ihr, versuchte ein Lächeln, das einfach nur müde aussah, und nickte schwach. Jetzt oder nie. Entweder sie wuchsen hier vor dem Kastell an, bis sie entdeckt wurden, oder sie suchten ihr Heil in der Flucht, bemühten sich zumindest, das Fischerdorf zu erreichen. Gemeinsam zu erreichen.

Zirys schulterte den Mantelsack, zögerte einen Atemzug lang und streckte Drakhall dann die Hand entgegen. Er schüttelte schwach den Kopf, und sie begriff, dass er in der gesunden Rechten die Axt hielt und den linken Arm schlichtweg nicht zu bewegen wagte.

Zirys packte also wieder den Seitensaum des Mantels und wartete auf Drakhalls Signal zur Flucht.

Immer die Straße entlang, da Zirys sich sicher war, dass Drakhall unebeneres Gelände nicht meistern konnte.

Er nickte noch einmal und stieß sich endlich von der Mauer ab. Geduckt eilten sie Seite an Seite die Straße entlang, die nur von Mond und Sternenlicht mäßig beleuchtet wurde. Drakhall strebte auf den Seitenrand der gepflasterten Straße zu, wo es sich auf dem Grasstreifen leichter ging. Doch schon sehr bald, die Mauer fiel noch nicht weit hinter ihnen zurück, wurde Drakhalls Atmung schärfer und hastig. Unregelmäßig. Er stolperte und fing sich mit einem deutlichen Keuchen, bevor er auf ein Knie niedersinken konnte.

»Langsamer«, befahl Zirys.

Er schüttelte den Kopf.

»Sei nicht so … so dumm! Es hilft uns beiden nicht weiter, falls du doch zusammenbrichst, Drakhall.«

Er gab keine Antwort, aber er wurde deutlich langsamer. Zirys war sich nur nicht sicher, ob das an ihren Argumenten lag oder an Drakhalls Zustand der Erschöpfung. Vielleicht konnte er nur einfach nicht mehr schneller gehen, möglicherweise reichte selbst die Angst vor einem Ballspiel mit seinem Schädel nicht mehr als Antrieb. Oder was Rokiv sich sonst noch für Abscheulichkeiten ausgedacht hätte.

Zirys spürte, wie ihr Schweiß über den Rücken rann. Nicht das heiße Salzwasser der Anstrengung, sondern ein eiskaltes Geriesel nackter Angst. Doch Rokiv war tot. Wenn Zirys sich das noch zwei oder drei Mal vorsagte, musste sie es doch endlich vollkommen glauben, oder?

Sie konnte nichts dafür, dass ihre Gedanken wie Ratten im Käfig übereinander stolperten, sich gegenseitig in die Schwänze bissen, dass immer wieder Rokiv, die Nacht am Strand, die Schläge und das Wolfsgrinsen in ihrem überlasteten Geist nach oben trieben.

Drakhall fand einen Baum, an dem er sich abstützen konnte, um keuchend nach Atem zu ringen.

Aufmerksam sah Zirys um sich und kämpfte gegen die in ihren Eingeweiden lauernde Panik. Es wurde stiller hinter den Stadtmauern. Bislang donnerte keine rachsüchtige Patrouille hinter den Flüchtlingen hinterher. Doch während Zirys neben Drakhall verharrte und die Stadtmauer anstarrte, um wie durch reine Willenskraft die dortige Dunkelheit und Stille festzuhalten, stieg mit einem Mal Geschrei auf. Wie eine Brandung griff der Schrei um sich. Erst nur ein zartes Säuseln wie von einer Sommerbrise. Zu weit von Zirys entfernt, als dass diese den Laut wirklich wahrnehmen konnte. Doch mit jedem Herzschlag verstärkte der Ruf sich. Unartikuliert, unverständlich, doch von einer solchen Dringlichkeit, dass er nur eines bedeuten konnte: Rokivs Leichnam war entdeckt worden.

»Drakhall!« Sie hätte ihn beinahe angeschrien.

»Verflucht, haben sie entdeckt, dass ich nicht mehr im Käfig hocke? Schnell, Kleines. Wo ist dein dämliches Fischerdorf?«

Konnte es das sein? War es möglich, dass ein Wächter im Palastgarten den Alarm ausgelöst hatte, da er den leeren Käfig entdeckt hatte? Nicht Rokivs Leiche, sondern Drakhalls Flucht? Oder konnte Drakhall einzig zu diesem Schluss gelangen, weil er nicht wusste, wessen Witwe sich an seiner Seite befand? Und dass eben diese Witwe den Kriegsprinzen getötet hatte? Zirys’ Magengrube verwandelte sich in eine eisige Tropfsteinhöhle, in der geschuppte Leiber sich knirschend aneinander rieben, während Eiskristalle auf den Panzern wucherten.

Drakhall löste sich vom Baum und starrte auf Zirys nieder. »Das Dorf, Mädchen!«

Sie wies die Richtung. Weiter an der Straße entlang, dann zur rechten Seite hinab zum Fuß der Klippen. Doch Zirys konnte kaum den Blick von der Stadtmauer nehmen. Noch kein Fackelschein, doch der Tumult in Lusias Hav nahm immer noch zu.

»Dann komm jetzt. Oder lauf vor. Wenn du ohne mich aufgegriffen wirst, kannst du ihnen eine Lüge auftischen und kommst ungeschoren davon …«

»Nein! Komm, Drakhall!« Sie riss den Blick mit Anstrengung von der dunklen Stadtmauer, packte dieses Mal Drakhalls Unterarm, um dem Hünen ebenso Halt zu verschaffen, wie sie Trost aus dieser Nähe schöpfte. Warme, schweißfeuchte Haut, darunter harte Muskelstränge, in deren Tiefe Zittern lauerte.

Die Axt befand sich nun zwischen ihnen, und so stolperten sie gemeinsam die Straße entlang. Wolken zogen auf, verwischten mit faserigen Bändern das Licht der Sterne, türmten sich drohend vor der klaren Mondscheibe auf und machten es schwer, den Weg sicher zu finden. Lieferten aber auch ein wenig Deckung, indem sie die Flüchtlinge in Schatten hüllten.

Die Straße verlief breit zwischen hohen Bäumen und schließlich inmitten kleiner, eingezäunter Weiden und Äcker, die sich an Felsbrocken anschmiegten, welche sich gen Himmel erhoben.

Dort gabelte sich schon die Straße!

Und hinter Zirys – weit hinter ihr, den Göttern sei Dank dafür – erklang das gefürchtete Geräusch, auf das sie die ganze Zeit gelauscht hatte, seit der Alarm sich innerhalb der Wehr erhoben hatte: Das große Tor wurde entriegelt, Geschrei stieg in den Himmel. Die Wächter hatten die geöffnete kleine Pforte entdeckt. Vielleicht schrieben sie dies der Unachtsamkeit eines Betrunkenen zu, aber wahrscheinlicher vermuteten sie einen Flüchtling dahinter.

Drakhall, den entwichenen Gefangenen. Oder die Mörderin des Kriegsprinzen. Denn Drakhall hätte nicht alleine aus seinem Käfig entkommen können. Welche Gedanken sich die Verfolger auch immer machten, es lief auf das Gleiche hinaus. Die Jagd war eröffnet.

Zirys fiel in leichten Lauf, und mit einem Keuchen, das beinahe ein Stöhnen war, beschleunigte Drakhall ebenfalls, verlängerte seine Schritte und eilte Seite an Seite mit Zirys in die Abbiegung zum Fischerdorf.

Der Weg wurde schmaler und vor allem fiel er rasch deutlich ab, was es schwer machte, nicht immer und immer schneller zu werden.

Zirys bekam schon Seitenstechen von der ungewohnten Anstrengung. Doch die Angst verlieh ihr Flügel, und offenkundig ging es Drakhall ebenso. Die Verfolger auf seinen Fersen bewirkten Wunder und ließen den großen Kerl die Geschwindigkeit mithalten, ohne dass er in Schlangenlinien lief oder einfach zusammenbrach.

Der Geruch seines Schweißes hüllt Zirys ein, füllte mit jedem Atemzug frisch ihre Lungen, schmeckte salzig, bitter und süß zugleich. Und gab ihr erstaunlicherweise Kraft und Mut.

