Lade Inhalt...

Blutwahn Der Preis der Unsterblichkeit

von Steve Wild (Autor:in)
220 Seiten

Zusammenfassung

In einem geheimen Labor werden Experimente an Menschen durchgeführt. Angebliche Vampir-DNA soll den Reichen die Unsterblichkeit bescheren. Dave Sanders ist das erste Versuchsobjekt, bei dem die Behandlung anschlägt. Aber die DNA verursacht nicht nur Langlebigkeit, sondern auch einen kaum zu kontrollierenden Blutdurst...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Blutwahn

 

Der Preis der Unsterblichkeit

 

Von Steve Wild

 

Copyright: © 2016 Steve Wild

 

 

stevewild@web.de

 

1

Kälte kroch durch meinen Körper und ließ jeden Muskel schmerzen. Ich zog die dünne Wolldecke enger um mich, aber auch das half nicht. Mit winzigen Zähnen biss die kühle Luft in jedes Stückchen Haut, das ihr ausgeliefert war.

Dazu kam, dass die Pritsche so hart war, dass ich genausogut auf dem Betonboden hätte liegen können. Meine Augenwinkel und Wangen waren feucht von meinen Tränen.

Ich versuchte mir einzureden, dass sie vom grellen Neonlicht tränten, aber es war die Verzweiflung, die sich in mir breitmachte.

Langsam zog ich meinen Arm unter der Decke hervor und legte ihn über die Augen. Sofort stürzte die Kälte sich darauf.

Das Licht kroch trotzdem unter meine Augenlider und verhinderte jede Möglichkeit, diesem Alptraum durch Schlaf zu entkommen.

Als ich vor zwei Tagen aus meinem warmen und kuscheligen Bett aufstand, hatte ich keine Ahnung, dass dies der letzte Schlaf war, den ich für eine gefühlte Ewigkeit bekommen würde. Hätte ich es gewusst, wäre der Wecker nicht auf fünf Uhr morgens eingestellt gewesen.

Verdammt, er wäre ausgeblieben und ich hätte diesen beschissenen Tag verschlafen. Einfach den Tag im Bett verbracht und niemals erfahren wie knapp ich einem Alptraum entronnen war.

Aber ich musste ja unbedingt aufstehen und Joggen gehen. Etwas für die Gesundheit tun.

Als ob es meiner Gesundheit jetzt besser gehen würde.

Sogar ein Lächeln hing diesen Morgen in meinem Gesicht.

Nachdem ich mich nach dem Aufwachen auf die andere Seite des Bettes wälzte, landete ich auf dem zweiten Kissen und atmete einen Hauch ihres Geruchs ein.

Mit ihrem Geruch meine ich Janine. Die tollste Frau der Welt.

Aber das wird jeder von seiner Freundin denken, der so verliebt war wie ich.

Vor zwei Tagen hatte sie zum ersten Mal bei mir übernachtet und mir diesen Duft hinterlassen.

 

Nach einem schnellen Frühstück sprang ich in meine Trainingshose und machte mich auf den Weg in den Park. Beim Öffnen der Tür fiel mein Blick auf einen geöffneten Brief, der auf meinem Schrank lag. Gerichtet an Dave Sanders, Systembetreuung.

Meine Einmannfirma, die mit diesem Schreiben endlich den großen Wurf geschafft hatte.

So gesehen war mein Lächeln verständlich. Es ging mir in jeder Beziehung gut, wie seit Jahren nicht mehr.

Ich hätte im Bett bleiben sollen.

Draußen empfing mich der Geruch des Frühlings. Es war ein Geruch nach Sonne, knospenden Pflanzen und guter Laune.

Vogelgezwitscher drang von allen Seiten auf mich ein und verkündete das Ende der dunklen Jahreszeit.

Ich entschloss mich, quer durch den Wald zu laufen. Trotz des Regens der letzten Tage war der Boden nicht matschig, sondern angenehm federnd. Als würde man über eine dünne Sportmatte laufen. Und ich musste mir den Weg nicht mit anderen Joggern teilen. Seitdem ich joggte, war mir auf diesem Weg noch nie ein anderer Sportliebhaber begegnet.

Eines Morgens traf ich auf einen Typen, der sich gerade mit heruntergelassener Hose neben einen Baum hockte. Wir taten beide so, als würde es den anderen nicht geben, deswegen zähle ich das nicht.

Nach der Hälfte der Strecke drang mir der Geruch von Zigarettenrauch in die Nase. Schnüffelnd schaute ich mich um und runzelte die Stirn. Ich mochte den Gestank von Zigaretten nicht, erst recht nicht beim Joggen. Zugegebenermaßen war ich schon immer empfindlich gegenüber solchen Gerüchen. Eine gute Nase zu haben ist nicht immer von Vorteil.

Durch die noch blätterlosen Äste der Bäume und Büsche erkannte ich drei kräftige Gestalten hinter der nächsten Kurve. Einer von ihnen stieß eine Rauchwolke aus, die sich im leichten Wind verteilte und in meine Richtung geweht wurde. Sein Blick folgte dem Rauch und blieb dann an meiner Gestalt hängen. Ein Lächeln legte sich über sein Gesicht und er schnippte die Zigarette ins Unterholz. Mit einem gemurmelten Wort machte er seine beiden Begleiter auf mich aufmerksam, so dass auch sie in meine Richtung schauten.

Plötzlich lag eine leichte Anspannung in der Luft und meine Augen wanderten automatisch umher, um einen anderen Weg zu finden. Irgendeinen Pfad, der nicht an den Dreien vorbeiführen würde.

Kurz kam ich aus dem Tritt und stolperte über eine Baumwurzel.

Das Grinsen des Rauchers schien breiter zu werden, als ich mich mit einem Ausfallschritt fing. Unverhohlen starrte er mich an und sagte etwas, das ich nicht verstand. Es schien nichts Nettes zu sein, da seine Begleiter abfällig lachten.

Ich atmete ein, beschleunigte und entschloss mich, an den Typen vorbeizulaufen. Was sollten sie schon machen, wenn ich sie nicht beachtete?

Meinen Blick auf den Weg gerichtet lief ich weiter und ignorierte das »Hei Hoh, was kommt denn da gelaufen?«, das einer der Typen ausstieß.

Der Raucher und ein anderer standen rechts des Weges und der dritte links, so dass ich zwischen ihnen durchlaufen musste. Da sich keiner auf den Weg stellte, um mich aufzuhalten, wollten sie wahrscheinlich nur ihre dummen Sprüche loswerden. Um dann wieder machen zu können, was auch immer man zu dritt im Wald machte.

Ich war gerade einen Schritt an ihnen vorbei, als mich etwas am Arm erwischte, meinen Schwung verstärkte und mich herumwirbelte. Genau auf einen Baum zu.

Ich riss den Arm hoch um nicht dagegen zu laufen, als mir jemand in die Kniekehlen trat. Schwer krachte ich gegen den Baum und dann zu Boden.

Verwirrt und erschrocken wollte ich mich hochdrücken, als ein Knie auf meinem Rücken landete und mich auf den Boden presste. Dreck und Tannennadeln drückten sich in meinen Mund, als ich gleichzeitig schreien und atmen wollte.

Dann spürte ich einen Stich im Arm und nichts mehr.

 

Aufgewacht bin ich in dieser Zelle aus grauem Beton, in der es nur eine unangenehm riechende Toilette und eine an die Wand geschraubte Pritsche gab. Von irgendwo drang das unaufhörliche Tropfen von Wasser an meine Ohren.

Ich saß in einer Zelle, wie man sie aus billigen Filmen kannte.

Die Stahltür, die mich von meiner Freiheit trennte, hatte in der Mitte eine Klappe, durch die mir schon zweimal Essen hereingereicht wurde. Es war jedes Mal eine Pampe aus Erbsen, Bohnen und etwas, das nach Fleisch aussah. Beim ersten Mal zwang mich mein Hunger, es herunterzuwürgen. Dabei hätte ich mich fast übergeben. Es sah aus wie Fleisch, schmeckte aber wie etwas, das vor mir schon jemand anders gegessen hatte.

Seitdem landet es in der Toilette, wo es besser hinpasste, als in einen Eintopf.

Beim Durchreichen des Essens war immer die Hand desselben Mannes zu sehen. Er hatte eine Tätowierung am Unterarm. Irgendein schlecht gestochener Adler oder so. Jedes mal, wenn das Quietschen der Klappe mich aufschreckte und die Hand mit dem Essen erschien, sprang ich auf und verlangte nach einer Erklärung, wollte wissen, warum ich hier war. Was ich auch sagte oder tat, die Antwort war immer dieselbe: Schweigen.

Jetzt lag ich auf der Seite und lauschte auf die Schritte im Gang. Manchmal hörte es sich an, als würden zwei oder drei Leute den Gang entlanggehen. Oft blieben sie vor meiner Tür stehen und unterhielten sich. Aber nie öffnete sich die Klappe. Den Grund, warum es ihnen reichte vor meiner Tür zu stehen, erkannte ich schnell. Meine Zelle sah zwar aus wie aus dem Krieg, aber das Computerzeitalter war auch hier eingezogen. Ich entdeckte drei kleine Kameras, die nicht viel größer als eine Fliege waren und den gesamten Raum überblicken konnten. Wenn ich diese Geräte nicht kennen würde, hätte ich sie übersehen. Trotz ihrer geringen Größe lieferten sie hochauflösende Bilder. Neben meiner Tür hing wahrscheinlich ein Monitor, der auf die Kameras geschaltet war. Ich konnte nicht einmal auf die Toilette gehen, ohne beobachtet zu werden. Wut staute sich bei dem Gedanken in mir auf. Ich hätte heulen und schreien können, bei der Vorstellung, dass fremde Leute mir dabei zusehen. Es ist erniedrigend, jeglicher Privatsphäre beraubt zu werden.

Auf dem Flur erklangen Schritte. Langsam konnte ich die verschiedenen Schrittmuster auseinanderhalten. Es waren dieselben wie die, die mir immer das Essen brachten.

Mein Zeitgefühl sagte mir, dass noch keine Essenszeit war, als die Schritte vor der Tür verstummten. Langsam setzte ich mich auf und starrte auf das Stück Stahl, das zwischen mir und der Freiheit stand.

Hoffnung keimte in mir auf. Wurde ich jetzt aus meinem Gefängnis entlassen? Hatte endlich jemand bemerkt, dass ich der Falsche war, dass alles nur ein Versehen war und ich das Opfer einer schrecklichen Verwechslung?

Ich hatte mir in den letzten Stunden schon tausende Erklärungen für mein Hiersein ausgedacht. Angefangen mit der Verwechslung mit einem Verbrecher oder einem gesuchten Terroristen. Eine böswillige Verleumdung von jemandem, der mich aus dem Weg haben wollte und mich als Drogendealer oder sonst was angezeigt hatte, bis hin zu meinem bösen Zwilling, von dem mir meine Eltern bis zu ihrem Tode nichts gesagt hatten, und der jetzt versucht, mir mein Leben zu stehlen.

An diesem Punkt hatte ich festgestellt, dass ich zu viel Fernsehen schaute und versuchte, wieder klar zu denken. Ich hatte Angst, ich könnte sonst den Verstand verlieren. Und wenn dann die große Auflösung käme, wäre ich nur noch ein Idiot, der sabbernd in der Ecke sitzt. So weit wollte ich es nicht kommen lassen. Also entschloss ich mich, von einer Verwechslung auszugehen, die sich bald aufklären würde. Dann konnte alles wieder gut werden.

War es jetzt so weit? Kam jetzt meine Erklärung Hand in Hand mit meiner Freiheit herein? Das Schlimmste war die Ungewissheit und das Warten.

Dann hörte ich, wie ein Schlüssel ins Schloss geschoben wurde.

Als die Tür sich öffnete, standen zwei in schwarz gekleidete Gestalten auf dem Gang. An das Gesicht des Einen konnte ich mich erinnern. Es war der Raucher aus dem Wald. Der, dem ich die Beule und die Kratzer zu verdanken hatte.

Auf seinem Gesicht lag ein schmieriges Grinsen, so eines, das man aus alten, zweitklassigen Gangsterfilmen kennt.

Aber in mir spürte ich weder Hass noch Rachegefühle, ich spürte lediglich Freude in mir aufkommen. Endlich kam ich raus! Alles hatte sich aufgeklärt und ich konnte gehen!

»Na, ausgeschlafen?«, fragte der Raucher, ohne mit dem Grinsen aufzuhören. »Du kommst jetzt schön brav mit. Der Doc möchte dich sehen.«

Mit schweren Schritten kam er in die Zelle, packte mich grob am Arm und zog mich hoch.

Von dem, was er sagte, drang kein Wort in mein Bewusstsein. Ich war in meiner Euphorie gefangen. Endlich redete man mit mir. Endlich bekam ich eine Erklärung.

»Warum hat das so lange gedauert?«, fragte ich. »Habt ihr den Richtigen erwischt? Ich hoffe, ihr habt eine wirklich gute Entschuldigung für die Sache. Kann ich telefonieren? Ich würde gern meine Freundin anrufen und ihr sagen, warum ich mich nicht gemeldet habe.«

Ich versuchte, mich zu ihm umzudrehen, und fragte: »Oder habt ihr schon Bescheid gesagt? Wenn ich meinen Auftrag verliere, werde ich euch bis auf den letzten Cent verklagen.«

Ich stellte fest, dass ich wirr redete. Zwei Tage in Isolation machten einen fertiger, als man denkt. Die Worte sprudelten aus meinem Mund, ohne dass ich sie aufhalten konnte.

Ich war so abgelenkt, dass ich erst merkte, dass mir Handschellen angelegt wurden, als es zu spät war.

Mein vermeintlicher Befreier packte mich am Rücken und drückte mich an die Wand. Durch die Handschellen auf dem Rücken konnte ich mich nicht abstützen, und ich stieß mit dem Gesicht dagegen. Etwas in meiner Nase platzte und ein Schwall Blut ergoss sich über meinen Mund und die Wand, wo es in einem roten Bach nach unten floss. Der Schmerz trieb mir Tränen in die Augen.

Ein nach Zigaretten und Kaffee stinkender Mund tauchte neben meinem Gesicht auf.

»Halt deine Schnauze und quatsch mich nicht voll. Du hast nur zu reden, wenn ich es dir erlaube. Ist das klar? Und jetzt beweg deinen blöden Arsch und komm mit. Und wenn du irgendetwas versuchst, werde ich dir eine gratis Schönheitsoperation verpassen. Hast du das verstanden?«

Als ich nicht sofort antwortete, packte er mich am Kragen und schlug mich wieder gegen die Wand. Diesmal konnte ich meinen Kopf zur Seite drehen, um nicht wieder mit der Nase dagegen zu schlagen.

»Ich habe dich gefragt, ob du mich verstanden hast?!«

»Ja, ich habe verstanden«, stieß ich hervor. Ich hatte verstanden. Dies war nicht das Ende, es war der Anfang!

Er zog mich zurück und stieß mich aus der Zelle. Auf dem Gang wurde ich von dem zweiten Mann in Empfang genommen, der mich am Arm auffing und den Gang herunter führte. Hinter mir wurde die Zellentür zugezogen. Ich traute mich nicht, den Kopf zu drehen, um den Raucher nicht durch reines Ansehen zu provozieren.

