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Roveon

von Tanja Rast (Autor:in)
474 Seiten
Reihe: Schmachten & Schlachten, Band 1

Zusammenfassung

Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet. Roveon, der blinde und aufbrausende Feuermagier des Kaisers, hat die Aufgabe, die Klippenstadt zu verteidigen. Doch als eine feindliche Übermacht die Mauern überwindet, bleibt auch ihm nur der Rückzug. Zusammen mit der Küchenmagd Yaelin flüchtet er in die unterirdischen Friedhöfe im Klippengestein. Die Sicherheit trügt, denn die Angreifer haben es offenbar auf Roveon selbst abgesehen. Und er ist mit dieser störrischen Magd geschlagen, die ihn zwar nach Kräften unterstützt, aber auch sichtlich Gefallen daran findet, ihn herumzukommandieren. Gleichzeitig scheint sie nicht abgeneigt, ihrerseits Roveon zu erobern …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

Der Tribun der Klippenstadt

 

Amares fror und zog den Mantel fester um sich. Sie stieg eine der zahlreichen Treppen hinab, um das Lazarett zu erreichen, das in aller Eile im alten Palast errichtet worden war.

Die Menschen im Hinterland mochten sagen, dass die Klippenstadt ein eiskaltes, raureifbedecktes Juwel war, aber vor allem war sie ein Bollwerk und das Tor zu Ganharad, dem Inselreich, das noch niemals von einem Feind betreten worden war, wie die Militärs nicht müde wurden zu wiederholen. Es war häufig genug versucht worden, und die Klippen dieser Stadt hatten mehr als ein Volk scheitern sehen, mehr als das Blut einer Flotte getrunken. Sie hatten auch das Blut von Zavea in sich aufgesogen, der Stadtheiligen, die vor vielen hundert Jahren durch ihr Opfer eine Invasion verhindert haben sollte.

Amares war kritisch, inwiefern das Opfer einer jungen Frau eine anrückende Übermacht zurückgeschlagen haben sollte. Aber sie gestattete sich nicht zu viel Skepsis, denn sie war die Hohepriesterin von Zavea in deren Heiligtum in der Klippenstadt. Sie konnte nicht gleichzeitig die erste Dienerin sein und dabei starke Zweifel am Wahrheitsgehalt der Legenden haben. Doch genau so erging es Amares.

Wenn ein Funken Wahrheit daran war, so fand Amares, als sie in die Vorhalle des alten Palastes trat, dann wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt für Zavea gekommen, sich zu offenbaren, leibhaftig zu erscheinen und die Angreifer im Meer zu ersäufen.

Der Gestank nach Schweiß, Blut und Eiter traf Amares wie ein Keulenschlag, da sie aus der Eingangshalle in den kleinen Vorraum zum ehemaligen Thronsaal trat.

Die Verteidigung der Stadt forderte ihren Tribut. Und die, die es überlebten, wurden hierher gebracht. Manche wurden nur zum Sterben abgelegt, manche konnte der Medikus noch retten, andere pflegten Frauen wie Amares liebevoll, bis die Verwundeten endlich das letzte Mal ausatmeten.

Jeden Tag fürchtete sie sich davor, bekannte Gesichter unter den Verwundeten zu entdecken. Viel zu oft sah sie sie.

Aber noch war sie vom Schlimmsten verschont geblieben. Ihr Bruder kämpfte auf den Verteidigungsanlagen als Hauptmann der Bogenschützen. Jeden Tag, wenn sie in das Lazarett kam, hielt sie besorgt nach ihm Ausschau. Wie alle Soldaten blieb er nun Tag und Nacht in der Festung, falls er gebraucht werden sollte. Er pochte nicht auf seinen Rang als Letzter eines alten Adelsgeschlechts. Wenn der Tribun ihn rief, war Badon stets zur Stelle.

Badon war ein verschlossener junger Mann, der sich seiner Aufgabe und seiner Pflichten sehr bewusst war. Leben kam erst in ihn, fand die ältere Schwester belustigt, wenn er vom Tribun und dessen Taktiken und Erfahrungen sprach. Welche Kniffe der große Mann anwandte, um ein Überrennen der Verteidigungsanlagen selbst im letzten Augenblick noch siegreich abzuwenden.

Es gab erstaunlich geringe Verluste, hatte Badon bei seinem letzten Besuch im Tempel erwähnt. Amares konnte dieser Meinung nicht zustimmen, wenn sie von einer Liege zur nächsten schritt, Verbände erneuerte und Trost spendete, wo der Medikus nicht mehr helfen konnte. Sie wollte Badons Einschätzung so gerne teilen. Noch mehr allerdings, gestand sie sich ein, während sie sich eine Schürze umband und einen Korb mit frisch gerollten Verbänden von einem Seitentisch nahm, vertraute sie auf den Tribun.

Solange dieser Mann noch kämpfen konnte, befanden sich alle Menschen hinter den Verteidigungsanlagen der Klippenstadt in relativer Sicherheit. Die Flucht hatte begonnen. Viele reiche Familien hatten Schätze, Sklaven und Vieh mit sich genommen, waren die Treppen zur Oberen Festung hinaufgestiegen und ins Hinterland verschwunden, wo angeblich der Kaiser seine Truppen sammelte, um der Besatzung der Klippenstadt zur Hilfe zu eilen.

Amares war Priesterin und kein militärisches Genie, aber sie fand, dass es verdammt lange dauerte, ein paar Soldaten um sich zu scharen und zu der bedrängten Stadt zu eilen. Zu lange, wenn sie an die ganzen Verwundeten dachte, sich das müde Gesicht des Tribuns in Erinnerung rief, als sie ihn das letzte Mal vor zwei Tagen gesehen hatte.

Ihrer aller Schicksal schien trotz gegenteiliger Versprechen alleine in den Händen des Tribuns zu liegen. Und auch Thalis war nur ein Mensch. Es machte Amares Angst, was werden sollte, falls er fiel, in Gefangenschaft geriet oder einfach nur vor Erschöpfung zusammenbrach. Sie ballte die Hände um den Griff des Korbes: Es reichte, wenn ein feindlicher Pfeil ihn erwischte. Jeden Tag konnte es geschehen, und dann würde sie ihn auf einer der Liegen entdecken, seine Verbände erneuern und in seine fiebrigen Augen sehen müssen.

Amares atmete tief durch, straffte die Schultern und betrat entschlossen den großen Saal. Hier standen die Betten der verwundeten Soldaten. Sie wandte sich nach links, wobei sie Begrüßungen durch Verletzte mit einem freundlichen Lächeln beantwortete, und trat in das Behandlungszimmer des Medikus.

Sofort wünschte sie sich, sie wäre im großen Saal geblieben, denn auf dem Behandlungstisch lag ein junger Mann, dem der Medikus gerade den rechten Arm abnahm. Alles schwamm vor Blut. Amares stellte hastig den Korb ab, eilte an den Behandlungstisch und griff nach der unversehrten linken Hand des Soldaten, der bei vollem Bewusstsein war und einen Schmerzensschrei mehr als tapfer verschluckte, als er sah, wer ihm zur Unterstützung geeilt war.

Amares schaffte ein Lächeln, streichelte dem Jungen über die Wange und murmelte beruhigende Worte, während sein Blick wie gebannt auf ihrem Gesicht hing. Nur Augenblicke später trat der Medikus beiseite, und einer seiner Assistenten verband den blutigen Stumpf. Endlich versank der Soldat in Bewusstlosigkeit, und Amares konnte seine verkrampften Finger von ihrer Hand lösen.

»Die Ernte des letzten Angriffes, Priesterin. Und wir sind billig davongekommen. Ich weiß nicht, wie der Tribun es schafft, seine Verluste so gering zu halten.«

»Der Magier des Kaisers ist bei ihm«, antwortete Amares sofort. Der Tribun leistete Übermenschliches, aber ohne die Zauberkraft des Magiers wäre die Klippenstadt wahrscheinlich schon lange gefallen. Ein Segen, dass der junge Mann auf Befehl des Kaisers hier weilte und die Truppen des Tribuns unterstützte. Bislang die einzige Hilfe, die gesandt worden war.

Der Medikus schüttelte müde den Kopf: »Auch Roveon, und wäre er noch zehn Mal so mächtig, wie er es ist, könnte ohne Thalis nichts bewirken. Nur acht neue Verletzte brachte uns der letzte Angriff. Dieser war am schwersten verwundet. Die meisten anderen können mit ein wenig Glück heute oder morgen zurück auf die Festungsanlagen. Und kein einziger Toter.«

»Mein Bruder?«

»Brachte diesen Jungen. Es geht Badon gut, Priesterin. Oder zumindest so gut, wie es einem Hauptmann gehen kann, der vier Männer an das Lazarett verliert. Ich wäre dir dankbar, wenn du den Kranken ein wenig Mut machen könntest.«

»Ich kann mehr als das tun. Ich werde Verbände wechseln und Salben auftragen. Wie darf ich sonst helfen?«

»Bete zu deiner Heiligen, dass sie uns unterstützt. Ewig wird niemand die Angreifer aufhalten können. Ich erwarte täglich, dass Thalis auf diesem Tisch landet. Jeden Abend danke ich deiner Heiligen, dass der Tribun verschont geblieben ist. Aber wenn er nicht heute hier liegt, wird es vielleicht morgen passieren. Und dann kann uns wohl nicht einmal mehr die Heilige retten.«

Es grenzte an Gotteslästerung, aber Amares dachte schon seit Tagen nichts anderes. Sie nahm die Zweifel eines Mannes, der jeden Tag in Blut watete, gelassen hin. Sie konnte den Medikus nur zu gut verstehen. Sie selbst hatte schwer daran zu schaffen, ihren Glauben an ihre Heilige aufrechtzuerhalten. Wie lange wollte Zavea noch mit einer Offenbarung warten?

Die Legende besagte, dass sie von den Toten auferstehen und der Stadt erneut beistehen würde, wenn diese angegriffen wurde. Die Erzählung war ebenso alt wie die Heiligkeit der jungen Frau, und bislang hatte jeder in der Klippenstadt daran geglaubt, dass Zavea ihnen zu Hilfe kommen würde, sobald die Angriffe sich verstärkten.

Amares hatte aufgehört, die Bestattungen zu zählen, die jungen Männer, die ihr unter den Händen wegstarben. Es lag kein Funken Wahrheit in den Legenden. Dieses Eingeständnis schwächte sie und ihren Glauben so sehr, dass sie an manchem Morgen kaum die Kraft fand, sich aus dem Bett zu erheben. Die Worte der Gottesdienste klangen leer und sinnlos für sie, aber immer noch klammerte sie sich daran, die Hohepriesterin der Heiligen zu sein. Zavea musste sich offenbaren, sie musste irgendetwas tun. Langsam, aber sicher gewann Amares nur die Gewissheit, dass es zu spät sein würde, falls die Heilige sich endlich erhob und die Angreifer zurück in die See schlug – falls sie sich denn jemals dazu aufraffen könnte.

Trotz dieser Ängste nickte Amares, nahm den Verbandskorb wieder an sich und trat in den großen Saal, um dort das zu tun, was sie vermochte. Es war wenig genug, aber die Freude, mit der sie begrüßt wurde, war aufrichtig.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr, wandte den Kopf und atmete auf. Sie fühlte die gleiche Erleichterung, die ihr den Kopf leicht machte, durch den ganzen Saal fliegen.

Da war Thalis, Tribun der Klippenstadt, größer als das Leben, schmutzig und mit jenem so typischen, jungenhaften Grinsen, das die tief in den Höhlen liegenden Augen und die dunklen Schatten unter ihnen Lügen zu strafen versuchte. Aber Amares sah, wie hager sein Gesicht geworden war, wie müde er wirkte, obwohl er sich wie immer rasch und kraftvoll bewegte, zielsicher auf das erste Bett zustrebte, auf dem ein Verletzter sich bereits aufzusetzen versuchte.

Der lange Mantel wirkte im unteren Viertel feucht von Schlamm und Meereswasser. Amares roch Schweiß und Blut, als der Umhang sich leicht bauschte. Sie sah Dreck auf den Beinschützern, der mit Metallplättchen verstärkten knielangen Hose. Sie hörte das Leder knirschen, das Kettenhemd unter dem Waffenrock leise klirren.

Der ganze Mann sah so unglaublich dreckig aus, dass alles in Amares danach schrie, ihn kurzerhand in einen Zuber mit heißem Seifenwasser zu stoßen. Sie kämpfte ein leises Lachen nieder, so erleichtert war sie über diesen vertrauten Anblick und ihre vollkommen unpassenden Gedanken.

Thalis ganz in seinem Element. In Friedenszeiten hatte dieser riesige Kerl sich garantiert halb zu Tode gelangweilt und nur deswegen seine Rekruten ohne Unterbrechung üben lassen und ständig überall in der Stadt Baustellen eröffnet.

Sie schüttelte den Kopf. Nein, nicht Thalis. Was der Mann machte, tat er gründlich. Und wenn er neue Mauern hatte errichten lassen, dann hatte er dazu guten Grund gehabt. Unvorbereitet fand man den Hünen niemals, und Amares und alle Bewohner der Klippenstadt sollten auf Knien der Heiligen danken, dass ausgerechnet dieser Krieger Tribun der Stadt war.

Vielleicht war das Zaveas Offenbarung? Vielleicht stellte es das Geschenk der Heiligen an diese Stadt dar, ihr einen solchen Kämpfer und Strategen als Tribun zu senden? Amares wusste es nicht, aber sie fand, dass es sich plötzlich leichter atmete, da Thalis im Lazarett von Bett zu Bett ging, sich nach dem Ergehen der Männer erkundigte, mit einigen, die im Sterben lagen und es nur noch nicht wussten, sogar Witze riss. Er klopfte Schultern, begrüßte die Verwundeten freundlich und unterhielt sich mit jedem, mit dem er sprechen konnte. Aber auch bei jenen, die schon fast hinübergedämmert waren, blieb er einen Moment stehen, sah dem Sterbenden beim Atmen zu und ging dann erst langsam weiter.

Obwohl Amares wusste, dass der Tribun auch deswegen im Lazarett war, weil er beständig auf der Suche nach Männern sein musste, die zumindest helfen konnten, die Lücken in der Abwehr aufzufüllen, verlangte sein Auftritt ihr Respekt ab. Er wirkte, als habe er alle Zeit der Welt. Wenn er lachte, atmeten Soldaten auf dem Sterbebett auf und versuchten zumindest, mit ihm zu lachen. Wo er stand und ging, flammte Hoffnung auf.

Selbst die Priesterin, die tagtäglich die Ernte der Kämpfe pflegte und nach den letzten Zuckungen Augen schloss, die angesichts der blutigen Ernte ahnte, wie schlimm es um die Klippenstadt stand, fühlte Zuversicht – und Stolz, dass auch sie auf ihre Art einen Teil der Verteidigung bildete.

Thalis sah sie, hob knapp eine Hand zum Gruß und wandte sich dann wieder an den Soldaten, der fiebernd auf dem Bett lag, seinen Tribun vor Schmerzen wahrscheinlich kaum sehen konnte, aber trotzdem Kraft aus dessen Nähe und Anteilnahme schöpfte.

Amares nickte. Thalis schickte seine Soldaten nötigenfalls in den sicheren Tod, wie es jeder Oberbefehlshaber tat, aber er nahm trotzdem Anteil. Jeder seiner Männer musste wissen, dass der Kampf den Bewohnern der Stadt Zeit für eine Flucht verschaffen sollte. Thalis versuchte, die Klippenstadt wenn möglich so lange zu halten, bis die Entsatzarmee des Kaisers endlich ankam.

Ernüchtert biss Amares sich auf die Unterlippe: Falls diese Armee jemals kam.

Amares begann ihre Arbeit. Sie konnte täglich nur einige Stunden erübrigen. Gottesdienste für die Heilige und deren Rituale beanspruchten einen Großteil ihrer Zeit. Wo sie nur konnte, hatte sie Kürzungen vorgenommen. Die Soldaten waren ihr im Augenblick weit wichtiger als Liturgie und blank geputzte Weihegefäße. Zavea, die sich für die Verteidigung dieser Stadt geopfert hatte, würde das verstehen, hoffte Amares.

»Kann ich dich einen Moment sprechen?«

Sie fuhr erschrocken auf, denn sie hatte nicht gehört, dass Thalis an sie herangetreten war. Weit ragte er über ihr auf, und sie fragte sich, wie ein so großer, schwerer Mann sich so leise bewegen konnte.

»Natürlich, Tribun. Ich stehe dir gleich zur Verfügung.«

Aber zuerst wechselte sie den Verband des Bewusstlosen auf dem Bett, deckte den Mann fürsorglich zu und füllte den Becher neben seinem Lager mit frischem Tee, falls der Soldat wider Erwarten erwachen und durstig sein sollte. Sie gab dem Tribun mit einem Nicken zu verstehen, dass sie nun Zeit für ihn hatte.

Mit einer Höflichkeit, die einer friedlicheren Zeit entstammte und Amares bei einem Soldaten, der aus dem einfachen Volk stammte, überraschte, bot Thalis ihr den Arm. Sie hakte sich bei ihm ein, und er legte seine Hand behutsam auf ihre und zog Amares dann zielstrebig aus dem großen Saal in einen angrenzenden Flur.

Sie blickte kurz zu ihm auf, aber ihr gefiel nicht, was sie sah: Die schmalen Lippen waren fest zusammengepresst. Die Schatten unter seinen Augen wirkten noch dunkler als bei ihrer letzten Begegnung.

Er steuerte einen Alkoven an, unter dessen Fenster eine Steinbank einen Ruheort bot. Dort blieb er stehen und wartete schweigend, bis Amares Platz genommen hatte, bevor er sich neben sie setzte. Er starrte auf seine großen, schmutzigen Hände, und Amares dachte wieder, wie gut ihm ein Bad tun würde. Er stank nach Blut und altem Schweiß, nach Rauch und Brackwasser. Wenn er seine Soldaten schon nicht schonte, auf sich selbst sollte er etwas sorgfältiger achtgeben, denn es hing so viel von ihm ab.

Schließlich hob er den Kopf und sah ihr in die Augen. »Ich kann die Stadt nicht mehr lange halten. Ich weiß, dass viele Bürger bereits geflohen sind. Ich will, dass du ebenfalls gehst. Am besten noch heute. Die kaiserlichen Truppen können nicht mehr weit entfernt sein.«

»Ich habe hier meinen Platz und meine Aufgabe.«

»Wenn du theatralisch und heldenhaft sein willst, sind dies weder der richtige Ort noch die richtige Zeit. Du siehst die Verletzten. Du weißt, wie viele Männer schon gefallen sind. Verdammt, Amares, du bist die Priesterin, du musst hier weg. Die Leute brauchen dich.«

»Aber wo kann ich meiner Heiligen besser dienen als hier? Dies ist ihre Stadt und …«

»Und diese Stadt wird in den nächsten ein oder zwei Tagen fallen. Ohne die Verstärkung durch kaiserliche Truppen kann ich nur noch versuchen, das Unvermeidliche hinauszuzögern, nicht mehr. Jeder Soldat, den ich an die Kampflinie schicke, ist so gut wie tot. Und wenn wir nicht mehr standhalten können, fallen die Angreifer ein. Du bist nicht dumm, du weißt, was dann geschieht. Mir – und wohl auch deinem Bruder – wäre leichter zumute, wenn du die Stadt verlässt. Nimm mit, wen immer du zum Gehen veranlassen kannst.«

Sie sah mit einem Ruck auf. »Und was ist mit dir, Tribun?«

»Der Kaiser hat eine unüberwindliche Abneigung gegen Feiglinge. Ich versuche also, die Stadt so lange zu halten, bis das Entsatzheer da ist.«

Seine Kiefermuskeln spannten sich, und sie wusste genau, wer von ihnen beiden jetzt ein theatralischer Held war. Verdenken konnte sie ihm nicht, dass er auf den Verteidigungsanlagen fallen wollte, bevor der Feind die Klippenstadt überrannte. Der Kaiser fasste Versagen wirklich als persönliche Beleidigung auf und besaß die Angewohnheit, die vermeintliche Ursache für die eingebildete Kränkung besonders gründlich dafür büßen zu lassen.

»Ich werde versuchen, deiner Bitte zu entsprechen«, sagte sie leise, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, die unter Angriff stehende Stadt zu verlassen. Sie wurde hier gebraucht, und das Lippenbekenntnis sollte nur Thalis beruhigen und ihm in seinen letzten Tagen auf dieser Erde Frieden schenken.

Wenn es so schlimm um die Stadt stand, würde er keine Zeit mehr finden, ins Lazarett zu kommen. Sie blickte auf, weil sie ihn bewusst ansehen wollte, während sie im Geiste von ihm Abschied nahm.

Er nickte, atmete tief durch und drehte sich mit einem Ruck vollends zu ihr herum. So nahe war sie ihm noch nie gewesen, und sie ertappte sich dabei, wie sie ihm tief in die jadegrünen Augen blickte, wunderte sich über sich selbst, wie sie überhaupt daran dachte, dieses dunkle, leuchtende Grün mit Jade zu vergleichen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie sah jedes kleinste Fältchen, wie Thalis’ Wimpern sich einmal senkten und wieder hoben.

Dann beugte er sich ohne Vorwarnung vor. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht, sah noch, wie er die Augen schloss, und dann küsste er sie – hart, fordernd und doch so zärtlich, dass in ihrem Inneren Wärme aufstieg, dass ihre Hände ein Eigenleben entwickelten, das sie ihnen niemals zugetraut hätte.