Das Meer kam in Sicht. Kalt glitzernd im spärlichen Licht, das die Wolkenfetzen hindurch ließen. Eine steinerne Mole, die in die Wogen ragte, eine Ansammlung von Häusern und Schuppen, sich an die Klippen schmiegend wie Schafe an Windschutz. Ein Feuer in der Mitte der Siedlung. Auch hier eine Feier zu Ehren der Rückkehr des Kriegsprinzen. Freudenfeuer für den Sieg über Drakhall und die Seinen. Hatten die alle eine Ahnung, wie die Lage sich nun darstellte!

Zirys versuchte noch, einen Weg zu erkennen, wie sie und der riesige Kerl an ihrer Seite ungesehen zu der Mole gelangen konnten, als Drakhall sie zur Seite drängte, fort von der steilen Straße auf unebenes, steiniges Gelände, das von dornigen Büschen bestanden war.

»Nicht durch das Dorf.« Jede Silbe ein Keuchen, leise, doch verständlich.

Sie nickte und versuchte, Drakhall durch die Dornen zu helfen, über Steine hinweg, bis mit einem Mal vor ihnen ein enger Pfad zum Vorschein kam.

»Ziegen.«

Zirys’ Kopf schwirrte, und sie wollte jetzt auch gar nicht so genau wissen, wer diesen Pfad getreten hatte. Doch der Geruch war eindeutig und sogar über die wilde Mischung, die von Drakhall und seiner verdreckten Kleidung ausging, deutlich wahrzunehmen.

»Geh vor.«

»Wenn du auf mich fällst, bin ich Mus.«

»Habe ich nicht vor.«

Weiter hinten, wohl noch auf der Straße, wurden Befehle gebrüllt. Das gab den Ausschlag, nicht einen Herzschlag länger mit einer fruchtlosen Diskussion zu verschwenden. Zumal der Empfänger der Argumente kaum in der Lage schien, auch nur eines von ihnen voll zu erfassen und zu würdigen.

Zirys ließ Drakhall los und eilte schlitternd und mit vielen losen Steinchen und Geröllstücken unter den Schuhsohlen den Abhang hinab, kam zweimal ernsthaft ins Rutschen und klammerte sich an einem stacheligen Gewächs fest, das ihr die Hand zerstach und Blutzoll einforderte.

Sie glitt auf Sand aus, landete hart auf dem Hosenboden und beendete den Abstieg auf diesem, bis ihre Füße den Strand berührten und sich tief in weichen Sand bohrten. Sofort sprang Zirys mit hämmerndem Herzen auf. Wenn Drakhall ebenso ungraziös wie sie abstieg, würde er sie jeden Moment unter seinen Massen zermalmen.

Er langte kurz nach ihr auf dem weißen Strand an, knickte in den Knien ein, fing seinen Fall mühsam mit der rechten Hand und sog zitternd Atem in die Lungen. Schweiß troff aus seinen schmutzigen Haaren.

Als Zirys sich zu ihm hinab beugte, brachte er nur ein Wort hervor: »Boot.«

»Ich lasse dich nicht hier alleine, damit du ihnen wieder in die Hände fallen wirst, Drakhall.«

Geisterhaft tauchte sein Lächeln auf, doch wirkte es verkrampft und wie eine Maske auf seinem allzu blassen Gesicht. »Danke.«

»Ist schon gut. Du musst wieder aufstehen, Drakhall.«

Er nickte und tat für einen weiteren Moment doch nichts, um dieser Aufforderung zu folgen. Wenigstens sein Luftholen normalisierte sich ein wenig, klang nicht länger wie das Fauchen einer großen Raubkatze. Dafür meinte Zirys, bei jedem Ausatmen ein leises Wimmern zu vernehmen. Ein nahezu spürbarer Klagelaut eines Körpers, der mehr als nur am Ende war.

»Drakhall?« Sie war sich nicht sicher, meinte aber, Stiefeltritte auf der Straße ins Fischerdorf zu vernehmen. Noch klang das Rauschen des Meers, das Gluckern zwischen Steinen und Felsen lauter und verschleierte andere Geräusche.

Nun war das Wimmern eindeutig, als der Krieger sich auf die Beine stemmte, mit beinahe kalkweißen Fingern das lederumwickelte Heft der Axt umklammerte, mit gebeugtem Rücken und zitternden Beinen im Sand stand.

Gedankenfetzen flatterten in Zirys’ Kopf herum wie aufgescheuchte Fledermäuse. Ein besonders hässliches Wesen flog immer wieder knapp in Sichtweite, bleckte gelbe Zähne in einem Hohnlächeln und flüsterte entsetzliche Worte: Er stirbt. Selbst falls er ein Boot erreicht, stirbt Drakhall. Der sieht den Morgen nicht. Und du musst seine Leiche dann über Bord werfen.

»Boot.« Er setzte sich in Bewegung. Langsamer als je zuvor, seitdem Zirys ihn aus dem Käfig geholt hatte. Doch es lief sich auch schwer in dem pudrig weichen Sand. Und tatsächlich, kaum erreichte Drakhall die Mole, wurde er ein klein wenig schneller.

An vier Booten marschierte er vorbei, ohne sie auch nur eines Blicks zu würdigen. Natürlich, verstand Zirys, es würde leichter sein, das Gefährt zu stehlen, das am weitesten vom Dorf entfernt lag, da kein anderes Boot den Weg aufs Meer versperren würde. Zur Bestätigung dieses Gedankengangs hielt Drakhall keuchend und leicht schwankend vor dem Kahn an, der am Ende der Mole vertäut lag und sacht auf den Wellen auf und ab tanzte.

Die Axt landete als Erstes auf dem schmalen Deck, dann mühte Drakhall sich, die niedrige Reling zu übersteigen. Rittlings nahm er auf ihr Platz, die Schultern nach vorne gezogen, den linken Unterarm fest an die Bauchdecke gedrückt, die rechte Hand wie schützend auf diesen gelegt.

Zirys wuchtete den Mantelsack an Bord und kletterte behände hinterher, eilte zu Drakhall und packte ihn am Mantel. »Das zweite Bein auch. Mach schon, Drakhall, oder sie kriegen uns. Sie sehen uns gleich!«

Er kippte einfach zur Seite, und Zirys musste zwei Schritte rückwärts springen, damit der große Mann nicht auf sie fiel. Jetzt war das Wimmern gar nicht mehr zu überhören. Drakhall lag auf den Decksplanken, zitterte, hielt sich den Arm und die verletzte Seite und gab bei jedem Atemzug ein Jammern von sich wie ein hungriger Hundewelpe.

Zirys zog ihm den Dolch aus dem Gürtel und schnitt in fieberhafter Eile die Leinen durch, die das Boot vertäut hielten.

Noch war es möglich, dass die Soldaten aus Lusias Hav nicht ausmachen konnten, dass hier draußen jemand war. Sie hob den Kopf und musste einen Ausruf des Schreckens unterdrücken. Die Felsküste wimmelte nur so von Fackelschein. Wie Glühwürmchen schienen die rotgoldenen Lichter über die Felsen zu tanzen. Im Fischerdorf leuchteten Lampen. Bestimmt rannten die von der Festlichkeit erschöpften und von viel zu viel Wein benebelten Dorfbewohner den Soldaten alle paar Schritte vor die Füße. Doch das konnte die Bewaffneten nicht lange aufhalten, und wenn sie nur einen einzigen Mann mit einem scharfen Verstand – ein unbenebelter würde schon reichen – in ihrer Mitte hatten, würde der genau wissen, auf welchem Wege ein Seekrieger wie Drakhall zu flüchten gedachte.

Falls es wirklich Drakhall war, hinter dem sie her waren. Vielleicht war seine Flucht noch immer unbemerkt, und stattdessen hatte ein General unter Zirys’ Bett gesehen. Kalter Schweiß rann an ihr hinab, tränkte das Hemd und ließ es wie eine zweite Haut an Zirys kleben. Die Hände begannen unkontrolliert zu zittern, und sie musste sich fest auf die Unterlippe beißen, um handlungsfähig zu bleiben.

Sie ließ den Dolch einfach fallen, als das Boot sich sanft auf der Dünung von der Mole entfernte. Mit einem langen Schritt setzte Zirys über den gefallenen Helden hinweg, der ihr im Weg lag, löste dicke Knoten, um das Segel zu setzen. Und keuchte überrascht auf, als Drakhall sich wider Erwarten am Mast hochzog, um auf die Beine zu finden. Er musste sich festhalten und bebte am ganzen Körper. Doch glich er die Bewegungen des Kahns geschickt und langer Übung entsprechend aus und machte sich nützlich, die Rah am Mast hinaufzuziehen.