»Irgendwann handelst du dir noch mal Ärger ein«, sagte mein Begleiter zu ihm.

»Halt deine Schnauze und bring ihn zum Doc. Ich weiß schon was ich mache. Du hast nur zu tun, was ich dir sage.«

»Ich meinte ja nur, dass du vielleicht mal versehentlich einen umbringst oder etwas zu sehr beschädigst. So viele Kandidaten laufen auch nicht herum.«

»Wenn ich einen Rat will, frag ich meine Mutter und nicht einen Blödmann wie dich. Jetzt beweg dich. Der Doc wartet.«

Er packte mich am anderen Arm und zerrte mich den Gang entlang.

Die Schmerzen in meiner Nase machten meinen Kopf wieder frei und ließen meine Euphorie verschwinden. Das hier war kein Versehen oder eine Verwechslung. Auch ein Dealer würde nicht so behandelt werden. Und keiner von beiden trug eine Uniform. Meine Hoffnung, hier herauszukommen, ging auf null. Wenn hier etwas Illegales ablief, würde man mich nicht einfach gehen lassen, sobald man bekommen hatte, was man wollte. Was auch immer das war.

Der Gang war genauso roh gearbeitet wie die Zellen. Nackter Beton, der weiß angestrichen war. Ich zählte auf jeder Seite des Ganges drei Türen. Neben jeder Tür war ein Flachbildmonitor angebracht. Alle waren abgeschaltet. Wenn meine Zelle in der Mitte lag, gab es etwa zwölf Türen. Zwölf Zellen? War ich nicht der Einzige hier? Ich versuchte, auf Stimmen hinter den Türen zu lauschen, konnte aber nichts hören, da in meinen Ohren das Blut rauschte. Und es lief mir noch immer in dicken, warmen Tropfen aus der Nase über das Kinn, bevor es zu Boden tropfte.

Als wir an der letzten Tür vorbeikamen, gab es einen Knall. Meine Bewacher machten einen schnellen Schritt zur Seite und erbleichten, als der Knall sich wiederholte. Die Tür der Zelle erzitterte, als hätte jemand von innen einen schweren Gegenstand dagegen geworfen.

»Er riecht das Blut«, flüsterte mein linker Begleiter.

»Schwachsinn. Er dreht nur langsam durch. Hat unsere Schritte gehört«, reagierte der Raucher aggressiv, aber aus seiner Stimme konnte man Angst heraushören.

»So? Und warum macht er sonst nicht so einen Aufstand, wenn wir vorbeikommen?«. Seine Stimme zitterte vor Nervosität.

Statt zu antworten, packte der Raucher mich kräftiger und beeilte sich, an der Tür vorbeizukommen.

Als wir die Biegung des Ganges erreichten, warf er noch einen Blick über die Schulter. Ein schrilles Heulen und Kreischen, als würde ein Mensch mit einem Hund um die Wette brüllen, schallte uns hinterher. Dann war Ruhe.

Wir gingen auf eine weitere Tür zu, die sich kaum von den anderen unterschied, nur dass neben ihr kein Monitor hing. Und das Türschloss war einfacher gehalten, nicht wie das einer Zelle.

Der Raucher nahm mir die Handschellen ab, öffnete die Tür und ging in den Raum. Sein Partner stieß mich hinter ihm über die Schwelle.

Der Raum war hell und freundlich. Ich wurde vor einen großen Schreibtisch geschoben, hinter dem ein etwas übergewichtiger Mann saß und mich durch seine randlose Brille freundlich ansah.

Meine Eskorte trat zur Seite und stellte sich neben die Tür.

»Setzen sie sich«, sagte der Brillenträger und deutete auf einen einfachen Stuhl vor dem Schreibtisch.

Der Raum sah aus wie eine Arztpraxis. Es gab einen Schrank mit Glastür, hinter der Medikamente, Spritzen und weiteres Zubehör zu sehen waren. Dominiert wurde der Raum aber von einer Untersuchungsliege, neben der mehrere teuer aussehende Geräte standen. Offensichtlich wurde bei Untersuchungen mit Widerstand gerechnet, da die Patienten mit Lederschnallen fixiert werden konnten.

Keine angenehme Vorstellung.

Ich setzte mich und schaute meinen Gastgeber an. Das Lächeln wirkte professionell, aufgesetzt und kalt. Ich ging davon aus, dass es sich bei ihm um einen Arzt handelte, da er zusätzlich zu seinem Lächeln einen weißen Kittel trug.

Er zog einige Taschentücher aus einem Pappspender und reichte sie mir. »Mike ist manchmal etwas unbeherrscht. Sie dürfen ihm das nicht übel nehmen. Der Job ist sehr anstrengend und geht auf die Psyche. Wenn sie nett zu ihm sind, wird er auch freundlicher zu ihnen sein.

Wie geht es ihnen sonst? Ich hoffe, sie haben sich in den letzten Tagen keine Grippe oder Ähnliches eingefangen?« Offensichtlich war meine blutende Nase damit abgetan. Ich nahm die Taschentücher und ließ zu meiner eigenen Verwunderung ein: »Nein, es geht mir gut«, hören.

»Schön, schön«, antwortete er, ohne mir zuzuhören, und schlug einen grauen Aktenordner auf.

»Ihr Name ist Dave Sanders?«

»Ja, das stimmt, aber es muss sich hier um eine Verwechslung handeln. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.« Trotz der eigenartigen Umstände hoffte ich doch wieder darauf, dass es nur ein Versehen war und ich hier herauskam.

»Reden sie bitte nur, wenn sie gefragt werden«, sagte er in dem gleichen beiläufigen Ton, den er seit Beginn unserer Begegnung an den Tag gelegt hatte. Ich spürte, wie Mike sich von hinten näherte, in der Hoffnung, dass ich die Anweisung des Arztes ignorierte und er sie mir deutlicher zu verstehen geben konnte.

Ich sackte innerlich zusammen und gab auf. Ich bin noch nie ein großer Kämpfer gewesen und musste mich fügen, wenn ich nicht wieder misshandelt werden wollte.

»Ihre Eltern sind vor drei Jahren bei einem Autounfall gestorben. Sie haben keine Geschwister, sind nicht verheiratet und haben keine Haustiere.« Er blickte von seiner Liste auf und mich erwartungsvoll an. Als müsste ich ihm applaudieren, dass er so schön von einer Liste ablesen konnte.

»Ja«, antwortete ich.

Er sah wieder auf seine Mappe und machte weiter.

»Ihre Blutgruppe ist AB Negativ und sie haben keine Geschlechtskrankheiten. Verlobt oder etwas in der Art haben sie sich in letzter Zeit auch nicht, oder?«

»Nein«, antwortete ich wieder.

Mike trat einen Schritt näher an den Schreibtisch heran. Ich zuckte zusammen, hatte Angst, dass ich etwas falsch gemacht hatte und er mich schlug. Ich hatte einen Heidenrespekt vor diesem Psychopathen.

Er beugte sich aber nur über den Schreibtisch und flüsterte dem Doc etwas ins Ohr.

»Eine Freundin?«, fragte er. »Kümmern sie sich darum.«

Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Als ich vorhin aus meiner Zelle geholt wurde, hatte ich nach meiner Freundin gefragt. Hatte ich sie dadurch in die Sache hineingezogen? Ich hatte keine Eltern, keine Geschwister und bis vor kurzem auch keine Freundin. Wenn ich verschwand, gäbe es niemanden, der Fragen stellt. Man müsste nur meine Wohnung ausräumen und kündigen. Eine Freundin änderte die Sache. Eine Freundin würde Fragen stellen. Das würde aber auch bedeuten, dass diese Sache langfristig geplant war.

Aber warum? Ich verstand nichts mehr. Am liebsten würde ich schweißgebadet in meinem Bett aufwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum war. Aber ich wachte nicht auf. Stattdessen fing ich an zu schwitzen.

»Eine Freundin kann man das eigentlich nicht nennen«, versuchte ich, etwas zu retten. »Es ist mehr eine Bekannte. Wir haben uns erst zweimal gesehen und...« Ich verstummte, als Mike sich zu mir umdrehte und mich mit seinem bösen Blick bedachte. Der Doc schüttelte leicht den Kopf, was mich wahrscheinlich vor Handgreiflichkeiten bewahrte.

Es fiel Mike sichtbar schwer, an mir vorbei zu gehen, ohne mir auf seine Art zu sagen, dass ich gegen die Regel ‚Nur reden, wenn man gefragt wird‘ verstoßen hatte. Als er wieder seine Position neben der Tür eingenommen hatte, brannte noch immer sein Blick in meinem Nacken. Langsam kam ich mir vor, wie in einem schlechten Film. Typen wie Mike konnte es doch nicht in der Realität geben.

»Wir werden uns später über ihre Freundin unterhalten. Krempeln sie jetzt bitte ihren Ärmel hoch. Ich möchte ihren Blutdruck messen.«

Mein Gehirn schaltete sich ab und ich folgte den Anweisungen des Arztes. Was für andere Möglichkeiten hatte ich denn schon?

Es blieb nicht beim Pulsmessen, sondern es folgte eine komplette Untersuchung. Vom EKG bis zur Blutprobe. Ein bisschen Angst stieg noch auf, als ich mich auf den Untersuchungstisch mit den Lederfesseln legen sollte, aber auch die verschwand schnell und die Teilnahmslosigkeit nahm wieder ihren Platz ein.

Zum Schluss bekam ich noch eine Spritze mit einer durchsichtigen, leicht milchigen Flüssigkeit, die in meinen Adern ein Brennen verursachte, als wäre es Säure. Als das Brennen nachließ, blieb eine leichte Benommenheit und Übelkeit zurück.

Nachdem der Doc nochmals Blutdruck und Puls gemessen und seine Ergebnisse in meine Akte eingetragen hatte, nickte er Mike zu. Der half mir fast liebevoll auf die Beine und brachte mich zurück in meine Zelle.

Ich lag kaum auf meiner Pritsche, die mir jetzt sehr bequem vorkam, als sich die Müdigkeit meldete. Ich schloss die Augen und fiel in einen traumlosen Schlaf.

2

Schmerzen rissen mich aus dem Schlaf und ließen meinen Körper zucken. Unter Krämpfen warf ich mich auf der Matratze hin und her. Mein Magen zog sich zusammen und ich würgte, bis bittere Galle aufstieg. Meine Gedärme brannten, als würden sie über einem offenen Feuer gegrillt werden. Schweiß tropfte von meiner Stirn und ich bekam kaum Luft.

Dann wurden die Krämpfe schlimmer und ich krümmte mich so sehr zusammen, dass ich von der Liege fiel und auf dem kalten Betonboden aufschlug. Die Kühle brachte etwas Linderung, bis mein Körper wieder anfing, vor Schmerzen zu brennen. Ich versuchte, nach Hilfe zu rufen, aber es kam nur ein Krächzen aus meiner Kehle. Dann setzte das Würgen wieder ein, stärker als zuvor, bis ich mein Essen auf dem Zellenboden verteilte. Jedes Mal wenn ich versuchte einzuatmen, musste ich erneut würgen, bis ich das Gefühl hatte, ersticken zu müssen. Da mein Magen schon längst leer war, kam nur noch stinkende Magensäure heraus und mischte sich unter mein Essen, das in einer Pfütze auf dem Boden wiedergeboren wurde.

Als der Anfall nachließ, saugte ich gierig die saure Luft ein. Ich lag in meinem eigenen Erbrochenen und war unfähig, mich zu rühren.

Was war hier los? Was zum Teufel hatte der Doc mir gespritzt? Ich sterbe, dachte ich noch, bevor ich ohnmächtig wurde.

Als ich erwachte, lag ich wieder auf meiner Liege und starrte an die Decke. Auf meiner Haut fühlte ich neue Kleidung. Ich beugte mich vor, um besser sehen zu können. Es waren einfache Jeans und ein raues, dunkelblaues Baumwollhemd, das auf der Haut scheuerte. Ich setzte mich vollständig auf und schaute mich um. Alle Spuren meines Anfalls waren beseitigt worden, und der Geruch nach Zitronen lag in der Luft. Für eine Zelle war der Service gar nicht so schlecht, dachte ich grimmig.

Ich hoffte nur, dass nicht Mike für diese Arbeit abgestellt worden war. Der würde sich für die Sauerei bei mir bestimmt schmerzhaft revanchieren.

Mein Hals fühlte sich rau und trocken an und meine Haut glühte noch immer. Selbst mit meinen heißen Händen konnte ich die Hitze spüren, die meine Stirn abstrahlte.

Ich wollte etwas trinken, aber das Tablett, das sonst neben der Pritsche stand, war weg. Es gab nichts außer meiner Decke und dem Kissen.

Mein Blick fiel auf die Toilette, aber lieber würde ich verdursten, als mich so zu erniedrigen. Vorsichtig stand ich auf und stützte mich an der Wand ab. Ich war nicht in Bestform. Meine Knie wollten nachgeben und meine Muskeln fühlten sich wie Haferbrei an.

Ich schleppte mich zur Tür und schlug mit aller Kraft dagegen, was ein schwaches Pochen hervorrief. Mein Versuch laut zu rufen, brachte nur ein Krächzen hervor. Mit dem einzigen Effekt, dass meine Halsschmerzen stärker wurden.

Also schleppte ich mich zur Liege zurück und legte mich wieder hin.

Bei dem Versuch, die Schmerzen in meinem Körper zu ignorieren, schlief ich gnädigerweise ein.

Das Klicken des Türschlosses weckte mich. Mein Hals fühlte sich jetzt wie ein Streifen Schleifpapier an. Jeder Atemzug brannte stärker als der vorherige. Einer meiner Wächter betrat den Raum und stellte mir vorsichtig ein Glas Wasser auf den Boden. Er blieb einen Moment stehen und musterte mich. Er bemerkte nicht, dass ich wach war, obwohl ich mit offenen Augen dalag. So dick und trocken, wie sie sich anfühlten, hatte ich sie wahrscheinlich auch im Schlaf nicht geschlossen. Dann drehte er sich um und schloss mich wieder ein.

Meine Finger tasteten blind nach dem Glas. Noch immer verursachte jede Bewegung Übelkeit. Als ich unter meinen Fingern die kühle Glätte spürte, hob ich das Glas an und nahm gierig einen Schluck. Dann bekam ich wieder einen Krampf und verschüttete den Rest über mein Hemd.

Der Schluck hatte gereicht, um das Brennen im Hals etwas zu mildern. Ich schloss die schmerzenden Augen und schlief sofort wieder ein.

Beim nächsten Erwachen dröhnte mein Kopf und Erinnerungsfetzen zogen vorbei. Ich wurde mehrfach aus meiner Zelle geholt, um weitere Experimente über mich ergehen zu lassen. Medizinisches Gerät, Spritzen und unangenehme Untersuchungen kamen blitzlichtartig an die Oberfläche und verursachten eine Gänsehaut. Alle Erinnerungen waren verwaschen und undeutlich. Aber ich wusste, dass es keine Träume waren.

Als ich mich vorsichtig aufsetzte, rechnete ich mit Übelkeit und Schmerzen, aber ich fühlte mich überraschend gut, richtig ausgeruht und ausgeschlafen.

Mein Körper fühlte sich an, als wäre ich nach einem langen Training in Höchstform.

Ich stand auf und streckte mich. Als ich mir die Arme rieb, um die Blutzirkulation anzuregen, spürte ich meine Muskulatur unter den Händen. Meine kräftige Muskulatur.