Ihre Fingerspitzen streichelten über die Bartstoppeln auf Thalis’ Wange, die andere Hand strich über das kurzgeschorene Haar, und Amares fühlte die unwiderstehliche Neigung, sich an die breite Brust des Tribuns zu werfen, den Kopf an seine Schulter zu lehnen und den großen Mann niemals wieder gehen zu lassen. Sie wusste, wohin sein Weg ihn führte, und sie wollte nicht, dass er sich für einen Kaiser opferte, der seine Versprechen nicht hielt.

Aber das konnte und durfte sie nicht. Thalis war der Einzige, der die Stadt noch einige Tage oder vielleicht auch nur Stunden verteidigen konnte, bis alle Fluchtwilligen sich ins Hinterland gerettet hatten.

Stattdessen küsste sie ihn, ließ ihn spüren, dass er vermisst werden würde und auch als Mensch ebenso einzigartig war wie als Krieger und Verteidiger einer sterbenden Stadt.

Thalis löste sich von ihr. Noch immer hatte er sie nicht angefasst, nicht umarmt, sich nur zu ihr vor und herab gebeugt. Nun sah er ihr in die Augen und sagte sehr leise: »Geh, Amares, und bring dich und so viele Menschen wie möglich in Sicherheit.«

Sie nickte, obwohl sie nichts dergleichen vorhatte. Ja, sie würde versuchen, Diener und einfache Handwerker zur Flucht zu bewegen. Aber sie musste hier bleiben. Sie konnte den Tempel der Heiligen nicht verlassen, nicht ihre Heilige im Stich lassen – nicht Thalis.

Er bat sie nicht um Verzeihung für seinen Übergriff, aber in seinen Augen lag ein schmerzhafter Ausdruck. Noch einmal beugte er sich vor, und Amares schloss erwartungsvoll die Augen. Aber seine Lippen berührten sie nur zwischen den Brauen, kurz und beinahe brüderlich. Dann stand Thalis auf. Sie hörte das leise Rauschen des Umhangs, nahm wieder die barbarische Geruchsmischung wahr und hörte die Schritte des Tribuns, die sich von ihr entfernten.

Hitze stieg in ihr Gesicht. Sie schlug die Augen auf, legte je eine kühlende Hand auf ihre glühenden Wangen und sah Thalis zitternd nach.

Sie mochte ihn, das war unbestritten, aber zu was sie sich da soeben hergegeben hatte … sie war entsetzt über sich selbst. Nur Thalis’ Anstand hatte verhindert, dass sie sich ihm vollkommen an den Hals geworfen hatte. Was war nur über sie gekommen?

Seine Annäherung konnte sie entschuldigen. Er rechnete in den nächsten Tagen oder Stunden mit dem Fall der Stadt und dementsprechend seinem eigenen Tod. Ja, sie konnte ihm verzeihen, dass er sie geküsst hatte.

Noch mehr rote Hitze stieg aus ihrem Kragen, und das Atmen wurde Amares schwer. Nie hätte sie gedacht, dass die Nähe eines Mannes sie so vollkommen aus dem Gleichgewicht bringen würde. Aber sie war auch noch nie zuvor geküsst worden. Noch immer prickelten ihre Lippen, wo die von Thalis sie berührt hatten. Sie meinte, dass der Geschmack des großen Mannes in jedem Atemzug ihren Gaumen kitzelte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie sah den Gang entlang, aber der Tribun war entweder schon in den großen Saal zurückgekehrt oder hatte eine Nebentür genutzt, um das Gebäude zu verlassen.

Amares wollte, dass er zu ihr zurückkam, und gleichzeitig presste sie die Knie so fest zusammen, dass es schmerzte. Nein, auf gar keinen Fall. Sie wollte ihn niemals wieder sehen, wenn seine Nähe sie zu solchem Betragen trieb. Wie sollte sie ihrer Heiligen unter die Augen treten? Was würde geschehen, wenn sie derart aufgewühlt versuchte, den Tempel zu betreten? Würde die Tür für sie verschlossen bleiben, so sehr sie auch an ihr rüttelte?

Noch einmal sah sie den Gang entlang, atmete tief ein, aber sie roch nur Blut, Sterben und Schmutz. Wie hatte Thalis gerochen? Sie wusste es schon nicht mehr. Und das war auch gut so, sagte sie sich. Sie war immer noch feuerrot im Gesicht, sie fühlte es. Was war nur los mit ihr?

2.

Attacke unter Feuersbrunst

 

Roveon stand auf der Krone der zweiten in aller Eile errichteten Wehrmauer. Noch konnten die Soldaten des Tribuns die vorgelagerte alte Linie halten, aber die Bogenschützen und die Steinschleudern waren schon zurück auf die neue Befestigung gesandt worden.

Der Magier sah hinaus auf das Meer, wo die Schiffe der Seevölker sich dicht an dicht drängten. Er wusste, dass die wenigen verbliebenen Truppen des Kaisers keine Aussicht auf Erfolg hatten. Die Übermacht war überwältigend, während die eigene Zahl immer mehr schrumpfte. Jeden Tag wurden Männer in die Lazarette oder zur Bestattung gebracht. Die Reihen der Verteidiger waren schmerzhaft dünn geworden, aber noch immer desertierte kein einziger Soldat.

Die tapferen Bürger der Stadt und auch die Soldaten schrieben dies der Treue zum edlen Tribun zu. Roveons Lippen kräuselten sich. Ja, die Leute hatten recht. Natürlich rannte niemand weg, solange Thalis noch atmete. Die Soldaten wussten, was ihr Tribun war. Kein Wunder, dass keiner von denen den Mut aufbrachte, sich einfach nachts davon zu schleichen. Thalis als entfesselten Kriegsgott zu bezeichnen, war eine allzu harmlose Beschreibung.

Die Bogenschützen rund um Roveon nahmen Haltung an. Der Magier konzentrierte sich ohne die geringste Anstrengung und griff nach irgendeinem Mann in der Nähe, um dessen Augenlicht nutzen zu können. Kaum sah er durch die Augen im Kopf des anderen Mannes, da wusste er, wessen Sicht er nutzte: deutlich weiter vom Boden entfernt als bei den meisten Soldaten. Auch die Zielstrebigkeit, mit der der Besitzer der Augen auf Roveon zuhielt, wirkte eindeutig. Er lächelte, während er zusah, wie sein eigener Rücken und Hinterkopf im Blickfeld des anderen näher und näher kamen.

Er drehte sich genau zum richtigen Zeitpunkt um, sah in sein eigenes Gesicht, in die eigenen Augen, deren dunkelbraune Iriden von einem weißlichen Schleier überzogen schienen. Er nahm sein Hohnlächeln wahr, als er den Tribun begrüßte. »Thalis, ich begann schon, mir Sorgen zu machen.«

Roveon griff nach einem anderen Augenpaar und betrachtete durch dessen Sicht das harte Gesicht des Tribuns, die tückischen grünen Augen, unter denen dunkle Schatten lagen. Er sah, wie die Kiefermuskeln des großen Kriegers sich anspannten, und war zufrieden, dass sein Tonfall sein Ziel nicht verfehlt hatte.

»Du darfst dir gerne Sorgen machen, Magier«, antwortete der Tribun, und Roveon lächelte, als er hörte, wie verächtlich der Krieger beim letzten Wort klang. Ja, Thalis wäre es lieber, wenn er nur mit seinen Männern hier kämpfen, Ruhm und Ehre erlangen würde. Aber selbst der Tribun sollte wissen, dass diese Wehranlagen schon lange überrannt wären, wenn die magische Unterstützung fehlen würde.

Thalis kehrte sich mit einem Ruck ab, aber der Blick des Bogenschützen folgte ihm natürlich, sodass Roveon auch weiterhin das Mienenspiel des großen Kriegers sehen konnte. Thalis wandte sich an Badon, den Hauptmann der Bogenschützen, und Roveon musste die Ohren spitzen, um die leise geführte Unterhaltung verstehen zu können.

»Ich habe deine Schwester gebeten, die Stadt zu verlassen.«

»Darum bitte ich sie seit Tagen. Ich hoffe, dass du erfolgreicher warst als ich.«

Thalis zuckte die breiten Schultern. »Sie arbeitet im Lazarett. Sie weiß, wie es steht. Ich hoffe, sie tut das Richtige.«

Badon nickte. Sein Gesicht wirkte verkniffen und angespannt. Roveon wechselte seine Sicht zu einem Soldaten auf der ersten Wehranlage. Dort standen die Wächter Schulter an Schulter und starrten auf das Meer und die gewaltige Flotte.

Neben sich spürte er eine Bewegung und wechselte wieder das Augenlicht. Thalis war an seine Seite getreten und blickte ebenfalls zu den Angreifern. Er hob die Stimme nur ein wenig. Der Tribun musste nicht laut werden, um Gehör zu finden.

»Dies ist möglicherweise unser letzter Tag, unser letzter Versuch, die Stadt zu schützen. Wenn die vordere Verteidigungslinie fällt, will ich, dass ihr euch zurückzieht. Die Mauern werden die Angreifer nicht lange aufhalten. Nehmt jeden mit euch, den ihr in der Stadt antrefft. Zieht euch auf die Obere Ferstung zurück und verhindert von dort aus, dass der Feind ins Land einfällt. Die kaiserlichen Truppen müssen jeden Moment eintreffen.«

Roveon war von Geburt an blind. Noch bevor er gelernt hatte, durch fremde Augen zu sehen, hatte er begriffen, wie viel mehr Menschen mit ihrer Stimmlage ausdrückten, als sie an Bedeutung in Worte legten.

Thalis klang für einen ungeübten Zuhörer überzeugt, dass seine Männer bis zum Eintreffen des Entsatzheeres mindestens die Obere Festung halten konnten. Er vermittelte sehr glaubhaft den Eindruck, dass es sich wirklich nur noch um Augenblicke handeln konnte, bis die frischen Truppen eintrafen. Auch seine Rückzugstaktik schien nur der Form halber ausgesprochen, als würde er selbst nicht glauben, dass es zu dieser Verzweiflungstat kam.

Aber Roveon hörte mehr in der tiefen Stimme, in den feinen Nuancen und Betonungen. Thalis wusste, dass niemand ihm und seinen Männern helfen würde. Entweder war der Bote nicht zum Kaiser durchgedrungen, oder es war dem Kaiser einfach egal, was aus der Klippenstadt wurde. Roveon befürchtete Letzteres, obwohl er es nicht fassen konnte. Er wusste, dass er außer Thalis nun der einzige Mann auf den Verteidigungsanlagen war, dem das bekannt war. Alle anderen starrten den Tribun gehorsam und voll Vertrauen an.

Roveon verachtete sie. Die Männer sollten inzwischen verstanden haben, dass sie nur Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank waren. Aber wenn man Thalis zuhörte, konnte dessen selbstsichere Ausstrahlung schon für Verwirrung sorgen. Außerdem besaß der Tribun einen weiteren Vorteil: Er kämpfte stets in der vordersten Reihe. Er schickte die Männer nicht nur in den Tod, sondern er stürmte an ihrer Seite vorwärts und setzte sich den gleichen Gefahren aus. Dabei sollte doch gerade er wissen, wie es stand. Ihn verachtete Roveon noch sehr viel mehr als die einfachen Soldaten, die sich blind ins Verderben stoßen ließen.

»Magier.«

Oh ja, der große Oberkommandierende der Klippenstadt, der sogar meinte, Roveon Befehle erteilen zu können.

»Tribun?«

»Spare deine Kräfte. Deine Magie wird den Kampf nicht entscheiden können.«

»Meinst du.«

»Das weiß ich. Aber wenn die Feinde die alte Wand überrennen, möchte ich, dass du Feuer zwischen beide Wälle legst. Dafür sollst du dir deine Kraft aufsparen. Du sicherst den Rückzug und kannst die Feinde für einige Zeit aufhalten.«

Roveon legte den Kopf schief, löste sich aus dem Augenlicht des Bogenschützen, das er bis zu diesem Moment genutzt hatte, tastete sich an einen Soldaten auf der ersten Mauer heran. Durch dessen Augen schätzte Roveon Breite und Tiefe des Zwischenraumes von der alten zur neuen Wehranlage ab. Er sah die schwarzen Tonkrüge, die auf Thalis’ Befehl auf diesem Streifen Ödland abgestellt worden waren. Sie enthielten Lampenöl. Haufen von teergetränkten Lumpen und Stroh säumten die Innenseite der alten Wehr.

Anerkennend hob Roveon die Brauen: Er hatte nichts anderes erwarten dürfen. Thalis setzte alle seine Waffen stets vorteilhaft ein. Und nichts anderes konnte er wohl in einem Magier sehen. Der Tribun verstand sich auf mehr, als nur Männer in den Tod zu schicken – seine eigenen und die gegnerischen.

»Das wird sie nicht lange aufhalten«, wandte Roveon ruhig ein.

»Ich weiß. Aber wenn die erste Mauer verloren geht, zählt für die verbliebenen Bewohner der Stadt jeder Augenblick.« Thalis wandte sich wieder an Badon: »Sieh zu, dass du so viele Verletzte wie möglich aus dem Lazarett schaffen kannst. Der Magier verschafft dir Zeit. Nutze sie sinnvoll.«

»Der Medikus ist benachrichtigt?«

»Natürlich ist er das!«

Roveon hörte den nur mühsam unterdrückten Zorn in Thalis’ Stimme. Oh, verdammt, der Kerl wusste genau, was die Stunde geschlagen hatte. Ihn jetzt noch mit dummen Fragen zu nerven, sprach nicht für Badons Lebensweisheit.

Noch einmal beschwor Thalis die Verbundenheit der Soldaten mit der Kaiserkrone und vor allem ihm selbst. »Ich weiß, dass ich mich auf jeden Einzelnen hier verlassen kann. Viel Glück, Männer.«

Von der alten Mauer erklang ein Warnruf, und Thalis straffte die Schultern, atmete tief durch, bevor er in den Streifen Ödland hinabstieg. Kaum war er auf der Sohle des Zwischenraumes angekommen, als die Leiter wieder nach oben gezogen wurde.

Roveon hielt sich ein wenig abseits von den Bogenschützen und den Mannschaften, die die Kriegsmaschinen zu bedienen hatten. Er sollte seine Kraft sparen? Dabei wäre jeder Gegner, den er mittels Flammen und unerträglicher Hitze zurückwarf, einer weniger, der einen Fuß auf den Boden des Kaiserreiches stellen konnte! Er fühlte Zorn in seinem Inneren brodeln. Er hasste es, wenn Thalis sich anmaßte, ihm Befehle zu erteilen.

Er atmete tief durch. Wenn er ehrlich war, dann duldete er von niemandem als seinem Kaiser Befehle. Aber dass ein dahergelaufener Bauer wie Thalis zum Tribun ernannt wurde, war schon ein starkes Stück. Wenn alles wie erwartet verlief, so dachte Roveon mit einem Lächeln, musste er den Kerl nicht mehr lange ertragen. Der Tribun würde die Schlacht nicht überleben. Das war eine Tatsache.

Durch Badons Augen sah Roveon Thalis zu, wie dieser auf der ersten Verteidigungsmauer von seinen Soldaten umringt wurde. Der Wind bauschte den dunklen, schmutzigen Umhang. Die Rüstungsteile blitzten im Sonnenlicht. Lichtreflexe brachen sich auf Helmen, Schwertern, großen Rundschilden. Die Verteidiger standen zum letzten Kampf bereit. Jeder da drüben musste wissen, dass sein Ende bevorstand. Aber wahrscheinlich konnten die Idioten das nicht verstehen, solange Thalis in ihrer Mitte weilte, scheinbar Tod und Geister der Unterwelt nicht fürchtend.

Roveon musste ein Auflachen ersticken. Vielleicht glaubten die hirnlosen Schläger da drüben ja auch, dass die Jungfrau ihnen zur Hilfe kam, wenn sie nur tapfer genug aussahen. Er biss sich auf die Unterlippe. So viel Gerechtigkeit musste sein, der Mann war ohnehin so gut wie Aasfresserfutter: Thalis war tapfer. Niedrig geboren – aber keinesfalls blind oder dumm.

Schiffe aus der feindlichen Flotte hatten sich aus der Formation gelöst, deswegen war der Alarm gegeben worden. Nun wurden sie auf den Strand zugerudert und somit auf die erste Verteidigungslinie hin.

Roveon fühlte, wie er sich anspannte. Sein Platz wäre da vorne gewesen. Von dort aus hätte er Feuer und Verderben in die Reihe der Feinde gebracht. Er wollte nicht sterben – und vor allem wollte er nicht den Gegnern in die Hände fallen. Zu viele Schiffe und zu viele Männer hatte er schon verbrannt. Sieger waren niemals erbaut, wenn sie ihren Erfolg nur hohen Verlusten zu verdanken hatten. Und sie neigten dazu, sich für diese bitter zu rächen.

Hitze stieg in Roveon auf, als seine Feuergabe sich ihm aufdrängte, danach schrie, auf die nahenden Schiffe geworfen zu werden. Aber Thalis’ letzte, anmaßende Order schien einem Moment des klaren Denkens entsprungen zu sein. Roveon konnte den Befehl gutheißen, und er wusste, wie viel Kraft er in den Graben zwischen die beiden Mauern werfen konnte, wenn er sich jetzt schonte. Je mehr Schlagkraft ihm dann zur Verfügung stand desto besser. Die Vorbereitungen des Tribuns würden ihr Übriges tun, um der Stadtbevölkerung die Flucht zu ermöglichen.

Erreichte Roveon erst auf die Zinnen der Oberen Festung, konnte er für einen Brand sorgen, den die Welt noch nicht gesehen hatte. Er würde dann ohne Rücksicht auf Verluste die ganze Stadt einäschern können – und in ihr, auf ihren Treppen und steilen Straßen die ganze Mannschaft der feindlichen Flotte. Dann durfte er seine Gabe fliegen lassen, und er freute sich schon darauf.

Er spürte, wie die Bogenschützen ein wenig von ihm abrückten, und hätte beinahe laut gelacht. Da tat er seit Tagen nichts anderes, als ihre kümmerlichen Bemühungen effektiv zu unterstützen und sie alle zu übertreffen, und die Tölpel fürchteten ihn. Nun, sie hatten wohl recht damit. Denn ihm war es egal, auf wen er Flammen jagte. Nur seine Treue zum Kaiser hielt ihn davon ab, jeden im Umkreis einer halben Meile in Asche zu verwandeln.

Mit einem Mal wurde ihm kalt vor Wut. Der Kaiser kam nicht. Er ließ die Stadt fallen. Ließ er auch seinen Magier im Stich? Wenn er das wagte …

Roveon kämpfte die glühend heiß aufsteigende Gabe hinab und starrte durch die Augen eines Bogenschützen zur äußeren Verteidigungslinie. Dort geriet alles in Bewegung. Die Angreifer hatten den Strand erreicht. Wie sehr juckte es Roveon, in die dicht an dicht auf dem Sand liegenden Schiffe nur einen einzigen Feuerball zu senden! Über Thalis’ Kopf hinweg einen Flammenstrahl fegen zu lassen, der dem Tribun bewies, dass niemand Roveon von Kerrims Hald Befehle erteilte.

Er suchte sich eine andere Sicht. Die Verteidiger standen eng gedrängt, da war es selbst für ihn nicht leicht, sich gezielt einen Träger auszusuchen. Aber es war auch egal. Jeder der Männer dort drüben hatte jetzt nur Augen für die Angreifer.

Die Schwachköpfe kamen mit Sturmleitern über den Strand gerannt. Jetzt könnte Thalis da drüben Bogenschützen gebrauchen, Roveon wusste es. Wie hatte der Kerl nur so hirnverbrannt sein können?

Es erfreute ihn dann aber auch nicht, dass die Krieger auf der Wehranlage für den ersten Ansturm gewappnet waren. Steine flogen körbeweise auf die Angreifer hinab, heißes Öl wurde auf sie ergossen, und schreiende Seeräuber stürzten die Leitern rückwärts hinab und rissen ihre Kameraden mit sich in die Tiefe.

Neben sich hörte Roveon Badon Befehle erteilen, und die Kriegsmaschinen schleuderten weitere Steine und Krüge mit Öl über die Köpfe der Soldaten auf der ersten Mauer hinweg in die Reihen der Angreifer. Die Fernkämpfer auf dem Grund der Klippenstadt arbeiteten blind, aber das reichte vollkommen. Sie kannten die Reichweite ihrer Waffen genau.

Roveon konnte die Vernichtung sehen, die sie anrichteten. Und da er die Augen jener ersten Verteidigungslinie nutzte, erkannte er auch, welche der Schleudern falsch ausgerichtet war, und konnte Badon eine Anweisung zurufen, bevor noch einer der Krieger vorne dazu die Möglichkeit hatte.

Aber alle Bemühungen reichten nicht. Die ersten Angreifer gelangten auf den Wehrgang. Es waren einfach zu viele, und sie warfen sich vorwärts, stiegen über die Körper der Erschlagenen und auch der Verwundeten, ohne sich um deren Geschrei zu kümmern. Einer der Verteidiger warf einen brennenden Kienspan in die wogende Menschenmasse, und dank des zuvor geschleuderten Öls brannten die Angreifer, verwandelten sich in lebende Fackeln. Trotzdem rückten weitere Seeräuber nach, und die Flammen wurden unter anscheinend Tausenden Füßen erstickt.

Roveon war einmal Zeuge einer Springflut geworden, und genau daran erinnerten die Angreifer ihn nun. Sie schwappten wie eine Welle über das Bollwerk, und ihre Zahl erstickte die Verteidiger und warf sie zu Boden.