3.

Flucht auf See

 

Grau löste sich das Segel, bauschte sich in einer Brise. Es knatterte, dann ein leiser Knall, als der Wind mit voller Wucht in das Tuch fuhr und es straff aufblähte.

Zirys sprang herbei, um die Seile zu vertäuen, die Drakhall hielt. Ohne seine linke Hand konnte er dies nicht vollbringen. Aber er blieb auf den Beinen und half nach seinen Möglichkeiten. Das Boot nahm schon Fahrt auf.

»Ruderpinne. Du kannst navigieren?«

Sie nickte. »Wohin?«

»Auge des Gottes.«

Zirys spähte zum Himmelszelt hinauf und machte mühelos das Sternenbild aus, das Drakhall ihr genannt hatte. Mit viel Fantasie könnte man aus einer Ansammlung kleiner Sterne einen menschenartigen Kopf deuten. Nur das Auge, das hellste Gestirn, war deutlich erkennbar und Zirys aus nächtlichen Segelfahrten mit ihrem Vater vertraut.

»Das kann ich.« Sie packte die Ruderpinne, setzte sich gleichzeitig auf die schmale Holzbank und drehte den Bug des Boots in die korrekte Richtung.

Wie als Lohn für diese Leistung flackerte Drakhalls Lächeln auf, wärmte Zirys für einen winzigen Moment, bevor das Gesicht bleich wurde, die Züge erschlafften. Im nächsten Augenblick sank Drakhall in sich zusammen, versuchte noch, am Mast Halt zu finden. Doch dann drehten sich die Augen in den Höhlen halb herum, bis nur noch Weiß zu sehen war, die Hand fiel zurück, und der ganze große Krieger schlug auf dem Deck auf und rührte sich nicht mehr.

Wie eine Gewitterwolke umgaben die wirren, dunklen Locken den Kopf, nahmen Zirys den Blick auf Drakhalls Gesicht. Ihr wurde übel vor Angst, während Gewissheit in ihr hinauf kroch, dass nun genau das geschehen war, was die hässliche Fledermaus ihr zugerufen hatte: Drakhall war tot. Bis hierher hatte er die Frau gebracht, die er am Strand von Cathinn Hav unter den Sternen geliebt hatte. Sie beide betrunken, lachend und nicht Herr ihrer Sinne. Götter, Zirys hatte gedacht, mit Rokiv würde es ebenso schön werden. Nie hätte sie erwartet, Drakhall wiederzusehen. Doch er war wie ein Bote der Götter erschienen, als sie Hilfe dringend benötigte.

Sie klemmte sich die Ruderpinne unter die Achsel und beugte sich vor, bis sie schmutziges Haar beiseite wischen und in Drakhalls blasses Gesicht sehen konnte. Die dunklen Wimpern flatterten, die Lippen bebten, und an der Schläfe pochte eine Ader.

Ganz langsam rollte eine Träne über Zirys’ Wange. Mit einer zitternden Hand wischte sie den salzigen Tropfen fort, lachte unsicher auf und sah dann wieder zum Auge des Gottes.

Entkommen.

Für das Erste.

 

Zirys konnte den Mantelsack nicht ganz erreichen, ohne die Ruderpinne loszulassen. Letzteres wagte sie nicht, da der Wind sehr aufgefrischt hatte und das kleine Fischerboot mit hoher Geschwindigkeit durch die Wellen pflügen ließ. Auch Segeltuch konnte Zirys nicht reffen, ohne ihren Platz am Steuer aufzugeben.

Die Sonne schien von einem klarblauen Himmel nieder, doch auf dem Wasser war es empfindlich kalt. Zirys’ Magen knurrte vernehmlich, ihre Zunge fühlte sich trocken und dick an. Immer wieder spähte Zirys im Boot umher, ob sie eine lose Leine erreichen und die Pinne damit irgendwie anbinden könnte. Doch die gemeine Wahrheit war, dass sie selbst an diesem Platz angebunden blieb, bis Drakhall so gefällig war, wieder zu erwachen.

Inzwischen war sie sich beinahe sicher, dass er von seiner Bewusstlosigkeit in Schlaf hinübergeglitten war. Sein Gesicht wirkte weder grau noch schlaff, sondern machte einen nahezu zufriedenen Eindruck.

An den großen Kerl kam sie natürlich auch nicht heran. Sie hatte sich gestreckt und versucht, ob sie ihn mit der Zehenspitze anstoßen könnte. Denn auf Zurufe reagierte er einfach nicht.

Zumindest konnte Zirys zeitweise aufstehen und sowohl hinter sich als auch am Segel vorbei voraus nach Landmarken Ausschau halten. Und nach Verfolgern.

Weit hinter ihr lag Lusias Hav, und alles überragend wie eine graue Wand das Feuerland, über dem sich schwarze Aschewolken in den Himmel bohrten. Selbst auf diese Entfernung konnte Zirys immer wieder rotes Funkeln von Bränden oder sogar Lavaströmen ausmachen. Die übliche bedrohliche Kulisse. Doch wenigstens schimmerte kein Segel zwischen dem Feuerland und Zirys’ kleinem Fluchtfahrzeug.

Mit ein wenig Glück herrschte in Lusias Hav nach Auffinden der prinzlichen Leiche genügend Aufruhr, sodass sich im Augenblick niemand darum kümmerte, dass Drakhall entkommen und die prinzliche Witwe verschwunden schien.

Voraus war noch nicht wirklich viel zu erkennen. Zwischen dem Feuerland und dem offenen Ozean lagen wie Perlenketten drei Inselreihen. Zur inneren Reihe gehörten Lusias Hav und auch Cathinn Hav. Die zweite Reihe sollte bald in Sicht kommen, hoffte Zirys, die noch nie so weit hinausgefahren war. Stets war sie in Sichtweite der Leuchttürme von Cathinn Hav geblieben, auch wenn sie alleine gesegelt war.

Die Brise, die das Boot bis eben zügig durch die klarblaue See getrieben hatte, ebbte ein wenig ab. Das Segel blieb straff gespannt, aber der Wellengang verringerte sich sichtbar. Zirys atmete erleichtert auf. Ihr Arm tat weh vom Halten des Kurses, die Fingerspitzen waren vor Anstrengung, die Ruderpinne sicher zu führen, schon kalt geworden.

Kaum musste Zirys das Ruder nicht mehr ganz so festhalten, als sie auch schon fröstelte. Sie fühlte sich nahezu ausgekühlt, obwohl die Sonne immer noch strahlend am Himmel stand. Sehnsüchtig blickte sie zum Soldatenmantel, der Drakhalls Gestalt nur zum Teil verhüllte. Genau für diese Segelfahrt hatte Zirys sich den Mantel aus Rokivs Truhe geholt, weil Sonnenfunkeln auf Wellen allzu häufig über die Kälte der See hinwegtäuschte.

Energisch vertrieb sie neidvolle Gedanken und auch jedes Bejammern der Kälte. So war es auf See, und damit musste sie nun leben. Land konnte gar nicht mehr so weit entfernt liegen. Zirys versuchte, unter dem Segel hindurch zu spähen, als ein leises Geräusch von Drakhall sie ablenkte. Ein zitterndes Einatmen, beinahe ein Zähneklappern. Fasziniert starrte sie den großen Krieger an, der immer noch halb nackt nur durch den roten Mantel und seine verdreckte Hose vor Witterung geschützt auf dem Deck lag. Gänsehaut überzog Drakhalls muskulöse Oberarme. Als so kalt empfand Zirys es nicht, doch Drakhall war mehr als nur geschwächt.

Sie beugte sich erneut vor, um unter dem Segel hinweg etwas zu erkennen. Sie atmete auf, da sie nun endlich meinte, Land sehen zu können. Die mittlere Insellinie, sie musste es sein. Sandbänke, viele kleine Inseln und Fennland, so wie Zirys sich erinnerte. Über dem Landstreifen bildeten sich Wolken und zeichneten nun deutlicher den dunklen Umriss gegen das wogende Blau des Meeres.

Verwirrt runzelte Zirys die Stirn, denn die Wolken schienen sich sehr zielstrebig und vor allem erstaunlich schnell zu bewegen.

Das Boot machte immer noch zu viel Fahrt, als dass Zirys die Ruderpinne loslassen könnte. Nicht weil sie den Kurs danach nicht wieder korrigieren könnte, sondern weil sie fürchtete, den kleinen Kahn aus dem Gleichgewicht zu bringen, wenn sie ihn führerlos für einen Moment sich selbst überließ. Eine der Lehren ihres Vaters hatte sich allzu fest in Zirys verankert, dass ein Schiff niemals ohne Führung sein durfte.

