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Nachtjäger

von Mathilda Grace (Autor:in)
350 Seiten
Reihe: Nacht - Trilogie, Band 3

Zusammenfassung

Stellan Archer hat fast sein gesamtes Leben allein verbracht und ist damit vollauf zufrieden, bis er auf dem Rückweg von einer Hochzeit die Bekanntschaft von Claudine Fairchild macht. Das Mädchen ist gerade mit ihrem Vater Connor nach Sanoro gezogen und lässt sich durch nichts davon abhalten, wiederholt in seinem Revier aufzutauchen. Stellan weiß weder mit ihrer Hartnäckigkeit umzugehen noch mit dem plötzlich in ihm erwachenden Bedürfnis, Claudine und ihren Vater beschützen zu wollen. Und als wäre das alles nicht schon irritierend genug, entscheidet sein Alpha, Rick Malloy, auf einmal, dass er der perfekte Kandidat ist, um in naher Zukunft die Führung des Sanoro-Rudels zu übernehmen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

Prolog

- Stellan -

 

 

 

 

Eine Hochzeit.

Was machte er auf einer Hochzeit?

Er ging nicht auf Feiern, wo Menschen waren, was also tat er hier? Er könnte ein paar Kinder erschrecken, nur würde das Brautpaar das wohl kaum gutheißen. Rick würde es auch nicht gutheißen. Von den Eltern besagter Kinder ganz zu schweigen. Dann hätten sie noch einen Grund mehr ihn anzuknurren und mit drohenden Blicken zu überhäufen, wobei er letzteres meist nur amüsant fand. Sie waren keine Bedrohung für ihn. Keiner in diesem Rudel war es. Selbst als Gruppe würden sie ihn nicht ohne Weiteres niederringen können. Nicht ohne Tote auf ihrer Seite. Er war ein Tiger, kein kleiner Kater wie der Bräutigam.

Stellan knurrte leise, als einer der neuesten Wächter ihm zu dicht auf die Pelle rückte, und grinste abfällig, als der Wolf mit einem Fauchen das Weite suchte.

So lief es schon seit seinem Eintreffen hier ab. Die Jüngeren versuchten ihr Glück mit kindischen Kompetenzrangeleien, in der Hoffnung, er würde sich darauf einlassen. Hielten sie ihn wirklich für so dumm? Rick Malloy mochte ihm kräftemäßig unterlegen sein, aber er hatte den Bär als Alpha anerkannt und würde sich an dessen Kampfverbot halten.

Keine Ausnahmen.

Zumindest solange sie sich von seinem Revier fernhielten. Der kranke Schläfer hatte das nicht getan. Sein falscher Geruch war wie eine dichte, dunkle Wolke um ihn herum gewesen, die bis tief in seinen Geist gereicht hatte. Ihn von den Katzen töten zu lassen, war ein Gnadenakt gewesen, obwohl das niemand verstand. Nicht einmal Rick. Andererseits hatte Stellan sich auch nicht an einer Erklärung versucht.

Zeitverschwendung in seinen Augen, und das galt ebenso für diese unselige Feier. Aber dieses Rudel mochte Hochzeiten und die gefühlsmäßigen Bindungen, die sie mit sich brachten, das hatte er in den vergangenen Jahren gelernt. Sie liebten das, was sie mit einem Lächeln Familienbande nannten.

Ein Wort, dessen Bedeutung Stellan ebenso fremd war, wie der Großteil dessen, was diese Gestaltwandler als Leben, Liebe, Familie und Freundschaft betitelten. Er verstand nicht, was an diesen Dingen so wertvoll war. Er verstand nicht, warum Trent Morgan und Sebastian Monroe heirateten. Er verstand ebenso wenig, warum Jasper Rivers Erregung dabei empfand, wenn er von seinem Mann geschlagen wurde. Und noch viel weniger sah er irgendeinen Sinn darin, dass die Gefährtin seines Alpha Tränen vergoss, als das Hochzeitspaar einander mit eigens für diesen Tag geschriebenen Reden die Treue schwor.

Stellan wusste, dass er durch sein Tier einer von ihnen war, ein Gestaltwandler. Dennoch würde er niemals wirklich dazu gehören, würde nie einer der Ihren sein. Das hatte er schon vor langer Zeit begriffen, doch im Gegensatz zu Rick Malloy störte ihn selbst diese Tatsache nicht im Geringsten.

 

 

 

Kapitel 1

- Connor -

 

 

 

 

Dieser dunkelhaarige Riese war ihm unheimlich.

Seit fast einer Stunde stand Stellan Archer jetzt in der Ecke, hielt sich an einer halb ausgetrunkenen Wasserflasche fest und beobachtete mit wechselnden Gesichtsausdrücken, die von abschätzig über ratlos bis hin zu verärgert reichten, sobald ihm einer von den Jüngeren zu dicht auf den Pelz rückte, wie Sebastian und Trent den offiziellen Bund der Ehe eingingen.

Jasper hatte ihn zwar vorgewarnt, dass der Mann schwierig war und er ihn am besten ignorieren sollte, doch von einem baumhohen Riesen mit Muskeln jenseits von gut und böse war dabei nicht die Rede gewesen. Wie groß war der Typ? Zwei Meter? Eher mehr. Dazu breit wie ein Baum und er fühlte sich hier offensichtlich mehr als unwohl. Daran änderte auch der teure Maßanzug nichts, für den garantiert Trent Morgan, Pardon, er hieß ja seit einigen Minuten Monroe, verantwortlich war. Dunkle Augen, erkannte Connor, als Stellan einer Gruppe kichernder Mädchen nachblickte, die ihn offenbar irritierten.

Connor verkniff sich ein Schmunzeln, denn diese Irritation kannte er selbst gut von diversen Pyjamapartys, die Claudine mit ihren Freundinnen veranstaltet hatte. Connor schnitt eine Grimasse, als ihm einfiel, dass es damit jetzt vorbei war. Noch ein Grund mehr für seine Tochter, ihn wegen des Umzugs nach Sanoro zu hassen, und er hatte keinerlei Zweifel daran, dass es nicht lange dauerte, bis sie ihn wieder spüren ließ, was sie von ihm und seinem neuen Lebensplan hielt, sich mit ihr in dieser Wandlergruft, O-Ton Claudine, niederzulassen.