Bis auf Thalis – natürlich. Wider Willen fühlte Roveon Stolz auf den Hünen, der seine Position hielt und Gegner um Gegner erschlug. Das Schwert zog blutige Kreise. Entseelte Angreifer und vor allem Körperteile prasselten rund um den Tribun auf den gemauerten Wehrgang.

Das Tier war entfesselt, anders konnte Roveon es nicht nennen. Das war der Grund, warum Thalis Tribun war. Er war furchterregender als die Kriegsmaschinen – und effektiver. Er schien nicht zu ermüden, und seine immense Körpergröße und Kraft verliehen ihm die Unaufhaltsamkeit eines Gottesgerichts.

Roveon verließ den Kopf des Bogenschützen, suchte sich Augen auf der ersten Verteidigungsmauer, und ständig musste er eine neue Sicht suchen, denn Verteidiger wie Angreifer verfügten über keine hohe Lebenserwartung.

Wenn er in das Augenlicht eines Angreifers gelangen konnte, der sich ausgerechnet vor Thalis in den Kampf warf, fluchte Roveon, denn es ging zu schnell. Mehr als das Schwert und Thalis’ gebleckte weiße Zähne sah Roveon selten, bevor der Tribun einen weiteren Erfolg erzielte.

Aber diese kurzen Augenblicke zeigten, dass der Tribun bereits am Ende war. Er war schweißnass, der gewaltige Brustkorb unter der Rüstung hob und senkte sich zu schnell. Und Thalis, dessen war Roveon sich sicher, wusste, dass er das Unvermeidliche nur ein wenig hinauszögern konnte.

Hastig zog Roveon sich zurück, suchte Badon und dessen Sicht und bereitete sich darauf vor, Feuer in den Graben zwischen den Mauern zu werfen.

Badons Blick hing wie gebannt an Thalis, der unter den Gegnern wütete wie eine fleischgewordene Kampfmaschine, die sich selbst nicht schonte, die nur das Ziel kannte, so viele Gegner wie möglich mit sich in den Abgrund zu reißen.

Auf der ersten Wehr stand kaum noch ein Verteidiger. Nur noch der Tribun ragte auf, umringt von Feinden.

Roveon atmete tief durch, hielt die Hände vor seine Brust, Handflächen nach oben. Er fühlte die Glut der Feuergabe sich in seinem Bauch sammeln, seine Lungen füllen. Langsam quoll die Hitze in seine hohlen Hände. Roveon schloss die Augen, atmete langsam und entspannt, bis er die Flammen an seinen Fingerspitzen spürte.

Er öffnete die Augen wieder, griff erneut nach Badon und sah durch diesen zur ersten Mauer. Noch stand Thalis. Es war kaum zu glauben, aber der Kerl kämpfte immer noch, mähte Gegner nieder und watete inzwischen schon durch Blut.

»Götter«, murmelte Badon leise.

Roveon schnaubte verächtlich. Was hatten Götter damit zu tun, wenn ein Mann um sein Leben kämpfte? »Tribun«, sagte er leise, und es war ein widerwillig anerkennender Abschiedssalut. Roveon warf das Feuer, das einsatzbereit in seinen Händen brannte, in den Graben, zielte auf Öltöpfe, auf Lumpen und Stroh. Er formte nur kleine Feuerkugeln, die er gezielt abwerfen konnte. Mehr war nicht nötig, den Rest erledigten die im Zwischenraum abgeworfenen Materialien. Roveon befand sich zu sehr viel mehr in der Lage, und das hatte er in den letzten Tagen ausreichend bewiesen. Doch hier und jetzt sparte er Kraft. Für die Vernichtung, die er von der Wehr der Oberen Festung werfen würde.

Alleine der Gedanke an riesige, brennende Gaswolken ließ ihn nach Atem ringen. Das Feuer berauschte ihn, strömte aus selbst ihm unbekannten Quellen kraftvoll nach, erfüllte ihn mit Hitze, die köstlich und erregend schmeckte.

Flammen brandeten zwischen den Mauern auf, fetter Rauch stieg zum Himmel. Die Steine des ersten Bollwerks knackten und knirschten unter dem Feuersturm. Jetzt brannten die Angreifer wieder, und Roveons Feuer war so viel mehr als nur eine Fackel in einer Öllache. Da vorne konnte niemand mehr atmen. Es prasselte, Steine zersplitterten, Qualm wallte auf, Glutnester bildeten sich innerhalb eines Atemzuges, und Sand verflüssigte sich zu tückischen Glasseen, aus denen Blasen aufstiegen.

Noch immer warf Roveon Feuer. Für einen Moment sah er Thalis’ Gesicht, als der Tribun sich halb herumdrehte, in der Wendung zwei Gegner zu Boden sandte.

Der Abstand war zu groß, als dass Roveon den Ausdruck in den schlangengrünen Augen hätte wirklich deuten können. Und dann war Thalis verschwunden unter dem Ansturm der Angreifer, die ihn alleine durch ihre Überzahl zu Boden rangen.

Badon schrie auf, die Bogenschützen sandten einen letzten Pfeilschauer über die brennende Kluft. Vielleicht hofften sie, ihrem Tribun einen letzten Dienst zu erweisen und ihn zu töten, damit er nicht lebendig jenen in die Hände fiel, die durch ihn so erschreckend hohe Verluste erlitten hatten.

Roveon schleuderte einen letzten Feuerball auf das Menschenknäuel, wo eben noch Thalis wie ein Schlächter gewütet hatte. Dann warf er sich herum, folgte den fliehenden Bogenschützen, die die Leitern hinabsprangen und auf die Stadt zuhielten.

Der Rückzug wirkte hektisch. Es war eine wilde Flucht, und Roveon kämpfte darum, eine klare Sicht zu behalten, damit er seinen Weg finden konnte. Was mit jedem Schritt schwerer wurde, denn naturgemäß war Roveon etwas langsamer als die fliehenden Soldaten. Er war blind und kein gestählter Krieger. Er konnte nicht bestimmen, wohin sein Blick fiel, worauf der Träger seines Augenlichts achtete, während der Soldat einfach rannte und sein Heil in der Flucht suchte.

Roveon kam unversehrt die Treppen zum gepflasterten Kasernenhof hinab, tastete sich an der Innenseite der neuen Wehranlage entlang, suchte nach einem Speer, einem Stab, nach irgendetwas, das er nutzen konnte, um seinen Weg zu ertasten.

Er fluchte, als auch der letzte Soldat, dessen Augenlicht er genutzt hatte, aus seiner Reichweite entschwand. Roveon stand in Dunkelheit, und hinter sich hörte er die Schreie der Seeräuber. Jetzt landete ihre gesamte Flotte an, und selbst zwei Wehrmauern und das Feuer zwischen ihnen konnten die Angreifer nicht allzu lange aufhalten, da nun kein einziger Verteidiger mehr stand.

»Außer mir, verdammt!«, fluchte Roveon, und endlich ertastete er den hölzernen Schaft eines Speeres. Er riss die Waffe an sich. Er musste sich beeilen, denn er wusste, dass ihn in den Händen der Feinde ein schreckliches Schicksal erwartete. Aber wenn er jetzt losrannte und den Weg in die schützenden Kasernen verfehlte, war er mehr als nur leichte Beute.

Da er gelernt hatte, die Augen anderer zu nutzen, war ihm seine Blindheit stets als erträglich erschienen. Ja, er genoss es sogar, wenn die Leute ihn anglotzten, wie er sich gerade trotz dieser Blindheit vollkommen sicher bewegte, solange er sich im Kreise Verbündeter befand. Keiner von denen schien zu ahnen, auf welche Art Roveon sich wie ein Sehender orientieren konnte.

Aber das war jetzt vorbei. Und er wollte ganz bestimmt nicht warten, bis die Augen seiner Gegner in Reichweite gelangten. Er wollte sich nicht selbst zusehen, wie er vor den Feinden davonrannte, ohne auch nur den Schimmer einer Erfolgsaussicht zu besitzen.

Er verließ die Mauer, gab den Kontakt zu seinem einzigen Orientierungspunkt auf und eilte so schnell wie möglich über den Kasernenhof, den Speer vor sich haltend, die Spitze zum Boden geneigt, damit er ein Hindernis bemerken konnte, bevor er darüber stürzte.

Atemlos vor Anspannung tastete Roveon sich durch Dunkelheit und fluchte jedes Mal, wenn etwas ihm den Weg versperrte: Ausrüstungsgegenstände, Feuerstellen, einmal eine Kriegsmaschine. Er verlor bei jedem Hindernis wertvolle Zeit. Das Schreien hinter ihm schwoll zu Triumphgeheul an. Götter, lebte Thalis noch? Hatten sie ihn in die Hände bekommen?

Egal, was für ein Emporkömmling und Metzger der Tribun war – das hatte niemand verdient. Tja, schon ungünstig, alle Insignien seines Amtes an der Rüstung tragen zu müssen, den dunkelblauen Umhang des Befehlshabers, das Siegel des Kaisers. Wenn die Seeräuber den Kerl wirklich lebend hatten fangen können, hatte Thalis ein Problem, um es dezent zu umschreiben.

Roveon kämpfte sich weiter über den Kasernenhof und hätte vor ohnmächtiger Wut beinahe aufgeschrien, als der Speer ein neuerliches Hindernis berührte. Sein Mitleid mit Thalis war echt, hielt sich aber in Grenzen und reichte nicht aus, sich zu wünschen, neben dem Tribun auf ein Foltergestell geschnallt zu werden. Sie würden Thalis lange leben lassen, weil sie sich Antworten von ihm erhofften. Und irgendwann würde selbst der Hüne unter der Folter zerbrechen und alles ausplaudern. Nein, Roveon wollte dieses Schicksal nicht teilen. Er wusste, dass er Kraft aus seiner Magie schöpfen konnte, aber trotzdem war ihm klar, dass er nicht halb so lange wie Thalis durchhalten würde. Auf gar keinen Fall!

Er tastete sich mit dem Speer dichter an das Hindernis, suchte nach einem Weg um diese Blockade und brauchte entsetzlich lange, bis er endlich verstand, dass das kein Hindernis, sondern die ersehnte Kaserne war!

Tür! Die ganze Front der Kaserne war doch mit Türen gespickt. Er tastete sich hektisch die Außenmauer entlang, während hinter ihm Seeräuber damit beschäftigt sein mussten, einen feuerfreien Weg durch den Landstreifen zwischen den Wehren zu schaffen. Roveon wusste, wie lange und heiß seine Magie brannte, aber ihm war ebenso bekannt, dass sie gegen viel Wasser und nassen Sand nicht lange bestehen konnte. Und beides gab es am Strand im Überfluss. Die Zeit lief ihm davon. Kalter Schweiß rann unter der einfachen Lederrüstung an ihm hinab.

Die verdammten Soldaten, die nur an ihr eigenes Leben gedacht hatten! Sie hatten ihn im Stich gelassen. Dabei waren Thalis’ Befehle doch eindeutig gewesen, oder? Der Magier hatte die Obere Festung zu erreichen. Thalis hatte begriffen, wie wichtig Roveons Magie war, um die Angreifer in der Klippenstadt festzunageln und nicht ins schutzlose Hinterland zu lassen. Aber die Feiglinge waren gerannt und hatten Roveon sich selbst und den Seeräubern überlassen. Schweine! Dafür würde einer von ihnen ganz langsam verbrennen – als Mahnung für den Rest, dass es ganz und gar nicht weise war, sich den Zorn des Magiers zuzuziehen.

Er keuchte vor Erleichterung auf, als seine Fingerspitzen endlich eine Holztür berührten. Ganz kurz beschleunigte sein Herzschlag sich schmerzhaft: Was, wenn die Fliehenden diese Pforte hinter sich verriegelt hatten? Was, wenn er an einer verschlossenen Tür rüttelte, während hinter ihm Unmengen von Seeräubern die zweite Mauer überwanden?

Er zerrte an der Klinke und hätte beinahe aufgeschrien vor Wut und Entsetzen, aber dann rührte die Tür sich doch, und Roveon warf sich in den Raum dahinter, schlug die Pforte zu, lehnte sich für einen Moment gegen das Holz und überlegte fieberhaft, während er nach Atem rang und seinen wilden Herzschlag zu beruhigen versuchte.

Seine Verfolger waren ihm noch nicht so nahe gewesen, dass er sich Augenlicht hätte borgen können. Aber sie konnten ihn sehr wohl trotzdem gesehen haben. Diese Tür musste verschlossen bleiben, damit er trotz der Blindheit zumindest die Möglichkeit hatte, seinen Vorsprung zu halten.

Er ertastete das Schloss und ließ behutsam Hitze in seine Fingerspitzen wandern. Wenn er jetzt die Tür einäscherte, weil er vor Panik verging, hatte er nichts gewonnen. Die Feuergabe reagierte auf Furcht, indem sie sich massiv verstärkte, um ihren ängstlichen Träger effektiv zu beschützen. Dann fraß sie noch mehr Kraft, bis Roveon vor Erschöpfung erbrechen musste und nur noch auf Händen und Knien fliehen konnte.

Für Soldaten und den dämlichen Tribun sah es immer wie ein Kinderspiel aus, wenn Roveon mit Feuergarben um sich warf. Aber was keiner von denen verstand: Es war ebenso Schwerstarbeit, wie einen Gegner mit dem Schwert zu erschlagen. Oder schwerer, Roveon wusste es nicht.

Ganz behutsam ließ er die Magie fließen und zog die Hand zurück, als das Metall sich unter seinen Fingerspitzen verformte. Das hielt die Seeräuber hoffentlich auf.

Er fuhr hastig herum und tastete sich an der Wand entlang. Verdammt, er brauchte Augen! Eine Katze oder ein Hund würde genügen. Er war so einfach zu langsam! Im Gegensatz zu einem nicht magiebegabten Blinden hatte Roveon niemals lernen müssen, sich wirklich blind durch die Welt zu bewegen. Er borgte sich eines anderen Menschen Augenlicht und konnte dann erblicken, was dieser andere sah. Er hatte rasch gelernt, aus der fremden Sicht seine tatsächliche Position und Fortbewegung zu erschließen. Es war peinlich, in ein Möbelstück zu rennen, wenn er lässig durch einen Raum stolzierte – und alle sahen es.

Jeder wusste, dass er blind war, und jeder, dessen war er sich sicher, während er sich schwitzend und angestrengt die Wand entlang tastete, war beeindruckt, wie sicher er sich trotzdem bewegen konnte. Nur wenn er kein Publikum hatte, war er wirklich blind, und er hasste dieses dumme, unsichere Umhertappen, die Hilflosigkeit und jetzt in diesem Moment besonders die erzwungene Langsamkeit.

Er stieß sich das Schienbein an einer Truhe und fluchte hemmungslos – und erstarrte. Er hörte jemanden schreien – hinter der Tür, die er versiegelt hatte. Da hatte sich wohl ein Seeräuber die Hand am glühenden Metall verbrannt. Und gleich darauf vernahm er das Hämmern von Waffen auf Holz. Das Schloss war geschmolzen und bewegte sich nicht, aber die Holztür würde Äxten und Kriegshämmern nicht lange Widerstand leisten können. Und jeder von den Kerlen konnte sich nach der eindrucksvollen Demonstration von Feuermagie ausrechnen, dass der Magier das Schloss versiegelt hatte.

Roveon griff suchend um sich, fand Augenlicht und sah die Tür von außen, als eine Axt in das Holz krachte. Er keuchte erschrocken auf und zwang sich, von der Wand abzulassen, zumindest den Versuch zu machen, den Raum im Laufschritt zu durchqueren, wobei er mit dem Speer halbmondförmige Bewegungen vor sich ausführte, um Hindernisse rechtzeitig zu auszumachen. Bevor er über liegengelassenes Gerät stürzte und sich den Kopf anschlug.

Je weiter er sich von der splitternden Tür entfernte, desto leiser wurden die Geräusche, verloren aber nichts von ihrer Dringlichkeit, und als die Sicht erlosch, wusste Roveon zumindest, welche Entfernung genau zwischen ihm und seinen Verfolgern lag. Lächerlich wenig, wenn eine Horde Sehender einem Blinden folgte.

Er konnte ihnen nicht weglaufen. Er brauchte ein Versteck! Und wie sollte er blind einen Schlupfwinkel finden, in dem er nicht sofort entdeckt wurde?

Er hastete weiter, lauschte auf das Pochen des Speeres auf dem Boden, suchte einen Seitenweg aus dem Raum, eine Treppe, sodass er irgendwie in eine andere Etage, einen Keller gelangen konnte. Stattdessen rannte er gegen eine Wand, fluchte und versuchte, schneller zu werden, obwohl seine Beine bereits schmerzten. Er war Magier und kein Krieger, verdammt! Jeder Knecht konnte das länger durchhalten als er.

Endlich pochte der Speer nicht länger gegen die Wand. Da befand sich eine Lücke im Mauerwerk, und Roveon hetzte hinein, tastete um sich und fand heraus, dass er eine Wendeltreppe gefunden hatte. Er eilte die Stufen hinauf, lauschte auf Geräusche hinter sich, suchte beständig ein Augenlicht und war ein wenig erleichtert, keines zu finden. Das bedeutete immerhin, dass er noch einen Vorsprung besaß.

Schwer atmend kam er eine Etage höher an, erwog für einen Moment, noch weiter zu steigen, als der Geruch von Feuer, verbranntem Fleisch und Blut ihn traf. Er blieb wie angenagelt stehen. War er mitten in eine Folterkammer geraten? Waren die Angreifer vor ihm schon hier gewesen und hatten unter den Flüchtlingen gewütet?

Augenlicht flackerte auf, als Roveon nahe genug an einen Sehenden herangekommen war. Er sah sich, wie er schweißnass und keuchend im Eingang zum Treppenturm stand, den Speer nutzlos an der Seite, die milchig überzogenen Augen geweitet und starr – vor Angst, Roveon, sei doch ehrlich.

»Herr!« Eine Frauenstimme, hell und vor Furcht zittrig.

Roveon stieß sich betont lässig vom Türpfosten ab. Jetzt sah er, und er konnte sich vorwärts bewegen. Eine Etage tiefer johlten die Seeräuber, die es nun geschafft hatten, die Tür einzuschlagen.

Er hörte das entsetzte, tiefe Einatmen der Frau, und dann rannte sie auf ihn zu, warf sich an seine Brust und hielt sich an ihm fest. Sie bebte am ganzen Körper, aber Roveon wusste, dass sie keine Zeit für Mädchentränen und einen möglichen Nervenzusammenbruch hatten.

Hart gruben sich seine Finger in ihre Oberarme, als er sie packte, halb von sich stieß, sie immer noch festhielt und versucht war, sie herzhaft zu schütteln.

»Sie sind im Gebäude«, stieß das Mädchen hervor und starrte dabei auf Roveons Brust, wagte nicht, den Blick zu seinem Gesicht zu heben. Sie musste wissen, wer er war. Er war berühmt in dieser Stadt, und seine Augen waren unverkennbar.

»Richtig. Und wir sollten hier verschwinden. Komm.«

»Ist der Tribun gefallen? Er muss gefallen sein, sonst wären sie nicht hier«, jammerte die Magd, denn inzwischen hatte Roveon verstanden, dass er sich in einer Küche befinden musste. Und das Mädchen war eine einfache Dienerin, für Kriege nicht geschaffen und stand am Rande eines hysterischen Anfalls.

»Bete, dass er tot ist, Küchenschabe«, stieß Roveon hervor und schüttelte sie nun doch.

Sie sah zu ihm auf, und er konnte sich nur durch ihren Tränenschleier hinweg sehen. Verdammt, endlich Augenlicht, und es gehörte diesem heulenden Elend!

»Ich wollte mich verstecken, Herr.«

»Sehr gut! Wo?« Sein Geduldsfaden – nie sehr lang – stand kurz vor dem Zerreißpunkt.

»Hier.« Das Schütteln schien eine gewisse Wirkung auf sie gehabt zu haben – oder sie hatte Roveon vielleicht jetzt erst wirklich erkannt, was seiner Eigenliebe einen kleinen Stich versetzte. Auf jeden Fall schniefte sie leise und zog die Nase hoch, nahm ihn behutsam am Ärmel und zog ihn mit sich tiefer in die Schatten der Küche.

Jetzt ging sie vor, und er konnte ihr Augenlicht voll nutzen, die Spültische, Arbeitsplatten und riesigen Töpfe erkennen. Über ihnen hingen Kräuterbündel, die vom Wasserdampf und Bratendunst aufgeweicht waren und zum Teil sogar schimmelten. Ein halbes Schwein lag auf einem Arbeitsblock und schielte mit einem milchigen Auge auf die beiden Flüchtlinge. Das Fleisch weiß und ausgeblutet, und Roveon widerstand nur mühsam der Versuchung, das Mädchen anzutreiben, weil er nicht wollte, dass er so endete – halb durchgesägt, ausgeweidet und mausetot.

»Hier im Mistschacht wollte ich mich verstecken.« Sie wies auf den Abfallschacht. Mittels dessen wurden sämtliche in der Küche nicht mehr verwertbaren Reste durch einen in die Mauer eingearbeiteten Falltunnel entsorgt. Alles landete direkt auf dem angrenzenden Misthaufen – zusammen mit viel weiterem Dreck aus höher gelegenen Etagen, begriff Roveon. Dem Gestank nach zu urteilen, vermutete er, dass auch Aborte an diesen Schacht angrenzten. Sein Magen krampfte sich zusammen, und bitterer Gallegeschmack sammelte sich unter seiner Zunge.