Also beugte sie sich weiter vor, hielt die Pinne fest und sah noch einmal zu den Wolken, die sich zügig von rechts nach links hinter den Inseln entlang zogen.

Zirys schnappte nach Luft. Keine Wolken! Es sah eher aus wie Nebel, und inmitten der wirbelnden weißen Bewegung machte sie Umrisse aus. Wie von Segeln. Große, viereckige Segel, die sich übereinander auftürmten und sich von den dreieckigen der Fischerboote und des einen, großen Segels der gewohnten Langschiffe für Handel und Krieg des Reichs unterschieden. Fremde Schiffe mitten in den Inselreihen, nahe am Herz des Reichs, denn auf der innersten Inselreihe lag neben anderen großen Stadtreichen die größte Insel, auf der der Königspalast stand.

Hastig blickte Zirys zu Drakhall, und dann ließ sie die Ruderpinne los, flog nahezu die zwei Schritte zu dem großen Kerl, packte eine Schulter und versuchte, den Krieger wachzurütteln.

Warm und allzu weich fühlten die Muskelpakete sich unter ihren Händen an. Als wäre Drakhall doch noch immer bewusstlos. Oder als würde er so tief und fest schlafen, dass er so leicht nicht erwachen würde.

Doch ein leises Murren war die Antwort auf Zirys’ heroische Anstrengungen.

»Drakhall! Wach auf!«

Der Segelbaum knarrte in der Halterung. Das Boot glitt aus dem Wind, und das Segeltuch flatterte.

»Drakhall! Verdammt!«

Ganz langsam öffnete er ein Auge, das im klaren Sonnenlicht tatsächlich wie stürmische See leuchtete. Einen Moment lang betrachtete er Zirys, eine steile Falte zwischen den dunklen Brauen, dann schloss Drakhall das Auge wieder.

»Du Schwachkopf! Wach auf!« Sie schlug mit der flachen Hand auf seinen Oberarm, dass es klatschte.

Beide sturmblauen Augen öffneten sich – immer noch verdammt träge. »Was?«

»Schiffe!«

Er sog zischend Luft zwischen den Zähnen ein, wälzte sich herum und versuchte, sich hochzustemmen. Der Umhang verrutschte und war Drakhall im Weg, was jedoch eine ansehnliche Ansammlung von blauen Flecken und Abschürfungen ans Tageslicht brachte. Etliche Blutergüsse waren frisch und zeugten vom Sturz des Hünen auf das Bootsdeck.

Zirys bemühte sich, Drakhall zu stützen, obwohl sie schon nach einem Atemzug begriff, dass alleine der Versuch unsinnig war. Einen so großen Kerl konnten vielleicht vier kräftige Soldaten vereint auf die Beine stemmen, doch Zirys blieb chancenlos. Das Boot schwankte gefährlich.

»Wo?« Mehr ein Keuchen denn ein Wort, doch zumindest auf ein Knie hatte Drakhall sich schon hochstemmen können. Sein rechter Arm zitterte vor Anstrengung, und der Geruch nach frischem Schweiß flutete Zirys’ Atemwege.

Das Boot schwankte nicht nur, es drehte sich nun völlig aus dem Wind, und eine Böe packte das Segel von der falschen Seite. Zirys sah die Gefahr nahen, bevor der Segelbaum Drakhall den Schädel einschlagen konnte, als das Segel herum schwang und den Baum somit über das Deck rasen ließ.

»Runter!« Sie warf sich auf den Krieger, prallte hart auf dem breiten Rücken auf. Mit einem Keuchen krachte Drakhall bäuchlings schwer zurück auf das Deck, da er dieses zusätzliche Gewicht schlichtweg nicht tragen konnte. Er schrie auf, als er somit seinen verletzten Arm unter seinen Massen begrub.

Zirys spürte den Luftzug, als der Balken über sie hinweg sauste, vernahm das Knattern des Segels, das sich nun wieder aufblähte, da der Wind erneut das Tuch mit voller Wucht traf.

Das Boot drehte sich leicht, da es dem Druck ohne jemanden an der Pinne ausweichen konnte. Zirys fluchte, sah noch einmal zur Inselreihe und fand erstaunt heraus, dass die Schiffe nicht mehr zu sehen waren. Nur noch ein wenig Weiß wallte über der Küstenlinie, zerfaserte im Wind. Doch Zirys hatte sich den Anblick der weißen Segel bestimmt nicht eingebildet!

Drakhall keuchte, versuchte, sich hochzustemmen, und wurde nur durch einen Teilerfolg belohnt, als er sich auf den Rücken wälzen konnte. Der große Mann troff vor Schweiß und zitterte erbärmlich.

»Sie sind weg.«

»Verfolgten sie uns?« Der Blick verschwommen, und die Art, wie Drakhall seinen linken Unterarm umklammerte, wies Zirys eindringlich darauf hin, dass ein Blick unter die Verbände in naher Zukunft notwendig werden würde.

»Nein. Sie waren auf der anderen Seite der mittleren Inselreihe. Viereckige Segel. Übereinander getürmt.«

Drakhalls Brauen zogen sich zusammen, als der Mann offenkundig angestrengt nachdachte. »Hoffe, dass du dich irrst. Verdammt.« Er gab sich erneut Mühe, zumindest in eine sitzende Position zu gelangen, hob dann keuchend den Kopf und sah sich in alle Richtungen um.

Der Wind frischte auf, und das Segel knatterte erneut.

»Wir müssen an Land.« Drakhall blickte über Zirys’ Schulter und nach oben. »Unwetter.«

Sie wirbelte herum und sah nun auch die fetten schwarzen Wolken, die sich irgendwo zwischen dem Feuerland und den inneren Inseln zusammenballten.

Zirys kehrte zur Ruderpinne zurück und drehte das Boot sanft so, dass der kühle Wind das Segel wieder zur Gänze füllen konnte. Sie hoffte, dass sie die mittlere Reihe erreichen konnten, bevor der Sturm mit voller Kraft über dem Wasser tobte. Das Fischerboot mochte wunderbar dafür geeignet sein, in der Nähe von Lusias Hav seine Netze auszuwerfen. Doch kein Fischer, der alle fünf Sinne beisammenhatte, würde sein Leben einem solchen Kahn bei einem Sturm auf der freien See anvertrauen.

Das Boot nahm Fahrt auf, als wollte es vor heulenden Sturmhunden flüchten. Es wurde ein wenig anstrengender, die Ruderpinne sicher zu halten, doch noch hatte Zirys keinerlei Probleme. Allerdings knurrte ihr Magen erneut.

»Drakhall, kommst du an den Mantelsack? Ich habe Hunger, und bevor Wellen unsere Vorräte wegschwemmen, sollten wir zumindest einen Teil essen, oder?«

»Wasser?«

»Zwei volle Flaschen im Mantelsack.«

Er nickte, zog den Sack zu sich heran und rang dann etliche Zeit mit der Verschnürung. Zuoberst lag der fettige Fleischspieß aus der Wachstube, und Drakhall kroch mit dem Gepäck im Schlepp über das Deck zu Zirys, lehnte sich sachte an ihr Bein und reichte ihr Fleischstücke nach oben, bevor er selbst eine Wasserflasche aufschraubte und gierig trank.

»Ich bin nicht immer so blöd«, murmelte er schließlich und reichte Zirys die Flasche.

»Du bist angeschlagen.«

»Danke für deine Geduld.«

Sie lachte leise und trank. Es tat gut, das fettige, leicht angebrannte Fleisch solcherart herunterzuspülen. Das Wasser schmeckte süß und frisch.

»Wie schwer bist du verletzt, Drakhall?«

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Bin ich vorhin ohnmächtig geworden?«

»Bist du.«

»Wie ein Mädchen, verdammt.«

»Ich bin nicht ohnmächtig geworden«, versetzte sie höflich und sah auf seine Hände, die entspannt auf seinen Oberschenkeln lagen. Die Handrücken wirkten schon weniger faltig. Aber er hatte immer noch nicht genug getrunken. Hoffentlich fanden sie Wasser auf der Insel, die sie nun anlaufen mussten, damit das Boot nicht in stürmischer See zerschlagen wurde.