Ein bisschen konnte er sie sogar verstehen. Sanoro war eben nicht New York City, aber als er von einem Bekannten erfahren hatte, dass Rick Malloy dabei war, sein Rudel zu vergrößern, hatte er die Chance ergriffen und Jasper kontaktiert.

Heute, sieben Monate später, war er stolzer Besitzer eines für ihn und Claudine renovierten Hauses, in dem Jasper bis zu seiner Hochzeit gewohnt hatte, und in welchem es genug Platz für sie und Hündin Bee gab, eine kniehohe Mischlingsdame, deren liebster Platz ihr Kissen vor der warmen Heizung war. Noch besser fand sie es, wenn vor dem Kissen eine Schale mit Käsestückchen lag. Bee war verrückt nach Käse. Sie klaute ihn sogar vom Teller. Oder von frisch gemachten Broten, wie heute Morgen am Frühstückstisch. Connor lachte bei der Erinnerung daran, wie Claudine grinsend und entrüstet zugleich ihrem geklauten Käsebrot nachgesehen hatte.

Ob sein dunkelhaariger Riese wohl auch für Käse zu haben war? Kopfschüttelnd trank er einen Schluck Bier und wandte den Blick ab. Dieser Kerl würde nie seiner sein. Solche Männer interessierten sich nicht für Ärzte mit Untergewicht, die vor lauter Arbeit ständig das Essen vergaßen und noch dazu eine Teenagertochter im Haus hatten. Nun ja, zumindest den Punkt mit seinem Gewicht würde er in Sanoro hoffentlich angehen können, denn eine Praxisteilung bedeutete für Jasper und ihn eben auch geteilte Arbeit und mit Sicherheit mehr Freizeit, als bei seinem letzten Job in der Notaufnahme, den er ohnehin nur angenommen hatte, um nicht ständig mit den Erinnerungen an Christy konfrontiert zu sein.

Connors Blick wanderte, ohne dass er es wollte, zurück zu Stellan Archer. Diese Augen waren wirklich der Hammer. Wie Schokolade. Er mochte Schokolade. Er mochte auch diesen Typ Mann, obwohl er von Archer wirklich besser die Finger ließ. Der Tiger würde ihn mit einem einzigen Faustschlag auf die Hälfte seiner Größe zurechtstutzen und ihn dann als Sitzklotz benutzen. Und wie er sich ständig umsah und dabei alles und jeden auf der Feier zu verachten schien … Das war ein wirklich merkwürdiger Wandler, der auf diese Hochzeit passte, wie ein Elefant in den nächsten Porzellanladen. Aber das Brautpaar, zumindest Trent, mochte ihn offenbar und selbst Rick hatte vor einiger Zeit ein paar Worte mit Archer gewechselt. Die übrigen Gäste hielten sich allerdings fern, von diesen chancenlosen Herausforderern einmal abgesehen.

Connor versteckte ein Grinsen hinter seinem Bier, weil es in dem Moment wieder einer versuchte. Ein junger Wolf. Archers Antwort war ein Knurren, das bis zu ihm herüberwehte, dicht gefolgt von einem empörten Fauchen des Verlierers, bevor der Wolf den sprichwörtlichen Schwanz einzog und sich zu seiner Gruppe Freunde verdrückte, die ihn feixend und schadenfroh in ihrer Mitte willkommen hießen.

So ein Mann hätte Christy gefallen und sie hätte garantiert versucht, ihn für eine Nacht in ihr Ehebett zu locken. Vielleicht sogar mehr. Was das betraf, hatten sie einander keine Grenzen gesetzt, solange sie es nicht heimlich taten.

Connor seufzte tief. Das war ebenfalls ein Punkt auf einer ellenlangen Liste von Gründen, der Christys erzkonservative Eltern glauben ließ, dass er als Vater ein totaler Versager und damit völlig untragbar war. Welcher Mann ließ schon zu, dass die eigene Ehefrau fremde Männer ins Bett holte?

Dass Christy bei ihren sexuellen Abenteuern fast immer den ersten Schritt gemacht hatte, interessierte sie nicht. Sie war schließlich ihre einzige Tochter, so ein liebes Kind, welches er mit seiner unnatürlichen Bisexualität völlig verdorben hatte, und sie würden niemals zulassen, dass er Claudine auch noch vom Pfad der Tugend holte. Kompletter Unsinn, aber Christys Eltern waren derart verbohrt, dass sie bis heute nicht erkannt hatten, dass es ihre Schuld war, dass Christy sofort nach ihrem Schulabschluss ihr Elternhaus verlassen und jeglichen Kontakt abgebrochen hatte.

Er hätte sie niemals zur Beerdigung einladen dürfen, aber Connors schlechtes Gewissen war am Ende so groß gewesen, dass er es einfach nicht über sich gebracht hatte, zu schweigen.

Der Dank dafür war ein Sorgerechtsstreit um Claudine, der ihn im schlimmsten Fall seine Tochter kostete. Dabei kannte sie ihre Großeltern nicht einmal und wollte auch nicht bei ihnen leben. Das hatte sie bei einem Termin im Jugendamt klipp und klar deutlich gemacht, aber mit erst 13 Jahren war sie vor dem Gesetz eben leider noch zu jung, um diese Entscheidung allein zu treffen, daher war ihm geraten worden, sich schnellstens einen guten Anwalt zu suchen, um das Sorgerecht abschließend und dauerhaft zu klären.

Nur wo man so jemanden fand und vor allem wie er diesen Mann oder diese Frau bezahlen sollte, das hatte ihm niemand sagen können. Connor war mit dem ganzen Hickhack schlicht überfordert gewesen und hatte schlussendlich das getan, was er für das Beste hielt. Nämlich das Haus zu verkaufen, weil er es mit nur einem Gehalt ohnehin nicht unterhalten konnte, den Job zu kündigen und am nächsten Tag seine Sachen zu packen und mit Claudine aus New York zu verschwinden.

Connor war bewusst, dass ihm das auf Dauer nicht helfen würde. Früher oder später würden Christys Eltern ihn finden und dann hatte er mit Sicherheit noch mehr Probleme am Hals, weil er mitten in einem laufenden Prozess nicht nur die Stadt, sondern gleich den Bundesstaat hinter sich gelassen hatte.