Ich war überrascht. So hatten sich meine Muskeln das letzte Mal vor einigen Jahren angefühlt, als ich jeden Tag drei Stunden Sport getrieben hatte. Wieder ein Rätsel mehr. Was war los? Hatte ich im Delirium meine Leidenschaft zum Sport wiederentdeckt? War unter meiner Liege ein geheimes Sportstudio, das ich immer aufsuchte, wenn keiner meiner Wärter in der Nähe war?

Natürlich totaler Schwachsinn. Ich setzte mich auf den Rand der Liege und dachte nach.

Ich konnte nicht sagen, wie lange mein tranceartiger Zustand angehalten hatte, da ich mein Zeitgefühl verloren hatte. Aber in den Erinnerungen, die ich hatte, kam kein Sport vor. Nur Untersuchungen, Medikamente und Spritzen.

Das musste es sein: Medikamente und Spritzen.

Ich schüttelte den Kopf. Das konnte es nicht sein. Es gab keine Pillen, die Sport ersetzen und Muskeln wachsen ließen. Auch wenn der Markt für so ein Produkt riesig wäre, bei der Faulheit der meisten Menschen.

Oder war es das, und ich wurde als Versuchskaninchen benutzt, um genau diese Pillen zu testen? Man hatte ja schon genug über illegale Versuche der Pharmaindustrie gelesen. Allerdings fanden die meistens irgendwo in der Dritten Welt statt, wo niemand Fragen stellte und die Menschen glücklich waren, überhaupt Medikamente zu bekommen. Entführung war da etwas anderes.

Ein Schrei riss mich aus meinen Gedanken. Er drang nur gedämpft durch die Tür, aber ich erkannte ihn wieder. Als ich ihn das erste Mal hörte, kam er aus einer anderen Zelle. Ich stand auf und drückte mein Ohr an die Tür. Nach einigen Sekunden wiederholte sich der Laut. Es hörte sich nach einem Tier an. Kein Mensch konnte einen solchen Schrei ausstoßen. Eine leichte Vibration wanderte durch die Tür, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen oder gegen die Wand geworfen worden. Allerdings musste es jemand sehr kräftig geworfen haben, wenn sich die Vibration bis zu meiner Zelle ausbreitete. Die Haare auf meinem Unterarm richteten sich auf und ein unangenehmes Gefühl breitete sich aus. Was war in diesem Bau los?

Ich drückte noch einige Minuten mein Ohr an die Tür, aber das Schreien wiederholte sich nicht. Zögerliche Schritte erklangen auf dem Gang. Die Wache macht ihren Rundgang, dachte ich grimmig und legte mich hin, um zu tun, als würde ich schlafen. Sie brauchten nicht zu wissen, dass es mir besser ging.

3

Der Doc wirkte nervös hinter seinem Schreibtisch. Obwohl er in diesen, seinen, Räumen das Sagen hatte, ja sogar über Leben und Tod entscheiden konnte, fühlte er sich unwohl. Und das alles nur wegen eines hässlichen, mageren Mannes, der auch noch einen Silberblick hatte. Jedes Mal, wenn er ihn ansah, musste er sich beherrschen nicht den Kopf zu drehen, um nachzuschauen, was es denn so Interessantes neben ihm zu sehen gab.

Natürlich gab es nichts neben ihm. Der Blick galt ganz allein ihm. Was wollte er überhaupt hier? Er bekam doch jede Woche seine Berichte. Musste er unbedingt persönlich erscheinen? Oder hatten sie vor, das Projekt zu kippen? Dem Doc trat Schweiß auf die Stirn, als er an diese Möglichkeit dachte.

Hatten sie herausgefunden, dass er Geld abzweigte? Er hatte die Verantwortung für das Budget und den gesamten Einkauf. Da das Labor geheim war, hatte er ein paar Bekannte mit ins Spiel gebracht, die Ware lieferten, ohne Fragen zu stellen. Natürlich zu überhöhten Preisen, von denen er sein Teil abbekam. Das lief jetzt schon seit mehreren Jahren, sodass sich ein nettes Sümmchen auf einem geheimen Konto angesammelt hatte. Wenn er hier fertig war, konnte er die Füße hochlegen und das Leben genießen. Wenn er alles richtig machte, ein sehr langes Leben.

Er rief sich zur Ruhe. Wenn die Sache aufgeflogen wäre, hätte er nicht Besuch vom Chef bekommen, sondern von Mike und seinen Schlägern.

Mike machte ihm Angst und war ihm schon lange ein Dorn im Auge. Er war aggressiv, unbeherrscht und dumm. Der Doc hatte schon mehrfach versucht, ihn loszuwerden, war aber immer gescheitert.

Man war der Meinung, dass Mike hervorragend in diesen Laden passte. Militärische Ausbildung. Sondereinheit. Idealer Sicherheitschef.

Alles Mist. Der Typ war einfach zu blöd und ist beim Versuch, in eine Sondereinheit zu kommen, bei der Prüfung durchgefallen. Als ein Kollege sich darüber lustig machte, hatte er ihn fast umgebracht. Das war es mit der militärischen Laufbahn.

Er war nichts als ein dämlicher Söldner, der gern andere Leute quälte und wahrscheinlich schon einen Orgasmus bekam, wenn er das Wort Macht nur hörte. Und so etwas hatte die Befehlsgewalt über das Sicherheitspersonal in diesem Labor.

Der Doc konzentrierte seine Gedanken wieder auf den Mann vor ihm. Siebenunddreißig Jahre alt. Single. Multimillionär. Er hatte zur Zeit des Internetbooms auf das richtige Pferd gesetzt und gewonnen. Er hatte ein paar Firmen gegründet, die sich mit allen Bereichen des Internets beschäftigten und sie dann mit viel Gewinn verkauft. Und nicht immer stimmten die Umsatzzahlen der Firmen beim Verkauf. Aber bei der damaligen Goldgräberstimmung waren die Menschen bereit, alles zu glauben.

Oh ja, der Doc hatte seine Hausaufgaben gemacht. Er wusste schon immer gern alles über die Leute, mit denen er zusammenarbeitete. Allerdings gab es Menschen, die diese Vorsorgemaßnahmen anders auslegen würden. Oder besser gesagt, ausgelegt hatten. Deswegen flog er aus einer staatlichen Forschungseinrichtung. Nur weil bei seinen Daten auch ein paar sehr private Fotos seiner Mitarbeiterinnen waren. Wen störte so etwas schon?

»Wie sahen die letzten Versuche aus?«, holte ihn diese widerliche, emotionslose Stimme aus seinen Gedanken. Das war schon immer sein Problem. Er dachte zuviel und schaltete dann immer ab. Es gab aber auch genug interessantere Sachen, über die man nachdenken konnte, anstatt die Fragen eines nervigen Millionärs, der Angst vor dem Tod hatte, zu beantworten.

Als er in das fragende Gesicht seines Gegenübers sah, merkte er, dass er schon wieder abgeschweift war. Das half nicht, seine Nervosität zu überwinden.

»Äh, ja. Die letzten Versuche.« Er räusperte sich und rutschte auf seinem Stuhl herum. »Die waren eigentlich ganz gut. Bis auf einige Nebenwirkungen.« Er suchte nach den richtigen Worten um es für Daniel verständlich auszudrücken. Mister Meyer bestand darauf, mit seinem Vornamen angesprochen zu werden. Er wollte damit das Persönliche in den Beziehungen unterstreichen. Weg vom kalten Chef-Angestellten-Verhältnis.

Er glaubte aber eher, dass es an dem Allerweltsnamen Meyer lag. Ein so wichtiger Mann kann doch nicht mit ‚Mister Meyer‘ angesprochen werden.

»Die letzten Versuche waren vielversprechend. Die Nebenwirkungen bekommen wir in den Griff. Ich glaube, dass wir in wenigen Monaten befriedigende Ergebnisse liefern können.«

Daniel beugte sich vor und starrte ihm in die Augen. »Speisen sie mich hier nicht mit irgendeinem Blah Blah ab. Sonst werden die nächsten Experimente an ihnen durchgeführt. Denselben Mist haben sie mir vor drei Monaten erzählt. Und jetzt brauchten sie schon wieder eine neue Laborratte. Mit jeder weiteren Versuchsperson steigt das Risiko, dass wir auffliegen. Oder glauben sie, wir können unbegrenzt Leute von der Bildfläche verschwinden lassen? Es gibt schon ein paar Stimmen, die das Experiment abbrechen wollen. Die Teilhaber bekommen langsam kalte Füße. Also noch mal: Wie sahen die letzten Versuche aus?«

Der Doc wurde noch blasser. Er hatte schon des Öfteren mit verärgerten Investoren zu tun gehabt, aber die hatten nie sein Leben bedroht. Es war auch das erste Mal, dass er illegale Experimente an Menschen durchführte.

Plötzlich war Daniel nicht mehr so eine Witzfigur. Seine schielenden Augen fixierten ihn kalt und die emotionslose Stimme machte ihm Angst. Ein kurzer Befehl an Mike, und er würde auf seinem eigenen Untersuchungstisch liegen.

»Wir haben große Fortschritte gemacht. Wirklich!«, beeilte er sich, zu sagen. »Der Zellverfall ist bei den letzten Versuchen auf ein Minimum zurückgegangen. Die errechnete Lebenserwartung liegt damit bei achthundert Jahren. Die regenerativen Fähigkeiten sind um das Tausendfache gestiegen. Schwere Wunden heilen in weniger als sechs Stunden. Wir haben festgestellt, dass sogar kleinere Gliedmaßen, in diesem Fall ein Finger, nachwachsen.«

Er konnte in den Augen seines Gegenübers sehen, dass er gewonnen hatte. Ihm strahlte Gier entgegen. Wie viele Milliarden konnte man in achthundert Jahren anhäufen? Und was wäre ein hundert oder sogar tausend Jahre längeres Leben den Reichen und Mächtigen dieser Welt wert? Man sah, dass es Daniel schwerfiel, sich seine Gedanken nicht anmerken zu lassen. Der Doc selbst konnte nachts kaum noch schlafen bei der Vorstellung. Achthundert Jahre Leben bei bester Gesundheit. Wer wäre da nicht bereit, fast alles zu geben? Man hatte ja genug Zeit, es sich zurückzuholen. Der Begriff langfristige Investition bekam eine völlig neue Bedeutung. Allerdings durften weltweit nicht mehr als einige Dutzend Menschen davon Kenntnis haben. Der Pöbel dürfte nie etwas davon erfahren. Wo kämen wir hin, wenn jeder so lange leben wollte? Wer wäre noch bereit, in einen Krieg zu ziehen, wenn er hunderte Jahre zu verlieren hätte? Was wäre mit der Waffenindustrie, wenn niemand mehr Krieg will? Und dann das Problem mit der Überbevölkerung. Nein! Die Masse durfte dieses Geheimnis niemals erfahren. Aber er selbst würde dazu gehören. Er würde im Laufe der Jahrhunderte die Geschicke der Menschen mitbestimmen. Er und wenige Auserwählte.

Das Auswahlverfahren war ganz einfach: Geld.

Die reichsten Menschen der Welt konnten sich das kaufen, was man bisher nicht für Geld bekam: Zeit.

Wenn er dabei sein wollte, musste er nur dafür sorgen, dass er nicht in irgendeinem Brückenpfeiler endete. Sobald er die letzten Schwierigkeiten gelöst hätte, wäre das aber kein Problem mehr.

»Und woran hapert es noch?«

»Wir arbeiten mit unbekannter DNA.« Der Doc stützte seine Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und faltete die Hände. »Wir verstehen noch nicht genau was passiert, wenn wir die veränderte DNA injizieren. Sie setzt sich in der DNA des Körpers fest und verändert sie. Wir haben noch nicht alles entschlüsselt. Und es gibt noch ein weiteres Problem, das ich nicht verstehe.« Er schwieg einen Moment, da er nach den richtigen Worten suchte.

»Wir arbeiten hier mit der DNA von etwas, dass es nicht geben dürfte. So etwas gibt es nur in Legenden oder Filmen. Wer ist denn im echten Leben auf einen Vampir oder Werwolf getroffen? Diese DNA bewirkt noch etwas anderes im Körper. Etwas, das wir nicht erklären oder kontrollieren können. Der Drang nach Blut, das Verlangen zu töten. Etwas passiert mit diesen Menschen. Etwas, das auf der wissenschaftlichen Ebene nicht zu erklären ist. Entweder werden sie durch das Hinzufügen der DNA getötet, oder sie verwandeln sich nach einigen Wochen in Monster. Wir konnten den Zustand bisher nicht stabilisieren.«

»Wie lange noch?«

»Auch wenn wir jetzt das Problem in den Griff bekommen, müssten wir erst einen Langzeittest über mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte durchführen. Oder wollen sie eines Morgens aufwachen und aussehen wie ein Wolf? Oder sich beim Sonnenbaden in Staub auflösen?«

»Sie haben sechs Monate. Vier davon für ihre Tests. Wenn der Zustand so lange stabil ist, wird er es auch bleiben. Außerdem werde ich nicht der Erste sein, der es testet. Aber ich muss Ergebnisse vorlegen. Ihre medizinischen Spielereien verbrauchen eine Menge Geld. Mehr als geplant. Und das nicht nur durch die überhöhten Rechnungen ihrer Freunde. Die Geheimhaltung dieses Projektes ist schwieriger, als wir dachten.«

Der Doc wurde blass. Daniel wusste über sein Nebeneinkommen Bescheid.

Lachend stand Daniel auf. »Sie dachten doch nicht, dass sie mich hintergehen können, ohne dass ich etwas davon mitbekomme? Dieses Projekt ist zu wichtig, als dass nicht alle Beteiligten mehr als einmal auf Herz und Nieren überprüft werden. Ihre Freunde leisten gute Arbeit und scheinen zuverlässig zu sein. Wenn sie eine Provision kassieren, ist mir das egal.« Er zog seinen Mantel über. »Aber übertreiben sie es nicht«, fügte er warnend hinzu und ließ den Doc ohne Abschiedsgruß stehen.

Er wusste es also wirklich. Wenn ihm die Summen egal waren, musste noch wesentlich mehr Geld in der Sache stecken als das Budget, auf das er Zugriff hatte. Viel mehr.

Schwitzend rief der Doc nach Mike. Sechs Monate waren nicht viel. Er durfte keine Zeit vergeuden. Mike sollte ihm den Patienten bringen. Die Behandlung musste beschleunigt werden, damit er bei einem Fehlschlag noch genug Zeit hatte, den Versuch zu wiederholen.

4

Die Schritte auf dem Flur verstummten vor der Tür. Ich blieb mit geschlossenen Augen liegen und spielte den Schlafenden. Nach einer Pause hörte ich, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und der Riegel zurückschnappte.

Mike betrat den Raum. Mittlerweile konnte ich ihn an seinem Rasierwasser erkennen, da er immer roch, als würde er darin baden. Sein Begleiter, ich nannte ihn in Gedanken Frank, blieb auf dem Gang stehen. Frank hatte einen auffälligen Körpergeruch, an dem ich ihn erkannte, ohne dass er den Raum betreten musste. Entweder hatte ich in den letzen Wochen, (oder waren es Monate?), eine empfindliche Nase bekommen. Oder hier stank alles intensiver, als ich es gewohnt war.