Drakhall legte den Kopf in den Nacken und blickte mit seinem trägen Lächeln zu ihr auf. »Mein Glück, dass ausgerechnet du mich gefunden hast. Aber wie kamst du nach Lusias Hav, verdammt?«

Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte nicht darüber sprechen. Alleine der Gedanke an Rokiv ließ sie vor Drakhalls Nähe zurückschaudern. Einfach weil er ein Mann war – und so viel größer und stärker als der Kriegsprinz. Und wegen jener Nacht am Strand, die Zirys ihm gegenüber bestimmt nicht erwähnen würde! Vielleicht hatte er all das vergessen. Betrunken genug waren sie beide gewesen. Sie beschloss, nicht ein einziges Wort darüber zu verlieren, solange Drakhall nicht auf die Idee kam, eine Erwähnung fallen zu lassen. Falls er sich wirklich nicht mehr entsann, war Zirys das sogar sehr recht. Die Dämonen der Unterwelt mochten wissen, was der Kerl sich sonst einbilden würde. Und vor allem, welche Rechte und Ansprüche er sich herausnehmen könnte. Die erste, erleichterte Freude, ausgerechnet Drakhall wiederzusehen, wich einer gewissen Ernüchterung. Was, so fragte Zirys sich weise, wusste sie überhaupt über ihn?

»Geht mich nichts an?«, fragte er nach geraumer Zeit, und Zirys wurde sich bewusst, dass sie bockig wie ein kleines Kind geschwiegen hatte.

»Ich hielt es für nicht weiter wichtig. Ich habe keine faulen Eier nach dir geworfen, sondern dich aus dem Käfig geholt. Reicht das nicht?«

Ganz kurz zogen Gewitterwolken durch die sturmblauen Augen, Zirys war sich ganz sicher. Doch das Lächeln blieb. Gelassen und ein wenig müde. »Ich bin dankbar, dass du keine faulen Eier geworfen hast. Obwohl gammeliger Kohl auch eine ganz besonders widerliche Munition ist.« Sein Lächeln vertiefte sich, als Zirys Luft für eine Erwiderung holte. »Und du hast auch keinen gammeligen Kohl geworfen, ich weiß. Mädchen, ich freue mich doch, dich wiederzusehen. Der Wind nimmt weiter zu, nicht wahr?«

Sie nickte und wünschte sich, Drakhall würde wegsehen. Seine Zahmheit nahm sie ihm nicht ab.

»Kannst du das Ruder halten?« Er klang ritterlich und ein wenig wie ihr Vater, als könnte er ihr diese Arbeit nicht zumuten.

»Noch kann ich es. Du kannst es auf keinen Fall.«

»Nein. Erbärmlich.« Er trank noch etwas Wasser.

»Das habe ich nicht gesagt.« Sie fühlte sich schuldig und nahm seine Worte als Anklage.

»Ich sage es, weil es im Augenblick der Wahrheit entspricht. Kleines, sie haben mein Schiff gekapert, während ich in meiner Kabine lag und zusammengeflickt wurde. Meine Männer wurden gefangen genommen oder abgeschlachtet, und ich konnte nichts tun. Ich war halb besinnungslos. Noch leichteres Spiel konnten sie nicht mit mir haben. Verdammter Kriegsprinz, ich würde ihm zu gerne sein widerliches Grinsen aus dem Gesicht prügeln.«

Zirys war heilfroh, dass Drakhall sie jetzt nicht mehr ansah. Seine starken Finger fassten die Flasche fester, als wäre sie Rokivs Kehle, die der große Krieger zu gerne zudrücken würde, bis Rokiv wie seine Mutter blau anlief und verröchelte.

Irgendwann würde sie Drakhall reinen Wein einschenken müssen. Aber nicht jetzt. Er war ja nicht klar bei Sinnen. Außerdem jagte das Unwetter hinter dem kleinen Boot her, und die Küstenlinie einer großen Insel kam allzu langsam näher.

Der Himmel verdunkelte sich, die Luft nahm eine grünliche Färbung an. Der Geschmack nach Zinn in jedem Atemzug, und Zirys hatte beinahe das Gefühl, leichter zu werden, als würde sie jeden Augenblick neben der Ruderpinne vom Sitz in die Höhe schweben.

Ein Blitz zerriss den Himmel mit blendend weißen Zacken, dumpfe, drückende Stille, dann rollte Donner wie etwas Lebendiges über das Boot hinweg, schien es durchzuschütteln wie ein Hund seine Jagdbeute.

»Verdammt«, murmelte Drakhall, stopfte hastig die geleerte Flasche zurück in den Mantelsack, schnürte diesen zu und band ihn neben Zirys an der Holzbank fest.

Nicht einen Augenblick zu früh, denn nun wuchsen die Wellen, da der Wind vom Feuerland ungebremst über das Wasser flog und das Boot zu einem Spielball des Meeres machte. Eben noch bockte der kleine Kahn in grüner Luft dahin, dann öffneten die Wolken ihre Tore und gossen Wasser wie aus Kübeln auf die Flüchtlinge.

Innerhalb eines Wimpernschlages war Zirys bis auf die Haut durchnässt. Die Haare hingen ihr in die Augen, und sie kniff sie zu schmalen Schlitzen zusammen, um überhaupt noch etwas sehen zu können. Der Regen hämmerte wie mit eisigen Geschossen auf sie ein.

Drakhall rutschte prompt noch näher, streckte den rechten Arm über Zirys’ Oberschenkel hinweg aus und legte die Hand unterstützend auf die Ruderpinne.

Die Wärme seines Körpers sickerte durch die nasse Kleidung in Zirys’ Muskeln, gerade als die Regentropfen noch kälter und härter wurden und sich in Hagelkörner verwandelten, die in Schauern über das Deck jagten, gegen das klatschnasse Segel prasselten und die Welt in graues Glitzern verwandelten. Und Zirys jede Sicht nahmen. Sie konnte nur die Ruderpinne fest umklammern und sich an dem Wissen festhalten, dass die Insel nicht mehr weit war, dass die Richtung stimmte.

Eis bedeckte den gesamten Kahn. Zirys bemerkte das zusätzliche Gewicht und hatte das Gefühl, dass das Boot schon tiefer im Wasser lag. Brecher schlugen über dem Deck zusammen, fluteten es, spülten einen Teil der Hagelmasse davon, doch aus den schiefergrauen Wolken fiel immer mehr.

»Halt fest«, befahl Drakhall, bevor er seinerseits das Ruder losließ und sich daran machte, mit der bloßen Hand Eis über die Bordwand zu schaufeln, bis er einen Eimer fand, mit dem er Hagel und Wasser zugleich über die Reling schippte.

Der Umhang klebte klatschnass an ihm, behinderte ihn zusätzlich zu dem verwundeten Arm, doch schuftete Drakhall scheinbar unermüdlich. Wahrscheinlich belebte die Kälte ihn, die zusammen mit dem Hagel aus den Wolken stürzte. Und den Göttern sei Dank war der Kerl schlau genug, sich nur auf den Knien über Deck zu bewegen. Sonst hätte die erste harte Schlingerbewegung des Fischerboots ihn über Bord gehen lassen.

Zirys selbst fühlte sich, als wäre Rokiv wieder da, quicklebendig und äußerst erpicht, seiner Frau alles heimzuzahlen, was wirklich und eingebildet war. Wie mit Tausenden von eisigen Fäusten hämmerte der Hagel auf sie ein, ließ sie zittern vor Kälte, während jeder Treffer wehtat. Gerade auf den Schulterblättern und entlang der Wirbelsäule, wo nur wenig schützende Muskulatur zwischen Haut und Knochen lag, trafen die Hagelschläge Zirys hart, und sie konnte nahezu fühlen, wie Blutergüsse sich bildeten.

Eine Woge hob das Boot an, schleuderte selbst Drakhall inmitten Eisbrocken ein Stück weit in die Luft, bevor er mit einem Fluch, der in einen Schmerzlaut überging, wieder in der kalten Brühe landete, untertauchte und keuchend wieder an die Oberfläche kam.

Alleine die Ruderpinne verhinderte, dass Zirys ebenso wild herumgewirbelt wurde.

Das Boot stieg auf einem Wellenkamm in die Höhe, bohrte den Bug in die Luft, und für nun stand es ganz still auf dem höchsten Punkt. Ein Augenblick der Stille, den Drakhall mit hektischer Bewegung zurück zu Zirys und der Steuerbank füllte, den gesunden Arm um Zirys legte und die Hand um das Dollbord krallte.