Nicht zu vergessen, dass er Jasper und Rick zwar von dem Sorgerechtsstreit erzählt, die Sache aber heruntergespielt hatte, um zu verheimlichen, dass er überhaupt keinen Anwalt hatte, der sich darum kümmerte, weil er schlichtweg pleite war. Eine Beerdigung war teuer und nach dem Hausverkauf hatte das Geld gerade ausgereicht, um den restlichen Kredit auszulösen und den Hauskauf hier in Sanoro zu arrangieren. Vom Umzug und Einkauf in die Klinik ganz zu schweigen.

Momentan besaß Connor nur noch ein paar tausend Dollar und wenn sich die Arbeit in der Klinik nicht rentierte, war er in einem halben Jahr abgebrannt. Spätestens. Und das mit einer minderjährigen Tochter, für die er sorgen musste. Nicht gerade gute Voraussetzungen für einen Sieg vor Gericht, denn seine Mittellosigkeit würde einem Richter kaum gefallen.

Wie Connor es auch drehte und wendete, er saß mächtig in der Tinte.

»Gefällt dir der Ausblick?«

Connor zuckte zusammen und drehte sich zu Rick Malloy, als sein Alpha neben ihn trat. »Es ist eine schöne Feier.«

»Das habe ich nicht gefragt.«

Aha, seine Blicke waren offenbar bemerkt worden. Connor zuckte betont gelassen mit den Schultern. »Ich bin nicht blind, aber auch nicht lebensmüde. Wächst eigentlich wieder Gras an den Stellen, auf die er schon draufgehauen hat?«

Rick begann zu lachen und klopfte ihm auf die Schulter. »Du gefällst mir, und bei meinem letzten Rundgang schien das Gras in seiner Nähe noch frisch und munter zu sein. Wo hast du denn deine Kleine gelassen?«

Connor deutete über die Menge. »Irgendwo auf der Feier. Sie hat mir auf dem Weg hierher sehr deutlich erklärt, dass sie zu alt für einen Babysitter wäre. Vor allem, wenn derjenige ihr Vater ist. Also habe ich sie ziehen lassen.«

»Das kommt mir bekannt vor«, murmelte Rick und sah ihn scharf an. »Du siehst scheiße aus.«

»Wow, wie freundlich.« Connor wusste nicht, ob er sich für die Ehrlichkeit bedanken oder beleidigt sein sollte.

»Ich bin dein Alpha und nicht für Nettigkeiten zuständig. Vor allem dann nicht, wenn mein zweiter Arzt Augenringe von der Größe der Rocky Mountains hat. Du solltest dich dringend mal ausschlafen. Sonst wird das nichts mit der Klinikeröffnung nächsten Monat.«

»Bis dahin ist noch genug Zeit, den fehlenden Schlaf etwas auszugleichen. Ich muss nämlich noch gefühlt tausend Kartons auspacken.«

Rick nickte verständnisvoll. »Ein Umzug dauert eine Weile. Wir hatten davon einige in den letzten Monaten. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, und falls du jetzt gehen willst, um dich ins Bett zu legen, nur zu. Ich sorge persönlich dafür, dass deine Kleine sicher nach Hause kommt.«

»Du?«, fragte Connor erstaunt nach.

»Ich kümmere mich um mein Rudel«, war Ricks Antwort, ehe er ihm erneut auf die Schulter klopfte und ihn dann wieder allein ließ.

Vielleicht sollte er ja wirklich nach Hause gehen, überlegte Connor, während er zusah, wie Rick sich durch die Menge der Feiernden schob, direkt auf seine Frau Annie zu. Als die zwei sich kurz darauf küssten, was mit dreckigen Pfiffen und Johlen kommentiert wurde, wandte Connor grinsend und gleichzeitig kopfschüttelnd den Blick ab und entschied zu gehen.

Es war zwar noch ziemlich früh am Tag, aber er kannte hier doch ohnehin kaum jemanden und wenn ihn sogar sein neuer Alpha auf seine unübersehbare Müdigkeit ansprach, musste er wirklich schlimm aussehen. Nun ja, verwunderlich war das für Connor nicht, so schlecht wie er seit Christys Tod schlief. Es gab Tage, da fragte er sich, wieso er überhaupt noch aufstand, und normalerweise wäre er heute nicht einmal hergekommen. Aber Jasper hatte ihn darum gebeten, um die Bewohner von Sanoro ein bisschen kennenzulernen, und das hatte er einfach nicht ablehnen können.

Die gesamte Stadt war zur Hochzeit ihres Traumpaares, wie Jasper seine besten Freunde lächelnd betitelt hatte, gekommen, und anfangs hatte Connor sich auch sehr gut unterhalten, aber langsam kehrten die Gedanken an Christy zurück, die sich auf dieser Party mit Sicherheit verdammt wohlgefühlt hätte. Doch Christy war für immer fort und alles, was ihm jetzt noch blieb, war ein frecher, schwarzhaariger Wirbelwind, den Christy und er in einer Nacht voller Musik, Tanz und jeder Menge bunter, verbotener Pillen geschaffen hatten.

Die Pillen hatten Christy und er nach jener Nacht nie mehr angerührt und seit Claudines Geburt hatten sie auch auf lange Partynächte verzichtet. Nichts war so wichtig gewesen, wie die Gesundheit und Sicherheit dieses hübschen, zarten Wesens, an das er seit dem Tod ihrer Mutter kaum noch herankam.

Connor ließ seinen Blick über die Menge schweifen, konnte Claudine aber nirgendwo entdecken. Was ihn vermutlich hätte erschrecken sollen, aber wundersamerweise machte er sich um sie keine Sorgen. Er wusste, dass die Stadt sicher war. Dass es, dank Rick Malloy, selbst heute genügend Wächter gab, die ein oder auch beide Augen auf die Jüngeren hatten, während ihre Eltern feierten. Claudine wurde hier beschützt, mit allem, was die Männer und Frauen dieser Stadt zu geben hatten, und das gab schließlich den Ausschlag für Connor, Claudine eine kurze Nachricht zu schreiben, dass er sich auf den Heimweg machte und sie bitte Bescheid geben solle, wenn sie abgeholt werden oder ihn begleiten wollte.

Zurück kam: Bin spazieren. Alles okay. 

Und das war schon mehr, als Connor erwartet hatte. Aber nach ihrem letzten großen Streit, der darin gegipfelt war, dass er seiner eigenen Tochter, mit den Nerven völlig am Ende, laut vorgeworfen hatte, sie wolle ihm mit Absicht wehtun und ihm Angst machen, weil sie nie zurückrief oder sich meldete, wenn sie länger wegblieb, reagierte Claudine auf jede einzelne seiner Nachrichten und das war im Augenblick alles, was für Connor zählte. Daran klammerte er sich, denn von einem normalen Vater-Tochter-Verhältnis waren sie derzeit so weit entfernt, wie die Sonne von der Erde.