Für einen entsetzlichen Augenblick glaubte er tatsächlich, dort niemals hineinklettern zu können. Sein Verstand verkündete ihm lauthals, dass er dann wie das Schwein enden würde. Sie würden ihn neben Thalis – falls dieser überlebt hatte – auf das Foltergestell schnallen. Und er wusste genau, dass er vor dem Tribun zerbrechen würde. Garantiert würde Thalis es selbst dann noch fertigbringen, ihn verächtlich anzusehen. Das dumme Tier, das Sturheit mit Tapferkeit verwechselte!

Roveon hielt die Luft an, kniete vor dem Schacht nieder, wobei er das Mädchen am Arm mit sich zu Boden zog, damit er durch ihre Augen sehen konnte.

»Wir werden direkt auf den Misthaufen stürzen«, sagte er, wobei der Gestank ihn in der Kehle kitzelte.

»Nein, Herr. Ich war schon einmal da drin, als es verstopft war. Es gibt einen Absatz, auf den wir uns stellen können. Niemand sieht uns da. Bitte, Herr, ich habe solche Angst!« Sie klammerte sich an ihm fest und starrte ihn wieder durch einen Tränenschleier an.

Ihm drohte die Folter, wenn die Angreifer ihn erwischten. Marter und irgendwann der Tod, sobald er ihnen alles erzählt hatte. Das Mädchen hier würde länger leben als er, nachdem sie in die Hände der Gegner gefallen war. Er hatte keine Ahnung, wie sie aussah, aber sie trug einen Rock, ihr Fleisch fühlte sich weich an unter seinem stählernen Griff. Sie würde für den Rest ihres Lebens eine Hure sein.

Er gab sich einen Ruck, nickte und stieg mit den Füßen zuerst in den widerwärtigen Schacht.

Das Mädchen schlang einen Arm um seinen Nacken, zog sich mit einem kraftvollen Ruck an ihn, und gemeinsam rutschten sie in stinkende Dunkelheit. Während schimmeliger Schleim ihre Abwärtsbewegung mit einem leisen, schmatzenden Geräusch begleitete, konnte Roveon hastige Schritte auf der Wendeltreppe hören. Rüstungen klirrten, Schilde schlugen gegen die Wände des Treppenturms. Seine Verfolger erreichten in dem Moment die Küche, in dem der Morast sich plötzlich in ein weiches, zähes Kissen verwandelte, in dem Magier und Küchenmagd bis zur Hüfte einsanken.

Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken, sah nach oben zum Einlass des Tunnels von der Küche. Weit über ihnen schimmerte Licht, reichte nicht bis zu ihnen in den stinkenden Dreck herein. Sie atmete schaudernd und ganz leise auf, bevor sie den Kopf an Roveons Brust drückte, sich an ihm festklammerte und sich so klein wie möglich machte, ohne vollends im Schleim zu versinken.

Aber es ging weiter abwärts, langsam, als wären sie in Treibsand oder Morast geraten. Die Vorstellung, durch den Dreck tauchen zu müssen, bis sie den Absatz erreichten, von dem das Mädchen gesprochen hatte, war wirklich fast zu viel für Roveons Eingeweide. Er roch, was ihn umgab, und er würgte trocken. Das Kopftuch der Magd rieb bei jedem ihrer Atemzüge gegen seine Kehle, und trotz des fauligen Gestanks des Abwassers nahm er den zarten Duft des Mädchens wahr. Er legte einen Arm um die Kleine, zog sie fest an sich, ließ den Kopf nach vorne sinken, auf das schmutzige Kopftuch, atmete flach und konzentrierte sich auf den Duft des warmen Körpers an seiner Brust.

Sie schloss die Augen. Viel sah er ohnehin nicht mehr, da sie sich schutzsuchend an ihn presste, aber jetzt versank seine Welt wieder in totaler Finsternis. Die Alternative war, nach einem anderen Augenlicht zu greifen, aber er wagte es nicht. Ohne sicher sagen zu können, warum, scheute er davor zurück, einen der Krieger in der Küche zu benutzen.

Vielleicht, dachte Roveon, während er das Mädchen festhielt, weil ich dann sehen würde, wie sie sich dem Versteck nähern?

Er roch Bratenfett, grobe Seife, einen Hauch von Blüten, als würde die Magd Duftkissen mit getrockneten Blumen zwischen die Lagen Wäsche in der Kleidertruhe legen. Sie war sein Augenlicht, das einzige Paar Augen in seiner Umgebung, das nicht einem feindlichen Krieger gehörte. Wenn sie jemals wieder aus diesem Dreck herauskommen würden, musste er das Mädchen bei sich behalten. Sie war eine Dienerin und gewohnt, Befehlen zu gehorchen. Mit ihr an seiner Seite konnte er tatsächlich die Obere Festung erreichen, wo die Leute des Tribuns nur auf ihre gerechte Strafe warteten. Sie hatten ihn im Stich gelassen.

Entsetzt bemerkte er, dass sich die Magie auf diese zornigen Gedanken hin wieder in seiner Magengrube sammelte. Alles, nur das nicht! Nicht während er bis zum Bauchnabel in stinkender Jauche und pestilenten Abgasen steckte! Er wusste, dass gärender Kot explodieren konnte, und das war nun wirklich eine Vorstellung, die ihn das Würgen kaum noch beherrschen ließ.

Über ihnen wurde die Küche durchsucht und geplündert. Roveon hörte Geschirr auf dem Boden zerspringen, das triumphierende Johlen der Kerle. Bestimmt schleppten sie alle erreichbaren Lebensmittel davon. Besser das Schwein als einen Magier, befand er. Er atmete konzentriert den Duft des Mädchens ein, hielt sich an der Kleinen fest und kämpfte mit reiner Willenskraft die Magie nieder. Er scheuchte sie aus seinen Eingeweiden und trieb sie an den dunklen Ort zurück, aus dem er sie jederzeit abrufen konnte. Aber nicht hier und nicht jetzt, nicht während er in faulenden menschlichen Ausscheidungen steckte!

Er fühlte, dass das Mädchen zitterte und sich – ganz ohne sein Zutun – dichter an ihn drängte und an ihm festhielt. Ihr Körper war warm, fest. Ihr Busen drückte weich gegen seine Brust, und nur der Lederpanzer befand sich zwischen ihnen. Roveon streichelte beruhigend die Schulter der Magd, und das Beben nahm sofort ab. Erstaunlich, fand er, normalerweise wirkte er eher als die Ursache für zitternde Furcht denn als Beruhigung. Aber die Magd und er standen auf der gleichen Seite. Ein Zweckbündnis für den Augenblick, aber vielleicht ergab sich später die Möglichkeit, die Kleine in einem ungestörten Moment zu nehmen. Roveon war einem erfrischenden Zeitvertreib noch nie abgeneigt gewesen. Zu gerne bewies er einem furchtsamen Mädchen, dass er durchaus zärtlich sein konnte – wenngleich er sich am nächsten Morgen selten des Namens entsinnen konnte.

Der Lärm über ihnen ebbte langsam ab, und Roveon verstand, warum er in einer solchen Lage an weiche Haut unter seinen tastenden Fingerkuppen gedacht hatte: Alles war besser, als vor Angst vor den Gegnern zu vergehen und gleichzeitig ein vollkommenes Versinken in Scheiße zu fürchten.

Das Mädchen hob ganz langsam wieder den Kopf, hielt sich aber immer noch an Roveon fest und öffnete vorsichtig die Augen. Die Sicht kehrte auch für Roveon zurück. Verdammt, sie steckten tiefer in dem stinkenden Schleim, als er gedacht hatte. Während sie sich aneinander festgehalten und Entdeckung befürchtet hatten, waren sie weiter eingesunken.

 

Die Klippen ragten weit auf. An ihrem Fuß lag der Strand, wo die Verteidigungsmauern und das Kasernengebäude sich befanden. In das graue Gestein war in Stufen das Fundament der Stadt geschlagen worden. Auf dem Gipfel der Klippe begann das Weideland. Eine zweite Festung schützte das Hinterland für den Fall, dass die Stadt tatsächlich nicht gehalten werden konnte. Dorthin strömten die überlebenden Soldaten, humpelten jene aus dem Lazarett, die noch in der Lage waren, sich irgendwie alleine fortzubewegen.

Viele Verletzte hatten sich an den Aufstieg gemacht und aufgeben müssen. Sie lagen als mitleiderregende dunkle Flecken auf Treppen und Straßen. Die wenigsten von ihnen würden die erste Nacht nach dem Fall der Verteidigungsanlagen überleben.

Immer noch hetzten Flüchtlinge durch die Stadt, schleppten ihr Hab und Gut, trieben Tiere und Sklaven vor sich her. Sie alle wollten raus aus der Stadt, die nach dem Fall des Tribuns schutzlos den Angreifern preisgegeben war.

Amares stand auf der Dachterrasse des alten Palastes und starrte auf das Meer, die feindliche Flotte, die brennenden Verteidigungsanlagen.

Der Tribun der Klippenstadt hatte bis zuletzt auf den Wehranlagen gekämpft. Amares hatte rasch den Überblick verloren, wie viele Gegner er in die Unterwelt geschickt hatte. Gebannt starrte sie zu der Mauer, die Thalis zu halten versuchte. Am Ende alleine gegen eine wahre Flut von Gegnern. Amares betete verzweifelt, dass die Heilige ihm zur Hilfe eilen würde, und als er von der Übermacht zu Boden gerungen und erschlagen wurde, brachte Amares keinen Laut heraus, umklammerte mit weißen Fingerknöcheln die Balkonbrüstung und wusste, dass die Stadt verloren und die Geschichten über die Heilige Lügen waren. Thalis war gefallen. Der Gedanke schnürte ihr die Brust zusammen.

Sie sah das magische Feuer aufflammen, die Flucht der Bogenschützen – und wie die Angreifer sich durch die Flammen kämpften, die innere Verteidigungsanlage überwanden und wie Ratten aus einem überschwemmten Keller in die Stadt strömten.

Amares stieß sich von dem Balkongeländer ab. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Deswegen war sie nicht geflohen, und jetzt war sie mehr als erleichtert, Thalis’ Drängen nur zum Schein nachgegeben zu haben. Ihn hatte es beruhigt, hoffte sie, dass er sie in Sicherheit geglaubt hatte. Aber es gab noch viele Männer in der Stadt, deren Tod sie verhindern konnte.

Sie drehte sich resolut um und marschierte zurück in den großen Saal. Viel hatte sich hier getan. Thalis hatte, bevor er die Priesterin in den Seitengang geführt und geküsst hatte, mit dem Medikus gesprochen. Alle gehfähigen Verletzten waren zur Oberen Festung geschickt worden. Wie viele von ihnen wirklich heil dort angekommen waren, wusste Amares nicht. Stadtbewohner waren erschienen und hatten ihre Verwandten weggeschafft. Aber immer noch lag hier fast ein Dutzend Schwerverletzter, die nur noch auf das Ende warteten. Die meisten waren weder bei Bewusstsein noch ansprechbar. Einige fieberten und verstanden deshalb nicht, was um sie herum vorging. Ein Mann jedoch war klar bei Verstand und sah mit verständnisvollem Blick um sich, während rund um ihn herum hektische Betriebsamkeit eingesetzt hatte.

Zu diesem Verwundeten ging Amares nun, bot ihm Wasser an, ordnete liebevoll seine Decken und bemerkte erst nach etlichen Augenblicken, dass er sie mit einem müden Lächeln bedachte.

Sie lächelte zurück und streichelte eine bartstoppelige Wange. Wie Thalis’. Das Atmen wurde ihr schwer.

»Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Aber sieh zu, dass du hier wegkommst.«

Sie schüttelte den Kopf. Diese Männer waren im Augenblick alles, was sie noch hatte. Ihre Heilige war ihr nichts mehr wert, nachdem Thalis gefallen war. Bis zuletzt hatte Amares gehofft, dass ein Wunder geschehen würde, dass die Heilige Stadt und Tribun nicht einfach im Stich ließ.

Aber was diesen Männern hier bevorstand, wusste sie genau. Wenn die Angreifer Gefangene machen wollten, dann bestimmt keine, mit denen sie nur Arbeit hätten, auf deren Ende sie warten könnten. Diese zwölf Männer, die niemand abgeholt hatte, die nicht mehr selbst gehen konnten, waren nun Amares’ Schutzbefohlene.

Den Tribun hatte sie nicht retten können, aber diesen zwölf würde sie ein Ende in Würde ermöglichen, schwor die Priesterin sich.

»Mir droht keine Gefahr«, sagte sie und glaubte es in diesem Augenblick auch. Priester wurden seit jeher mit Respekt behandelt. Niemand konnte wissen, wie die Gottheiten und Heiligen auf einen Mord an einem ihrer Diener antworteten. Amares war sicher, dass ihr nichts geschehen würde. Aber sie war froh, dass die meisten Frauen die Stadt verlassen hatten. Siegreiche Armeen hatten ihre ganz eigene Art, einen Erfolg zu feiern, und Massenvergewaltigungen gehörten scheinbar unabdingbar dazu.

Sie stand langsam auf, als sie hastige Schritte vernahm. Die Tür zum Saal wurde aufgestoßen, und ein Trupp der Feinde stürzte in das Lazarett. Die Männer sahen wild um sich. Aber wenn sie hier Beute erhofft hatten, fanden sie nichts. Nur zwölf Sterbende, eine Priesterin, ein Diener und der Medikus warteten auf sie.

Amares straffte die Schultern, hielt den Kopf hoch und trat zwei Schritte vor. »Dies ist das Lazarett. Ihr findet hier keine kampffähigen Gegner mehr. Wir ergeben uns und bitten um Ruhe und Nachsicht für die Verwundeten.«

Sie fürchtete ein Massaker an den Verwundeten, an ihr selbst, am Medikus und dessen Diener. Sie hoffte auf ihre Unantastbarkeit als Priesterin, aber als die Horde der Gegner im Saal erschien, wurde ihr schlagartig klar, dass das eine dumme Hoffnung war. Wenn sie selbst nicht mehr an die Heilige glauben konnte, wie sollten andere sie da ernst nehmen? Sie besaß keinen Beschützer mehr außer dem Medikus und dem Diener, wurde ihr klar, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu.

Aber die Feinde blieben stehen, sahen sich im Saal um, und einer trat vor.

Beinahe so hochgewachsen wie Thalis, von Kopf bis Fuß blutbeschmiert, das blanke Schwert in der Faust. Er sah auf sie herab, und Amares musste alle Kraft aufbieten, um nicht auf der Stelle ohnmächtig niederzusinken oder weinend und schreiend zu flüchten. Die Verwundeten standen unter ihrem Schutz. Und egal wo die Heilige sich verkrochen hatte, ihre Priesterin stand her und kämpfte für die Sterbenden.

Der eiskalte Klumpen in ihrem Bauch verwandelte sich in eine Glutkugel. Sie trat ebenfalls einen Schritt vor, atmete flach, aber lautlos.

»Ich brauche diesen Saal für die Unterbringung meiner Krieger. Die Verwundeten müssen verlegt werden.«

Jetzt dachte sie wirklich, dass sie ohnmächtig werden würde – vor reiner Erleichterung. Eine Verlegung bedeutete zumindest keinen sofortigen Massenmord. Sie war sich bewusst, dass der Fremde sie von Kopf bis Fuß musterte, hielt den Kopf hoch und erwiderte diese genaue Betrachtung kalt.

Er lachte. »Du bist die Hohepriesterin der Heiligen Zavea? Du hast nichts von uns zu befürchten. Aber mein Kommandant wird dich sprechen wollen. Er wird dir einen Boten schicken, wenn er die Zeit für gekommen hält. Noch haben wir mit vereinzeltem Widerstand zu tun. Bist du hier zu finden?«

»Bei den Verwundeten oder im Tempel meiner Heiligen«, gab Amares mit erzwungener Ruhe Antwort. Ihr Herz raste, und sie konnte nur mit äußerster Anstrengung ihre Hände davon abhalten, sich nervös ineinander zu schlingen. Sie kämpfte um den Anschein von Gelassenheit und Würde.

»Sehr gut.« Er gab einen knappen Wink, und vier Krieger traten vor. »Meine Männer werden helfen, die Verwundeten in andere Räume zu verlegen. Ich sehe, dass dieser Saal so gut wie leer ist. Die Gehfähigen sind geflohen oder als letztes Aufgebot in die Schlacht geworfen worden. Bedauerlich.«

»Bedauerlich, dass wir unsere Stadt verteidigten?«, gab Amares zurück und ärgerte sich, dass der Zorn aus ihrer Stimme klang.

»Bedauerlich, dass Menschenleben in einem aussichtslosen Kampf verschwendet wurden.« Er senkte den Blick und schob endlich das Schwert in das Gehenk, bevor er Amares wieder voll ansah. »Weißt du, wo der Magier ist?«

»Magier?«, echote sie.

»Der Magier des Kaisers. Roveon von Kerrims Hald. Wir wissen, dass er in der Stadt ist. Götter, ich selbst habe ihn auf der Wehrmauer stehen sehen. Tribun Thalis war sehr geschickt, den Magier auf der zweiten Mauer zu positionieren. Aber du und ich wissen, dass Thalis ein Meister darin war, die Stadt zu verteidigen.«

»Thalis ist im Kampf gefallen. Ich erlaube dir nicht, schlecht über ihn zu sprechen!«

»Habe ich schlecht über ihn gesprochen? Du irrst dich, Priesterin. Ich kann auch bei einem Gegner Leistung und Fähigkeit anerkennen.« Er wandte sich grußlos zum Gehen, und der Großteil seiner Männer folgte ihm. In der Tür blieb er noch einmal stehen. »Und du irrst dich in noch einer Sache, Priesterin: Der Tribun ist nicht tot – noch nicht.«

Damit verließ er den Saal, und Amares stand wie vom Donner gerührt da und starrte ihm nach. Alleine die Anwesenheit der vier fremden Krieger bewirkte, dass sie immer noch um ihre Haltung kämpfte, immer noch aufrecht stand und sich nicht zitternd an die Seite des Medikus flüchtete.

Oh, Heilige Zavea, wenn du mich hören kannst, falls du wirklich noch immer über diese Stadt und ihre Einwohner wachst – dann wache über Thalis. Er ist der Sohn dieser Stadt, der deine Hilfe und deinen Schutz am nötigsten hat. Und er ist es wert. Bitte, Zavea!

 

Es gab noch jemanden, der der Meinung war, dass er Hilfe gebrauchen könnte. Aber Roveon glaubte nicht an die Heilige. Er war sich nicht einmal sicher, ob er an die Götter glaubte. In erster Linie vertraute er sich selbst und vor allem seiner Magie – die in seiner jetzigen Lage eine ernsthafte Gefahr für ihn bedeutete.

Wie immer, wenn er sich bedroht fühlte, bereitete sich sein Körper auf Kampf vor. Das hatte er bei Thalis und dessen Kriegern ebenso beobachtet. Denen brach der Schweiß aus, Puls und Atmung beschleunigten sich. Ihre Sicht veränderte sich, konzentrierte sich stärker, als trügen sie Scheuklappen.

Roveon ließ den Kopf nach vorne sinken, fühlte unter seinen Fingern das weiche Fleisch der kleinen Küchenschabe, hielt sich an ihr fest, atmete ihren sauberen Duft ein, den leichten Schimmer von frischem Angstschweiß. Aus der Nähe dieses Mädchens konnte er Kraft gewinnen, sich an der Anwesenheit des Mädchens festklammern, um die Feuergabe niederzukämpfen und unter Kontrolle zu halten.

»Ich glaube, sie sind weg«, flüsterte die Magd. Ihr Atem strich Roveon über den Hals, ihre Hände lagen auf seinem Rücken, weich, warm. Der Gestank des Abwassers erstickte ihn beinahe – und wenn sie hier nicht bald herauskamen, würde der Dreck sie höchstpersönlich begraben.

»Sieh nach oben und sei leise«, befahl er.

Sie gehorchte prompt, und wenigstens das war eine Erleichterung. Aber Roveon hatte eigentlich auch nichts anderes erwartet.

Etwas bewegte sich unter ihm, kroch langsam an seinem Bein nach oben, und er spürte erneut Brechreiz in seiner Kehle prickeln. Ratten? Konnten Ratten durch diesen Brei schwimmen und gleich in Horden neben ihm auftauchen? Würden sie nicht eher um sich beißen, wenn sie unter Wasser – wobei diese Bezeichnung dem ekelhaften Schleim schmeichelte – waren?

»Ich fühle etwas unter meinen Füßen«, wisperte sie. Ihre Stimme klang heller als bei ihrer letzten Äußerung. Wenn sie jetzt zu kreischen begann, würden die feindlichen Krieger sie hören.

»Sei leise!«, zischte Roveon unfreundlich. Aber, verdammt, es bewegte sich wirklich unter ihnen. Etwas stieg aus dem stinkenden Schleim auf. »Sieh zur Seite. Was ist das?«

Die Augen traten ihm beinahe aus den Höhlen, als das Mädchen den Kopf drehte und auf die widerlich glänzende Oberfläche des Breis blickte. Da stieg eine Blase auf. Sie füllte fast den ganzen Abfallschacht, hob sich höher und höher, hob auch Roveon und das Mädchen in seinen Armen an.

»Halt mich fest, Herr«, flüsterte sie und nahm die Hände von seinem Rücken, streckte die Arme aus, und natürlich wandte sie den Blick von der aufsteigenden Blase, sah auf die gemauerten Wände des Schachtes und tastete nach einem Vorsprung, nach einer Kante, an der sie sich festhalten konnte.

Roveon sank tiefer in den Schleim ein, während das Mädchen sich nach oben reckte. Er umfasste die Mitte der Magd fester, suchte mit den Füßen nach einem Halt, um die Küchenschabe notfalls anheben zu können, damit sie einen Vorsprung erreichen konnte.