Das Segel verwehrte Zirys den Blick ins Wellental, doch sie wusste, dass es vor ihr lag, dass das Boot … Sie hielt die Luft an, als der Fischerkahn vorwärts kippte und mehr im freien Fall denn in tatsächlicher Fahrt in die Tiefe des Tals rauschte.

Der Mast brach, Leinen rissen. Ein Teil des Segels flatterte wie ein übergroßer Vogel herum, schlug mit hölzernen Taljen an Tauen um sich. Die Bruchstücke der Flaschenzüge hämmerten gegen das Dollbord und ließen Splitter fliegen. Der Mast und das meiste Tuch lagen über der Bordwand im Wasser und zogen den Kahn zur Seite.

Drakhall fluchte, suchte den Dolch und stürzte dann vorwärts, um weitere Seile zu durchschneiden und den Überrest von Mast und Segel über Bord zu hieven. Der Mantel war erneut im Weg, und mit einer ungeduldigen Bewegung zerrte Drakhall die Verschlusskette auf und warf den roten Stoff von sich.

Zirys starrte geradeaus auf Wellenberge, die für wenige Wimpernschläge den Blick auf das Land voraus freigaben. Sandbänke, das hatte nun als Einziges in ihr Platz. Die mittlere Inselreihe bestand fast nur aus Sand, sanfte Strände, keine Felsen, auf denen das Boot zerschellen würde.

Doch nun flog die Insel dem Boot nahezu entgegen. Der Strand eine einzige, glitzernde Hagellandschaft, dahinter Bäume, die im silbrigen Wogen wie neblige Traumgestalten wirkten, die dunklen Häupter wild im Sturm schüttelten.

Wieder eine Welle, die das Boot anhob. Das Segel glitt von Deck und zerrte die zertrümmerten Reste des Masts mit sich ins Wasser.

Drakhalls Brustkorb dehnte sich in einem keuchenden Atemzug aus. Dann stürzte der Kahn ins nächste Wellental. Doch keine relativ weiche Landung im Wasser folgte, sondern ein hartes, knirschendes Aufkommen. Sand rieb am Bootskiel, als die folgende Woge den Fischerkahn über eine der Insel vorgelagerte Sandbank schob. Dahinter lag das Wasser ein wenig ruhiger, da die Bank wie ein Wellenbrecher wirkte. Doch um das halb mit Wasser und Eisbrocken gefüllte Boot auch weiterhin gehörig durchzuschütteln, genügte der Seegang vollauf.

Das Fischerschiffchen hatte schwere Schlagseite, und als Drakhall diesen Umstand begriff, weil ihm Wasser über die Hände lief, bemühte der große Kerl sich, auf die andere Seite des Decks zu gelangen.

Es nützte nur nichts mehr, denn das Boot kenterte mit einem Mal mit schlagartiger Geschwindigkeit, wälzte sich erst auf die Seite und vollendete die Drehung dann, um kieloben zu treiben.

Zirys schluckte Wasser, kam nicht unter der Ruderpinne hervor, von der sie wie unter einem Bügel eingeklemmt wurde. Das Wasser war so kalt!

Sie holte sich noch mehr Blutergüsse als jene Abschiedsgeschenke von Rokiv, als sie sich endlich unter dem Ruder hervor winden konnte. Der Mantelsack hing im Weg. Doch kaum bekam Zirys unter dem Rumpf des gekenterten Kahns den Kopf nach oben, konnte sie atmen, denn unter dem Boot hatte sich eine Luftblase erhalten, die ein vollständiges Sinken des Fahrzeugs für den Augenblick verhinderte.

Absolute Dunkelheit umhüllte Zirys. Hagelkörner, groß wie Taubeneier, schwammen auf dem Wasser und rieben an ihren Wangen, als sie die winzige Luftblase zum Atemschöpfen ausnutzte. Als ob Hunderte von Arbeitern mit Hämmern auf den Bootsrumpf schlagen würden, donnerte es in Zirys’ Ohren.

Den Geräuschen nach tauchte vor Zirys in der Finsternis ein Walross auf – oder Drakhall. Ihre gemeinsamen Atemzüge klangen entsetzlich laut im Hohlraum.

»Zirys?«

»Ich bin hier.«

»Das Boot dümpelt ziellos. Es ist nicht mehr weit zum Strand.«

Da begriff sie, dass er sie auf der Außenseite des Rumpfs im stürmischen Wasser gesucht haben musste. »Ich habe den Mantelsack.« Es fühlte sich ganz merkwürdig an, dass Drakhall tatsächlich zu ihr unter das gekenterte Boot gekommen war.

Leises Plätschern sprach davon, dass er näher schwamm, dann streifte seine Hand Zirys’ Schulter. »Kannst du das Ding mit dir ziehen? Ein paar Hundert Ellen? Wir werden bald Grund unter den Füßen haben, aber im Augenblick zieht die See das Boot von der Insel weg.«

Sie nickte, begriff, dass er das nicht sehen konnte. »Ja, das schaffe ich. Es ist nicht mehr weit.«

»Wirklich nicht.« Seine Hand – erstaunlich warm, was aber wohl nur am Gegensatz zum eisigen Wasser lag – glitt ihren Arm hinab und fand den Ellenbogen. »Komm, Kleines. Wenn wir schon absaufen, dann bei dem Versuch, an Land zu kommen.«

»Kannst du schwimmen?« Sie dachte an den Arm, den er ja kaum zu regen vermochte.

»Es wird gehen.«

Drakhall sog Luft in seine Lungen und verschwand. Zirys blieb in eisiger, gluckernder Dunkelheit zurück. Sie atmete tief durch, krallte die Finger fester um die Riemen des Mantelsacks, der ohnehin schwer nach unten zog, und tauchte ab. Sie tastete sich an der Bordwand entlang, bis sie unter der Reling hindurch schwimmen konnte. Nun sah sie wieder etwas, vor allem Drakhall, der Wasser tretend neben dem Boot ausharrte und auf sie wartete.

Hagel prasselte auf Wasser und Bootsrumpf. Eine Welle hob sie alle an, schob und zog zugleich an Zirys mit eisigen, großen Händen.

»Schwimm, Mädchen!«

Sie vernahm kaum Drakhalls Stimme über dem Donnern und Tosen der entfesselten Meeresgewalten, dem Prasseln des Hagels und dem Brausen des Windes. Zirys war müde. Die Kälte des Wassers, das Gewicht des Mantelsacks zogen an ihr. Bewegung schmerzte.

Sie schluckte Wasser, hustete, und dann war Drakhall mit einem Mal ganz nahe. Zu nah. Sie spürte ihn hinter sich, wollte schreien und sich aus dem Griff lösen, der sich wie eine Stahlklammer um ihre Mitte legte. Drakhalls breite Brust an ihrem Rücken, ihre Kehrseite gegen seinen Schoß gedrückt, und jetzt schrie Zirys doch.

Noch mehr kaltes, salziges Wasser, das bitter schmeckte und von Frieden und Sicherheit flüsterte, fand seinen Weg in ihren Mund, als Drakhall sie rückwärts vom Boot fortzog. Sie spürte seinen Körper hinter sich arbeiten, die kraftvollen Beinbewegungen. Eine Welle überrollte sie beide, wirbelte sie hinab, bis Zirys’ Ohren klingelten.

Sie rang keuchend nach Atem, kaum dass Drakhall ihren Kopf wieder über die schäumende See halten konnte.

Langsam half die Körperwärme des Kriegers, Zirys’ Kopf zu klären. Sie bekam auch wieder besser Luft und wurde sich bewusst, dass sie die Trageriemen des Gepäcks immer noch festhielt.

Über ihr tobten Wolken über den von Blitzen erhellten Himmel. Wenigstens hörte es auf zu hageln, als Drakhall verharrte, nach Atem rang und dann seinen Griff lockerte. Zirys klammerte sich prompt an seinem Arm fest, bevor er ihr diesen Halt entziehen konnte.

»Ich habe Boden unter den Füßen.« Er klang vollkommen atemlos, und als Zirys aufsah, erkannte sie, wie erschöpft er wirkte. Die dunklen Schatten unter seinen Augen waren wieder da.

Wasserwirbeln zerrte an ihren Beinen, als sie diese ausstreckte und nach Grund suchte, auf den sie die Füße stellen konnte. Eine weitere Woge schlug über ihnen zusammen, und Drakhall brach in die Knie oder wurde schlichtweg von den Füßen gerissen. Doch dieses Mal konnte Zirys die Fersen fest in den Boden stemmen und den Krieger festhalten, der hustend und spuckend wieder neben ihr auftauchte.