 

Hinter der Haustür erwartete ihn ein Chaos aus Kisten und Kartons, die noch ausgeräumt werden mussten, und Bee, die ihm schwanzwedelnd aus dem Wohnzimmer entgegenkam.

»Hallo, altes Mädchen«, begrüßte er die Hündin leise und ging in die Hocke, um sie ausgiebig zu streicheln, was Bee sich begeistert gefallen ließ. Nun ja, so begeistert wie sie es in ihrem Alter hinbekam, denn Bee war kurz nach Claudines Geburt zu ihnen gekommen, als Christy eines nachts mit dem Welpen auf dem Arm nach Hause gekommen war, den irgendwer einfach in den Müllcontainer hinter dem Restaurant geworfen hatte, in dem sie arbeitete.

Claudine liebte die gutmütige, hellhaarige Lady über alles, doch Connor fürchtete, dass sie Christy bald folgen würde. In den vergangenen Monaten hatte Bee mehr und mehr abgebaut und mit einem stolzen Alter von 13 Jahren war sie bereits älter als viele ihrer Rasse. Connor streichelte Bee hinter den Ohren, bis sie die Zunge heraushängen ließ.

»Das magst du, hm?«, murmelte er und schaute ein wenig genauer hin. Bees Augen trübten sich immer mehr ein. »Lange bleibst du nicht mehr, stimmt's?« Die Hündin sah zu ihm auf und nicht zum ersten Mal hatte Connor das Gefühl, als würde sie ihn genau verstehen. Ihm stiegen die Tränen in die Augen. »Du musst noch ein bisschen durchhalten, hörst du? Nur noch ein bisschen.« Bee bellte einmal und leckte ihm übers Gesicht, was Connor gleichzeitig lachen und weinen ließ. »Ja, ich liebe dich auch, hübsche Lady.« Er richtete sich auf. »Komm, Süße. Heute schläfst du bei mir, okay? Aber vorher drehen wir noch eine Runde durch die Stadt und sehen uns unsere neue Heimat ein bisschen genauer an, einverstanden?«

Viel zu sehen gab es natürlich nicht, weil erstens Samstag war und zweitens alle Läden wegen der Hochzeit geschlossen hatten. Trotzdem ließ er Bee erst von der Leine, nachdem sie die Hauptstraße wieder verlassen und den ersten Waldweg zu Connors Linken eingeschlagen hatten. Das Hochzeitspaar hatte sein Haus direkt am Ende der Straße und wenn er diesen Weg weiterging, würde er laut Jasper irgendwann auf Stellan Archer stoßen.

Der Tiger lebte mitten im Wald, ohne direkten Anschluss, aber angeblich gab es einen schmalen Schotterweg, sodass man ihn durchaus mit einem Wagen erreichen konnte. Was jedoch nur für den Notfall erlaubt war, Rick hatte sich dahingehend sehr deutlich ausgedrückt. Archer war gefährlich und wer sein Revier ohne Erlaubnis betrat, bezahlte das mitunter mit seinem Leben. Connor war sich nicht sicher, ob er die Gerüchte über den Tod eines jungen Wandlers glauben sollte, der Archer mit Absicht auf die Pelle gerückt war, bis der ihn getötet hatte, aber nachdem er den Tiger heute gesehen hatte, hatte er zumindest keinen Zweifel daran, dass Stellan Archer körperlich zu einem Mord in der Lage war.

Wobei Wandler da ein wenig differenzierten. Ein Mord war bei ihnen nicht unbedingt ein Mord, sofern es Umstände gab, die eine Tötung rechtfertigten. Und ein Wandler, der sich, trotz Verbots seines Alpha, wiederholt über Grenzen hinwegsetzte, musste eben mit den Folgen leben. Selbst wenn das seinen Tod bedeutete. Das war in New York nicht anders gewesen, obwohl ihr altes Rudel mit Sicherheit größere Probleme gehabt hätte, eine Leiche zu entsorgen. Hier in Sanoro, geschützt von einem Senator und mit jeder Menge dicht gewachsenem Wald um die Stadt, würde ein Toter nie wieder auftauchen, wenn das Rudel es nicht wollte.

Bee bellte plötzlich aufgeregt und wenig später rannte ein Eichhörnchen quer über den Weg und verschwand auf einem Baum. Connor lachte, als Bee deutlich langsamer hinterherkam und sich mit den Vorderpfoten am Stamm aufrichtete, um ihn dann vorwurfsvoll anzusehen.

»Was? Ich hole es dir nicht da runter.« Wieso nicht?, schien ihr folgender Blick zu fragen und Connor schüttelte mit einem Grinsen den Kopf. »Kommt nicht in die Tüte. Ich werde mich hier nicht für dich zum Affen machen. Wölfe klettern nicht auf Bäume, Süße.«

Sein Handy begann zu klingeln und Connor zog es aus der Tasche, um nachzusehen, ob Claudine ihn anrief. Er stutzte, da auf dem Display eine Nummer stand, die er nicht kannte. Im nächsten Moment fiel es ihm wie die berühmten Schuppen von den Augen. 917 war eine Vorwahl aus New York City. Scheiße. Das waren bestimmt Christys Eltern oder ihr Anwalt. Connor starrte hilflos auf sein Handy, weil er nicht wusste, was er jetzt tun sollte. Annehmen? Auf keinen Fall. Den Anruf wegdrücken und aufs Beste hoffen? Als ob das was nützen würde. Vielleicht sollte er sein Handy einfach wegwerfen? Nein, das ging nicht. Er musste für Claudine erreichbar sein.

Das Handy verstummte und Connor atmete erleichtert auf. Gerettet. Zumindest fürs Erste.

 

 

 

Kapitel 2

- Stellan -

 

 

 

 

Es wurde Zeit zu gehen.

Er hatte lang genug hier ausgeharrt, zudem ging die Sonne gerade unter und er brauchte mindestens eine Stunde für den Heimweg, wenn er gemütlich ging. Doch für Eile gab es in seinen Augen keinen Grund, also konnte er den warmen Frühsommerabend ruhig in allen Zügen genießen.