Mike stand neben dem Bett und sah auf mich herunter. In der Hand hielt er seinen heißgeliebten Schlagstock.

»Steh auf«, sagte er leise.

Ich mimte weiter den Schlafenden. Wenn sie nicht wussten, dass es mir gut ging, konnte ich das vielleicht zu meinem Vorteil nutzen.

Ich spürte eine Bewegung neben mir, als mich auch schon der Schlagstock am Kopf traf. Der Schlag war so heftig, dass die Haut an meiner Schläfe aufriss und Blutstropfen auf mein Kissen spritzten. Der Geruch nach Kupfer stieg mir in die Nase und löste ein Kribbeln im Magen aus.

»Ich sagte, du sollst aufstehen! Tu nicht so, als würdest du schlafen!«

Ich stöhnte, als ich mich auf die Seite wälzte. So viel zum Thema Vorteil nutzen.

Noch bevor ich ganz saß, schlug er wieder zu. Reflexartig zog ich die Arme an und schützte meinen Kopf. Dadurch bekam ich einen schmerzhaften Schlag auf den Ellenbogen. Mein Knochen schien zu zersplittern und ich rollte mich wie ein Kleinkind zusammen.

Schmerzwellen jagten durch den Arm bis in den Kopf. Ich konnte Schmerzen noch nie gut ertragen. In meiner Jugend bin ich jeder Schlägerei aus dem Weg gegangen, habe nie provoziert oder rumgepöbelt. Bis jetzt hatte ich nie die Bekanntschaft mit dieser Art Schmerz gemacht. Ich kannte nur die Angst vor Schmerzen.

Mike fing an zu lachen und trat einen Schritt zurück. »Jetzt liegt er da wie ein Baby. Piss dich aber bloß nicht ein, sonst werde ich wirklich unfreundlich. Steh auf, ich weiß, dass du selbst laufen kannst. Ich werde dich nicht wieder tragen. Der Doc hat Sehnsucht nach dir.«

Ich atmete durch und unterdrückte Tränen der Wut und Hilflosigkeit, die in mir aufsteigen wollten.

Wenn man den Schmerz spürt, ist die Angst vor ihm verschwunden. Ich war mir unsicher, ob das die bessere Alternative war.

Ich setzte mich auf und hielt mich an der Bettkante fest, da sich alles um mich herum drehte. Jetzt musste ich die Schwäche nicht mehr simulieren. Es war ein Wunder, dass ich nach so einem Schlag überhaupt noch klar denken konnte. Mike stand an der Tür und hatte sein dämliches Grinsen aufgesetzt. Kalte Wut stieg in mir hoch. Am liebsten würde ich ihm sein Grinsen mitsamt seinen Zähnen aus dem Gesicht schlagen. Aber wahrscheinlich würde ich bei dem Versuch nur meine eigenen Zähne verlieren.

Ich stand vorsichtig auf und ging mit einem schnellen Schritt an Mike vorbei, der mich nur herablassend angrinste. Ich wollte ihm keine Gelegenheit geben, mir nochmal die Stabilität seines Knüppels zu demonstrieren.

Auf dem Gang nahm mich wie gewohnt Frank am Arm und brachte mich den Gang hinunter. Mike blieb diesmal einen Schritt hinter uns. Als wir an der Tür vorbei kamen, aus der das letzte Mal die Schreie kamen, bekam mein Begleiter einen Linksdrall. Die Angst war nicht spürbar, aber latent vorhanden. Hinter der Tür war ein tiefes Atmen zu hören. Ein tierischer Geruch lag in der Luft. Ähnlich wie im Zoo, wenn man an den Raubtierkäfigen vorbei geht. Was für sanitäre Zustände mussten in der Zelle herrschen, wenn ich diesen Geruch auf dem Gang wahrnehmen konnte? Und dann kam der Gestank auch noch von einem Menschen. Der Geruch von Angstschweiß rundete das Ganze mit einer süßlichen Note ab.

Ich ging langsamer und nahm die Eindrücke in mich auf, als mich von hinten der Schlagstock an der Schulter traf. »Trödel hier nicht rum«, vernahm ich Mikes liebliche Stimme. Hass stieg in mir auf. Meine Muskeln spannten sich an und ich wollte mich herumwerfen, um ihm seinen Schlagstock durchs Gesicht zu ziehen. Aber so schnell, wie der Hass aufgestiegen war, verschwand er auch wieder. Ich wusste, dass das nicht mehr lange gut gehen würde. Noch so ein Zwischenfall, und ich würde mich nicht mehr im Griff haben. Egal was es kostete.

Mike machte einen Schritt an mir vorbei und öffnete die Tür zum Untersuchungszimmer. Er packte mich am Arm und gab Frank mit einem Blick zu verstehen, dass er draußen warten sollte.

Der Doc saß wieder hinter seinem Schreibtisch und blätterte in irgendwelchen Unterlagen. »Setzen sie sich«, sagte er, ohne aufzublicken.

Mike schob mich zum Stuhl und zog sich auf seinen Platz an der Tür zurück.

»Was soll das Ganze hier?«, fragte ich, als ich saß.

Der Doc schaute verwirrt auf. Er war überrascht, dass ich den Mut aufbrachte ungefragt zu reden, obwohl Mike keine drei Schritte hinter mir stand.

Ich war selbst etwas überrascht. Ich hatte mir fest vorgenommen, nichts zu tun, was weitere Gewalttätigkeiten provozieren könnte. Also kein Verstoß gegen irgendwelche Regeln. Auch wenn ich nur eine Frage gestellt hatte, kam das einem Verstoß gleich.

Ich zog den Kopf ein, als Mike einen Schritt auf mich zukam, um mich daran zu erinnern. Aber der Doc hob nur die Hand und scheuchte ihn mit einem Wedeln zurück auf seinen Platz. Braver Hund.

»Es geht ihnen offenbar wieder besser.« Er musterte mich ausgiebig über den Rand seiner Brille hinweg. Sein Blick blieb an meiner Platzwunde hängen und ein Lächeln erschien.

»Freut mich, dass es ihnen gefällt, wenn jemand misshandelt wird«, reagierte ich darauf. Die Folge war, dass er Mike erneut mit einer raschen Handbewegung auf seinen Platz zurückschicken musste.

»Und ein Rückgrat scheint ihnen auch gewachsen zu sein«, sagte er noch immer lächelnd. Allerdings wirkte es diesmal falsch.

Ich entschloss mich, wieder etwas vorsichtiger zu sein.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete mich mit schräggelegtem Kopf.

»Es freut mich, dass es ihnen so gut geht. Es freut mich wirklich. Haben sie vielleicht Hunger? Oder Durst? Ich lasse ihnen etwas holen. Wie wäre es mit einem schönen blutigen Steak? Oder essen sie Steaks lieber gut durch?«

Ich konnte seinem Blick ansehen, dass er irgendetwas mit dieser Frage bezweckte, konnte mir aber nicht vorstellen, was das sein sollte. Was sollte diese plötzliche Freundlichkeit überhaupt?

»Nein danke. Ich habe keinen Hunger. Allerdings würde ich wirklich gerne wissen, warum ich hier bin. Was ist das hier? Ein geheimes Versuchslabor? Und sie sind der irre Wissenschaftler, der die Weltherrschaft anstrebt?« Mike holte tief Luft. Ich hatte keine Ahnung, welcher Teufel mich ritt, aber es tat gut, auszusprechen, was ich dachte. Trotzdem sollte ich mich mit meiner Ironie zurückhalten, Mike verstand so etwas wahrscheinlich nicht. Und Schläge hatte ich heute schon genug einstecken müssen.

»Nicht ganz. Aber es handelt sich tatsächlich um ein geheimes Labor. Nur bin ich kein verrückter Wissenschaftler, der die Weltherrschaft anstrebt. Sie lesen zu viele Fantasygeschichten.«

Noch einer, der mit dem Ausdruck Ironie nichts anfangen konnte.

Ich beugte mich auf meinem Stuhl vor und senkte meine Stimme etwas. »Was habe ich mit der Sache zu tun?«

Er stand auf und ging an den Schrank hinter ihm. »Das hat mit ihrer Blutgruppe zu tun. Ihr Blut ist kompatibel zu unseren Medikamenten. Sie sind gesund und treiben Sport. Außerdem sind sie alleinstehend, ohne Verwandte oder Ähnliches. Es war ein Leichtes, sie verschwinden zu lassen. Niemand vermisst sie. Keiner stellt Fragen.« Er nahm einen Behälter mit einer roten Flüssigkeit aus dem Schrank und stellte ihn auf den Schreibtisch.

Die offenen Worte überraschten mich.

Was war hier los? Das hörte sich nicht so an, als würde ich hier wieder rauskommen. Wenn sie vorgehabt hätten mich laufen zu lassen, wären sie nicht ehrlich zu mir.

In diesem Moment wurde mir klar, dass hier alles endete. Man hatte mich verschwinden lassen. Ich würde nicht einmal auf einer Vermisstenliste auftauchen. Mein Leben endete als Versuchskaninchen in einem Labor für Medikamente.

Wahrscheinlich würde ich nicht einmal mehr die Sonne zu sehen bekommen. Und auch nie wieder Janine. Ich würde keinen Blick in ihre grünen Augen werfen können und den Duft ihrer Haare einatmen, die immer etwas nach Apfel rochen.

Obwohl ich mich erst ein Dutzend mal mit ihr getroffen hatte, war mir seit einiger Zeit klar, dass es mehr war als nur ein Flirt. Ich hatte noch keine Frau kennengelernt, deren Gesellschaft ich den ganzen Tag ertragen konnte. Was heißt, konnte. Wollte. Sie gab meinem Leben den Sinn, den ich so lange vermisst hatte.

Jetzt saß ich einem kranken Arschloch gegenüber, das mich für Experimente benutzte. Und das Letzte was ich sehen würde, bevor ich irgendwann entsorgt wurde, wird das Grinsen von Mike sein.

Der Doc beugte sich weiter vor und öffnete den Schraubverschluss des Glases. Das Geräusch holte mich in die Gegenwart zurück.

Er schob es in die Mitte des Schreibtisches, ohne dabei den Blick von mir zu nehmen. Es sah aus wie ein altes Marmeladenglas, das mit Blut gefüllt war.

Als ich einatmete, stellte ich fest, dass es nicht nur so aussah. Es war mit Blut gefüllt. Mit altem, abgestandenem Tierblut.

Allerdings machte ich mir keine Gedanken über diese Erkenntnis, mir gingen andere Sachen durch den Kopf.

»Um was für Experimente handelt es sich?«, fragte ich flüsternd.

Der Doc tauschte einen Blick mit Mike aus, als hätte er mit allem gerechnet, aber nicht mit einer Frage. Trotzdem antwortete er.

»Es handelt sich um lebensverlängernde Medikamente. Sie brauchen sich keine Gedanken wegen irgendwelcher bösartigen Viren oder ähnlichem machen, mit denen wir sie infizieren. Falls es das ist, was sie denken.« Wieder diese erbarmungslose Offenheit.

»Lebensverlängernd?« Ich konnte nur mühsam ein Lachen unterdrücken. »Das wird für mich wohl kaum zutreffen. Oder schicken sie mich nach erfolgreichem Abschluss der Experimente wieder nach Hause?«

»Wenn sie glauben, dass wir sie töten wollen, täuschen sie sich. Um die Wirksamkeit der Behandlung in vollem Umfang in Erfahrung zu bringen, können wir sie gar nicht beseitigen. Ihr Leben wird hoffentlich noch viele Jahre währen. Erst durch Langzeitstudien können wir eventuelle Nebenwirkungen ausmachen und eliminieren. Sie sind viel zu wertvoll.«

»Vorausgesetzt, dass die Behandlung anschlägt«, sagte ich. »Dann darf ich also den Rest meines Lebens in einer Zelle verbringen und Versuche über mich ergehen lassen? Tolle Aussichten. Wenn diese Behandlung so toll ist, warum wird sie dann im Geheimen durchgeführt?

Warum müssen sie Menschen entführen?«

Der Doc stand auf und kam um den Tisch herum. »Die Behandlung hat schon angeschlagen. Wenn sie Glück haben, werden sie hunderte Jahre alt. Können sie sich vorstellen, was passiert, wenn die Öffentlichkeit von dieser Möglichkeit erfährt? Jeder könnte zweihundert Jahre alt werden. Es würde Aufstände geben. Jeder würde so alt werden wollen. Keiner würde mehr Arbeiten machen, die gefährlich sind. Man hätte viel zu viel zu verlieren. Unser soziales Netz würde zusammenbrechen. Es würde Chaos herrschen. Deswegen muss es im Verborgenen laufen.«

Während seiner Rede griff er mir ans Kinn und betrachtete die Wunde an meiner Stirn. Mit einem Tuch, das er aus der Tasche zog, entfernte er grob das Blut, das mir im Gesicht klebte. Jetzt musste er nur noch das Taschentuch mit Spucke befeuchten, um wie der nette Onkel von nebenan auszusehen.

»Zusätzlich würde die Menschheit schon in Panik ausbrechen, wenn sie wüsste, woher die DNA kommt, mit der wir arbeiten. Die Masse ist nicht bereit für dieses Wissen.«

Offenbar war er mit seiner Reinigungsaktion zufrieden, denn er setzte sich wieder auf seinen Platz. Er schob das alte Marmeladenglas zu mir rüber und schaute mich an. Ich hörte, wie Mike näher an mich herantrat. Zusätzlich kam Frank herein, und stellte sich auf meiner anderen Seite auf, als hätten sie Angst, dass ich gleich über den Doc herfalle.

Ich ignorierte das Glas und bemühte mich, weitere Informationen zu bekommen. »Von was für einer DNA reden Sie? Ich dachte, hier werden illegale Medikamente getestet.«

Der Doc konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. »Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Wir mixen nicht mehr irgendwelche Stoffe zusammen und hoffen, dass etwas dabei herauskommt. Wir ändern ihre Zellstruktur, manipulieren ihre DNA. Sozusagen eine Heilung von innen heraus. Wir machen sie stärker, schneller, intelligenter. Das schafft man nicht mit Medikamenten. Da muss man schon etwas tiefer in den Körper eingreifen. Sehr tief.«

Ich beugte mich noch weiter vor und starrte ihn an. Der Blutgeruch aus dem Glas wurde langsam penetrant, aber ich ignorierte ihn weiterhin.

Ich spürte, wie Mike sich spannte. Er hielt die Luft an und machte sich bereit, mich aufzuhalten, falls ich so verrückt war, den Doc zu attackieren. Als ich meine Hände im Schoß faltete, entspannte er sich etwas.

»Von was für einer DNA sprechen wir?«

»Vampire«, sagte er nur.

Jetzt konnte ich ein Auflachen nicht unterdrücken. »Vampire. Natürlich. Nachts verwandle ich mich dann in eine Fledermaus und drehe meine Runden um die Lampe. Jetzt verstehe ich auch das Glas mit dem Blut. Ein zweites Frühstück. Nett von ihnen.« Ich griff nach dem Glas und wollte so tun, als würde ich einen Schluck nehmen. Als ich es unter meiner Nase hatte, übermannte mich der Blutgeruch. Ein unstillbarer Hunger stieg in mir auf. Ich musste unbedingt von dem Blut kosten. Es roch so süß, so lieblich. So musste Ambrosia riechen. Ich riss mir das Glas an den Mund und nahm zwei tiefe Schlucke.