Er trat ins Leere – ob in Schleim oder aufsteigendes Gas wusste er nicht, aber es war lange her, dass er sich so hilflos und ausgeliefert gefühlt, dass er sich überhaupt jemals in einer so widerwärtigen und aussichtslosen Lage befunden hatte.

Wenn diese Blase platzte … Danke, jetzt würgte er wirklich, und er wusste nicht, ob er den Zwang zum Erbrechen noch kontrollieren konnte – nicht dass es ihre Umgebung verschlechtert hätte.

Er kniff die Augen fest zu, drückte die Stirn gegen den Busen des Mädchens, denn inzwischen sank Roveon schneller tiefer.

»Ich habe einen Halt!«, drang die kaum hörbare Stimme des Mädchens zu ihm, und er konnte durch ihre Augen sehen, obwohl seine fest geschlossen waren, dass sie wirklich eine gemauerte Kante in festem Griff hatte.

In diesem Moment platzte die Blase.

Eine stinkende Gaswolke hüllte das ungleiche Paar ein, zerzauste Roveons lange Haare, stieg auf und aus dem Schacht in die Küche. Im gleichen Augenblick fiel der Schleim in die Tiefe, zog an Roveon, der sich an der vollkommen verdreckten Küchenschabe festhielt, die einen Vorsprung in der gemauerten Wand umklammert hielt.

Ganz leise stieß das Mädchen einen halb erstickten Schrei des Ekels aus, aber sie ließ die Kante nicht los, und so hingen ein Magier und eine Magd in einem leeren, stinkenden Schacht, bis Roveon endlich in der Lage war, die Feuergabe in festem Griff niederzudrücken. Er konnte nicht atmen. Alleine der Gedanke, dass alles mit stinkendem Gas gefüllt war, dass Wände, Mädchen und er selbst mit stinkender Jauche über und über bedeckt waren, erschwerte sein Denken und Handeln.

Seine Kleidung klebte schwer und stinkend an ihm, aber er konnte sich ein wenig bewegen. Nach etlichen Augenblicken, in denen er und die Küchenschabe frei über dem stinkenden Abgrund baumelten, fand Roveon endlich eine weitere Kante in der Wand, auf der er sich mit Zehenspitzen abstützen konnte.

Er lockerte vorsichtig seinen stählernen Griff um die Mitte des Mädchens, das sich höher ziehen konnte. Er fühlte Schleim und Dreck auf seiner Wange, die er fest an den flachen Bauch der Magd gedrückt gehalten hatte. Er würgte, aber sein Magen gab nichts frei, und so hustete Roveon nur, würgte noch einmal und bekam den Brechreiz wider Erwarten unter Kontrolle.

»Wollen wir nach oben steigen, Herr? Unter uns ist der Misthaufen auf dem Hof. Vielleicht sind da die anderen Krieger?«

»Hoch«, befahl er knapp. Er wusste nicht, wie er das schaffen sollte.

»Kannst du höher kommen, Herr?«

»Ich bin blind, Mädchen. Ich kann nur sehen, was du siehst.« Jetzt kam er sich wie Abfall vor. Noch nie hatte er einem Menschen so offen gesagt, wie es um ihn stand. Vor allem hatte er niemals zuvor offenbart, was seine Gabe ihm ermöglichte. Die Blindheit war offensichtlich. Aber die Gabe hatte er immer geheim gehalten, weil er sich darin gesonnt hatte, wie er die Leute verblüffen konnte. Weil es ihm einen Vorteil verschaffte, mit dem niemand rechnete.

»Ich verstehe. Ich helfe dir, Herr.«

Und, Götter, sie verstand tatsächlich! Langsam glitt ihr Blick über die Wand, suchte nach Vorsprüngen, die Roveon erreichen konnte. Ihre Sicht verharrte auf einer Kante, die sich direkt neben ihm befand.

Roveon streckte die Hand aus, packte den kleinen Vorsprung und konnte das Mädchen freigeben. Jetzt stand er an der schmierigen Wand und konnte durchatmen, seine zitternden Beine für einen Moment entlasten. Die Magd suchte den nächsten Halt für ihn. Ganz offensichtlich hatte sie verstanden, wie sie dies tun musste.

Ihre Ruhe wirkte widernatürlich, fand Roveon, der die hektischen Blicke der meisten Menschen gewohnt war. Niemand nahm sich Zeit, etwas wirklich anzusehen. Meistens flog der Blick nur so dahin, Einzelheiten wurden selten wahrgenommen, noch seltener länger angesehen. Aber das Mädchen war anders.

Vielleicht da sie nun um seine Besonderheit wusste. Womöglich war sie auch nur anders, weil sie ein simples Mädchen war, das niemals etwas anderes als Arbeit und Gehorsam kennengelernt hatte. Was auch immer der Grund war, Roveon konnte sich glücklich schätzen, dass die Magd an seiner Seite war. Das Verständnis der Kleinen erleichterte alles.

Sie suchte ihm den Weg nach oben. Wenn sie einen sicheren Halt für ihn fand, starrte sie diesen so lange konzentriert an, bis Roveon ihrer Richtungsanweisung folgte.

Es ging nur langsam aufwärts, und als Roveon und die Magd endlich die Küche erreichten, waren beide außer Atem, nass geschwitzt und vollkommen erschöpft.

Sie zogen eine stinkende Spur hinter sich her. Der Boden verwandelte sich in eine spiegelglatte Fläche, und Roveon griff ins Leere, als das Mädchen ausglitt. Sie landete auf dem Hintern, und ihr leises Keuchen bewies, dass die Landung schmerzhaft gewesen war.

Er sank keuchend neben ihr nieder. »Wir müssen hier weg.«

»Wir hinterlassen eine Spur, Herr. Und wir stinken zum Himmel.«

»Am Gestank können wir wenig ändern. Wir haben keine Zeit für ein Bad, Mädchen.«

Sie nickte. Eine schauderhafte Bewegung, hatte Roveon seit jeher gefunden. Warum konnten Menschen nicht einfach Ja oder Nein sagen? Warum mussten sie mit dem Kopf wackeln? Er wurde seekrank, weil er die Sicht mit der Magd teilte.

Einmal hatte er das Augenlicht eines Mannes geliehen, der von einer Mauer ins Feuer gestürzt war. Die rasante Bewegung, die nicht zu seiner eigenen Bewegungslosigkeit gepasst hatte, hatte Roveon beinahe in die Knie gezwungen.

»Ich hole Tücher. Dann können wir das Schlimmste abwischen, Herr.«

»Gut.« Er blieb in seiner Jauchepfütze sitzen. Seine Beine schmerzten, er zitterte vor Anstrengung und auch Kälte. Er konnte nicht mehr, und jeder Augenblick, den er zum Atemschöpfen verwenden konnte, war ihm willkommen.

Sie konnten nicht hier bleiben. Zumindest nicht lange. Der Feind wütete in der Stadt. Die Wehranlagen waren gefallen, und bis auf eine kleine Wachmannschaft an Bord der Flotte würden die Angreifer alle Krieger in die Klippenstadt schaffen. Die Männer mussten gefüttert werden, und die Kasernenküchen waren groß und gut bestückt. Natürlich würden sie hierher kommen. Das halbe Schwein, das sie erbeutet hatten, reichte lange nicht.

Wohin? Wohin sollte die Küchenschabe ihn führen? Es wäre dumm, auf eine sofortige Flucht zur Oberen Festung zu hoffen. Sie würden niemals dort ankommen, denn dort sammelten sich nun auch die feindlichen Truppen, um das letzte Hindernis auf dem Weg ins Hinterland in Trümmer zu legen.

Thalis’ letzter Befehl war von dessen eigenen Männern missachtet worden, sonst wäre Roveon nicht von Kopf bis Fuß in Scheiße gehüllt. Die Krieger hatten versagt – nicht Roveon von Kerrims Hald!

Aber das war jetzt egal, denn nun musste er sich etwas einfallen lassen, damit er in Sicherheit kam, bevor seine Feinde ihn fanden. Und alles, was ihm zur Unterstützung verblieb, war eine diensteifrige Küchenschabe, deren Haut sich allzu samtig anfühlte, deren Haare ihn gekitzelt hatten.

Ein guter Feldherr wie Thalis würde auch aus dieser Lage das Beste machen. Aber Roveon wusste, dass er kein Feldherr war – nicht einmal ein schlechter. Er war bis zu dem Moment seiner Flucht von den Verteidigungsanlagen hinab von Dienern und Beschützern umringt gewesen. Wegen seiner Gabe, die für den Krieg wichtig und nützlich gewesen war.

Jetzt musste er sich etwas ausdenken und sich wie ein Soldat verhalten. Denn das konnte die Magd nicht. Sie mochte praktisch veranlagt sein, gehorsam und eifrig, aber wie sie aus diesem Schlamassel herauskommen sollten, wusste eine einfache Dienerin keinesfalls. Roveon hatte ebenfalls keine Ahnung, durfte sich von dieser Erkenntnis aber nicht einschüchtern lassen. Ihm musste etwas einfallen!

Das Mädchen kehrte zurück, reichte ihm ein grobes Tuch, mit dem er hastig seine Hände abwischte.

»Einen Moment, Herr.« Sie sah ihn direkt an, und jetzt krampften seine Innereien sich schmerzhaft zusammen, weil Dinge auf seiner Haut klebten, die mitunter schwach zuckten. Aber das Mädchen war schneller und wischte ihm den schlimmsten Dreck aus dem Gesicht und mit geübter Bewegung auch aus den Haaren.

Unter all dem Schmutz roch er sie. Sie kniete vor ihm auf dem Boden, und er wusste genau, dass ihr Busen sich direkt vor seinem Gesicht befand – und er konnte nichts sehen!

Sie stand auf, und er hörte und sah auch zum Teil, was sie tat. Sie zerrte die Bänder der Kittelschürze auf und ließ das kottriefende Kleidungsstück zu Boden fallen, schlüpfte aus ihrem Überrock und reichte Roveon die Hand, damit er leichter aufstehen konnte. Eilig rannte sie um ihn herum und wischte Schleim und Dreck von seiner Lederrüstung. Sie war flink, und er hatte durchaus den Eindruck, dass ihr so schnell nichts entging.

Vielleicht war er mit ihr an der Seite wirklich besser daran als mit einem Krieger oder Diener. Ein erstaunlicher Gedanke, aber er gefiel Roveon.

»Wohin können wir jetzt gehen, Herr? Können wir hier bleiben?«

»Ganz bestimmt nicht. Dies ist eine der Speisekammern der Stadt, Mädchen, und die Feinde werden sie plündern. Zur Oberen Festung können wir auch nicht.« Er zerbrach sich den Kopf, wo sie zumindest für einige Stunden sicher waren. »Wir müssen uns für einige Tage verstecken können«, sagte er leise.

»Ich bin sicher, dass dir etwas einfällt, Herr. Ich packe schnell Proviant ein.«

Roveon nickte. Er dachte fieberhaft nach. Die Stadt war groß, in den Felsen der Klippe geschlagen. Es gab Wohnhäuser, den ehemaligen Palast, Kasernen, Tempel, Wirtschaftsgebäude. Aber wo konnten sie sich ungefährdet verbergen?

Das Mädchen kam zu ihm zurück. Sie sah ihm wieder genau ins Gesicht, starrte in seine Augen. Roveon kannte das. Neugierde, Gaffen. Er hatte gelernt, damit zu leben. Normalerweise wurden starrende Menschen nicht so leicht enttarnt, sagte er sich. Aber da er das Augenlicht der Magd benutzte, wusste er natürlich genau, wohin sie sah. War ihr das auch klar?

»Ist dir ein Versteck eingefallen, Herr?«

»Noch nicht«, sagte Roveon so würdevoll wie möglich.

»Vielleicht«, meinte sie ein wenig schüchtern, »vielleicht wären die Beinkeller eine Möglichkeit? Die Grüfte auf den Friedhöfen plündern die Fremden vielleicht, dachte ich mir, weil viele Leute Schmuck in den Sarg gelegt bekommen. Wäre ich ein Dieb, würde ich das tun«, setzte sie hastig hinzu.

Roveon sah sein eigenes Gesicht, wie die dunklen Augenbrauen sich zusammenzogen, eine Falte sich zwischen ihnen bildete. Er sah ärgerlich aus, und natürlich hatte das eine Wirkung auf das Mädchen.

»Beinkeller?« Er kannte die Stadt nicht, lebte erst seit wenigen Wochen in ihr, nachdem der Kaiser ihn zu Thalis’ Unterstützung gesandt hatte.

»Wenn die Körper in den Grüften zerfallen sind, schafft man die Knochen in die Beinkeller.«

»Ein Ossarium?«

»Herr?«, fragte sie bestürzt.

»Unterirdische Aufbewahrungsorte für Knochen?«

»Ja, Herr. Keller für die Gebeine, Herr.«

»Und wo finden wir diese? Wir können schlecht bei Tageslicht über die Straßen rennen. Und auch und besonders nachts werden Wachen patrouillieren.«

»An die Kasernen grenzen die Soldatengrüfte an. Dort gibt es einen Eingang. Die Beinkeller sind unter der ganzen Stadt, Herr.«

Roveon wünschte sich verzweifelt, dass er nicht ganz so dämlich aussehen würde, wenn er fassungslos war. »Unter der ganzen Stadt?«

Er war in der Kaiserstadt aufgewachsen. Dort gab es große Vorratskeller, die mit hallenden Kronsälen zu vergleichen waren. Er wusste, dass die Kaiserstadt über ein weit verzweigtes Abwassernetz verfügte, das den Unrat der Badehäuser und öffentlichen Bedürfnisanstalten aus der Stadt schaffte. Die Klippenstadt besaß weder das eine noch das andere. Da sie in die steil aufragenden Felsen geschlagen worden war, warteten ihre Bewohner nur auf den nächsten Regenschauer, der die Straßen reinwusch und das Abwasser ins Meer beförderte. Diese Verhältnisse mochten den Bewohnern, die es nicht anders gewohnt waren, praktisch erscheinen. Roveon fand es primitiv. Wer die Klippenstadt als Juwel bezeichnete, hatte ganz offensichtlich noch niemals den Sommer in ihr verbracht. Wenn die Stadt denn jemals einen Sommer erlebte. Es gab nur Schnee, Regen oder Graupel in den Klippen.

Eine Flucht in Vorratskeller wäre unmöglich gewesen, denn dort plünderten die Eindringlinge als Erstes. Und eine Flucht in Abwasserkanäle mochte Roveon sich nach dem Aufenthalt im Abfallschacht nicht einmal vorstellen. Dort gab es garantiert Ratten. Doch ein Ossarium als Versteck zu nutzen, schien ihm eine gute Möglichkeit. Hätte er um die Existenz dieser Beinkeller gewusst, wäre er selbstverständlich von alleine auf diese Idee gekommen, sagte er sich. »Gut, du übernimmst die Führung. Ich sehe durch deine Augen, und falls wir auf Gegner stoßen, kannst du sie getrost mir überlassen.«

»Ja, Herr«, antwortete sie prompt, und er hörte das Lächeln in ihrer Stimme.

Natürlich, der Große Roveon von Kerrims Hald. Sein Ruf hatte sich in der bedrohten Stadt herumgesprochen, und selbst eine Küchenschabe wie dieses Mädchen wusste, wie mächtig der Feuermagier war. Dieser Umstand versöhnte Roveon ein wenig, und er folgte dem Mädchen dichtauf.

Sie bewegte sich rasch und sehr leise. Selbst das Tappen ihrer bloßen Füße war kaum zu hören. Er widerstand dem Drang, die Hand auszustrecken, um nicht den Anschluss zu verlieren.

Erleichtert stellte er nach Durchquerung der Küche fest, dass das Mädchen sich nicht alle paar Schritte nach ihm umsah. Sie lauschte offenkundig ebenso angespannt wie er auf jegliches Geräusch, denn sie blieb immer wieder stehen, damit er zu ihr aufschließen konnte. Ihr Blick wanderte nicht hektisch durch die Gegend, selbst wenn ein fremdartiges Geräusch sie erschreckte. Beinahe besonnen sah sie dann in die Richtung, die sie als Quelle des ungewohnten Lauts ausgemacht hatte.

Kein einziger seiner Diener oder Beschützer hatte sich jemals so sehr angestrengt, ihm die beste Sicht zu ermöglichen und ihn nicht durch wildes und sinnloses Zappeln zu nerven.

Sie erreichten unangefochten eine Wendeltreppe – nicht die gleiche, die Roveon auf seiner blinden Flucht benutzt hatte. Hier blieb das Mädchen stehen, lauschte angespannt, bevor sie leichtfüßig die Treppe hinab eilte. Roveon folgte ihr hastig und nicht halb so leise.

Sein Herz klopfte weit oben in seiner Kehle. Frischer Schweiß lief ihm langsam zwischen den Schulterblättern die Wirbelsäule hinab. Er fühlte, wie die Hitze der Feuergabe sich in seiner Magengrube sammelte, gerufen durch seine Anspannung, seine Furcht vor Entdeckung.

War es wirklich Angst? Oder bereitete er sich nur vollkommen normal auf einen möglichen Zusammenstoß vor? Er konnte es selbst nicht sagen, aber er fühlte sich unbehaglich dabei.

3.

Ernte der Eroberung

 

Mit dem Dienst im Tempel kehrte ein wenig Ruhe in Amares’ aufgewühltes Inneres. Sie sprach die vorgeschriebenen Anrufungen, verbrannte Harze im Kohlebecken und betrachtete die winzige Schar Gläubiger, die sich am Tag der verlorenen Schlacht bei ihr eingefunden hatte. Und sie behielt ein scharfes Auge auf die Soldaten der Eindringlinge, die im Hintergrund Position bezogen hatten.

Wenigstens störten sie die Feier für die Heilige nicht. Sie warteten sogar ab, bis der letzte Gläubige den Tempel verlassen hatte, bevor sie sich Amares näherten. Das war mehr, als sie erwartet hatte, aber trotzdem fühlte sie einen Klumpen Angst in ihrem Magen und musste darum kämpfen, nicht einfach wegzulaufen, als sie die Krieger auf sich zukommen sah.

Hinter ihr ragte die Statue der Heiligen auf, reich mit Blumen und hauchzarten Stoffüberwürfen geschmückt. Das war Amares’ Rückhalt, und sie fand sich selbst lächerlich, dass sie von einem Augenblick zum anderen an ihre Heilige glaubte und sich dann wieder von ihr abwandte. Aber dies war der Tempel der Jungfrau Zavea. Wenn Amares hier nicht an sie glauben konnte, dann verlor sie ihren letzten Halt, ihre letzte Gewissheit.

Sie blieb stehen und blickte den Kriegern entgegen, bemühte sich um den Ausdruck von Gelassenheit und hoffte, dass die Männer ihr die Angst nicht ansahen. Was auch immer sie war, sie war in erster Linie eine Frau, und die Gerüchte über Vergewaltigungen und eilig errichtete Bordelle mit zwangsweise rekrutierten Unglücklichen hatten auch sie erreicht.

»Priesterin, unser Kommandant möchte dich sprechen.«

Damit hatte sie gerechnet und auch versucht, sich geistig darauf vorzubereiten. Sie hoffte, dass es sich nicht als mehr als ein Gespräch entpuppte. »Ich werde mich umziehen. Euer Kommandant wird Verständnis haben, dass ich nicht in den Festkleidern des Tempels bei ihm erscheine.«

Der Mann, der sie angesprochen hatte, nickte und blieb breitbeinig mitten im Heiligtum stehen. Amares ging betont langsam und so ruhig wie möglich zu der kleinen Tür neben dem Altar. Hier befanden sich ihre privaten Räume und der Zugang zu Vorratskammern und dem alten Tempel. Früher hatten die Gottesdienste vollkommen anders ausgesehen. Sie war froh, dass diese Zeiten vorbei waren. Wo früher blutige Opfer dargebracht worden waren, standen nun Ölfässer und Regale mit Verbandsmaterial und Medikamenten. Amares hatte sich auf die Schlacht um die Klippenstadt ebenso gut vorbereitet wie der Medikus. Aber es war ein zentrales Lazarett entstanden, sodass die Kellerebenen des Tempels nicht mit Verletzten belegt worden waren.

Sie zog sich hastig um, denn das ungute Gefühl beschlich sie, dass die Soldaten ungeduldig werden könnten, wenn sie sich zu viel Zeit ließ.

Bevor sie zurück in den Tempelraum trat, atmete sie tief durch, dann drückte sie die Tür entschlossen auf, nickte den Männern zu und sagte mit allem äußeren Anschein von Seelenruhe: »Ich bin bereit.«

Ganz und gar nicht. Sie hörte ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne und wunderte sich ehrlich, wie ruhig diese klang. Kein Zittern, keine erhöhte Tonlage und beinahe freundlich.

Der Krieger übernahm die Führung – durch eine Stadt, in der Amares ihr ganzes Leben verbracht hatte, die sie besser kannte als dieser Mann. Und doch nicht, denn Läden und Lager waren aufgebrochen worden. Männer und Frauen, die nicht geflohen waren, als sie noch die Gelegenheit dazu gehabt hatten, trugen Lebensmittel und andere Vorräte unter der Aufsicht der fremden Krieger durch die Straßen.

Nicht ein Kind war zu sehen, keine Hühner, die auf den Straßen und Stufen nach Körnern kratzten. Die Stadt wirkte unheimlich still. Die Werkstätten und Läden verlassen und geplündert. Niemand arbeitete – bis auf die Träger, die um ihr Leben bangten, während sie unter schwerer Last Treppenstufen hinauf und hinab eilten. Amares fühlte die hoffnungsvollen Blicke auf sich ruhen. Was erwarteten die Leute?