Vielleicht konnte er einen Teil der Strecke als Tiger laufen. Nur würde er damit den Anzug ruinieren und bei den Blicken, die Sienna und Eduardo ständig tauschten, würde er selbigen möglicherweise bald wieder brauchen. Nicht, dass er vorhatte, freiwillig auf deren Hochzeit zu erscheinen, aber vor allem der Tochter seines Alpha war zuzutrauen, dass sie ihn einlud und dann war er geliefert, denn Rick würde davon erfahren und ihm die Hölle heißmachen, wenn er es wagte, trotz Einladung fernzubleiben. Aber noch gab es keine Einladung, also bestand Hoffnung.

Stellan trank sein Wasser aus, brachte die Flasche anständig zurück zur Bar und machte sich anschließend aus dem Staub. Niemand würde es bemerken oder sich daran stören, bei den Massen an Gästen, die auf dem Schießgelände von Culpeo Inc. herumliefen, das als Platz für die Hochzeitsfeier umgestaltet worden war. Er brauchte nur wenige Minuten bis zur Straße und als die Sonne sich gerade anschickte, hinter den Bäumen zu verschwinden, schlug er bereits den Weg in den Wald ein.

»Hey, warte.«

Stellan runzelte die Stirn, da er die helle Stimme hinter seinem Rücken nicht einordnen konnte. Aber sie klang jung und kam noch dazu von einem weiblichen Wesen, sie konnte unmöglich ihm gegolten haben. Er ging also weiter in den Wald hinein.

»Kannst du nicht hören?«

Irritiert wegen der eiligen, unbeholfenen Schritte, die jetzt in seine Richtung kamen, verlangsamte er sein Tempo etwas. Falls tatsächlich eines der Kinder vorhatte, ihm in den Rücken zu springen, würde er den Störenfried lehren, was es hieß, ihn zu verärgern.

»Mann, renn' doch nicht so, du Baumstamm auf Beinen.«

Baumstamm auf Beinen? Eine seltsame Formulierung, und sie brachte Stellan komplett außer Konzept. Er drehte den Kopf nach hinten. Tatsächlich. Ein junges Mädchen folgte ihm. Sie versuchte es zumindest, denn selbst mit seinem gemächlichen Tempo konnte sie nur schwer mithalten. Er musste eine Weile überlegen, bis er ihrem von schwarzen Locken eingerahmten Gesicht den passenden Namen zuordnen konnte. Das war der Zögling des neuen Rudelarztes. Claudine Fairchild. Ihr Vater hatte in den letzten Tagen unzählige Stunden mit Jasper Rivers in ihrer Gemeinschaftspraxis verbracht, um die Räume fertig einzurichten. Sehr modern. Sehr kalt. Und mit einem äußerst unangenehmen, klinischen Geruch, an den Stellan sich nur mit Widerwillen erinnerte.

»Wow, bist du riesig«, sagte das Mädchen hörbar verblüfft und stand auf einmal neben ihm.

Stellan sah auf sie hinunter. »Du bist klein.«

»Ja, ich weiß. Aber ich wachse noch.« Sie begann auf ihren Fersen zu wippen. »Wohin gehst du?«

»Weg.«

»Das sehe ich. Kann ich mitkommen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Stellan war über die Frage so verblüfft, dass er sie anstarrte, bis das Kind anfing zu grinsen.

»Es stimmt also echt?«

»Was?«

»Dass du kleine Kinder frisst.«

Wer behauptete das denn? Wobei es für seinen schlechten Ruf mit Sicherheit ziemlich praktisch war. Stellan beließ es bei einem abfälligen Blick und setzte sich wieder in Bewegung.

»Oh Gott, geh' nicht so schnell. Da braucht man ja ein Auto, um dranzubleiben.«

»Geh' zurück.«

»Pfft. Ich bleibe bei dir, du bist cooler. Auch wenn Rick sagt, ich soll vorsichtig sein, weil du niemanden magst.«

»Richtig.«

»So schlimm kannst du nicht sein, du hast mich schließlich noch nicht gefressen.«

»Soll ich?«

»Machst du das echt?« Das Kind schien von der Vorstellung wundersamerweise eher fasziniert als ängstlich zu sein. »Wie schmeckt ein Mensch?«, fragte sie weiter und Stellan sah zu ihr hinunter.

Sie hatte grüne Augen mit einem Stich ins Braune. Warum ihm das auffiel, wusste Stellan zwar nicht, aber es erinnerte ihn an ihren Vater. Der hatte die gleichen Augen und sich vorhin auf der Hochzeit sichtlich über die jungen Wächter amüsiert, die ihn immer wieder herausgefordert hatten.

»Zäh. Bitter.«

Ihr Erstaunen war förmlich mit den Händen greifbar. »Du hast wirklich schon einen gefressen?«

»Angebissen. Hat aber nicht geschmeckt. Habe ihn wieder ausgespuckt.«

»Ihhhh, ist ja eklig … Und voll cool.«

Das Mädchen lachte und rannte an ihm vorbei, um dann in einigen Metern Entfernung breitbeinig auf dem Weg vor ihm stehenzubleiben. Sie ging auch nicht weg, als er in Reichweite kam und einen Moment lang überlegte Stellan sie einfach zur Seite zu stoßen. Nur würde sie dann wohl im Dornengebüsch landen, zu ihrem Vater rennen und der würde ihm garantiert Rick auf den Hals hetzen oder die Sache selbst klären wollen. Was dann wiederum mit einer Leiche enden dürfte. Eine sehr unangenehme Vorstellung und den hinterher zu erwartenden Ärger nicht wert, entschied Stellan, blieb stehen und starrte drohend auf seine lästige Begleitung hinunter.

»Du bist seltsam. Geh' zurück.«

»Du bist noch seltsamer. Aber ich mag dich trotzdem.«

»Warum?«, fragte er irritiert und sah dem Kind dann mehr als verwirrt hinterher, weil sie ihn nach ihrer Antwort wirklich allein ließ, aber beim Weggehen noch winkte und lachend rief: »Tschüss, Baumstamm.«

Einfach so, hatte sie gesagt. Was sollte das bedeuten? Wieso sollte jemand einen anderen einfach so mögen? Kinder waren wirklich sonderbar. Noch sonderbarer als Erwachsene, wobei er mit Rick und Paul mittlerweile recht gut auskam. Sofern sie es mit ihrer Gesellschaft nicht übertrieben. Doch da bestand zumindest bei Paul keine Gefahr mehr, seit er bei dem Löwen in der Stadt lebte. Rick war jedoch ein anderes Kaliber, wobei ihn das Gespräch mit diesem Mädchen gerade weitaus ratloser zurückließ, als es Gespräche mit dem Bären meist taten.