Dann änderte sich die Empfindung. Aus Ambrosia wurde der Geschmack von Verwesung. Ich konnte den Tod des Tieres schmecken. Es war schal und abgestanden. Entsetzt warf ich das Glas an die Wand, sprang auf und machte einen Schritt nach hinten. Der Stuhl flog um, so dass Mike hastig zur Seite sprang, um nicht getroffen zu werden.

Ich starrte auf meine Hände, von denen Blut tropfte.

Was war das? Hatte ich wirklich Blut getrunken? Mein Verstand schaltete sich wieder ein und mir wurde schlecht. Würgend starrte ich den Doc an.

Mike stand unentschlossen im Raum. Sein Blick wanderte vom Doc zu mir und zurück. Sollte er jetzt eingreifen oder nicht? Da ich ihm keinen Grund lieferte, über mich herzufallen, konnte er nur blöd gucken.

»Was haben sie mit mir gemacht?«, flüsterte ich und starrte auf das Blut an meinen Händen. Tief in mir regte sich eine Gier, die mehr Blut wollte. Frisches, kräftiges Blut.

Vampire.

Es war kein Scherz. Aber wie konnte das sein? Es gab keine Vampire. Nicht im echten Leben.

Ich hob den Stuhl auf und setzte mich. Der Doc war bei meiner Aktion aufgesprungen und hinter seinem Stuhl in Deckung gegangen. Er war etwas blass um die Nase und sichtlich verwirrt. Scheinbar hatte er wieder etwas Anderes erwartet.

Als ich saß, setzte auch er sich wieder auf seinen Platz und schaute mich erwartungsvoll und ein wenig ängstlich an. Mike entspannte sich spürbar, als ich wieder saß, kam aber einen Schritt näher heran. Wenn ich noch einmal ausrastete, wollte er eingreifen können, und nicht nur als Zuschauer daneben stehen.

»Klären sie mich bitte auf.« Meine Stimme klang fester, als ich mich fühlte. Es gab keine Ironie mehr. Kein Spot. Ich wollte nur wissen, was los war.

»Nun ja«, fing er an und schob Papiere auf seinem Schreibtisch herum, um etwas Zeit zu gewinnen. »Wir haben vor einigen Jahren Beweise für die Existenz von Vampiren gefunden. Jemand wurde aufgegriffen, als er einer Frau im Park die Schlagader am Hals aufgerissen hatte und ihr Blut trank. Er behauptete, er sei ein Vampir. Natürlich wurde er als Spinner und nicht zurechnungsfähig abgetan.«

Ich konnte mich an diesen Fall erinnern. Er ging ein paar Tage durch die Zeitungen und sorgte für Diskussionen über die Behandlung von geistig behinderten Straftätern. Die Meisten verlangten, dass bei dem Strafmaß die geistige Behinderung keine Rolle spielen sollte. Den anderen tat der verwirrte, ohne Eltern aufgewachsene Mann leid und sie prangerten die Gesellschaft an, die mit ihren Horrorfilmen und Computerspielen solche Monster schuf. Der ganze Spuk legte sich nach einigen Wochen und man hörte nie wieder etwas darüber. Ich wusste nicht einmal mehr, was für eine Strafe verhängt wurde, oder wann die Verhandlung war.

»Der Mann wurde eingesperrt und ihm sollte der Prozess gemacht werden«, fuhr der Doc fort. »Allerdings kam es nie so weit. Nach drei Tagen brach er seine Gefängnistür auf, tötete vier Beamte und entkam. Die Sache wurde verschleiert, um die Öffentlichkeit nicht zu verunsichern. Außerdem standen Wahlen vor der Tür und man wollte keinen Skandal. Also wurde der Tod der vier Beamten als Unfall ausgegeben und alle Beteiligten zum Schweigen verpflichtet. Der Mann war ein gefährlicher Irrer, der wieder zuschlagen konnte, und niemand wollte eine Panik. Seine Verhaftung zuvor lief schon alles andere als harmlos ab. Es gab fünf gebrochene Rippen, zwei gebrochene Arme und ein zerstörtes Bein. Der Beamte wird nie wieder richtig laufen können. Der Täter erlitt ebenfalls drei Rippenbrüche und brach sich zwei Finger.

Bei einer Untersuchung zwei Tage später stellten die Ärzte fest, dass bei ihm alle Brüche verheilt waren. Die zuständigen Leute haben schnell reagiert und die Sache als geheim eingestuft. Umfangreiche Untersuchungen waren geplant, aber mehr als zu ein paar Blutproben kam es nicht, da er ausbrach.

Meine Auftraggeber haben ebenfalls schnell reagiert und sich die Blutproben besorgt. Ich wurde rekrutiert um diese Proben zu untersuchen und herauszufinden, wo diese immense Regenerationsfähigkeit herkam. Durch die geringe Menge an Proben musste ich sofort an Menschen experimentieren, was bisher relativ erfolgreich war.

Den Rest kennen sie.«

»Und sie glauben, das war ein Vampir?«

»Vielleicht nicht im klassischen Sinn. Die Verwandlung in eine Fledermaus zum Beispiel halte ich für reine Fantasie. Genauso wie die Angst vor dem Kreuz oder Weihwasser. Ich glaube, diese Lebensform gab es schon vor der Kirche. Die Reaktion auf Sonnenlicht konnten wir noch nicht testen, da die Sonne hier unten nicht scheint.«

Er stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und stützte sein Kinn auf die verschränkten Hände. Es war deutlich, dass er gern über dieses Thema sprach. Viel Gelegenheit hatte er bestimmt nicht dazu, da alles geheim war. Für mich war es von Vorteil, da ich Informationen bekam.

»Die meisten halten es eher für eine Krankheit, eine genetische Deformierung. Aber das erklärt nicht alles. Das ist so, als würde ich behaupten, der Grund für das kräftige Gebiss eines Hundes ist nicht Evolution, sondern eine Mutation oder Krankheit. Das große Gehirn eines Menschen nur ein Defekt. Warum wachsen manchen Tierarten Gliedmaßen nach? Ist das auch nur eine Krankheit? Ich glaube nicht an eine Krankheit. Ich halte es für eine andere Spezies, dem Menschen äußerlich ähnlich, aber mit einer uns überlegenen DNA. Warum sollten wir diese Spezies nicht Vampir nennen?«

»Weil es keine Vampire gibt. Vampire ernähren sich vom Blut anderer Menschen. Sie sind eine Erfindung der Filmindustrie und haben nichts mit dem wahren Leben zu tun.« Meine Stimme klang flehentlich. Ich wollte es nicht glauben. Aber tief in mir spürte ich die Gier. Ich spürte die Wahrheit. Ich wurde mit Vampir-DNA infiziert und veränderte mich.

»Der Mythos ist viel älter als die Filmindustrie. Und das mit dem Blut scheint auch zu stimmen.« Er lehnte sich zurück und schaute nachdenklich an mir vorbei. »Auch wenn es kein Menschenblut sein muss. Der Geruch von Blut scheint das Gehirn kurzzuschließen. Ich kann das noch nicht erklären. Es gibt keinen genetischen Grund dafür, aber die Reaktionen sind eindeutig. Sie sind der Erste, der dieses Verlangen einigermaßen unter Kontrolle hat.«

»Der Erste? Wie viele gab es den schon?«

»Sie sind der Dritte dieser Versuchsreihe.«

Ich hatte einen Kloß im Hals und musste mich räuspern. »Der Dritte? Was ist mit den beiden anderen passiert?«

Der Blick vom Doc wurde wieder fokussiert und auf mich gerichtet. Ich befürchtete schon, dass ihm klar wurde, dass er zu viel redete. Aber es schien ihn nicht zu stören, dass ich eingeweiht wurde. Er erhoffte sich Vorteile davon.

»Ich werde ihnen alle ihre Fragen beantworten. Aber sie sollten sich dann auch etwas kooperativer verhalten. Ich hätte ein paar Fragen, die sie mir beantworten müssen. Das Wissen über körperliche Reaktionen reicht nicht aus. Ich muss wissen, wie sie sich fühlen. Was für Veränderungen passieren in ihrem Geist? Sind sie vom Verstand her noch derselbe oder gab es da Veränderungen? Was bringt einem eine Lebenserwartung von hunderten Jahren, wenn man seine Identität verliert? Wir werden uns noch viele Stunden unterhalten. Wenn sie sich benehmen, können wir bestimmt auch eine bessere Unterkunft für sie auftreiben. Und wer weiß, vielleicht werden sie ja irgendwann ein Mitarbeiter statt ein Gefangener?«

Er saß da und lächelte freundlich. Ich war gewillt, seinen Worten Glauben zu schenken. Alles in mir schrie danach ihm zu glauben, eine Hoffnung zu haben. Eine Zukunft.

Aber ich konnte spüren, dass er log. Er wollte nur meine Kooperation. Die konnte er am besten erreichen, wenn er mir eine Chance bot. Mit dem Rücken zur Wand greift man nach jedem Strohhalm.

In diesem Fall irrte er sich. Ich glaubte ihm kein Wort, musste aber mitspielen, wenn ich Informationen bekommen wollte.

Wenn er erfahren hatte, was er wissen wollte, war ich nur noch ein Versuchskaninchen, das seinen Nutzen verloren hatte und ich würde nichts mehr von ihm erfahren.

Also ließ ich ein zaghaftes Lächeln erkennen und sprang auf sein Angebot an.

»Natürlich. Wer würde nicht alles für ein langes Leben tun? Und wenn das Experiment bei mir funktioniert, steht mir doch genau das bevor, oder?«

Ich hoffte, dass ich nicht übertrieben hatte. Viel Erfahrung hatte ich beim Anbiedern bei Verrückten nicht.

Aber es war genau die Reaktion, auf die er gehofft hatte. Sein Lächeln wurde breiter und er entspannte sich.

»Ja«, sagte er. »Wie es aussieht, funktioniert alles. Bei den anderen gab es nach wenigen Tagen Nebenwirkungen. Der Geruch von Blut machte sie wahnsinnig. Körperliche Veränderungen traten auf und sie waren nicht mehr in der Lage, sich verbal verständlich zu machen. Der erste Kandidat starb nach einem Monat. Eine Wucherung am Hals ließ ihn ersticken. Beim Zweiten waren wir vorsichtiger. Wir fingen mit kleineren Dosen an. Am Anfang lief alles gut, aber dann fing der Körper an, sich zu wehren. Und es traten auch...«, er zögerte kurz, überlegte wie er es sagen sollte, »...Veränderungen auf. Der Körper entwickelte sich zurück zu einer Art Steinzeitmensch. Eine Mischung aus Mensch und Tier. Seine Kraft verzehnfachte sich und der Verstand ließ im selben Maßstab nach. Die DNA war nicht kompatibel. Sie im Gegensatz scheinen voll kompatibel zu sein. Ihr Blut stimmt, ihre DNA ist hervorragend geeignet. In der Phase, in der sie sich befinden, waren die beiden anderen Versuche schon fehlgeschlagen. Sie sind ein voller Erfolg.«

Er strahlte stolz über das ganze Gesicht, als er eine Schublade öffnete und einen kleinen Handspiegel herausholte, um ihn mir zu reichen. Es war einer dieser billigen Plastikdinger, die man überall hinterhergeworfen bekam.

»Schauen sie sich ihre Wunde an.«

Ich nahm ihm zögernd den Spiegel aus der Hand und schaute hinein. Es war ein beruhigendes Gefühl, dass ich mich sehen konnte. Vampire haben ja bekanntlich kein Spiegelbild.

Der Doc bemerkte mein Zögern und deutete es richtig.

»Die Geschichte, dass Vampire kein Spiegelbild haben, stammt noch aus grauer Vorzeit und ist totaler Schwachsinn. Die Menschen hielten Vampire für seelenlose Geschöpfe. Und Spiegel reflektieren angeblich die Seele des Menschen. Da Vampire keine Seele haben, konnten sie sich auch nicht im Spiegel sehen. Genau so gut könnten sie behaupten, dass jemand, der sie fotografiert, ihnen die Seele raubt. Alles Humbug.«

Ich ignorierte ihn und starrte in den Spiegel. Auf meiner Stirn waren noch ein paar Blutflecken, aber mehr nicht. Und mit mehr nicht meine ich, dass keine Verletzung zu sehen war. Da, wo die Platzwunde gewesen sein musste, war eine leichte Schwellung zu erkennen. Ich griff mir an die Schläfe und drückte erst vorsichtig, dann fester zu. Ich spürte einen leichten Schmerz, als würde man auf einer fast verheilten Verletzung herumdrücken. Ich drehte mich zur Seite und starrte erst Mike und dann den Doc an.

»Das ist unmöglich. Mike hat...«, ich drehte mich dem Doc zu. »Ich hatte eine Platzwunde.« Ich schaute auf mein Hemd um mich zu vergewissern, dass das Blut, das mir darauf getropft war, noch da war. »Ich war verletzt. Noch vor ein paar Minuten.«

»Ihre Regenerationskräfte sind um ein Vielfaches gestiegen. Die Verletzungen sind in den letzten Minuten verheilt. Bei schweren Verletzungen wird es etwas länger dauern. Fantastisch, oder?«

Ich war zu verwirrt, um zu reagieren. Keine Wunde mehr. Das Blut war noch nicht ganz getrocknet und die Verletzungen waren schon verschwunden. Mit meinem Körper war noch wesentlich mehr passiert, als nur das Verlangen nach Blut.

Was hatte sich noch alles verändert?

Ich sog kräftig die Luft ein und drückte stärker auf die Rötung, um zu testen, ob sie doch wieder aufging und nur verheilt aussah. Aber bis auf den Druck war nichts zu spüren. Während ich das Experiment durchführte, bemerkte ich, dass Mike vor Nervosität noch stärker schwitzte als vorher.

Ich hob den Blick und schaute ihn an. Warum konnte ich seinen Schweiß so deutlich riechen? Mein Blick wanderte weiter durch den Raum. Der Geruch des Leders von der Untersuchungsliege stieg mir in die Nase. Die verschiedenen Medikamente in den Regalen verbreiteten ihren eigenen, durchdringenden Gestank.

Ich schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein. Der Duft des Aftershaves vom Doc war sehr intensiv. Old Spice. Hätte ich mir denken können.

Und über allem hing der Geruch von Blut. Nicht nur das Tierblut, das ich verschüttet hatte. Ich konnte das Blut der anwesenden Personen riechen. Das des Docs hatte einen leicht fauligen Geruch. Er hatte eine Blutkrankheit, die ihn langsam auffraß. Vielleicht war er deshalb so versessen darauf, den Jungbrunnen zu finden.

Diese ganzen Gerüche hatte ich schon vorher wahrgenommen, aber unbewusst. Als wären sie schon immer da gewesen und ich hätte sie aus Gewohnheit ignoriert. Es war mir nicht aufgefallen, dass es unnormal war. Ich hatte mich mit einer Fähigkeit abgefunden, dessen Existenz mich jetzt zutiefst entsetzte.

Ich fragte mich, was noch alles mit mir passiert war.

»Mit was für Auswirkungen habe ich zu rechnen?«, brachte ich meine Gedanken zum Ausdruck und schaute dem Doc aufmerksam in die Augen.