Als sie näher und näher zu den Kasernen kam, roch sie, was die Menschen von ihr erhofften. Sie witterte verwesende Körper, kalte Asche.

Badon!

Er hatte bis zuletzt auf den Wehranlagen gestanden. Thalis war nach den Worten des einen Kriegers lebendig in die Hände der Feinde gefallen, aber was war mit Amares’ Bruder?

War er auch gefangen genommen worden? Schamröte kroch in ihre Wangen, dass sie erst jetzt an ihren Bruder dachte. Sie schob es auf ihre seelische Erschöpfung und die Angst nach der Eroberung der Stadt.

Vielleicht hatte Badon es geschafft, sich zur Oberen Festung durchzuschlagen? Auch vom Magier Roveon fehlte bislang offenbar jede Spur. Wenn er und Badon gemeinsam mit vielen Soldaten zurückgefallen waren, um die Obere Festung zu halten und so die Feinde daran zu hindern, das Hinterland zu überrennen, war doch alles gut.

Aber sie musste Gewissheit erlangen. Ebenso brauchten die verbliebenen Bewohner der Stadt ein endgültiges Ergebnis: Lag der Bruder, Sohn, Ehemann erschlagen auf den Wehranlagen, oder konnten die Angehörigen noch hoffen?

Der Administrator der Stadt war bereits vor mehreren Tagen geflohen. Als die Angreifer Thalis in ihre Gewalt brachten, war mit seiner Person der letzte offizielle Sprecher der Klippenstadt verschwunden. Jetzt gab es nur noch die Hohepriesterin der Heiligen, und so wie Amares sich in den letzten Tagen behandelt gesehen hatte, wurde ihre Position anerkannt. Vielleicht nicht geehrt – aber immerhin geachtet. Ob dieses Gefühl trog, würde sie in kurzer Zeit herausfinden, wenn sie dem feindlichen Kommandanten gegenüberstand, sagte sie sich.

Der Gestank nach Verwesung wurde vom Wasser zu ihr getragen, vermischte sich mit dem Geruch der Stadt und dem Duft des Meeres. Die ersten Schneeflocken fielen, als Amares den alten Palast betrat.

»Ich möchte nach den Verwundeten sehen«, sagte sie.

»Der Kommandant möchte dich zuerst sprechen. Danach steht es dir frei, die Verletzten zu besuchen. Es leben nur noch vier von ihnen. Wir haben dem Medikus Wasser und Nahrung für die Verletzten gebracht.« Als wollte er jegliche Schuld von sich weisen. Ein Feind mit einem schlechten Gewissen war etwas ganz Neues für Amares. Die Soldaten und allen voran Badon hatten die Angreifer als Monster gezeichnet. Dabei waren es ganz normale Männer.

Sie straffte die Schultern. Wenn es wirklich Männer und keine tollen Tiere waren, konnte sie vielleicht mit vernünftigen Argumenten etwas erreichen. Das Los der Bevölkerung musste gemildert, die Toten anständig beigesetzt werden. Und was war mit den Gefangenen? Mit Thalis – und vielleicht auch mit Badon?

Sie folgte ihrem Begleiter in den alten Kronsaal und blieb auf der Schwelle wie angewurzelt stehen. Hierhin waren alle Reichtümer der Stadt geschafft worden, wurden in Kisten verpackt und aus dem Saal getragen – an Bord der Schiffe, um die Kostbarkeiten in die Heimat der Seeräuber zu bringen.

Amares verengte verächtlich die Augen. Wenn es den Kerlen nur um Edelsteine und Gold ging – das konnten sie haben!

Sie hoffte, dass Thalis das ebenso sah, dass er eventuelle Schatzkammern verriet, bevor die Folter ihn zum Krüppel machte oder gar tötete. Konnte sie darauf hoffen? War Badon zu einem solchen Verrat in der Lage? Es ging doch nur um Geld, war das eigene Leben nicht so viel mehr wert?

Vor ihrem geistigen Auge erschien Thalis’ verschlossenes Gesicht, die jadegrünen Augen in ihren tiefen, schattigen Höhlen, sein schmaler Mund, das auf große Sturheit hinweisende markante Kinn.

Würde der Tribun sein Leben für wertvoller erachten als die Schätze der Stadt? Amares war sich sicher, dass sie alle Reichtümer der Heiligen auf diese Gewissheit verwetten konnte: Eher verreckte der Schwachkopf unter der Folter, als dass er das Versteck auch nur einer einzigen Münze verriet.

Amares wünschte, dass sie Verstecke kennen würde und nennen könnte, um Thalis lebendig und in einem Stück aus den Händen seiner Feinde zu befreien. Sie wusste aber auch, dass er sie dann niemals wieder ansehen würde. Ein warmes Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus: Er würde sie dann auch niemals wieder küssen, das stand fest.

Mit Mühe vertrieb sie diese Gedanken, die einer Priesterin so unwürdig waren. Aber sie behielt Thalis’ Gesicht vor Augen, meinte fast, die Hand ausstrecken zu können, um über seine bartstoppelige Wange oder das kurzgeschorene Haar streicheln zu können.

Tagträume, dumm und unnütz, vor allem in ihrer Position und ihrer jetzigen Lage. Sie hatte eine Aufgabe zu bewältigen und war entschlossen, ihre Anliegen vorzutragen und erfolgreich abzuschließen. Es waren ganz einfache Fakten: Die Leichen der erschlagenen Soldaten mussten auf irgendeine Art und Weise beigesetzt werden. Die Angreifer konnten riesige Scheiterhaufen errichten oder die Toten auf das Meer hinausfahren und dort über Bord werfen. Würden sie nicht froh sein über jeden Leichnam, um den sie sich nicht kümmern mussten?

Das musste ihr erstes Argument sein. Im Notfall konnte sie an die Menschlichkeit des Kommandanten appellieren, hoffte aber, dass er sich bereits Gedanken über die Leichenbeseitigung gemacht hatte. Das würde ihren Standpunkt nicht unerheblich stärken.

»Tritt vor, Priesterin. Du hast nichts zu befürchten. Deine Leute mögen uns für Wilde halten, aber wir wissen, dass Diener von Göttern und Heiligen unberührbar sind. Ich möchte einige Dinge mit dir besprechen.«

»Auch ich möchte mit dir sprechen, Kommandant«, antwortete sie ruhig, aber ihre Handflächen waren schweißnass, und Amares wusste, dass sie zu hastig atmete, weil sie Angst hatte und aufgeregt war. Sie sagte sich, dass niemand ihr das verdenken oder zum Vorwurf machen könnte. Sie hatte ein Recht darauf, sich zu fürchten, egal was der Mann dort ihr versprach.

Der Kommandant saß an einem großen Tisch, vor sich Listen und Bücher. Sie war überrascht, wie alt er war. Schon Thalis war kein junger Mann mehr, aber er war alles andere als hinfällig. Dieser Mann vor ihr aber sah aus, als würde er jeden Moment Schwindsucht oder Gicht bekommen, als wäre es nur eine Frage von Tagen, bis man sein Begräbnis richten müsste.

Sie kam gehorsam, aber nicht unterwürfig näher, nahm den Anschein von Gebrechlichkeit, das schlohweiße Haar, den langen Bart wahr. Dann sah sie in seine Augen, die von einem klaren, hellen Blau waren und so wach und lebendig aussahen, dass sie zu einem anderen Menschen zu gehören schienen.

Diese Augen starrten sie unverwandt und durchdringend an, während sie zum Tisch ging. Der Kommandant wies auf einen Stuhl, der ihm gegenüber aufgestellt worden war. »Setz dich, Priesterin. Ich will dich nicht lange aufhalten. Du hast viel zu tun in diesen Tagen.«

»Habe ich das?«

Er lachte leise auf und nickte. »Ich weiß, dass du dich um die Verletzten kümmerst. Wir stellen dem Medikus alles zur Verfügung, worum er bittet. Er ist ein guter Mann, und er schuftet schwer, um seine Schützlinge zu umsorgen.« Der Kommandant lehnte sich zurück, und jetzt sah Amares, dass er in seiner Jugend ein kräftiger, gut gebauter Mann gewesen sein musste.

Nicht so eindrucksvoll wie Thalis, aber er muss in etwa Badons Format besessen haben, dachte sie erschüttert.

»Ich bin Farelan, der Beauftragte meines Gebieters. Was auch immer ich dir sage, warum wir angegriffen haben, wird dich nur zornig machen, und du wirst mir ohnehin nicht glauben. Also lassen wir das. Tatsache ist, dass wir jetzt hier sind und dass die Stadt und ihre wenigen Bewohner sich in unserer Hand befinden. Ich werde dich auch nicht fragen, wo der Magier Roveon von Kerrims Hald ist. Weißt du es, wirst du es mir nicht verraten. Ich werde dich nicht foltern lassen, um herauszufinden, ob du es wirklich nicht weißt. Ich will es mir nicht mit deiner Heiligen verscherzen, Priesterin.« Er trommelte mit den Fingern auf den Papieren, die vor ihm lagen, runzelte die Stirn, sodass seine schlohweißen Brauen sich zusammenzogen.

»Ich bin sicher, dass du mir mehr zu sagen hast, Kommandant Farelan.«

Er sah rasch auf, und Amares fühlte sich von seinen Augen beinahe durchbohrt. »Ja, das stimmt. Dein Name, Priesterin?«

»Amares.«

Er tauchte eine Feder in ein bereitstehendes Tintenfass und schrieb den Namen auf, betrachtete das Pergament einen Augenblick und sprach dann leise, aber eindringlich: »Priesterin Amares: Wir sind kein mordgieriges Pack. Soweit es geht, werden wir die Bewohner der Stadt schonen.«

Amares lachte spöttisch auf, und als der Kommandant erneut aufsah, versetzte sie: »Sag das den Frauen und Mädchen, die deine Krieger verschleppt haben und zu Truppenhuren machen.«

»Haben sie? Ich werde das beenden.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Zurzeit sammeln wir alle Vorräte zentral in den Kasernen. Die Lebensmittel werden in täglichen Rationen ausgegeben, bis unsere Flotte mit weiteren Vorräten zurückkehrt. Ich will nicht, dass jemand in dieser Stadt verhungert. Du weißt selbst, dass die überlebenden Verteidiger sich in der Oberen Festung verschanzt haben. Diese müssen wir einnehmen, um ins Hinterland vorzudringen. Haben wir das geschafft, haben wir Nahrung in Hülle und Fülle. Bis dahin oder bis zur Rückkehr der Flotte werden wir uns alles mit den Bewohnern teilen – gerecht teilen. Du bist meine Ansprechpartnerin. Zu dir kommen die Verzweifelten, um zu deiner Heiligen zu beten. Wenn etwas im Argen ist, will ich es von dir hören, Priesterin. Das ist soweit alles, was ich dir zu sagen habe. Was hast du auf dem Herzen?«

Es fiel ihr beinahe schwer, diesen alten, vernünftigen Mann als Feind anzusehen. Alles, was er sagte, klang gut und überlegt und schien wirklich nicht zum Nachteil der Einwohner der Klippenstadt zu sein – abgesehen davon, dass die Menschen in Angst und unter der Knute von Eroberern leben mussten.

»Ich möchte um Erlaubnis bitten, dass die Bürger auf die Wehranlagen gehen dürfen, um ihre gefallenen Familienangehörigen zu bergen und in Würde und Ruhe zu bestatten.«

Wieder dieser wache Blick unter buschigen Augenbrauen. »Das kommt uns entgegen. Ich gestatte es. Hast du jemanden unter den Gefallenen?«

»Möglicherweise. Vielleicht ist er auch in der Oberen Festung.«

»Aber du willst Gewissheit – so wie alle anderen in dieser Stadt. Ja, es ist eine gute Idee. Es zeigt den Bürgern, dass wir nicht rachsüchtig und grausam sind. Hinzu kommt, dass jeder bestattete Leichnam unsere Arbeit an den Wehrmauern erleichtern wird. Ich wünsche eine Gegenleistung.«

Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Aber sie nickte.

»Falls Roveon von Kerrims Hald unter den Gefallenen ist, Priesterin, sag es mir. Komm nicht auf die Idee, mir einen anderen Mann unterzuschieben. Wir werden die Leiche des Magiers wie einen Fisch einsalzen und zu jemandem schicken, der ihn sicher erkennen wird. Du nimmst mir nur Arbeit ab, indem du mir sagst, wenn er tot ist und wo sein Kadaver liegt.«

»Er ist doch nur ein Magier.«

»Ist er das?«, sagte der Alte mit einem undurchdringlichen Blick auf Amares. »Ist er das wirklich?«

 

Roveon und das Mädchen schlichen durch einen Gang, dessen Boden blutbespritzt war. Das Mädchen führte den Magier um drei Erschlagene herum – zwei Verteidiger, ein Angreifer.

Das Blut verschaffte Roveon zumindest insofern Erleichterung, dass dessen durchdringender Geruch nach Kupfer beinahe den Gestank der Fäkalien überdeckte – und dass er sicher sein konnte, dass sie hier keine Spur hinterlassen würden, die irgendjemand finden konnte. In all dem Schmutz fiel ein bisschen mehr Dreck wirklich nicht auf.

Die Kasernen schienen verlassen. Zumindest herrschte Stille, und so kamen Roveon und seine Magd ungeschoren bis zu einer Nebentür.

»Herr, ich sehe nach, ob die Luft rein ist, ja?«

»Sei vorsichtig, Mädchen. Du weißt, was Sieger mit Frauen machen.« Und ich renne dann wieder blind durch die Gegend und habe keine Ahnung, wo der Eingang in die Beinkeller ist. Sei wirklich vorsichtig, sonst drehe ich dir den Hals um, Küchenschabe.

»Ja, Herr. Ich mache die Pforte nur einen Spaltbreit auf und verschaffe uns einen Überblick.«

Uns. Für eine einfache Magd war sie erstaunlich scharfsinnig und anpassungsfähig.

Er folgte ihrem Fortschritt durch ihr Augenlicht, wie sie zur Tür schlich, dort zuerst lauschend stehen blieb, bis sie die schwere Klinke ganz langsam und vorsichtig niederdrückte. Ein Spaltbreit war noch übertrieben. Die Tür schien sich kaum zu bewegen. Aber das Mädchen drückte das Gesicht gegen das raue Holz und sah mit nur einem Auge – Roveon bemerkte den Unterschied, dass sie das linke Auge zukniff und nur mit dem rechten nach draußen spähte – auf den angrenzenden Hof.

Es wimmelte dort nur so von feindlichen Kriegern und zu Sklavenarbeit eingezogenen Männern und älteren Frauen aus der Stadt.

Lautlos schloss die Magd das Tor wieder, atmete tief durch und drehte sich dann zu Roveon um.

Das hätte sie besser bleiben lassen, dachte der Magier erschüttert. Er sah aus wie ein Schwein in der Suhle! Das Wissen, dass es kein einfacher Schlamm war, der an ihm haftete, machte diese Erkenntnis nicht ein kleines bisschen besser.

»Es gibt einen weiteren Ausgang, der zum Paradeplatz unter der Klippe führt.«

»Lass uns versuchen, ob wir dort ungesehen hinauskommen«, stimmte Roveon notgedrungen zu. Sie mussten möglichst verstohlen davonkommen, und wenn er ein Freudenfeuer unter den Angreifern veranstaltete, war das alles andere als unauffällig und würde auf jeden Fall weitere Krieger auf den Plan rufen. Und die Kraft der Feuergabe war nicht unbegrenzt. Roveon wusste, dass die Magie ihn bis zur Bewusstlosigkeit aufzehren würde, sobald die Vorräte aufgebraucht waren. Er war klein, drahtig und schlank, besaß nicht ausreichend Reserven, um diesen Raubbau lange durchzuhalten.

Er hatte an den Wehrmauern gekämpft und viel Kraft aufgewandt. Im Abfallschacht war er nur damit beschäftigt gewesen, seine Gabe unter Kontrolle zu halten. Er wusste tatsächlich nicht, wie viele Gegner er niedermachen konnte, bevor die Gabe sich bei ihm bediente und ihn gnadenlos aushöhlte. Das Schlimme war, dass er erst während des Feuerwerfens bemerkte, wie sehr die Magie sich bereits verausgabt hatte. Und am nächsten Tag litt er, falls er diese Grenze überschritten hatte. Im Augenblick wusste er also beim besten Willen nicht, wie viele Feuerkugeln noch in seinen Fingerspitzen auf ihren Einsatz lauerten.

Das Mädchen nickte wieder – verdammt! Dann übernahm sie die Führung, huschte an zahlreichen Türen vorbei, die zum Teil offen standen. Hier hatten sich die Unterkünfte der Soldaten befunden. In diesen Zimmern hatten sie ihre letzte Nacht vor der finalen Schlacht verbracht, bevor Thalis sie auf die Wehranlagen gerufen hatte.

Roveon verdrängte gekonnt jede Erinnerung an den Tribun und die Gefallenen. Er konzentrierte seine Wut lieber auf jene, die ihn so schmählich im Stich gelassen hatten, die gerannt waren, um ihr eigenes Leben zu retten, obwohl die Befehle des Tribuns eindeutig gewesen waren. Jeder dieser verdammten Hasenfüße hatte genau gewusst, dass der Magier blind war. Roveon schob den Gedanken von sich, dass vielleicht er selbst an dieser Befehlsverweigerung schuld war, da die Männer ihn – zu recht und beabsichtigt – fürchteten, dass sie so viel Angst und Abscheu empfunden hatten und ihn gerne als Gefangenen der Gegner gesehen hätten. Er war nicht schuld! Er hatte getan, was Thalis ihm aufgetragen hatte, und ohne die Feuermagie wäre die Klippenstadt schon vor Tagen gefallen, so einfach war das.

Er folgte dem Mädchen, eine Hand an der Wand zu seiner Rechten, da die Geschwindigkeit hoch war und er beständig Sorge hatte, ein Hindernis zu übersehen, die Orientierung zu verlieren – oder im schlimmsten Fall wieder alleine dazustehen und sich erneut blind den Weg suchen zu müssen. Die schrecklichen Augenblicke, in denen er vor den Angreifern geflohen war, ohne seinen Weg zu sehen, in Dunkelheit gefangen, wirkten noch immer in ihm nach.

Aber die Magd wartete notfalls an einer Kreuzung des Flurs auf ihn, verharrte vor einem Treppenhaus. Ihre Ruhe besänftigte Roveon. Er roch ihren Angstschweiß, hörte ihre Atemzüge, die zu schnell und hastig kamen. Aber sie blickte besonnen in jede Richtung, um auch dem ihr folgenden Magier Gelegenheit zu geben, Einzelheiten wahrzunehmen und zu bewerten. Erst dann huschte sie weiter, führte Roveon eine Treppe hinab, dann durch einen Gang, der nach Algen und nassem Meeressand roch, an Gittern vorbei, die sich wohl direkt ins Meer öffneten, um das Fundament des Gebäudes gegen den Ansturm der Wellen zu stabilisieren.

An einer Stelle mussten Roveon und das Mädchen durch beinahe knietiefes Salzwasser waten. Das war nach dem Aufenthalt im Abfallschacht eine Wohltat. Trotz des Gefühls der drängenden Eile wäre Roveon zu gerne ein wenig länger geblieben, um sich den schlimmsten Dreck von der Rüstung zu waschen. Kaum dass frisches Wasser den antrocknenden Dreck berührte, begann der Schleim wieder, pestilent zu stinken.

Als die Magd vor ihm stehen blieb, um erneut den weiteren Weg zu sichern, beugte Roveon sich hinab und wusch zumindest die Hände. Das Meerwasser war eiskalt und duftete frisch nach Salz und Vegetation. Er richtete sich wieder auf und schloss zu dem Mädchen auf, das vor einer winzigen Pforte verharrte.

»Ich sehe wieder vorsichtig nach, Herr.«

»Sehr gut.« Es blieb ihm nichts anderes zu sagen übrig, denn sie erledigte ihre Arbeit wirklich annehmbar.

Die Tür knarrte leise, und Roveon hielt unwillkürlich die Luft an, erhaschte einen Blick auf ein kleines Plateau, das hauchdünn mit Schnee bestäubt war – und auf zwei Männer in den Farben der Gegner.

»Sieh nach oben.«

Die Magd rutschte zu Boden und versuchte das Unmögliche, wie Roveon erkennen musste. Für einen Moment sah er die Mauerzinnen des Kasernengebäudes, das hier eins war mit der alten Wehranlage. Er erblickte Schneeflocken träge im Meereswind tanzen, aber er erhaschte keinen Blick auf andere Soldaten. Waren die beiden da wirklich die Einzigen?

Er spürte Magie durch seine Adern strömen, sich heiß und fordernd in seinen Eingeweiden ballen.

Mit den zwei Kerlen wirst du fertig! Leicht und leise. Sie merken nicht einmal, was sie trifft, sang die Feuergabe in ihm.

Wenn es wirklich nur diese beiden sind.

Feigling! Widerlicher Feigling! Brenne sie nieder! Lass sie sich wünschen, niemals deinen Weg gekreuzt zu haben!

Die Magie prickelte in seinen Fingerspitzen, und zum ersten Mal empfand Roveon Hass auf das, was ihn von anderen Menschen unterschied. Die Gabe war der Ausgleich für seine Blindheit, und dank seiner Fähigkeit, fremdes Augenlicht zu nutzen, konnte er beinahe normal leben – oder könnte es, wenn die Flammen nicht in ihm wüten würden. Sie machten ihn besonders, ja. Zu einem ganz besonderen Monster.