Stellan war so in Gedanken versunken, dass er das Miauen erst wahrnahm, als der Eingang seiner großen Wohnhöhle in Sicht kam. Mit einem langen Blick sicherte er die Umgebung ab und trat dann überlegend an seine Tür, vor der ihn fünf kleine Katzen und ihre tote Mutter erwarteten.

Sie hatte es also wirklich getan. Er war schon vor mehreren Tagen bei einem seiner abendlichen Streifzüge über das kranke Tier gestolpert. Die Katze musste angegriffen worden sein und die Bisswunden hatten sich entzündet. Doch sie hatte alles in ihrer Macht stehende getan, um ihren Wurf zu retten. Zweimal war sie mit ihnen hier aufgetaucht, jedes Mal hatte er sie in den Wald zurückgescheucht. Heute war er nicht da gewesen und jetzt war es zu spät, um sie zu verjagen. Stattdessen lag es nun an ihm, sich um die Jungen zu kümmern.

Er würde es schnell und schmerzlos tun. Das war er ihrer tapferen Mutter schuldig. Stellan nahm eines der Kätzchen auf die Hand. Dunkelblaue Augen starrten ihn müde, aber auch ein wenig kampflustig an. Ein Kater. Der auf einmal ein Geräusch machte, das wohl ein Fauchen sein sollte. Stellan fand es eher belustigend, vor allem als seine Geschwister antworteten.

»Du wirst nicht leiden«, versprach er dem kleinen Wesen und packte ihn mit der zweiten Hand im Genick. Es würde ihn nicht viel Kraft kosten. Eigentlich gar keine.

Der Kater zwickte ihn und Stellan zuckte heftig zusammen. Mit Gegenwehr hatte er nicht gerechnet. Mit dem trotzigen Blick, der darauf folgte, ebenso wenig. Es verwunderte Stellan. Das kleine Wesen musste doch wissen, dass es ohne die Mutter nicht überleben konnte. Dafür war es viel zu jung. »Du bist zu klein. Du brauchst eine Mutter und Milch. Du wirst sterben.«

Das sah die Miniausführung eines Katers offenbar anders, der sich jetzt in seiner Hand zusammenrollte und begann, die Stelle abzulecken, in die er zuvor gebissen hatte. Stellan sah fasziniert dabei zu und fragte sich gleichzeitig, was er mit dem winzigen Tier nun anfangen sollte. Es hatte einen sehr starken Lebenswillen. Bei der Mutter wunderte ihn das nicht, nur war sie tot und ohne sie würde ihr Wurf in weniger als einer halben Woche verhungert sein.

Was taten Tigermütter mit ihren Jungen? Er hatte darüber gelesen, dass sie gesäugt wurden. Aber er hatte auch von den sogenannten Auffangstationen gelesen, wo Menschen sich um verwaiste oder verlassene Tiere kümmerten. Wenn es diese Orte gab, musste es logischerweise funktionieren. Zumindest bei Tigern. Und möglicherweise auch bei Katzen. Aber war es den Aufwand überhaupt wert? Stellan sah zu der toten Katze, die, umringt von ihrem miauenden Wurf, auf seiner Schwelle lag. Sie hatte daran geglaubt. Sie hatte bis zuletzt gekämpft. Sie hatte nicht aufgegeben, obwohl er sie abgewiesen hatte. Diese Katze hatte so viel Mut und Stärke in sich getragen, es war das Mindeste, dass er ihrem Mut mit dem nötigen Respekt und der verdienten Ehre begegnete und nachforschte, ob es vielleicht eine Möglichkeit gab, die Jungen zu retten.

 

Zwei Stunden später war Stellan um einige Informationen reicher und zugleich auch um einiges ratloser. Tierheime oder Aufzuchtstationen gab es in dieser Gegend keine und wo sollte er hier draußen Aufzuchtmilch herbekommen? Es würde zwar kein Aufwand sein, sie über Caruso im Laden zu bestellen, so organisierte er schließlich seit jeher seine Einkäufe, aber selbst wenn das klappte, würde sie frühestens übermorgen geliefert, bis dahin waren die Kleinen tot. Falls er sie nicht vorher doch umbrachte, denn seit er ihre Mutter begraben hatte, brüllten die Winzlinge ununterbrochen. Sie saßen auf einem Handtuch in einem alten Karton neben ihm am Boden und obwohl sie so klein waren, noch keine Zähne hatten und eines der fünf nicht mal die Augen aufbekam, schrien sie wie eine ganze Armee.

Er brauchte jetzt Milch und vor allem brauchte er etwas, um sie in ihre kleinen Münder zu bekommen. Fläschchen, wie für Babys, waren hier sinnlos, da erschien ihm der Ratschlag in einem Forum sinnvoller, es mit Pipetten zu versuchen. Nur wo bekam er die nun wieder auf die Schnelle her? Von der Milch ganz zu schweigen. Vielleicht sollte er den Versuch wagen, den ein Tierzüchter in dem Forum genannt hatte. Normale Milch oder Kaffeesahne mit Wasser zu verdünnen. Nicht perfekt, für den Notfall aber angeblich machbar. Und zu verlieren hatte er nichts, ohne Hilfe starben die Jungen ohnehin.

Jetzt blieb bloß noch die Frage nach den Pipetten und dafür fielen ihm nur die beiden Ärzte ein. In der neuen Klinik würde es derartige Dinge hoffentlich geben, allerdings sollte er wohl besser bei Connor Fairchild an die Tür klopfen. Jasper Rivers war seit ihrem winterlichen Zusammentreffen auf der Straße mehr als reserviert in seiner Nähe.

Stellan runzelte die Stirn. Das gefiel ihm gar nicht. Bei dem neuen Arzt würde er garantiert wieder auf dieses Kind treffen. Ob sie ihrem Vater auch so viele Fragen stellte? Vermutlich. Sie schien sich da nicht großartig von anderen Kindern in Sanoro zu unterscheiden. Mit ein Grund warum er sich von ihnen seit seiner Ankunft hier meist fernhielt, obwohl es ihn manchmal faszinierte, mit welchem Eifer sich ein Kind viele Stunden lang damit beschäftigen konnte, ein buntes Stück Holz von eckiger Form in eine runde Öffnung zu pressen.