»Das wissen wir leider nicht hundertprozentig«, antwortete er langsam. »Sie sind der Erste, der nicht mutiert ist. Aus den Tests war bisher nur zu erkennen, dass ihr normaler Alterungsprozess fast vollständig zum Erliegen gekommen ist. Und natürlich ihre schnelle Wundheilung. Den Rest müssen wir noch herausfinden. Aber ich kann ihnen schon gratulieren. Sie können uns alle um Jahrhunderte überleben. Die kritische Phase liegt hinter ihnen. Ich rechne nicht mehr mit Komplikationen.«

Um den Rest herauszufinden, brauchte er meine Kooperation. Mit Bluttests konnte er mein gesteigertes Geruchsempfinden nicht entdecken. Und auch nicht mein verbessertes Gehör.

Ich hörte, wie Mike seine Faust ständig öffnete und schloss. Er war nervös. Jetzt war der Moment gekommen, in dem sich entschied, wie ich in Zukunft behandelt wurde. Ob er weiter seiner Leidenschaft nachgehen konnte, oder ob er netter zu mir sein musste.

Ich legte entspannt meine Hände auf den Schreibtisch, um zu zeigen, dass ich nicht ausrastete und er sich beruhigen konnte.

»Was erwarten sie von mir?«

»Momentan gar nichts.« Sein Lächeln erreichte diesmal seine Augen. Er fühlte sich auf der Siegerstraße und ich würde nichts tun, um diesen Eindruck zu zerstören.

Mir war klar, dass ich hier raus musste. Wenn der Doc alle Informationen hatte, war ich nutzlos. Ich musste auf meine Chance warten. Während ich zurücklächelte, suchte mein Verstand nach einem Ausweg. Ich musste so viele Informationen bekommen wie möglich. Ich brauchte einen Plan. Ich brauchte ein Wunder.

»Im Moment bin ich schon zufrieden, wenn sie einsehen, dass es besser ist, mit uns zusammenzuarbeiten. Sie können dabei nur gewinnen. Ich werde als Erstes dafür sorgen, dass sie eine bessere Unterkunft bekommen. Leider kann ich ihnen nicht sagen, wie schnell das geht.«

Aha, dachte ich. Erst sehen, ob ich mich kooperativ verhalte. Wenn ich mache, was er will, lockt er mit Vergünstigungen. Wenn nicht, bekomme ich Dunkelhaft. Vielleicht auch des Öfteren Besuch von Mike. Zuckerbrot und Peitsche.

»Wir treffen uns morgen Nachmittag zu einem ausführlichen Gespräch. Bis dahin möchte ich sie bitten, gründlich nachzudenken. Alles, was ihnen an ihrem Körper oder Verhalten ungewöhnlich vorkommt, interessiert mich. Sie können mir jede Kleinigkeit erzählen.

»Was meinen sie genau?«

»Schlafen sie unruhiger? Haben Sie ungewöhnliche Träume, oder benötigen weniger Schlaf als zuvor? Sind sie geistig fit oder haben sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren? All so etwas. Ich möchte herausfinden, ob die Behandlung Auswirkungen auf ihre Psyche hat. Eine Kollegin wird morgen zu uns stoßen. Eine Psychologin. Sehr nett. Ich würde mich freuen, wenn sie mit ihr zusammenarbeiten. Sie muss mitentscheiden, ob wir sie umquartieren können.«

Am liebsten hätte ich sein falsches Lächeln mit meiner Faust beseitigt. Glaubte er wirklich, dass ein Mensch so dumm ist und auf so einen billigen Trick hereinfällt?

Von jemandem mit seiner Intelligenz hätte ich mehr erwartet. Eine Psychologin würde mein Spiel wahrscheinlich sofort durchschauen. Das machte die Sache nicht einfacher. Also musste ich ab morgen einer Psychologin klarmachen, dass ich so dumm war, das Gelaber des Doc’s zu glauben.

Wäre ja auch langweilig, wenn es einfach wäre. Mist.

Er stand auf und streckte mir die Hand entgegen. »Jetzt muss ich sie zurückschicken. Ich muss noch einiges erledigen. Schlafen sie sich aus. Morgen wird ein anstrengender Tag.«

Ich ergriff seine Hand und zauberte ein optimistisches Lächeln auf mein Gesicht.

Als unsere Hände sich berührten, hätte ich meine Hand fast zurückgezogen. Er hatte einen schlaffen und feuchten Händedruck, der bei mir Ekel hervorrief, als würde ich durch die Berührung beschmutzt werden. Als er meine Hand endlich losließ und sich setzte, wischte ich sie unauffällig an meinem Hosenbein ab.

Der Doc bemerkte nichts, da er sofort in irgendwelche Unterlagen vertieft war, die er aus den Tiefen seines Schreibtisches zauberte.

Mike trat näher, ergriff mich an der Schulter und zog mich vom Stuhl hoch. »Du hast gehört, was der Doc gesagt hat. Ab in deine Zelle. Zeit für ein Nickerchen.«

Auf dem Gang gesellte sich Frank zu uns und ich befand mich wieder im Kreise meiner besten Freunde. Wir waren gerade an der Zellentür mit den eigenartigen Geräuschen angekommen, als mich der Teufel ritt und ich zu Mike sagte: »Wenn das wahr ist, was der Doc gesagt hat, dann solltest du in Zukunft etwas netter zu mir sein.«

Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er musste sich beherrschen, nicht zuzuschlagen. Denn er durfte nicht. Es wäre zu auffällig gewesen und die Lüge des Docs dann zu offensichtlich.

Er quetschte nur ein »Halts Maul« zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor und stieß mir mit der flachen Hand in den Rücken. Ich kam aus dem Tritt und musste einen Ausfallschritt machen, um nicht zu stürzen.

Ich hatte mich kaum gefangen, als hinter mir die Hölle losbrach.

Ein Knall erklang und die Zellentür, vor der ich eben noch gestanden hatte, flog mit einem Scheppern auf den Gang. Die herausgerissenen Türangeln prallten von der gegenüberliegenden Wand ab und fielen klirrend zu Boden. Die Tür erwischte Frank, der das Pech hatte direkt neben ihr zu stehen. Er wurde unter ihr begraben und versuchte, sich zappelnd zu befreien. Durch seine Bewegungen spritzte Blut aus einer Platzwunde an seinem Kopf auf den Gang. Ich spürte schlagartig Gier in mir aufsteigen und wollte mich auf ihn stürzen.

Mike stand keine zwei Schritte entfernt und starrte mit blutleerem Gesicht in die offene Zelle. Seine Hand tastete nach dem Schlagstock an seinem Gürtel, aber noch bevor er ihn lösen konnte, sprang etwas aus der Zelle und landete auf der Tür. Das zusätzliche Gewicht klemmte Frank noch fester ein. Panik stand in seinem Gesicht, als er das Ding über ihm anstarrte.

Das Vieh hatte die Größe und die Proportionen eines Menschen, war aber am ganzen Körper behaart wie ein Affe. Dort, wo bei einem Menschen der Mund sitzt, war etwas, das aussah wie die Schnauze eines Hundes. In ihm blitzten zwei Reihen nadelspitzer Zähne auf, auf die jeder Hai stolz wäre.

Es riss das Maul auf und stieß ein Heulen aus, das meine Ohren zum Schmerzen brachte.

Das Ding verlor keine Zeit und schnappte nach Franks Kopf. Der riss den rechten Arm hoch, um sein Gesicht zu schützen. Das Maul des Biestes schloss sich und riss ihm ein Stück Hemd mitsamt des darunter liegenden Fleisches vom Arm. Der weiße Knochen blitzte kurz auf, bevor ein Schwall Blut alles unter sich begrub. Franks Schreie hallten durch den Gang und rissen Mike aus seiner Erstarrung. Er nahm seinen Schlagstock mit beiden Händen und schlug auf den Kopf der Bestie ein. Die riss nur den Schädel hoch und verschlang mit einem Schmatzen das herausgerissene Fleisch, als würde sie Mikes Attacken überhaupt nicht wahrnehmen.

Wild fluchend zog Mike den Knüppel noch einmal mit aller Kraft durch das Gesicht der Bestie und erzielte diesmal eine Wirkung. Das Ding verlor das Gleichgewicht, kippte zur Seite und musste sich auf dem Boden abstützen.

Dann richtete es seine blutunterlaufenen Augen auf Mike. Ein Erkennen glomm in ihnen auf. Wenn es nicht zu unwahrscheinlich wäre, hätte ich behauptet, ein Lächeln über die Schnauze huschen zu sehen. Als würde es sich freuen, Mike zu treffen.

Verängstigt machte der einen Schritt zurück, ließ den Schlagstock fallen und fummelte an seiner Hosentasche herum.

Langsam wandte sich ihm das Ding zu, während er ein langes Butterfly-Messer aus der Tasche zog und es mit einer fließenden Bewegung aufklappte. Sein Körper strahlte wieder etwas mehr Selbstsicherheit aus, als er das Messer in der Hand hielt.

Ich wollte mich nicht auf seine Fähigkeiten im Messerkampf verlassen und schaute mich nach einem Fluchtweg um. Da der Weg nach vorne versperrt war, blieb nur eine Richtung. Ich hoffte, dass dort auch der Ausgang lag. Wenn Mike nicht mit diesem Monster fertig wurde oder keine Verstärkung bekam, wäre ich der Nächste auf der Speisekarte.

Ohne den Blick von Mike zu nehmen, holte das Biest aus und zerfetzte Franks Halsschlagader. Dessen Blick hing ungläubig an Mike, während sein Herz das Leben in roten Fontänen an die Wand spritzte.

Sein Mund öffnete sich, aber kein Ton kam über seine Lippen. Zum letzten Mal in seinem Leben streckte er hilfesuchend die Hand aus.

Ich fragte mich, ob ihm bewusst war, dass sein Leben nur noch in Sekunden gemessen wurde, obwohl es noch viele Jahre dauern sollte. Ob er an all seine Pläne dachte, die sich jetzt nicht mehr erfüllen würden. Oder versuchte er, noch zu verstehen, was hier geschah?

Als seine Hand langsam zu Boden sank, war es egal. Dieses Leben lag hinter ihm und seine Augen starrten ins Leere.

Wenn ich nicht wollte, dass es mir genauso erging, musste ich mich endlich bewegen.

Ich wandte den Blick ab und rannte den Gang entlang. Hinter mir brüllte das Monster auf und ich hörte, wie es sprang. Mike würde es wahrscheinlich nur einen kurzen Moment aufhalten können, und dann wäre es hinter mir her.

Dem Impuls widerstehend, mich umzudrehen um zu sehen, was mit Mike passierte, beschleunigte ich meine Schritte. Das Klatschen meiner Schuhe auf dem Beton überlagerte die Geräusche des Kampfes. Wenige Meter vor mir knickte der Gang ab und ich bremste, um nicht gegen die Wand zu laufen. Ich rutschte mehr um die Ecke, als dass ich lief. Dann blickte ich in einen Gang, der sich in nichts von dem anderen unterschied. Bis auf die Tür mit dem Notausgangssymbol darüber.

Ich konnte mein Glück kaum fassen! Genausogut hätte ich in eine Sackgasse geraten können. Ich legte die restliche Strecke zurück und griff nach der Türklinke, um die Tür aufzureißen. Schmerzen schossen durch meine Hand, als ich vom Griff abrutschte und mir einen Finger klemmte.

Die Tür war verschlossen.

Das hätte ich mir denken können. Hier wurden Menschen gefangen gehalten, da waren Notausgänge verschlossen.

Ich riskierte es, mich umzudrehen, um einen Blick zurückzuwerfen. Der Gang war leer. Noch verfolgte mich niemand.

Ich wandte mich wieder der Tür zu. Aufbrechen war unmöglich, da die Tür aus Metall war. In Augenhöhe war ein kleines vergittertes Fenster eingebaut, aber selbst wenn ich es zerschlagen könnte, würde ich niemals durch die Öffnung passen.

Aber ich konnte hindurchsehen.

Ein Schatten bewegte sich hinter der Tür. Jemand war im Treppenhaus.

Mit einem raschen Schritt stellte ich mich neben die Tür. Keinen Augenblick zu früh, da sie im nächsten Moment aufgestoßen wurde. Anstatt die Wand zu treffen, bohrte sich der Türgriff in meinen Magen und nahm mir die Luft.

Trotz der Atemlosigkeit griff ich zu und hielt die Tür fest. Sofort stürmten drei Leute hindurch und rannten den Gang entlang, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Niemand bemerkte, dass die Tür nicht zufiel.

Ich blieb einen Moment stehen um zu lauschen, ob noch weitere Personen die Treppe herunterkamen. Die drei Männer, die mir so freundlich die Tür geöffnet hatten, waren schon längst um die Ecke verschwunden, als ich einen Blick um die Tür herum warf.

Als ein Schmerzensschrei und ein Geräusch, als würde ein Sack Mett mit aller Kraft gegen die Wand knallen, an mein Ohr drang, vergaß ich alle Vorsicht und stürmte ins Treppenhaus. Mit einem unpassend leisen Geräusch schloss sich die Tür hinter mir und schnitt die Schreie ab.

Im grellen Licht der Neonröhren glänzte der stählerne Handlauf des Treppengeländers. Die Stufen waren mit einer dicken Schicht grüner Bodenfarbe gestrichen, auf der keine Abnutzungsspuren zu sehen waren. Die Treppe wurde nicht oft benutzt, was meine Chancen, unbemerkt zu entkommen, erhöhte.

Aber welche Richtung? Ich beugte mich über das Geländer, um einen Blick nach unten zu werfen. Es sah nach zwei weiteren Etagen aus. Ein Blick nach oben half auch nicht weiter. Mindestens drei weitere Etagen waren zu erkennen. Auf welcher Ebene befand ich mich?

Ich beschloss, mich auf meine Filmerfahrung zu verlassen, in denen geheime Versuche immer unterirdisch durchgeführt werden. Außerdem sind die Wachleute von oben gekommen, und die würde man in der Nähe des Ausganges postieren.

Also nach oben.

Immer zwei Stufen nehmend rannte ich die Treppe hoch bis zum nächsten Absatz. Vorsichtig warf ich einen Blick durch das kleine Fenster der Tür.

Vor mir lag ein heller Flur. An den Seiten standen Töpfe mit Pflanzen und an der rechten Wand waren große Fenster angebracht, die den Blick in eine parkähnliche Anlage zuließen. Das Beste daran war, dass der Park auf derselben Ebene lag, wie diese Etage.

Hier musste auch der Ausgang sein.

Ich griff nach der Klinke und versuchte die Tür zu öffnen.

Ich rüttelte wie ein Irrer an dem Griff, ohne die kleinste Reaktion hervorzurufen. Die schwere Tür rührte sich keinen Millimeter. Sollte meine Flucht hier schon beendet sein? Ich trat einen Schritt zurück und zwang mich zur Ruhe. Denk nach! Kam ich weiter oben aus dem Treppenhaus heraus? Auf einen zweiten Glücksfall, der mir die Tür öffnete, wollte ich nicht hoffen.

Mein Blick blieb an einem Tastenfeld neben der Tür hängen. Ein elektronisches Schloss! Jetzt benötigte ich nur noch die Nummer, um es zu öffnen.

Ich schaute mir das Zahlenfeld etwas genauer an. Das Modell war von SecTec, einer Firma, die kostengünstige Sicherheits-Soft- und -Hardware verkauft. Ich hatte schon einige dieser Geräte bei diversen Firmen eingebaut. Aber immer widerwillig.