»Herr, ich kann weiter niemanden sehen. Ich kann vorgehen. Sie werden mich nicht töten.«

»Du weißt, was sie mit dir machen«, entgegnete Roveon beinahe mitleidig.

»Aber wenn es nur die zwei sind, Herr, dann wird mir doch nichts passieren, oder? Du bist doch da.«

Sie streckte eine Hand nach ihm aus, legte sie vorsichtig auf seinen Oberarm, und Roveon hätte das schmutzige Mädchen packen, schütteln und erdrosseln können. Ja, macht euch keine Sorgen, ihr Weiber dieser Welt, Roveon ist natürlich nur dafür da, um euch den kleinen Hintern zu retten!

»Und wenn es doch mehr sind, kann ich sie gleich sehen, und dann weißt du, dass du nicht nach draußen kommen darfst, Herr.«

Die Feuergabe brannte in seinen Adern, aber Roveon rang nach Atem vor Erstaunen über die Worte der Magd. Jetzt begann er ernsthaft, die Küchenschabe zu hassen, weil sie ihm soeben bewiesen hatte, dass sie mutiger und vor allem selbstloser war als er.

»Ganz vorsichtig, Mädchen. Ich weiß nicht, für wie viele Gegner ich noch Kraft habe.«

Sie nickte schwach, trat noch dichter zu ihm und legte für einen winzigen Augenblick den Kopf an seine Schulter, atmete tief durch und griff dann nach Roveons Hand, um sie an das Heft eines riesigen Fleischermessers zu legen. »Ich bin nur eine Küchenmagd, Herr. Ich weiß nicht, ob ich kämpfen kann. Aber ich kann alleine ein Schwein schlachten und zerlegen. Das könnte hilfreich sein, nicht wahr?«

»Sehr hilfreich«, antwortete Roveon erschüttert, während Bilder von Thalis vor seinem inneren Auge auftauchten. Was war der Tribun anderes gewesen als ein entfesseltes Vieh, was hatte er anders gemacht als ein Schlächter? Und doch hatte er Größe bewiesen, die Roveon dem Sohn eines Bauern oder Handwerkers niemals zugetraut hätte. Diese schmutzige Küchenschabe war ein wenig wie Thalis. Ihr Mut imponierte Roveon – wenngleich widerwillig »Wenn ich dir sage, dass du dich ducken sollst …«

»Natürlich, Herr. Halte dich bereit, ich gehe jetzt nach draußen. Ich werde mich sehr genau umsehen, Herr, damit du einen Überblick bekommst.«

Sie stieß die Tür auf, huschte auf das schneebedeckte Plateau, und Roveon erinnerte sich schlagartig daran, dass das Mädchen barfuß war.

Ihr Blick flog nach oben, als sie sich herumwarf, um auf den Zinnen der Wehranlage nach weiteren Gegnern Ausschau zu halten. Dort stand niemand. Dann wirbelte sie herum, starrte die beiden Soldaten an, die ihren Auftritt zuerst verblüfft erfassten und nun schlagartig schmierig grinsten.

Zorn und Feuer kochten in Roveon hoch. Die Küchenschabe riskierte einiges da draußen für ihn, und das Grinsen der Kerle widerte ihn an. Er sprang durch die Tür nach draußen, roch und schmeckte Schnee, fühlte Flocken um sich tanzen, während der Blick des Mädchens unbeirrbar auf die feindlichen Krieger gerichtet blieb.

Roveon sah, wie die Gesichtsausdrücke der Männer sich erneut änderten, wie Augen sich weiteten, wie zwei Kehlen synchron nach Luft schnappten, um Alarm zu schreien.

Ein Wort nur, und das Mädchen flog zu Boden. »Runter.«

Roveon gab den Feinden keine Gelegenheit, auf die neue Lage zu reagieren. Flammen schossen aus seinen Fingerspitzen, prickelten über seine Unterarme, ließen stinkenden Schlamm brutzelnd verdunsten.

Im gleichen Augenblick lösten sich zwei kleine Feuerkugeln und rasten auf die Gesichter zu, die Roveon nicht mehr sehen konnte, bis die Magd am Boden den Kopf hob, um ihm die Nutzung ihres Augenlichts zu ermöglichen, die Gegner klar anzuvisieren. Es hätte fast nicht nötig getan.

Feuer schoss in die Luftröhren und die Lungen der Männer, bevor diese noch verstanden, dass sie tot waren, dass vor ihnen wirklich Roveon von Kerrims Hald stand.

Roveon konnte eine gewisse Genugtuung nicht leugnen, dass die Magd so gut parierte, dass die Köpfe seiner Gegner geräuschlos in Rauch aufgingen und als feine Asche vom Wind davongetragen wurden.

Kein Schrei, kein Laut, nur zwei Körper, die kopflos in sich zusammensanken und mit dumpfem Geräusch auf die Steinplatten schlugen.

»Herr, du bist großartig!«, wisperte die Magd und stemmte sich schon wieder auf die Beine, rannte zu den gefällten Gegnern und zerrte deren Mäntel aus den Ringen, die den Stoff faltenreich an die Rüstung banden.

»Wir müssen hier weg!«, zischte Roveon und ertastete sich seinen Weg zu den Leichnamen.

»Gleich. Bin fast fertig, Herr.«

Er sah, wie sie die Schnallen der Waffengurte öffnete, Schwerter samt Scheide von den Riemen löste und sich die Gürtel um die Hüfte schlang, nun um zwei richtige Dolche reicher. Sie knüllte die Mäntel zu handlichen Packen zusammen, griff mit der freien Hand nach Roveon und zog ihn hinter sich her auf eine niedrige Umfassungsmauer zu.

Er war viel zu fassungslos über diese Behandlung, um Einspruch zu erheben. Zum ersten Mal in seinem Dasein fehlten Roveon die Worte.

 

Es war ein trauriger Zug, der mit Handkarren, eilig gefertigten Tragen aus zwei Stangen und einer Leinwand sowie Schleppen auf die Kasernen zustrebte. Amares führte die Menschen an, nachdem sie ihnen mehrfach versichert hatte, dass sie berechtigt waren, ihre Gefallenen zu bergen. Die Menschen hatten Angst, und sie konnte es ihnen nicht verdenken.

Aber sie musste einfach nachsehen, ob Badon unter den Gefallenen war. Ihr großer Bruder, ihr letzter Angehöriger, dessen Existenz sie für einige Stunden über ihrer Trauer um Thalis vergessen zu haben schien. Wenn Badon nicht auf den Wehranlagen lag, konnte seine Schwester wieder hoffen, dass er es auf die Obere Festung geschafft hatte. Und sie konnte nachts wachliegen und sich fürchten, dass er genau wie Thalis seinen Feinden lebendig in die Hände gefallen war.

Wie sie es auch drehte und wendete, ihre Gedanken eilten immer wieder zu dem Tribun, und sie konnte sich schelten und als dumme Gans bezeichnen, bis sie müde wurde. Es half nichts. Stets drängte das dunkle Gesicht des Tribuns vor die Erinnerung an Badons Lächeln.

Hatte sie Thalis jemals wirklich lachen sehen? Nicht nur sein ein wenig schiefes Lächeln, das schneeweiße, starke Zähne entblößte, das allzu oft die jadegrünen Augen kalt funkeln ließ und sie nicht erreichte oder gar erwärmte. Wirkliches Lachen? Ehrlich erheitert? Nein, daran konnte sie sich nicht erinnern. Und falls er die Folterkammern überlebte, würde er wohl niemals wieder Gelegenheit oder Neigung haben, laut zu lachen, den Kopf in den Nacken zu werfen und … Heilige Zavea, gib mir Kraft, mich dieser Bilder zu erwehren. Ich helfe niemandem damit und benehme mich nur wie eine dumme Halbwüchsige. Ich habe dir mein Leben und meine Jungfräulichkeit geweiht. Ich bin unberührt wie du. Ich weiß nicht, warum ich dauernd an Thalis denke, Heilige Zavea. Gib mir Kraft, befreie mich von diesen Bildern, die sich deiner Priesterin nicht geziemen.

Es standen einige Krieger der Gegenpartei am Straßenrand, aber keiner von denen sagte ein Wort oder hielt den Zug auf, der sich Treppen und enge Gassen hinab zur Küste wand wie eine vielköpfige Schlange.

Der Schnee fiel nun dichter, und Amares hatte für einige Augenblicke Probleme, den Weg vor sich klar zu erkennen. Tränen liefen ihr über das Gesicht, und sie zitterte – nicht vor Kälte, wie sie genau wusste.

Sie hatte entsetzliche Angst, Badons Leichnam zu entdecken. Doch ebenso fürchtete sie sich davor, den Körper ihres Bruders nicht zu finden. Was sollte sie tun, wenn auch Badon in den Händen der Folterknechte war? Der Kommandant, so leutselig und verständnisvoll er sich auch gegeben hatte, so sehr er sich wohl wirklich um Kooperation bemühte, würde ihr niemals ihren Bruder wiedergeben, solange Badon vielleicht noch ein Geheimnis besaß.

Eine angenehme Überraschung erwartete den traurigen Zug. Auf dem Kasernenhof lagen die Leichen in Reih und Glied auf Decken, bereit zur Abholung. Ein großer Scheiterhaufen brannte zischend gegen den Schneefall an. Die Eindringlinge verbrannten ihre eigenen Toten.

Amares fühlte grimmige Zufriedenheit bei diesem Anblick. Sie hatte Thalis auf der Wehranlage kämpfen sehen, hatte das Feuer des Magiers Roveon beobachtet. Die Feinde hatten einen hohen Blutzoll bezahlt, um die Klippenstadt einnehmen zu können – nicht nur am letzten, entscheidenden Tag des Kampfes.

Jener Hauptmann, den sie im Lazarett gesprochen hatte, empfing den Trauerzug am Eingang zum Kasernenhof. Amares konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht ganz sicher deuten, aber sie hatte das Gefühl, dass der Kerl sie auslachte und das nur deshalb im Stillen tat, weil sein Kommandant eine Politik der Nachgiebigkeit und Freundlichkeit verfolgte.

»Hier sind alle Toten, die wir bergen konnten. Dank des Magiers sind etliche Körper so sehr verbrannt, dass niemand mehr sagen kann, auf welcher Seite der Krieger einmal gekämpft hat.«

»Ich bin sicher«, versetzte Amares unerwartet kalt, »dass Roveon von Kerrims Hald wusste, gegen wen er kämpfte. Ich gehe also davon aus, dass jene Verbrannten zu eurem Heer gehörten.«

Er beantwortete diesen ungeübten Schwertstreich mit einem kurzen Blecken seiner Zähne. Es sah fast wie ein widerwilliges Lächeln aus, aber Amares wurde das unbehagliche Gefühl nicht los, dass dieser Mann das Verhalten seines Kommandanten verachtete – so freundlich er ihr auch fast bei ihrer ersten Begegnung erschienen war. Sie korrigierte sich im Geiste: nicht freundlich. Gelangweilt und angewidert vor dem Gedanken zurückweichend, irgendwelche Halbtoten ins Jenseits zu befördern. Wozu sich die Hände schmutzig machen an jemandem, der sich nicht mehr wehren konnte, wenn die Zeit diese Aufgabe von ganz alleine übernahm? Sie war sich sicher, dass dieser Mann in den Folterkammern anders denken und handeln würde, und wieder tauchte äußerst ungebeten Thalis’ kantiges Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf.

Amares war zu erschöpft, um sich wieder gegen diese Erinnerung zu wehren. Ihre Heilige hatte sie für den Kuss im Flur nicht aus dem Tempel verbannt. Das war kein Grund, von einer priesterlichen Jungfrau zu einer männerwilden Frau zu werden – aber es schien ihr erlaubt, ein wenig den Erinnerungen an den Tribun nachzuhängen. Angesichts dieses feindlichen Hauptmanns war es eine Wohltat, an Thalis’ funkelnde grüne Augen zu denken, sich seiner Körpergröße und beruhigenden Massivität zu erinnern.

Wenn Thalis diesem Kerl im fairen Zweikampf gegenübergestanden hätte, wäre diesem das Grinsen schon vergangen! Der Gedanke tat gut, und Amares schaffte es, das nur in den Augen tanzende Grinsen des Hauptmanns mit einem selbstsicheren Lächeln zu beantworten. »Ich bin nicht hierhergekommen, um mit dir zu streiten. Wir wollen unsere Toten bergen und nach unseren Riten bestatten. Bitte tritt beiseite.«

Seine dunkelblauen Augen schossen scharf geschliffene Dolche, doch er machte Amares Platz und ließ sie und die verängstigten Stadtbewohner passieren.

Die nächsten Stunden verkamen zu einem Gewirr von Weinen, Schrecken, Hoffen und Bangen.

Amares fand die Leiche ihres Bruders nicht. Aber sie sah in viele ihr bekannte Gesichter. Bäckerjungen, Handwerker, Lehrlinge. Sie erkannte viele Männer wieder, die sie vor wenigen Tagen noch im Lazarett gepflegt hatte.

Insgesamt waren es weniger Tote, als sie befürchtet hatte. Wie viele waren auf der ersten Wehr gefallen oder verwundet worden und ein Raub des magischen Feuers geworden?

Kein Thalis – wie sie erwartet hatte. Kein Badon. Es blieb also die Hoffnung, dass ihr Bruder es geschafft hatte, sich auf der Oberen Festung in vorübergehende Sicherheit zu bringen. Das Entsatzheer des Kaisers sollte auf dem Vormarsch sein. Wenn Badons Truppen nur so lange die Festungslinie halten konnten, war noch nicht alles verloren.

Und jeder, der sich bis jetzt noch in der Klippenstadt befand, war in ihr gefangen. Das Meer wurde vom Feind kontrolliert, und die Wächter der Oberen Festung konnten keine Pforte für Flüchtlinge öffnen. Zu groß war die Gefahr, dass Feinde in Verkleidung so hinter die Linie gelangten.

Es hieß ausharren, auf die Heilige hoffen, die Toten bestatten, die Verwundeten pflegen und beten, dass Badon in Sicherheit war und Thalis vielleicht lebend den Folterknechten entkam. Es klang nach wenig, aber Amares hatte das Gefühl, dass diese Last sie zu Boden drückte.

Sie segnete Tote, half beim Aufladen der Leichname auf alle möglichen Transportmöglichkeiten, hielt mehr als eine weinende Frau tröstend im Arm, kniete vor Kindern nieder, die zu geschockt waren, um ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen.

Sie tröstete und half, aber niemand fasste einmal sie am Arm, streichelte ihr über die Schulter oder machte ihr in irgendeiner Weise Mut. Niemand sprach aus, was sie so dringend hören wollte, nämlich dass Badon es bestimmt zur Oberen Festung geschafft hatte. Das war das Los der Priesterin, versuchte Amares sich selbst einzureden.

Sie hielt auch Ausschau nach Roveons Leichnam. Die Machtspiele der Angreifer waren ihr herzlich egal, aber wenn Roveons Tod der Stadt Entspannung und Rücksichtnahme bescheren konnte, dann wollte Amares seinen leichenstarren Körper gerne dem Kommandanten ausliefern. Ein Toter spürte keinen Schmerz mehr, aber die Frauen, Kinder und Alten, die Reihe um Reihe der Gefallenen absuchten, um ihre Angehörigen zu finden, litten unter der Angst und den Umständen.

Doch Roveon befand sich nicht unter den Gefallenen. Der Magier war entweder entkommen oder in seinen eigenen Flammen gestorben. Irgendwie konnte Amares sich vorstellen, dass der arrogante Kerl einen solchen Tod der Folterkammer vorgezogen hätte.

Die Nacht zog auf, und im Schein von Fackeln und Laternen kehrten die Stadtbewohner mit ihren Toten wieder nach oben in ihre Häuser zurück, von deren Dachterrassen sie alle hatten zusehen können, wie die Verteidiger den Feinden unterlagen.

Amares hörte Weinen, gemurmelte Worte, das Schlurfen vieler Füße. In dieser Nacht würden die Menschen ihre Angehörigen waschen, neu kleiden und am nächsten Morgen unter Gebeten und Hilferufen zur Heiligen in die Grüfte bringen. Vielleicht blieb der Klippenstadt genug Zeit, dass die Körper zerfallen konnten, sodass die Gebeine in die Ossarien gebracht werden konnten.

Amares ging frierend durch Schneematsch, während weitere Flocken vom Himmel sanken. Wenn sie ehrlich war, war es ihr egal, ob die Gefallenen der letzten Schlacht jemals in den Beinkellern landeten. Welches Schicksal der Stadt und ihren Bewohnern auch immer drohte, die Gefallenen hatten es hinter sich und würden nichts von alledem mehr bemerken.

Wie erholsam musste das sein, dachte Amares, als sie durch die Seitenpforte in den Tempel schlüpfte, wo warmes Kerzenlicht und der Duft von Räucherwerk sie empfing.

Sie schlug die Kapuze zurück und ging direkt zum Altar unter dem Standbild der Heiligen, kniete dort nieder und versank in ein Gebet, in dem sie leicht unzusammenhängend für Thalis, Badon und die Stadt bat. Und sie betete für Roveon, was sie beinahe erstaunte.

 

Der Gestank der Gruft war für Roveon beinahe körperlich zu fühlen. Es schien wie eine zähflüssige Wand, die sich vor ihm aufbaute und ihn daran hinderte, die Schwelle zur Totenkammer zu übertreten.

Die Magd blieb stehen, als sie spürte, dass er ihr nicht mehr brav folgte, dachte Roveon bitter. Er kämpfte gegen Brechreiz an und schaffte es endlich doch, den gemauerten, fensterlosen Raum zu betreten und die Pforte hinter sich ins Schloss zu ziehen.

Es war eisig kalt. Frische Luft gelangte nur durch schmale Öffnungen direkt unter der Dachtraufe hinein, aber noch keine Schneeflocke hatte sich in die stinkende Kammer verirrt.

Auf Steinblöcken lagen fünf Tote in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Drei weitere auf dem Boden. Alle waren mit weißen Tüchern zugedeckt und mit einem erdhaltigen Pulver bestreut, das die Fäulnis beschleunigen sollte. Die Stadt verfügte nicht über genug Boden, um große Friedhöfe für die ewige Ruhe anzulegen. Die Weiden und Äcker des Hinterlandes waren zu wertvoll, um sie als Begräbnisstätten zu missbrauchen.

In der Theorie wusste Roveon das alles, immerhin war er am Kaiserhof erzogen und ausgebildet worden. Aber nun in der stinkenden Gruft zu stehen und auf gammelnde Kadaver zu blicken, war etwas ganz anderes. Der Gestank bereicherte dieses Bild um eine weitere Größe.

Die Magd drängte sich zitternd an ihn und schloss die Lider.

»Untersteh dich, verdammt! Ich werde mich nicht blind an den Kadavern vorbeitasten! Mach die Augen auf.«

Sie gehorchte prompt, aber er fühlte ihren Körper beben. Als sie einen Schritt von ihm wegtreten wollte, um ihn zu führen, legte Roveon wie von selbst den Arm um sie.

Sie ist nur eine Küchenschabe, und das ist einfach zu viel für sie, sagte er sich. Sie war knapp einer Entdeckung und Gefangennahme entkommen und musste nun für ihn stark sein, damit er sich nicht im Dunklen einen Weg suchen musste. »Wo geht es in die Keller?«

»Hier, Herr. Tut mir leid, Herr, dass ich eben …«

»Es ist gut, Mädchen. Lass uns hier einfach verschwinden. Da unten wird es wenigstens nicht so widerwärtig stinken.«

Eine breite Treppe führte hinab in Dunkelheit, und das Mädchen blieb auf halber Strecke stehen, tastete in einer kleinen Nische herum, bis sie eine Laterne fand. Die Finger der Magd zitterten – Kälte, Angst und Ekel, vermutete Roveon. Sie konnte keinen der mit Stahl und Stein geschlagenen Funken im Zunder einfangen, und Roveon erbarmte sich, hob eine Hand, drehte die Handfläche nach oben und ließ eine tanzende Flamme emporsteigen, die sich um sich drehte, zu einer Kugel formte und dann langsam zum Lampendocht schwebte und diesen in Brand steckte.

Warmes, gelbes Licht flutete die Treppe. Die Magd schob den Glaszylinder über die blakende Flamme, und für einen kleinen Augenblick sah Roveon das Mädchengesicht als Reflexion im Glas. Ein stupsnasiges Antlitz mit großen Augen. Unter dem groben Kopftuch ringelten dicke, blonde Locken hervor. Ein netter Anblick, der mit seinen weichen Wangen und der kleinen Nase zum sanften, gehorsamen Wesen der Küchenschabe passte.

Sie übernahm die Führung, und Roveon hastete hinter ihr die Treppenstufen hinab in die Kammern, die in den gewachsenen Fels der Klippe geschlagen worden waren. Mit jedem Jahrzehnt hatten die Knochen mehr Platz beansprucht, und neue Räume waren in den Stein gemeißelt worden, mutmaßte er. Die ersten Gewölbe, durch die das ungleiche Paar eilte, stellten die ältesten dar.

Die Körper waren nach der Verwesung in ihre Einzelteile zerlegt worden. Knochen lagerten in steinernen Nischen. Einige enthielten nur lange Knochen von Armen und Beinen, ordentlich in Bündel geschnürt und gestapelt, die Gelenkköpfe nach vorne ragend. Anderswo lagen ausschließlich Rippen, ein Stück weiter lediglich Wirbel. Dort befanden sich in offenen Holzkisten Fingerknochen, einige Schritte weiter türmten sich Schädel in einer Wandvertiefung auf.