Die im Wald aufwachsenden Tierkinder waren klüger, fand er und sah zu den Kätzchen neben sich, von denen mittlerweile nur noch vier lauthals schrien. Das fünfte lag still auf der Seite und nach einem Blick auf den reglosen, kleinen Körper, wusste er, dass es zu spät war.

Stellan erhob sich. Er würde sofort in die Stadt laufen und für die Jungen die vorgeschlagenen Pipetten und frische Milch oder Kaffeesahne besorgen. Alles andere musste warten.

 

Die Tür wurde mit einem empörten »Es ist nach zehn Uhr abends, was soll der Scheiß?« aufgerissen, dann starrte ihn sein Gegenüber mit offenen Mund an. Es dauerte etwas, bis Connor Fairchild sich dazu durchringen konnte, den Kopf von seiner Brust hoch in sein Gesicht zu richten. Grüne Augen, deren Ausdruck ihn ein bisschen an den frechen Kater erinnerte, der ihn vorhin gezwickt hatte, weiteten sich überrascht.

»Stellan Archer. Was führt Sie her?«

»Pipetten.«

»Pipetten?«

»Ich brauche welche«, sagte er und als Fairchild irritiert die Stirn runzelte, fügte er »Für Katzenbabys.« hinzu.

Der Arzt blinzelte, gähnte anschließend und lehnte sich im nächsten Moment mit der Schulter gegen den Türrahmen. »Es gibt dazu aber noch eine etwas ausführlichere Erklärung oder soll ich einfach die Klinik aufschließen und Ihnen drei Pipetten geben?«

»Acht. Mindestens. Zum Wechseln.«

»Vier Kätzchen also«, murmelte der Mann und gähnte ein weiteres Mal. »Wobei ich lieber auf 12 Pipetten setzen würde. Und unbedingt auch etwas zum Sterilisieren der benutzten. Ich schätze mal, es eilt?«

Stellan nickte. »Ein Junges ist bereits tot.«

»Haben Sie Aufzuchtmilch?«

»Muss ich bestellen.«

»Also brauchen Sie vorübergehend Milch.« Fairchild nickte, den Ernst der Lage jetzt offenbar begreifend. »Ich ziehe mich an und komme mit. Warten Sie hier.«

»Nein!«

Fairchild stöhnte. »Archer, ich bin Arzt und Sie haben mich gerade um meine Hilfe gebeten. Also sehe ich mir die Kätzchen an, basta.«

Auf keinen Fall. Niemand betrat seine Höhle. Von Paul und Rick einmal abgesehen, aber das war etwas anderes. Rick war sein Alpha und Paul hatte einen Unterschlupf gebraucht. Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben, war der Panther eigentlich in sein Revier gekommen, um getötet zu werden. Aber wen er tötete und aus welchem Grund, entschied allein Stellan. Nicht jemand, der vor Kummer gerade seinen Verstand verlor. Daher hatte er Paul nicht getötet, sondern ihm für die Frechheit seines Eindringens lediglich eine Abreibung verpasst.

Ergebnis dieser Mildtätigkeit war, dass er in dem Panther einen Jagdgefährten gefunden hatte, der seiner eigenen Stärke und seinem Zorn durchaus ebenbürtig sein konnte. In L.A. war Paul es auf jeden Fall gewesen.

Allerdings war dieser dünne Mann vor ihm nicht Paul, ihm weder ebenbürtig noch sonst etwas. Er war ein Fremder. Einer, der zwar helfen konnte und es offensichtlich auch wollte, aber das bedeutete in Stellans Augen noch lange nicht, dass er ihn deshalb in seinem Heim dulden musste.

»Nicht bei mir.«

»Normalerweise würde ich jetzt vorschlagen, dass Sie sie in die Klinik bringen, aber Ihrem Blick nach zu urteilen, sitze ich dann die ganze Nacht dort herum, weil Sie nämlich gar nicht vorhaben zurückzukommen. Also gehe ich mit.«

Stellan knurrte. »Nein!«

»Gut, dann bleiben die Pipetten hier.«

Die Entschlossenheit hinter den Worten brachte Stellan ins Wanken. »Aber Sie sind Arzt! Sie müssen helfen.«

»Und Sie sind ein störrischer Idiot. Natürlich werde ich den Kätzchen helfen, doch dazu gehört etwas mehr, als Ihnen einen Stapel Pipetten zum Füttern in die Hand zu drücken und das Beste zu hoffen. Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von der Aufzucht junger Katzen.«

»Ich lerne es«, grollte Stellan und fühlte sich seltsamerweise beleidigt. Dabei hatte dieser Mann nichts gesagt, das nicht der Wahrheit entsprach.

»Ich behaupte auch nicht das Gegenteil. Ich sage nur, dass es leichter ist, wenn man anfangs hilfreiche Tipps bekommt. Zum Beispiel den, dass Sie nach jeder Mahlzeit den Bauch und den After massieren sollten, um die Verdauung anzuregen. Die Kleinen werden von der normalen Milch vermutlich Durchfall bekommen und was machen Sie dann?«

Stellan schwieg überrascht.

»Haben Sie eine Wärmelampe?«

»Wofür?«

»Katzenbabys brauchen viel Wärme, die können Sie ihnen nicht geben.«

»Ich habe einen Kamin.«

»Der Sommer steht vor der Tür. Wollen Sie in Ihrem Haus ersticken, wenn Sie den für die Katzen anheizen?«

Er hätte den Wurf doch töten sollen, das wäre viel einfacher gewesen, als diese ellenlange Liste von Dingen, die er offenbar brauchte und die er zu tun oder zu lassen hatte.

»Du nimmst die Katzen«, entschied er knurrig und sah den Arzt verwundert an, als der anfing zu lachen.