Seite an Seite wankten sie durch das wütende Wasser, hielten sich aneinander fest und torkelten wie zwei stadtbekannte Trunkenbolde auf den rettenden Strand zu.

Drakhalls Zähne klapperten, und nach einiger Zeit und viel Husten stellte Zirys fest, dass ihre auch laut aufeinanderschlugen. Ihr tat alles weh, und als sie gemeinsam mit Drakhall unter der nächsten Welle vorwärts und niedergedrückt wurde, schluckte sie jede Menge Salzwasser und fand kaum die Kraft, wieder aufzustehen.

Wie Treibholz wurde Zirys angespült. Neben ihr kroch Drakhall durch die Brandung und zog immer wieder an Zirys’ Arm, damit sie im Sog des zurückweichenden Wassers nicht wieder vom Strand gezerrt werden konnte. Der große Mann hustete, zitterte und fror so offensichtlich mit jeder Faser seines Körpers, dass Zirys prompt noch kälter und elender zumute wurde.

Wenn ein Gott zusah, würde er jetzt zwei Menschen sehen, die wie Blasentang vom Meer auf den Sand gespuckt wurden.

Der Strand lag eisbedeckt von Hagel. Rutschig und so kalt, dass der reine Anblick schon schmerzte.

Doch Drakhall ließ sich einfach fallen, kaum dass er außer Reichweite der Wellen war. Tief sank er nicht nieder, denn er befand sich ohnehin schon auf den Knien und hatte zwei eindrucksvolle Rinnen im weißen Hagel und Sand hinterlassen.

Zirys plumpste neben ihm zu Boden, klapperte mit den Zähnen und konnte kaum klar denken. Nur an die Kälte dachte sie beständig. Es tat weh. Wie Hunderte eisiger Hundezähne, die sich in ihr Fleisch bohrten.

Der Strand bot keinerlei Schutz. Der Gedanke schwamm auf der Woge Eis nach oben und nistete sich beharrlich ein, wuchs und vollbrachte das kleine Wunder, Zirys wieder auf die Beine zu treiben. Zitternd verharrte sie zusammengekrümmt und sah sich um. Den Strand säumte ein dichter Wald, dessen Wipfel sich auch jetzt noch im Wind bogen. Zirys wandte sich mit winzigen Schritten auf der Stelle um und blickte auf das tobende Meer. Etwas Rotes trieb in den Wellen direkt am Strand, und Zirys ließ den Mantelsack neben Drakhall fallen und stapfte zurück ins Wasser, um den Soldatenmantel aus den Wogen zu fischen. Dann trippelte sie zurück und lauschte beinahe versonnen ihren eigenen, schnatternden Atemzügen.

»Drakhall, aufstehen. In den Wald.«

Wald bedeutete Holz. Und vielleicht war ja der Zunder in der Metalldose trocken geblieben. Ein Feuer, über dessen züngelnden Flammen Zirys sich die schmerzenden Hände wärmen konnte. Eine ganz besonders wundervolle Idee, fand sie.

Drakhall stemmte sich zuckend und zähneklappernd hoch, fand wieder auf die Knie und schlang den unversehrten Arm um den nackten Oberkörper. »Kalt«, sagte der Hüne anklagend.

»Ich auch.«

Er blickte zu ihr auf und wirkte jämmerlicher als in allen Stunden zuvor. Seine bläulich verfärbten Lippen bebten. Dann sah Drakhall zum Wald und nickte. Er brauchte einige Zeit, um auf die Beine zu finden. Dann stand er einen Moment schwankend da. Erst als Zirys voranging, setzte Drakhall sich in Bewegung.

Die Hagelkörner ließen das Gehen zur Anstrengung werden, doch kaum betrat Zirys den Waldessaum, als sie aufatmete. Der schlimmste Wind wurde abgefangen. Die nasse Kleidung nicht länger weiter gekühlt. Der Hosenstoff scheuerte zwar auf der Innenseite der Oberschenkel und klebte in voller Länge am Bein, doch schien Zirys dies leichter zu ertragen.

Strand ging über in einen krautigen Bodendecker, der nur alle paar Schritte ein wenig weißen Sand durchblicken ließ. Äste rieben über Zirys’ Kopf aneinander, Holz stöhnte unter der Wucht des Sturms.

»Es wird heller.«

Zirys wandte sich um und sah Drakhall fragend an.

Er nickte müde. »Sturm lässt nach.«

»Ich will ein Feuer.«

Ganz schwach blitzte Drakhalls Lächeln auf. Er nickte noch einmal. »Ich suche trockenes Holz. Rinde, kleine Zweige.«

 

Drakhall, erkannte Zirys zufrieden, war erheblich praktischer veranlagt als sie selbst. Statt allen durchnässten Stoff nur auf Buschwerk rund um das Feuer auszubreiten, hatte er aus Umhang, Hemden und Hosen einen Unterstand gefertigt, der den Wind abhielt und gleichzeitig eine Trocknung der Kleidung ermöglichte. Eine kleine, muschelförmige Schutzhütte, die wenig Platz bot.

Einen Moment lang zögerte Zirys, aus der direkten Nähe des Feuers den knappen Schritt zum Unterstand zurückzulegen und sich allzu dicht neben Drakhall dort hinein zu quetschen. Dann siegte die Vernunft. Windgeschützt und durch die Körperwärme zweier Menschen leicht erwärmt, dazu die Wirkung des Feuers. Es wäre dumm, alleine neben den qualmenden Flammen zu hocken, statt die Vorteile des Windschutzes zu genießen.

Außerdem sah Drakhall nicht im Geringsten danach aus, als hegte er andere Bedürfnisse als Wärme und Ruhe in der breiten Brust. Wenn Zirys ehrlich war, sah er halb tot aus. Sie fasste sich ein Herz und kroch in den Unterstand.

»Dachte schon, du willst dich räuchern und mich erfrieren lassen«, murrte Drakhall und rückte ein Stück beiseite, sodass Zirys neben ihm genügend Platz fand.

Auch den Inhalt des Mantelsacks hatte er unterhalb des Schutzdaches in das Sandkraut gelegt, um alles trocknen zu lassen. Wobei die meisten Lebensmittel durch das Tauchbad im Meer verdorben waren. Fleisch und Käse sahen aus wie aufgeschwemmt. Keinesfalls appetitlich, auch wenn Zirys’ wieder einmal knurrender Magen etwas anderes behauptete.

Am Rand des Feuers stand ein Becher, in dem sich etwas Wasser erwärmte. Das würde gut tun, aber nicht gegen den Hunger helfen.

»Das Brot war Matsch. Aber der Käse könnte sich erholen«, behauptete Drakhall und zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern.

»Der Käse sieht widerlich aus.«

»Nur die oberste Schicht, denke ich. Wir lassen ihn trocknen.« Er schloss die Augen und ließ den Kopf nach vorne auf die Knie der angezogenen Beine sinken. Schützend hielt Drakhall den verwundeten Arm im Schoß und solcherart halbwegs in Sicherheit.

»Der Arm ist schlimmer als die Rippen, nicht wahr?«

Er nickte, ohne seine Haltung deutlich zu verändern.

»Ich will den Verband abnehmen.«

Drakhall drehte den Kopf leicht und öffnete ein Auge.

Zirys sammelte ihre verbliebene Geduld. Viel war nicht mehr übrig, erkannte sie enttäuscht über sich selbst. Im Wasser hatte Drakhall alle Reserven zur Hilfe gerufen – und offenbar vollständig aufgebraucht.

Aber dann nickte er und setzte sich auf. »Ich hoffe irgendwie, dass das Salzwasser geholfen hat.« Ein sehr bittender Blick aus den dunklen Augen heftete sich auf Zirys.

»Das ist möglich«, gab sie zu, rückte dichter an Drakhall und begann, das Leinenband aufzuknoten. Tropfnass war der Verband auf jeden Fall, und falls Meerwasser wirklich heilsame Wirkung besaß, könnte dieser kalte Wickel tatsächlich helfen. Doch Drakhall hatte ihr gesagt, dass er quasi vom Behandlungstisch seiner Heiler weg verschleppt worden war. Vielleicht steckte noch Dreck in der Wunde. Auf jeden Fall schien es Zirys wichtig, einen Blick auf die Verletzung zu werfen. Bevor Drakhall Fieber bekam und an Wundbrand verreckte. Oder von Zirys erwartete, dass sie beherzt seinen Arm mit der Axt abschlug!