Denk nach!, sagte ich zu mir selbst. Irgendetwas war mit diesen Geräten.

Mein Blick wanderte ins Treppenhaus unter mir. Noch war niemand zu sehen, aber das würde sich bald ändern. Entweder kam das Monster oder die Wachleute. Ich war mir nicht sicher, wovor ich mehr Angst hatte. Zerfleischt zu werden oder selbst als Monster zu enden, wenn die Experimente weitergingen.

1234, schoss es mir durch den Kopf. Die Grundeinstellung dieser Schlösser! Ein großes Sicherheitsrisiko war die Grundeinstellung, die oft von unerfahrenem Personal nicht geändert wurde. Es wurden neue Codes eingegeben, ohne dass sich die alten automatisch löschten und so zusätzlich erhalten blieben. Ein Paradies für Einbrecher. Mittlerweile hatte die Herstellerfirma reagiert und den Fehler behoben. Aber erst seit wenigen Monaten. Ich hoffte auf mein Glück und tippte die Kombination ein.

Ein Summen erklang und die Tür öffnete sich mit einem Klicken.

Mein Herz setzte vor Freude einen Schlag aus, als ich die Tür aufdrückte. Es gab immer Leute, die zu dumm waren, die einfachsten Sicherheitshinweise zu beachten.

Die Tür war gut geölt und verursachte nicht das kleinste Geräusch, als ich sie öffnete. Vorsichtig schob ich mich durch den Spalt und drückte sie wieder ins Schloss. Mein Blick wanderte durch den Gang, auf der Suche nach Kameras oder Wachpersonal. Der Flur wirkte freundlich, sogar richtig einladend. Kein Vergleich mit dem, aus dem ich gerade entkommen war. Nirgends waren Kameras zu entdecken, aber das hatte nicht unbedingt etwas zu bedeuten.

Ich ging langsam vor, in die Richtung, in der ich den Ausgang vermutete. Der Gang stieß wenige Schritte vor mir auf einen weiteren und bildete ein T-Stück.

Ein Geräusch ließ mich zusammenfahren. Jemand kam aus dem linken Gang.

Hastig suchte ich Deckung und kauerte mich hinter einer großen Kübelpflanze zusammen.

Wer immer den Gang entlang kam, schien es nicht eilig zu haben. Als die Person endlich in meinem Sichtfeld erschien, konnte ich kaum glauben, was ich sah.

Eine alte Frau im Morgenrock, die einen Gehwagen vor sich her schob, ging den Flur entlang. Sie war mindestens achtzig Jahre alt, hatte schlohweißes Haar und starrte stumpf vor sich auf den Boden, ohne in meine Richtung zu schauen.

Was war hier los? Das Letzte womit ich gerechnet hatte, war auf eine Frau zu treffen, die in ein Altenheim gehörte. Ich blickte mich noch einmal zu der Tür um, aus der ich gerade gekommen war. Auf dieser Etage war sie nicht als Fluchtweg markiert. In großen schwarzen Lettern stand BETRETEN VERBOTEN und darunter NUR FÜR PERSONAL an der Tür.

Als ich mich wieder der alten Dame zuwandte, war sie bereits rechts im Flur verschwunden. Ich kam verwirrt hinter der Pflanze hervor und ging in die Richtung, aus der die Frau gekommen war.

Vorsichtig spähte ich um die Ecke und dachte wieder, ich würde träumen. Der Gang mündete in eine kleine Eingangshalle, die mit Tischen und Stühlen vollgestellt war. Etwa ein Drittel der Plätze war mit einer Mischung aus alten und noch älteren Menschen besetzt, wobei der Anteil der Frauen überwog. Niemand achtete auf mich, als ich in den Gang trat und stehen blieb, um das Bild vor mir zu verarbeiten.

Ich bin in einem Altenheim!, schoss es mir durch den Kopf. War das möglich? Das ausgerechnet in einem Altenheim Experimente mit Menschen gemacht wurden? Ich hätte mit einem alten Fabrikgebäude, einer geschlossenen Militäranlage oder so etwas gerechnet, aber nicht damit.

Aber es war auch logisch. Ein Altenheim: Wenn hier etwas Komisches vorging, konnte man immer noch behaupten, dass die alten Leute Halluzinationen hatten - falls sie überhaupt etwas mitbekamen. Eigentlich ideal. Man konnte sogar den größten Teil der Medikamente, die man für die Versuche braucht, legal bestellen. Leichen werden hier auch öfter herausgebracht als aus einer Fabrik. Und zwei Leute in einen Sarg zu legen würde kein Problem darstellen.

Mir wurde kalt, als mir klar wurde, wie skrupellos und organisiert hier vorgegangen wurde. Man konnte ja nicht heimlich weitere Etagen unter ein Altenheim buddeln und mit seinen Experimenten anfangen. Der ganze Komplex musste schon vorher für so etwas geplant worden sein. Das Personal speziell ausgewählt. Das alles war eine lange vorbereitete Sache. In was war ich da nur hineingeraten?

Ich gab mir innerlich einen Ruck und ging langsam weiter in Richtung des Ausgangs. Kalter Schweiß klebte mir an Armen und Rücken. Mir wurde klar, dass diese Sache nicht beendet war, wenn ich hier heraus kam. Hier steckte jemand mit Geld, Macht und Einfluss hinter.

Als ich in der Eingangshalle angekommen war, schaute ich mich unauffällig um. Es gab einen kleinen Empfangsschalter, der nicht besetzt war. Niemand der aussah, als würde er zum Personal gehören, war in Sichtweite. Also entschloss ich mich, es zu riskieren. Ich setzte ein freundliches Lächeln auf und ging zum Ausgang. Wenn ich an einem der besetzten Tische vorbei kam, nickte ich den Leuten freundlich zu. Manche lächelten zurück, die meisten ignorierten mich. Mir war das nur recht. Als ich auf die große Außentür aus Glas zuging, öffnete sie sich mit einem leisen Zischen. Ich warf einen letzten Blick zurück in die Eingangshalle. Es gab niemanden, der mich beobachtete.

Mit einem letzten Schritt war ich draußen und die Tür schloss sich hinter mir. Ein tiefer Atemzug füllte meine Lungen mit frischer Luft. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, war es früher Nachmittag. Ich schaute mich um und versuchte, mich zu orientieren. Vor mir lag ein gepflegtes Grundstück, das von einer hohen Mauer umgeben war. Ich stand auf einer asphaltierten Einfahrt, die zum Eingangstor führte. Ein Kiesweg hätte besser in dieses Ambiente gepasst, aber die Stolpergefahr für die alten Leute war wahrscheinlich zu hoch. Langsam ging ich die Einfahrt entlang zum Ausgang. An der Stelle, an der der Weg die Mauer durchstieß, war ein großes schmiedeeisernes Tor angebracht, das weit offen stand. Niemand wollte den Eindruck erwecken, dass dieses Altenheim ein Gefängnis war. Es hatte wohl auch keiner damit gerechnet, dass aus den unterirdischen Zellen jemand ausbricht. Als ich das Tor durchschritt und auf dem öffentlichen Gehweg stand, drehte ich mich noch einmal um und warf einen Blick zurück. War es wirklich nur Glück, dass ich entkommen war?

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, als ich an das Monster dachte. Das war bestimmt nicht inszeniert. Ich hatte Glück. Und um das nicht zu sehr zu strapazieren, riss ich meinen Blick vom Haus los und joggte möglichst unauffällig die Straße hinunter. Ich wollte nur weg von meinen Entführern, bevor ihnen auffiel, dass ich fehlte. Ich hoffte, dass mir das Monster genug Zeit verschaffte. Es war mir egal, ob jemand dabei sein Leben verlor. Wer mit Menschen experimentierte, war kein Unschuldsengel, der mein Mitleid verdiente.

Ich lief wahllos durch Seitenstraßen, bog mal rechts und dann links ab, um eventuelle Verfolger abzuschütteln. Nach zehn Minuten fiel mir auf, dass ich keine Ahnung hatte, ob ich mich überhaupt vom Altenheim wegbewegte. Vielleicht war ich ja nur im Kreis gelaufen?

An der nächsten Ecke blieb ich stehen und versuchte mich zu orientieren. Ich war noch in der Stadt. Nicht in der Innenstadt, aber eindeutig in der Stadt. Eine Wohngegend, wie es sie zu Dutzenden gab. Die Straßenschilder sagten mir nichts. Mit schnellen Schritten ging ich den Bürgersteig entlang, bis ich an der nächsten Kreuzung auf eine stärker befahrene Straße stieß.

Auf der wollte ich nach Möglichkeit nicht weiter, da man hier zuerst suchen würde, bevor man sich die Nebenstraßen vornahm. Ich wollte mich schon wieder umdrehen, als mein Blick an einem Schild hängen blieb. Untergrundbahn. Genau das, was ich jetzt brauchte. Ich lief zur Treppe, die mich unter die Erde führte. Auf dem ersten Absatz schaute ich mich noch einmal um, konnte aber nichts Verdächtiges bemerken. Aus dem Dunkel vor mir drangen die typischen Geräusche einer einfahrenden Bahn. Ich stürzte die Treppe herunter, hastete einen schwach beleuchteten, schmutzigen Gang entlang, nahm eine weitere Treppe und schaffte es eben noch, mich durch eine Tür in die Bahn zu zwängen. Die Station hatte einen völlig verlassenen Eindruck gemacht. Im Gegensatz zu der Bahn. Alle Sitzplätze waren belegt und im Gang standen die Passagiere auch artig in Reih und Glied, mit einer Hand an der Haltestange. Niemand nahm Notiz von mir. Eigentlich nahm überhaupt niemand Notiz von jemand anderem. Die glücklichen Sitzplatzinhaber starrten aus dem Fenster und der Rest schaute zu Boden oder tat so, als würde er die Werbebotschaften an den Wänden lesen. Nur einige Jugendliche am Ende des Abteils unterhielten sich lautstark darüber, wie toll doch die letzte Party gewesen war und wie viel Alkohol dort vernichtet wurde.

Mir war es recht. Niemand, der mich wiedererkennen würde.

Drei Stationen später stieg ich aus und nahm die nächste Bahn in eine andere Richtung.

Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt. Mein Gehirn schaltete ab und mein Körper wechselte automatisch alle fünf bis sechs Stationen die Bahn, ohne darauf zu achten, wo ich war. Die Zeit verging, ohne dass ich etwas von meiner Umwelt mitbekam. Kein klarer Gedanke formte sich in meinem Kopf, als würde mein Verstand sich weigern, über das Geschehene nachzudenken. Einfach alles ausblenden, als wäre nichts geschehen.

Irgendwann hob ich den Kopf und schaute aus dem Fenster. Die verschwommene Umgebung nahm wieder klare Formen an und ich sah mich aufmerksam um, ohne etwas oder jemanden zu erkennen.

Ich musste mich zusammenreißen. Schließlich konnte ich nicht mein restliches Leben mit der Bahn in der Gegend herumfahren.

Desorientiert stand ich auf und stellte mich an die Tür, um an der nächsten Station auszusteigen. Die Bahn war fast leer, nur mit wenigen müden Menschen bevölkert, die sich im ganzen Abteil verteilt hatten. Meine Augen wanderten zu meinem Handgelenk, um die Zeit von meiner Uhr abzulesen. Ich erblickte aber nur blanke, blasse Haut, da ich keine Uhr mehr besaß. Automatisch glitt meine rechte Hand in die Gesäßtasche, in der Hoffnung, dort meine Geldbörse zu fühlen. Aber auch das war ein Reinfall. Ich hatte keinen Ausweis, kein Geld, keine Kreditkarte oder sonst irgendetwas. Wenn ich jetzt tot umfallen würde, könnte man nicht einmal meinen Namen für den Grabstein ermitteln.

Die Tür öffnete sich mit einem Zischen und ich betrat einen verlassenen Bahnsteig. Ich fragte mich, wie spät es wohl war, wie lange ich bereits in der Gegend herumfuhr. Die einzige Uhr in der Untergrundstation hatte schon lange ihr Leben ausgehaucht. Sie hing nutzlos an der Wand, nur um mir zu zeigen, wie sinnlos alles war. Ich musste unbedingt raus aus diesem Loch. Ich fühlte mich eingeengt und gefangen zwischen den Betonwänden, die nur darauf warteten, langsam zusammenzurücken und mich zu zerquetschen.

Mit einer langen, sich nur ruckartig vorwärts bewegenden Rolltreppe, erreichte ich den Ausgang und stand wieder unter freiem Himmel. Unter einem dunklen Himmel. Ich musste Stunden mit der Bahn unterwegs gewesen sein, da die Nacht hereingebrochen war. Dunkle Wolken verdeckten den Himmel und ließen kein Sternenlicht durch. Nur der Mond schaffte es ab und zu, die Wolkendecke zu durchstoßen. Kalter Wind strich durch die Straßen und ließ mich frösteln. Ich drehte mich im Kreis, um mich umzuschauen. Mein Blick blieb an einer Kirchenfront hängen, die mit einem hellen Strahler angeleuchtet wurde. Ich kannte die Kirche. Ich wusste zwar nicht, wie sie hieß, aber ich kannte sie. Ich wohnte nur drei Straßen von ihr entfernt!

Mein Unterbewusstsein hatte den Weg nach Hause gewählt. Ein Lächeln zeichnete sich in meinem Gesicht ab. Zu Hause fühlte man sich sicher und geborgen. Wenn man es wieder dorthin geschafft hatte, war das Schlimmste überstanden. Man konnte die Tür verriegeln, die Bösen aussperren und das Schlechte vergessen.

Das sagte einem das Gefühl. Der Verstand sagte etwas anderes: Wenn sie mich suchten, dann würden sie bei mir warten. Jeder würde nach einer solchen Erfahrung zuerst nach Hause oder zur Polizei gehen. Wo soll man auch sonst hin?

Zur Polizei wollte ich noch nicht, da ich Angst hatte, dass sie mich auf diesem Weg sofort finden würden. Ich hatte keine Ahnung, wer hinter der Sache steckte, aber mir war klar, dass viel Geld im Spiel war. Und wer so viel Geld investiert, der hatte sich abgesichert und Verbindungen aufgebaut. Vielleicht auch zur Polizei. Oder hatte ich nur zu viele Filme gesehen? Ich wusste nicht weiter, wollte meine Ruhe haben und nachdenken. Da mir keine Alternative einfiel, machte ich mich auf den Weg zu meiner Wohnung.

Die Straßen waren wie leergefegt. Bei dem windigen, kalten Wetter saßen die Leute lieber in ihren warmen Wohnzimmern und schauten Fernsehen. Da meine Wohnung in einer ruhigen Gegend lag, waren kaum Autos unterwegs. Jedes Mal, wenn ein Fahrzeug die Straße entlangfuhr, drückte ich mich in einen Hauseingang und kauerte mich in die Schatten.

Dann bog ich um die letzte Ecke und stand in meiner Straße. Ich konnte meine Eingangstür sehen, marschierte aber nicht gleich los, sondern stellte mich in eine Einfahrt und beobachtete die Straße nach Auffälligkeiten. Stand vielleicht irgendwo jemand in einer Ecke und beobachtete meine Wohnung?