Das Mädchen drängte wieder näher, und Roveons Finger tasteten am weichen Körper tiefer, bis sein Arm um die schmale Taille der Magd lag. Begeistert war er von seiner Umgebung auch nicht. Die Gänge waren eng, und er hatte mehrfach das Gefühl, dass seine Kleidung beinahe an herausragenden Knochen hängen blieb.

Die leeren Augenhöhlen der Schädel starrten ihnen nach, als sie sich tiefer und tiefer in das Reich der Gebeine bewegten. Hin und wieder knirschte es unter Roveons Stiefeln, wenn er auf einen zu Boden gefallenen Zahn oder Fingerknochen trat.

Rein theoretisch, so sagte Roveon sich, sollte das Ossarium frei von Ratten sein. Zu fressen gab es hier nichts, nur die blanken Knochen wurden in die Beinkeller geschafft. Tröstlich wirkten diese weisen Betrachtungen nicht, denn immer wieder raschelte es irgendwo verdächtig. Einmal war Roveon sich sicher, ein leises Quieken gehört zu haben.

Sie durchschritten Torbögen, stiegen Treppen hinab und hinauf, und überall erwartete sie das gleiche Bild von grausig grinsenden Totenschädeln, verstreuten Knochen, gestapelten Gebeinen.

Irgendwann – Roveon wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs waren, wie tief und weit sie in die Innereien der Klippen vorgedrungen waren – blieb das Mädchen stehen. »Reicht das, Herr? Es ist so leise hier, dass wir sofort hören sollten, falls sich uns jemand nähert.«

Sie hatten einen kleinen, runden Raum erreicht, in dessen Wände die üblichen Nischen voller Knochenwirrwarr geschlagen worden waren.

Roveon blieb einen Moment lang schweigend stehen, und das Mädchen ging langsam im Kreis um ihn herum, leuchtete mit der Laterne ringsum und zeigte ihm so die Treppe, die nach oben führte, sowie zwei weitere Durchgänge in die nächsten Räume. Es war kalt, aber windstill hier – und vollkommen leise, als das Mädchen stehen blieb und das Urteil des Magiers abwartete. Nicht einmal das normalerweise allgegenwärtige Rauschen des Meeres war mehr zu hören.

»Ja, ich denke, wir können vorerst hier bleiben.«

Er hörte ihr leises Aufatmen und machte sich klar, dass sie zu Tode erschöpft sein musste. Sie legte die erbeuteten Mäntel und zwei große Taschen voller Lebensmittel auf dem Boden ab, stellte eine Korbflasche daneben, von der Roveon vermutete, dass sie Wasser enthielt. Dann schüttelte das Mädchen die Mäntel aus und breitete einen auf dem Boden aus, setzte sich im Schneidersitz darauf und zog einen Zipfel des Mantels über ihre vor Kälte roten Füße. »Hast du Hunger, Herr?«

»Ich habe vor allem Durst«, antwortete er und setzte sich neben die Küchenschabe. Sie reichte ihm den verbliebenen Mantel, und Roveon kam sich sehr großzügig vor, als er den dicken Wollstoff über ihrer beider Schultern legte und dichter an das Mädchen rückte. Sie stank wie er erbärmlich, aber zwei Körper konnten der Kälte gemeinsam besser trotzen.

Die Magd stellte die Laterne vor ihnen auf den Mantel und reichte Roveon eine Wasserflasche, bevor sie in den Taschen nach einem in Tuch eingeschlagenen Brotlaib suchte.

Ihre Suche offenbarte Roveon, was sie alles eingepackt hatte: Brot, einen kleinen Laib Käse, Hartwurst und getrocknetes Obst. Der Vorrat mochte für drei oder vier Tage reichen, und mit einem Mal wurde Roveon bewusst, dass sie das alles klaglos getragen hatte. Gut, sie war eine Dienerin und solche Arbeit gewohnt, aber trotzdem fühlte er sich merkwürdig dabei, dass er nicht einmal daran gedacht hatte, ihr einen Teil der Last abzunehmen. Er stieß den Gedanken angewidert von sich. Er war Roveon von Kerrims Hald und kein niederer Knecht!

Er gab ihr die Wasserflasche zurück und nahm eine Scheibe Brot und ein Stück Wurst von der Magd in Empfang. Und ob er Hunger hatte! Es war, als hätte der Schluck Wasser seinen Magen geweckt.

Sie aßen schweigend, das Mädchen packte die Reste wieder in die Taschen und drehte den Docht der Lampe etwas weiter herunter. »Ich weiß nicht, wie viel Öl sie noch enthält. Und wenn wir ohne Licht sind, kann ich dich nicht führen, sondern bin ebenso blind wie du«, flüsterte sie, und er konnte ihrer Stimme anhören, wie sehr sie sich vor der Vorstellung fürchtete. Alles um sie herum war tot, aber deswegen nicht weniger grauenerregend.

»Keine Angst, im Notfall kann ich für Licht sorgen.«

Sie atmete leise auf und schmiegte sich ein wenig enger an ihn. Roveon hatte nichts dagegen. Die Vorstellung, vor grinsenden Schädeln eine kleine Küchenschabe zu verführen, behagte ihm allerdings nicht im Geringsten. Aber es war etwas Beruhigendes an dem kleinen, warmen Körper an seiner Seite.

»Du solltest jetzt schlafen. Ich werde Wache halten.«

»Herr …«

»Ich bin blind, Mädchen, aber ich bin nicht taub. Schlaf jetzt. Ich werde dich wecken, wenn ich zu müde werde.«

Sie rollte sich neben ihm ganz klein zusammen, presste den Kopf gegen seinen Oberschenkel und schlief ein – oder sie erweckte glaubhaft den Eindruck, eingeschlafen zu sein, denn ihre Atemzüge wurden tiefer, und sie lag ganz still da.

Für einen Augenblick stützte Roveon den Kopf schwer in beide Hände. Er saß hier in seiner persönlichen Finsternis und lauschte auf das geringste Geräusch, ob sich jemand näherte, der größer war als eine Ratte. Irgendwo tropfte Wasser, aber das war außer den Atemzügen des Mädchens das einzige Geräusch weit und breit.

Er wusste, dass er froh sein sollte, die hilfreiche Dienerin an seiner Seite zu haben, die keine seiner Entscheidungen auch nur einen Atemzug lang in Frage stellte, die einfach tat, was die Lage erforderte, um Roveon vor dem Zugriff der Feinde zu schützen. Sie tat es aus angeborener Loyalität, sagte Roveon sich. Sie dachte nicht nach, weil es Menschen ihrer Klasse von Geburt an beigebracht worden war, dass die Herren dieser Welt zu beschützen und zu bedienen waren.

Niemals war es ihm anders gegangen, seitdem seine Gabe entdeckt worden war. Vorher war er nur ein blinder Junge aus adliger Familie gewesen. Ein Jammer, dass er nicht zum Heerführer taugt, aber er ist ja blind. Und viel zu klein und schmächtig. Aber dann offenbarte sich die Feuergabe, und so klein und jämmerlich Roveon angeblich auch war, so war er doch mit einem Mal jemand, der dem Kaiserreich nützlich sein konnte, dem man Respekt entgegenbringen sollte, wenn man nicht als Häuflein Asche enden wollte.

Und so wurde aus dem kleinen Krüppel der Magier Roveon von Kerrims Hald, dessen Name Klang und Ruhm besaß – und der Menschen durchaus in Furcht versetzen konnte. Betreuer und Kindermädchen wurden ersetzt durch Leibwächter und Diener, die alle nur eine Aufgabe hatten: Den kostbaren Feuermagier sicher dorthin zu schaffen, wo der Kaiser ihn brauchte.

In der Finsternis des Ossariums lachte Roveon beinahe lautlos und sehr spöttisch auf.

War es Thalis anders ergangen? Ja, er war ein Hüne von Mann, muskelschwer und im Kriegsfall nicht viel mehr als ein entfesseltes, halbwegs intelligentes Tier. Aber war nicht auch er zu einer Spielfigur des Kaisers geworden, der seine Krieger, Magier, Armeen und Kriegsmaschinen überall dahin schob, wo er sie gerade zu brauchen meinte?

Und warum war der Kaiser nicht gekommen, als die Hilfegesuche ihn erreichten? Waren selbst Thalis und Roveon nicht wertvoll genug, um ein Entsatzheer zu senden? War die Klippenstadt nicht das Juwel der Küste, das Tor zum Hinterland, das es zu schützen galt? Was machte der Kaiser eigentlich? Welches Spiel betrieb er mit Figuren wie Thalis und Roveon? Worin lagen seine Absichten?

Roveon fühlte sich verraten, und er wusste nur, dass es niemals klug war, ihn so im Stich zu lassen, ihm den Dolch nahezu in den Rücken zu rammen!

Hier saß er nun im Inneren der Klippen, die er hatte beschützen sollen. Und sein Kaiser kam nicht und sandte auch keine frischen Truppen. Das passte einfach nicht zu dem alten Mann auf dem Thron, sagte der enttäuschte Roveon sich, und Gluthitze kroch in seine Eingeweide, als die Gabe auf seinen Zorn reagierte.

4.

Gefallene Helden

 

Amares teilte sich mit dem Medikus und dessen Diener die ärztlichen Arbeiten in der Stadt. Sie pendelte zwischen den Vorratsräumen in den Kellergewölben des Tempels und dem Lazarett hin und her, bis alle Verwundeten gestorben waren. Sie weinte um jeden dieser Männer, obwohl ihr seit Tagen klar gewesen war, dass keiner von ihnen sich jemals erholen würde. Die Verstorbenen besaßen in der Stadt keine Angehörigen, also bat die Priesterin den Diener Kalonn, die Toten in den Tempel zu bringen, damit sie dort für die Bestattung vorbereitet werden konnten.

Sie war dankbar, dass der Medikus ihr den Diener so bereitwillig für alle anfallenden Arbeiten überließ. Die Stadtbewohner hatten sich in ihre Häuser verkrochen und trauten sich nur selten hervor. Keiner hätte geholfen, so traurig das auch war. Zum Gottesdienst der Heiligen erschienen die Leute, hohläugig und blass. Aber kaum war das letzte Gebet gesprochen, verschwanden sie ebenso rasch wieder.

Kalonn war ein alter, aber kräftiger Mann, klein und sehnig, und er sah Amares immer nur unter zusammengezogenen Brauen an, wenn sie ihn um etwas bat – sie fand nicht, dass sie das Recht hatte, ihm Befehle zu erteilen. Er nickte stets und tat dann das, um das sie ihn ersucht hatte. Er war schweigsam bis zur Unhöflichkeit, arbeitete sauber und schnell, und sie lernte rasch, sich auf ihn zu verlassen. Er begleitete sie, wenn sie zu den Kasernen hinabstieg, um zusätzliche Rationen für kinderreiche Familien zu erbitten. Er war weder ein Krieger noch ein Leibwächter, aber sie fühlte sich nicht ganz so alleine, wenn Kalonn hinter ihr stand, die Arme vor der Brust verschränkt und eine Mischung aus Würde und mürrischer Sturheit im Gesicht.

Sie durfte sogar mit dem Heiler der Feinde sprechen und sprang tapfer über ihren eigenen Schatten, indem sie diesem Mann Salben und Tränke aus ihrem eigenen Vorrat anbot. Er lehnte ab, was sie sehr erleichterte, gestattete ihr aber im gleichen Atemzug, sich aus seinen Vorräten zu bedienen, falls sie etwas brauchen sollte. Indem die Feinde für sie Gesichter und Namen bekamen, indem sie zu echten Menschen wurden, verloren sie ein wenig den Schrecken für Amares.

Das änderte sich schlagartig, als eine Frau weinend in den Tempel kam. Amares kannte sie. Ihr Ehemann war wie Badon Hauptmann gewesen. Badon hatte die Bogenschützen befehligt, der Mann dieser Frau hatte das Kommando über die Kriegsmaschinen und deren Besatzungen innegehabt.

Amares ging der Frau entgegen, die sich ihr vor die Füße warf, zusammenhanglos stammelte und immer wieder keuchend nach Atem rang, weil ihr Schluchzen sie so schüttelte. Amares kniete nieder, nahm die Frau in die Arme und murmelte beruhigende Worte, während ihr vor Angst beinahe schlecht wurde. Diese Frau war zusammen mit ihr die Leichenreihen abgegangen. So wie Amares Badon nicht gefunden und deswegen aufgeatmet und ein wenig Hoffnung geschöpft hatte, so war auch diese Frau nicht fündig geworden. Gemeinsam hatten sie es als gutes Zeichen zu nehmen versucht.

Beide Hauptmänner waren auf der zweiten Verteidigungslinie gewesen, als Thalis auf der alten Wehr unter dem Ansturm zu Boden gegangen war. Bislang hatte niemand den Magier Roveon gefunden. Die Feinde hatten ihn nicht in ihre Gewalt bringen können, das hatte die Bitte des Kommandanten Amares bewiesen. Roveon hatte ebenfalls auf der zweiten Mauer gestanden. Was also war selbstverständlicher gewesen, als auf eine erfolgreiche Flucht aller Vermissten zu hoffen?

Aber während die Tränen der Frau Amares’ Robe durchtränkten, stahl sich eine entsetzliche Furcht in das Herz der Priesterin: Thalis war in Gefangenschaft geraten. Und wo auch immer Roveon sich verborgen hielt: So wie es aussah, war es dem Ehemann dieser Frau nicht gelungen, sich dem Zugriff der Feinde zu entziehen. Nur eins konnten die Tränen und die Flucht in den Tempel bedeuten. Der Hauptmann war tot. Sie hatte die Gewissheit erlangt, aber sie hatte seinen Körper bislang nicht geborgen.

Das Atmen fiel Amares schwer. Badon …

»Was ist geschehen?«, fragte sie, als das Schluchzen ein wenig abebbte.

»Er liegt im Schnee. Priesterin, er liegt im Schnee und ist voller Blut. Was soll ich nur tun?«

»Wer liegt im Schnee?«, hakte Amares nach, obwohl sie es sich schon denken konnte. Sie zitterte ebenso wie die Frau in ihren Armen.

»Mein Mann … Mein Mann und andere. Ich war in der Kaserne, um Lebensmittel abzuholen. Auf dem Misthaufen liegen sie … Mein Mann … andere. Ich habe nicht gewagt, ihn zu berühren. Ich habe nicht gewagt, seinen Leichnam zu bergen … Er ist gefoltert worden. So viel Blut im Schnee! Ich konnte kaum sein Gesicht erkennen … Was soll ich nur tun? Ich habe Angst, dass sie mich foltern, dass sie von mir Dinge wissen wollen … Dinge, die ich nicht weiß.«

»Dein Mann und andere?« Badon. Es musste Badon sein. Dann fuhr Hitze durch Amares’ Körper wie eine Flutwelle: Thalis. Der feindliche Hauptmann hatte gesagt, dass der Tribun noch nicht tot war. »Ich werde mit dem Kommandanten oder dem Hauptmann sprechen. Wir durften die gefallenen Soldaten bestatten. Ich werde um Erlaubnis bitten, dass wir auch diese Männer mit dem notwendigen Respekt zur letzten Ruhe betten. Bitte warte hier auf mich.«

Amares führte die Frau in ihre kleine Wohnung im Tempel, warf sich einen dicken Mantel über die Schultern und rief nach Kalonn, der im Keller arbeitete. Dann begab sie sich mit klopfendem Herzen auf den Weg zur Kaserne.

Der blutrote Schnee leuchtete ihr schon von Weitem entgegen. Sie versuchte, die Körper zu zählen, aber Amares sah nur verrenkte Gliedmaßen, blutige Kleidungsfetzen, roten Schnee, sodass es ihr schwerfiel, auch nur abzuschätzen, wie viele Männer dort lagen.

Ihr Herz schlug schmerzhaft, und mit einem Mal wünschte sie sich, dass sie nur eine einfache Magd wäre oder die Ehefrau eines Soldaten, von dem sie wusste, wo er war. Sie hatte Angst, welche Gesichter und Körper sie dort auf dem Misthaufen entdecken würde.

Der Hauptmann der Kriegsmaschinen lag dort, und Amares verstand mit einem Mal schockiert, dass sie weder seinen Namen noch den seiner Frau kannte. Beides nur Gesichter, die ihr vertraut waren. Hatte Badon jemals von diesem anderen Hauptmann gesprochen? Hatte er ihr von einer lustigen Begebenheit aus der gemeinsamen Ausbildungszeit erzählt? Von einer Tapferkeit des anderen im Kampf? Amares’ Hirn war wie vernagelt, sie konnte sich an nichts erinnern, nur mit trockenem Mund auf die blutigen Leiber starren und sich wünschen, dass es nicht ihre Aufgabe wäre, den Feind zu bitten, eine Bestattung zu erlauben.

Was, wenn Badon dort lag, und der feindliche Hauptmann untersagte ihr schlichtweg, die Leiche ihres Bruders zu bergen, zu waschen und für die feierlichen Riten vorzubereiten?

Diese Empfindung der Hilflosigkeit schmerzte noch schlimmer als die Angst, denn mit einem Mal hatte Amares das Gefühl, einfach stehenbleiben zu müssen, nicht einen einzigen Schritt vorwärtsgehen zu können.

Schneeflocken umtanzten sie. Sie kämpfte mühsam den Impuls nieder, auf der Stelle kehrtzumachen und in die Geborgenheit des Tempels zu flüchten. Ihr Blick hing wie gebannt an dem blutgetränkten Misthaufen. Sie atmete tief ein, langsam wieder aus. Selbst wenn sie nur eine kleine Küchenmagd wäre – auf diesem Haufen lag vielleicht der Leichnam ihres Bruders. Das gab endlich den Ausschlag, und sie konnte weitergehen, hocherhobenen Hauptes und gemessenen Schrittes. Sie sah nicht nach rechts oder links, aber sie erwartete jeden Augenblick, angesprochen oder aufgehalten zu werden.

Sie war darauf vorbereitet und erschrak nicht, als tatsächlich ein Mann quer über den Hof brüllte: »Wo denkst du, gehst du hin, Weib?«

Amares blieb stehen und drehte lediglich den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam.

Sie sah den Krieger nur an und ließ sich nicht dazu herab, auf seine gebrüllte Frage zu antworten. Das wäre unter ihrer Würde als Priesterin und als – wie der Kommandant es genannt hatte – letzte Amtsperson, letzte Sprecherin der dezimierten Bevölkerung einer besetzten Stadt.

»Ich habe dich gefragt, was du da willst!«, brüllte der Mann wieder über den Hof, und Amares sah, wie andere sich nach dem Kerl und auch nach ihr umdrehten.

Eine Tür schlug auf, aber Amares wandte sich nicht um, um zu sehen, wer da auf den Kasernenhof trat. Sie sah starr den brüllenden Schwachkopf an. Sie würde ihm nicht antworten, bevor er nicht zu ihr kam und seine Frage in vernünftigem Tonfall stellte. Zumindest wiederholte er sie kein weiteres Mal, und so setzte die Priesterin sich wieder in Bewegung auf den blutigen Misthaufen zu.

Mit jedem Schritt, den sie näherkam, konnte sie die Leiber schlechter unterscheiden. Sie sahen aus, als hätte man sie dort aus großer Höhe hingeworfen – wie Abfall.

Amares wurde zornig, wirklich wutentbrannt. Das waren Kriegsgefangene gewesen. Dort lagen Väter, Brüder, Söhne, Ehemänner, deren einziges Verbrechen es gewesen war, ihre Heimatstadt zu verteidigen. Rein zufällig wusste sie genau, dass Thalis Kriegsgefangene gut behandelt hatte. Sie hatten die gleichen Rationen bekommen wie seine Soldaten. Keiner seiner Gefangenen war wie Dreck auf einen Misthaufen geworfen worden, um dort auszubluten!

»Priesterin!« Eindringlich, aber nicht übermäßig laut. Jener Hauptmann, der sie das letzte Mal, als sie auf diesen Hof getreten war, um Gefallene zu bergen, so verächtlich behandelt hatte. »Warte bitte.«

Gut, sie blieb stehen und verharrte, bis er zu ihr aufgeschlossen hatte. Er war es gewesen, der aus dem Kasernengebäude getreten war. Mit langen Schritten kam er zu ihr und sah aufgebracht aus. Aber er rechnete mit einer kleinen, eingeschüchterten Frau, nicht mit einer liebenden Schwester, die befürchten musste, den Leichnam ihres Bruders in diesem blutigen Kadavergewirr zu finden.

»Hauptmann?«

»Mit wessen Genehmigung bist du hier?«

»Brauche ich eine weitere Genehmigung, die Toten dieser Stadt einer würdevollen Bestattung zuzuführen? Lass uns umgehend zu deinem Kommandanten gehen, wenn du dieser Meinung bist.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739417110
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Mai)
Schlagworte
Schlacht Magie Heroic Held Verrat Feuerzauber Fantasy Romance Liebe

Autor

  • Tanja Rast (Autor:in)

Geboren 1968 als echte Kieler Sprotte im nördlichsten Bundesland, wohne ich mit vielen Tieren auf dem Land. Nun habe ich neben meinen bisherigen und zukünftigen Verlagsveröffentlichungen das Abenteuer Selfpublishing für mich entdeckt. Ich schreibe Fantasy in allen möglichen Richtungen: Urban, Geistergeschichten, Gay Romance und Heroic Romance („Schmachten & Schlachten“, wie ich dieses Subgenre mit einem Augenzwinkern nenne) und noch viel mehr.
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Titel: Roveon