Nicht immer konnte sie es vermeiden, Drakhalls Haut zu berühren. Er war so warm, obwohl der Verband kalt und widerlich war. Das Bad hatte wenigstens die Verkrustungen von Blut und Wundflüssigkeit aufgeweicht, sodass Zirys schließlich die letzte Lage von einer Verletzung abheben konnte, die eindeutig entzündet wirkte. Die Wärme schlug Zirys entgegen wie eine Wolke. Ebenso eine Woge unangenehmen Geruchs, die Alarmglocken in Zirys’ Kopf läuten ließ.

»Ich hole den Becher vom Feuer und will versuchen, die Wunde auszuwaschen. Bitte werde nicht wieder ohnmächtig, Drakhall, sonst verliere ich das Dach über meinem Kopf.«

»Ich werde mir große Mühe geben.« Er hob den Arm so weit, dass er selbst die Wunde in Augenschein nehmen konnte.

Dass er an seinem Arm schnupperte, sah Zirys gerade noch aus den Augenwinkeln, als sie den Unterstand verließ. Sie kroch zum Feuer und hob vorsichtig den viel zu heißen Becher aus der sich langsam bildenden Glut. Dann wandte sie sich um und erstarrte, da dieser grauenhafte Kerl natürlich mit dem Dolch in der Verletzung stocherte.

Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz, doch im gleichen Moment rieselte etwas Dickflüssiges, Gelbes an seinem Arm hinab und tropfte vom Ellenbogen ins dichte Kraut.

»Verdammt, Drakhall! Du könntest auch eine dicke Ader durchstechen. Das ist ja wohl nicht wahr!«

»Die Adern befinden sich samt und sonders auf der Innenseite. Die Götter haben sich etwas dabei gedacht, als sie Menschen schufen. Es tut schon gar nicht mehr so weh, ich bin froh, dass ich die Eiterblase erwischt habe.« Sein Lächeln wirkte einfach nur erleichtert und sehr müde.

»Du bist vollkommen wahnsinnig. Du hättest verbluten können. Und dann?« Sie kniete neben ihm nieder, tauchte eine saubere Ecke des Verbands in das heiße Wasser und machte sich energisch daran, die Wunde auszuwaschen.

Drakhall gab keinen Laut von sich, aber er wurde kreidebleich, wie Zirys mit einem eher beiläufigen Blick erkannte.

Doch stand er die Tortur durch, ohne sich neuerlich in eine Bewusstlosigkeit zu flüchten. Das rechnete Zirys ihm hoch an.

»Es blutet nicht. Ich suche ein ganz sauberes Stückchen vom Verband und lege dir nur eine oder zwei Schichten Leinen über die Wunde, damit kein frischer Dreck hineinkommt. Und vielleicht solltest du das morgen wirklich noch einmal mit Meerwasser waschen.«

Er nickte schwach und zog den Arm schützend wieder an seine Brust, kaum dass Zirys den dünnen Schutzverband angelegt hatte. »Danke«, sagte er leise.

Er klang so müde und durchgefroren. Genau so, wie Zirys sich auch fühlte. Das Feuer wärmte, ihr Magen knurrte.

»Du solltest erwägen, deine nasse Kleidung auszuziehen und auszuwringen.«

Sie starrte ihn an und spürte kochend heiße Röte aus dem Hemdenausschnitt den Hals hinauf und in die Wangen kriechen.

»Danach kannst du es wieder anziehen. Aber es trocknet dann schneller.« Er wirkte schuldbewusst und setzte hastig hinzu: »Ich sehe auch weg, versprochen. Zirys, ein Blick auf mich sollte dir klarmachen, dass ich nur essen, trinken und schlafen will. Deine Tugend ist bestens vor mir geschützt. Und selbst wenn mein Zustand nicht Bollwerk genug wäre, so habe ich doch Ehre im Leib und würde niemals einer Frau etwas aufdrängen oder gar aufzwingen.«

Sie musste tief Luft holen, um das Zittern unter Kontrolle zu bekommen.

»Tut mir leid, ich hätte nichts sagen sollen.«

»Nein, du hast recht.« Sie konnte auf die Rückseite des Unterstandes gehen und sich dort rasch der meisten Nässe entledigen. Drakhalls Argumente klangen vernünftig, und eigentlich hätte Zirys’ erschöpfter Verstand ihr den Hinweis ebenfalls geben sollen, dass die Kleidung weniger tropfnass etwas angenehmer wäre. Doch Drakhalls kleine Rede machte Zirys vor allem klar, dass er zu betrunken gewesen war in jener Nacht am Strand. Er … er erinnerte sich nicht daran, so unglaublich es ihr schien. Doch schöpfte sie daraus tiefe Erleichterung. Ein Mann, der – wenngleich nur ein einziges Mal und beide berauscht vom Wein – mit einer Frau geschlafen hatte, neigte nach Zirys’ nicht sehr weitreichenden Erfahrungen dazu, diese Frau als sein Eigentum anzusehen. Nicht so schlimm wie Rokiv unbedingt, doch ausreichend, sie als unter seinem Willen und seinen Launen stehend zu betrachten. Dergleichen tat Drakhall nicht. Vielleicht tatsächlich nur deswegen nicht, weil er keinerlei Erinnerung an jene Nacht mehr besaß.

Zirys kroch wieder aus dem Unterstand, umrundete diesen und beeilte sich, aus der nassen Kleidung zu kommen. Einige Sonnenstrahlen fanden durch das Geäst über ihr und wärmten sie ein wenig. Sie wrang Hemd und Hose aus, so gut das möglich war, und kleidete sich dann hastig wieder an. Unangenehm, wie kalt die Hose an ihr hing, dass das Hemd sich nahezu wie ein Eispanzer an sie schmiegte. Sie suchte ein paar abgebrochene Zweige, mittels derer sie ihre Schuhe kopfüber nahe dem Feuer zum Trocknen aufhängen konnte. Und da die Bewegung ihr gut tat, klaubte sie auch noch reichlich Sandkraut auf, das sie einfach abriss. Ein zusätzliches Polster unter dem Schutzdach konnte nur gut tun.

Als Zirys zum Feuer zurückkehrte, erkannte sie, dass Drakhall die Zeit ebenfalls genutzt hatte. Seine Lederhose auszuziehen und auszuwringen, würde vermutlich nicht wirklich hilfreich sein. Aber er hatte die über kniehohen Stiefel aufgeknöpft, ausgezogen und über zwei langen Stecken nahe dem Feuer platziert. Wasser tropfte auf den Sandboden.

Drakhall selbst kauerte ganz klein, obwohl dies unmöglich sein sollte bei seiner Größe und Masse, im Unterstand, hatte die Beine angezogen und den gesunden Arm um die Knie gelegt. Seine nackten Zehen schimmerten bläulich, obwohl er sie im Kraut zu schützen versuchte.

Zirys lud erst ihre frische Pflanzenladung ab, bevor sie sich an Drakhalls Stecken ein Beispiel nahm und ihre Schuhe dann zum trocken kopfüber auf ihre Stöcke hängte. Dann kroch sie eilig zurück in den Unterstand.

»Wie geht es dem Arm?«

»Besser, wirklich. Essen?« Auf einem großen Blatt hatte er ihre Lebensmittel ausgebreitet. Die Wasserflasche lehnte an seinem Oberschenkel.

Zirys betrachtete den Käse mit Widerwillen. Aber ihr Magen knurrte, und so setzte sie sich im Schneidersitz zu Drakhall und schnitt angeweichten Schinken und Käse auf. Die Räucherwurst sah noch am besten aus, und so blieb sie vom Dolch verschont. Im Schneiden hielt Zirys inne. »Hattest du den Dolch gereinigt?« Würgereiz kitzelte in ihrer Kehle.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752116465
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Fantasy High Fantasy Romance Heroic Romance Heldenfantasy Liebesroman Liebe Episch

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Nun habe ich neben meinen bisherigen und zukünftigen Verlagsveröffentlichungen das Abenteuer Selfpublishing für mich entdeckt. Ich schreibe Fantasy in allen möglichen Richtungen: Urban, Geistergeschichten, Gay Romance und Heroic Romance („Schmachten & Schlachten“, wie ich dieses Subgenre mit einem Augenzwinkern nenne) und noch viel mehr.
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Titel: Drakhall