Die geparkten Fahrzeuge am Straßenrand waren alle leer. Bei dem Wetter wären die Scheiben beschlagen, wenn jemand im Auto sitzen würde. Nach einer halben Stunde des Rumstehens entschloss ich mich, es zu riskieren. Wenn hier irgendwo jemand war, den ich nicht entdeckt hatte, würde ich ihn auch nicht mehr entdecken. Außerdem wurde mir kalt.

Langsam ging ich auf die Haustür zu und griff in meine Hosentasche, um den Schlüssel hervorzuholen.

Mist.

Natürlich hatte ich keinen Schlüssel mehr, da mir ja alles abgenommen wurde. Er war noch bei denen. Und wenn sie in der Wohnung warteten? Dann konnte ich hier unten lange stehen und die Gegend beobachten, während die in meiner Wohnung saßen und gemütlich auf mich warteten. Aber langsam wurde es mir egal. Entschlossen ging ich weiter und drückte die Haustür auf. Zu meinem Glück war der Schnapper nicht eingerastet und ich kam ungehindert ins Haus.

Meine Wohnung lag im zweiten Stock. Da es keinen Fahrstuhl gab, nahm ich die Holztreppe, deren knarrende Stufen mir schmerzlich zeigten, wie sehr ich das alles vermisst hatte. Das Licht ließ ich ausgeschaltet, da ich gut genug sehen konnte.

Vor meiner grau lackierten Tür blieb ich stehen und lauschte. Aus der Wohnung waren Geräusche zu hören. Ich konnte drei Männerstimmen erkennen, die von lauter Rockmusik fast übertönt wurden. Feierten die eine Party, während sie auf mich warteten? Ungläubig trat zurück, um mich zu vergewissern, dass ich vor der richtigen Tür stand.

Es war die Richtige. Ich konnte den dicken Kratzer im Lack über meinem Namensschild sehen, den ich beim Einzug mit einem Metallregal verursacht hatte.

Mein Namensschild.

Das war nicht mein Name auf dem Schild. Dort stand S. Korodowsky. Aber es war meine Tür.

Ich starrte noch ungläubig auf das Schild, als die Tür sich öffnete. Vor mir erschien ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mann mit kurzen blonden Haaren, der gerade versuchte, seinen zweiten Arm in eine Lederjacke zu zwängen. Sein Gesicht war zum Wohnzimmer gedreht und ich hörte ihn sagen: »Ich hole ja schon was. Immer mit der Ruhe. Ihr werdet schon nicht verdursten.«

Ich war zu überrascht, um mich in Sicherheit zu bringen. Ich stand nur da wie ein Reh im Scheinwerferlicht und starrte ihn an.

Er machte einen Schritt vor, drehte sich dabei zu mir um und blieb erschrocken stehen. Wenn er etwas später reagiert hätte, hätte er mich über den Haufen gerannt.

»Mann«, sagte er und griff sich ans Herz. »Haben sie mich erschreckt. Wollten sie zu mir? Wenn die Musik zu laut ist, tut mir das leid.«

»Nein, die Musik ist in Ordnung«, stotterte ich. »Wohne nicht eigentlich i.. ich meine, wohnt hier nicht Sanders?«

»Sanders?« Er zog die Stirn in Falten und dachte kurz nach. »Ach ja. Sanders. Der hat vor mir hier gewohnt. Ist vor etwa zwei Monaten ausgezogen. Hat wohl irgend so einen großen Auftrag an Land gezogen und ist in eine andere Stadt umgezogen. Hat jedenfalls mein Vermieter erzählt. Hat seine ganzen Sachen von einer Umzugsfirma abholen lassen.« Er grinste mich an. »Hat sich wohl nicht überall abgemeldet, was? Einen Nachsendeantrag hat er auch nicht gestellt. Hier kommt immer noch Post für ihn an.« Er zog die Tür zu und drückte sich an mir vorbei. »Wenn sie ihn ausfindig machen, sagen sie ihm bitte, er soll so einen blöden Nachsendeantrag stellen. Ich habe keine Lust, Briefkasten zu spielen. Die ganze Post habe ich dem Hausmeister gegeben.« Er ging zur Treppe, drehte sich auf der ersten Stufe aber noch einmal zu mir um. »Sorry Alter, aber ich muss echt los und noch ein paar Bier holen. Sonst nehmen die mir die Bude auseinander. Ich hab heute nämlich Geburtstag.« Dann drehte er sich um und marschierte immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe runter.

»Gratuliere!«, sagte ich automatisch.

Vor zwei Monaten ausgezogen? Ich lehnte mich an die Wand und atmete tief durch.

Was jetzt? Sollte ich doch zur Polizei gehen?

Ich brauchte erst einmal eine Pause. Etwas Ruhe. Ein Hotelzimmer! Ich konnte mich heute Nacht in einem Hotel verkriechen. Vielleicht konnte ich nach ein paar Stunden Schlaf wieder besser denken. Ich drehte mich zur Treppe, als mir einfiel, dass ich ja kein Geld hatte.

Ich hätte heulen können.

Langsam ging ich ein Stockwerk tiefer. Der Hausmeister wohnte im selben Gebäude, direkt unter mir. Oder besser, unter meiner ehemaligen Wohnung. Vielleicht konnte er mir ja weiterhelfen. Auf jeden Fall hatte er nichts mit den Leuten zu tun, die mich entführt hatten. Er war schon mindestens sechzig Jahre alt und nicht der Typ, den man in irgendwelche Untergrundorganisationen einbindet. Und ich hatte ihn noch nie mit jemand anderem als den Mietern reden sehen. Ich durfte auf keinen Fall paranoid werden und denken, dass die ganze Welt an einer Verschwörung gegen mich teilnahm. Ich musste irgendjemandem vertrauen. Warum nicht bei einem alten Hausmeister anfangen? Wir hatten uns sogar schon zwei oder drei Mal zusammengesetzt und ein Bier getrunken, während ich mir seine Geschichten von früher angehört hatte.

Ich ging zu seiner Tür und klopfte beherzt an. Aus dem Inneren war ein leises Rascheln zu hören und dann schlurfende Schritte. Ich setzte ein Lächeln auf, als die Tür entriegelt wurde.

Mit einem Quietschen öffnete sie sich. Seine Wohnungstür war die einzige im ganzen Haus, die quietschte. Das mit Furchen durchsetzte Gesicht von Hausmeister Saddler erschien in dem entstandenen Spalt. Die tief liegenden Augen machten einen müden Eindruck.

»Hallo Herr Saddler«, sagte ich. »Ich hoffe, ich störe sie nicht. Ich wollte nur mal ‚Hallo‘ sagen.« Mir fiel nichts Besseres ein. Also hoffte ich auf mein freundliches Lächeln und einer Portion Glück, dass er mich hereinließ. Ich hatte keine Ahnung, wie ich anfangen sollte, meine Geschichte zu erzählen, ohne dass er mich für verrückt hielt.

Seine Augen weiteten sich, als er mich erkannte. »Oh, Mister Sanders. Schön sie wieder zu sehen.« Die Worte kamen stockend, als wüsste er nicht, wie er reagieren sollte.

Er zog die Tür weiter auf. »Äh, kommen sie doch rein«, sagte er und trat einen Schritt zur Seite. »Im Flur ist es viel zu kalt. Und die Heizung im Treppenhaus ist wieder ausgefallen. Wie jedes Jahr, wenn es kalt wird. Ich bin kein Klempner und die Handwerker sind natürlich auf mehrere Wochen im Voraus ausgebucht. Oder behaupten es. Wahrscheinlich wollen sie nur einen Extrabonus, wenn sie innerhalb von zwei Tagen kommen. Und sie wissen ja, dass der Hauseigentümer das Budget für die Instandhaltung des Gebäudes klein hält. Aber so lange ich hier Hausmeister bin, musste im Winter noch nie jemand frieren.«

Ich trat an Saddler vorbei in die Wohnung. Sein anhaltendes Gerede kannte ich schon. Ich hatte mir angewöhnt, ihn nicht zu unterbrechen und ihm ab und zu einfach beizupflichten. Normalerweise brauchte er etwa fünf Minuten um loszuwerden, was ihm auf der Seele lag. Nach dieser Zeit besann er sich auf seinen Besuch und man konnte sich normal mit ihm unterhalten.

»Vielen Dank, dass sie sich Zeit für mich nehmen«, sagte ich, als er eine Pause einlegte.

»Kein Problem. Es ist ja erst halb neun. Und in meinem Alter macht man ja nichts anderes als um die Uhrzeit vor dem Fernseher zu sitzen. Setzen sie sich doch.« Er schob mich in sein kleines Wohnzimmer, das mit dunklen Eichenmöbeln zugestellt war, und deutete auf einen alten Sessel. »Setzen sie sich«, wiederholte er. »Möchten sie etwas trinken? Ich kann ihnen auch etwas zu Essen anbieten. Ich habe schöne Schnitzel. Waren im Angebot. Wenn es billig ist, kauft man immer zu viel und muss dann einen Teil wegschmeißen. Wenn man das umrechnet, könnte man auch etwas von dem Teureren nehmen und alles verbrauchen. Aber man ist immer wieder zu dumm, so weit zu denken. Ich mache ihnen so lange den Fernseher an, wie ich in der Küche bin. Dauert nur fünf Minuten.«

Ohne auf eine Erwiderung von mir zu warten, griff er nach der Fernbedienung, schaltete das Gerät ein und ging in die Küche. An der Tür drehte er sich noch einmal um und lächelte verkrampft. Etwas stimmte hier nicht. Ich atmete durch und nahm seinen Geruch wahr. Es roch hier nicht nur nach diesem Aroma, das wohl alle alten Leute in ihrer Wohnung haben, sondern nach noch etwas Anderem.

Ich roch Angst!

Aber warum sollte Saddler Angst haben?

Ich drehte mich um und sah zur verschlossenen Küchentür. Ich war mir sicher, dass der Angstgeruch von ihm kam. Das musste etwas mit den Experimenten zu tun haben, die mit mir gemacht wurden. Ich war in der Lage, Angst zu riechen - wie ein Tier.

Ich bekam eine Gänsehaut, als ich an die letzten Tage zurückdachte. Mit Erschrecken fiel mir ein, dass es Monate waren.

Warum sollte er Angst haben? Er kannte mich. Wir sind immer gut klargekommen. Warum hatte er die Tür zur Küche geschlossen? Das hatte er früher nie getan. Wurde ich langsam paranoid? War das eine Folge der Experimente?

Ich schloss die Augen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Ich bin länger als zwei Monate in diesem Labor gewesen. Meine Erinnerung zeigte mir nur einige Tage. Jemand hatte meine Wohnung gekündigt, meine Sachen abholen lassen und das Gerücht verbreitet, dass ich beruflich in eine andere Stadt umgezogen war.

Ich riss die Augen auf. Er hatte mich nicht gefragt, warum ich hier bin oder warum ich mich nicht verabschiedet hatte. Als hätte er gewusst, dass ich komme. Langsam drehte ich mich zur Küche um. Jetzt nahm ich den Angstgeruch übermächtig wahr. Noch etwas anderes kam dazu. Der Geruch von Blut kam aus der Küche. Ich konnte das Blut der Schweineschnitzel riechen. Ein immenses Hungergefühl überkam mich, da ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.

Als ich mich stärker konzentrierte, konnte ich jedes Geräusch aus der Küche mitbekommen. Ich hörte, wie er Messer und Gabel aus der Schublade zog und auf einen Porzellanteller legte. Dann erklang das Freizeichen eines Telefons und wie ein Zettel auseinandergefaltet wurde. Seine Finger beim Eintippen der Zahlen und eine Stimme, die sich mit einem rüden »Ja« meldete.

»Er ist hier«, hörte ich Saddler flüstern.

Ich stand auf und ging leise zur Küchentür. Ich nahm die Geräusche aus der Küche wahr, als würde ich direkt neben Saddler stehen. Der Fernseher, der keine zwei Meter hinter mir stand und irgendeinen Musikkanal zeigte, drang nur als Hintergrundrauschen an meine Ohren und wurde ausgeblendet.

»Halten sie ihn hin. Wir sind in fünf Minuten da«, kam die Stimme durchs Telefon. »Und denken Sie daran, was ich ihnen gesagt habe.« Dann ein Klicken, als Saddler die Verbindung beendete.

Ich öffnete langsam die Küchentür und schaute ihn an. Er drehte sich erschrocken um, als er mich im Türrahmen bemerkte. Sein Gesicht verlor alle Farbe und sein Blick senkte sich schuldbewusst auf das Telefon, das er in der Hand hielt. Als er bemerkte, dass ich seinen Augen folgte, wurde er noch blasser. »Ich.., äh, ich dachte, wir könnten uns auch eine Pizza bestellen. Eigentlich habe ich keine Lust, schon wieder Schnitzel zu essen. Die brauchen auch nur fünf Minuten, bis sie hier sind«, stotterte er und versuchte dabei ein Lächeln zustande zu bringen.

»Gut reagiert, alter Mann.« Meine Stimme klang emotionslos. »Aber ein Bringdienst braucht dreißig Minuten. Fünf Minuten benötigen ihre neuen Freunde.«

Saddler ließ erschrocken das Telefon fallen und griff nach dem Steakmesser, das neben ihm auf einem Teller lag. Zitternd hielt er es mit der Spitze auf mich gerichtet. Sein Angstgeruch verpestete jetzt den ganzen Raum und erschwerte mir das Atmen. Ich hob die Hände mit den Handflächen zu ihm und sagte: »Ganz ruhig. Ich will ihnen nichts tun. Sie kennen mich. Ich möchte nur wissen, warum sie mit denen zusammenarbeiten. Ich dachte immer, sie wären ein anständiger Kerl.« Meine Stimme hörte sich enttäuscht an. Ein netter alter Mann, der an Experimenten mit Menschen beteiligt war. Was muss in jemandem vorgehen, damit er so etwas macht oder unterstützt? »Es ist das Geld, oder? Sie machen es des Geldes wegen. Wie viele sind schon aus diesem Haus verschwunden? Bekommen sie ein Kopfgeld für jeden, den sie auftreiben?«

Saddler sah mich irritiert an. »Was reden sie? Ich mache so etwas doch nicht für Geld. Es ist mir sogar eine Ehre dabei zu helfen, Menschen wie sie hinter Gitter zu bringen!«

»Menschen wie mich?« Jetzt war ich verwirrt. »Was soll das heißen?«

»Hören sie doch auf«, sagte er und straffte seinen Oberkörper, als würde er wieder Mut fassen. »Ich weiß, wer sie sind. Ein Terrorist. Ein verblendeter Spinner. Leute wie sie sollte man nicht einsperren, sondern erschießen!« Er spie mir die Worte entgegen. Der Geruch von Angst änderte sich in den von Hass, auch wenn er nicht ganz verschwand.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739379982
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Schlagworte
Horror Zombie Thriller Vampire Psychothriller Dystopie Utopie Science Fiction

Autor

  • Steve Wild (Autor:in)

Steve Wild ist das Pseudonym eines deutschen Autors, der 1971 bei Hannover geboren wurde. Schon früh, während seines ersten Schuljahres, entdeckte er das Horrorgenre für sich. Während seine Klassenkameraden Geschichten über sprechende Elefanten oder kleine Hexen lasen, bevorzugte er es, das Lesen mit John Sinclair-Heften zu üben.
Zurück

Titel: Blutwahn Der Preis der Unsterblichkeit