»Das hättest du gerne, was? Vergiss es, Archer. Ich helfe dir, aber du wirst die Bande schön selbst aufziehen. Wenn wir hier allerdings noch lange stehen und diskutieren, brauchst du dir um Aufzuchtmilch keine Sorgen mehr zu machen.«

Dieser schwache Wolf war ja noch schlimmer als sein Kind. Unglaublich. »Gut. Du kommst mit.« Stellan knurrte warnend. »Wenn du verrätst, wo ich wohne, fresse ich dich.«

Statt beeindruckt zu sein, winkte Fairchild schnaubend ab. »Soweit ich weiß, drohst du damit ständig. Das kümmert mich nicht im Geringsten. Und jetzt raus. Ich will mich anziehen.«

Kein Respekt. Nicht mal den Ansatz davon. Er sollte diesen Mann wirklich fressen. Nur leider würde der vermutlich nicht viel besser schmecken als diese Verrückten in der Stadt, die er mit Paul getötet hatte. Menschen waren eben kein Reh oder ein saftiges Steak aus dem Kühlschrank. Außerdem brauchte er in nächster Zeit Hilfe, wenn er die Kätzchen retten wollte, und da wäre es wohl mehr als kontraproduktiv denjenigen zu fressen, der einem diese Hilfe anbot.

 

»Gar nicht übel, für eine Höhle im Wald«, meinte Fairchild, als Stellan ihn einige Zeit später ins Innere seiner Wohnhöhle ließ, und machte umgehend den Wurf Katzen aus, der nicht zu überhören war.

Kurz darauf war seine Küchenzeile übersät mit seltsamen Gerätschaften, und der Vorschlag, die Kleinen mit Pipetten zu füttern, entpuppte sich als voller Erfolg. Während er selbst mit zwei Kätzchen dasaß und sie massierte, wie Fairchild es ihm gezeigt hatte, kümmerte der sich um das dritte und letzte Tier des Wurfs, denn bei ihrer Rückkehr war ein weiteres Junges tot gewesen. Fairchild hatte bereits entschieden, die verstorbenen Tiere in die Klinik mitzunehmen und genauer zu untersuchen, um auszuschließen, dass sie eine Krankheit in sich trugen und vielleicht ihre Geschwister angesteckt hatten.

Denen ging es indes gut. Sogar sehr gut, stellte Stellan mehr als angewidert fest, als seine Hand auf einmal feucht wurde. Er knurrte ablehnend und Connor sah auf, um heiter zu lachen, ehe er sich wieder der Fütterung des letzten Tiers widmete. Es war der freche Kater mit den blauen Augen, die ihn irgendwie belustigt anzusehen schienen. Seufzend setzte er die Katzen in den Karton und ging seine Hände waschen und das dreckige Hemd wechseln, wobei er feststellte, dass er immer noch den Anzug von der Hochzeitsfeier trug. Kopfschüttelnd verließ er das Badezimmer und ging in seinen Schlafbereich hinüber, um sich umzuziehen.

»Wo kommt der Strom her?«, fragte der Arzt von der Küche aus. »Ich habe keine Stromleitung gesehen. Solarzellen?«

»Ja.«

»Generator für den Winter oder Notfälle?«

»Ja.«

»Was machst du hier draußen? Ich meine, du hast einen PC und vermutlich auch Internet. Du hast einen Kühlschrank, aber keinen Fernseher. Dafür Unmengen von Büchern, also liest du gerne und viel, genauso wie meine Tochter. Und außer dass du seit Jahresanfang die Westgrenze bewachst, hast du keinen Job. Zumindest hat mir das Jasper erzählt.«

Das zu der Frage, ob der Vater ebenso viele Fragen stellte wie sein neugieriger Zögling. Stellan runzelte die Stirn, als ihm etwas einfiel. »Baumstamm.«

»Was?«

»So hat dein Kind mich genannt.«

Fairchild lachte. »Passt doch. Du bist groß wie einer … Hey, Sekunde, woher kennst du Claudine?«

»Hochzeit.«

»Stimmt. Da habe ich dich auch gesehen. Wie oft versuchen die jungen Wächter eigentlich dich herauszufordern?«

»Ständig.«

»Erstaunlich, dass du noch keinen gefressen hast.«

»Rick hat es verboten«, grollte Stellan und ging zurück in den Wohnbereich. Mittlerweile lagen alle drei Katzen sicher im Karton und schliefen. Das würde er ebenfalls tun, nachdem er diesen Arzt nach Hause gebracht hatte, denn seine Lust, sich mit Rick darüber zu unterhalten, wenn der Mann irgendwo im Wald verloren ging, hielt sich doch arg in Grenzen. »Ich bringe dich heim. Jetzt.«

»Ah, ein äußerst subtiler Rauswurf.« Fairchild gähnte. »Mir soll es recht sein, ich will ohnehin zurück ins Bett. Hast du ein Handy? Oder überhaupt ein Telefon?«

»Ja.«

»Ich gebe dir meine Nummer. Falls mit den Kätzchen etwas ist, ruf' mich an. Dann bitte ich Rick mich herzufahren. Allein finde ich hier nie wieder her und ich denke mal, er weiß genau, wo du wohnst?«

»Ja.«

»Gut.«

Nach einem letzten Blick auf den Wurf, erhob sich der Arzt und folgte ihm nach draußen. Sie sprachen auf der Rückfahrt nicht miteinander. Stellan zeigte Fairchild mit Handzeichen an, wann der abbiegen musste, und kommentierte dessen Ansage der Telefonnummer mit einem Nicken, nachdem er sie in sein Handy gespeichert hatte.

In der Stadt eingetroffen, ließ er den Wolf halten, bedankte sich höflich für dessen Hilfe und machte sich dann zu Fuß und in schnellem Tempo auf den Rückweg.

Die Katzen schliefen noch, als er um Mitternacht wieder in seine Höhle trat, die vom roten Licht der Wärmelampe erhellt wurde. Fairchild hatte sie dicht vor dem Karton aufgebaut, der neben der Couch auf dem Boden stand.

Stellan schloss die Tür hinter sich und verriegelte sie, bevor er sich lautlos zu seiner Couch schlich und vor ihr stehenblieb, um, anstatt sich hinzusetzen, den Blick durch seine Wohnhöhle gleiten zu lassen. Gar nicht übel, hatte Fairchild vorhin gesagt, was auch immer das bedeuten sollte. Für ihn war es eine große Höhle, die er seinen Bedürfnissen angepasst hatte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Im Grunde bestand alles aus einem großen Raum, der über vier natürliche Luftabzüge verfügte, was gut war, weil er einen Kamin zum Heizen nutzte. Im Sommer war sie herrlich kühl, im Winter angenehm warm. Er hatte eine Küchenzeile, in der es alles gab, was er brauchte. Dazu gab es einen abgetrennten Schlafbereich und ein kleines Badezimmer, das, dank der Hilfe von Rick, an das Abwassersystem der Stadt angeschlossen war, was ihn ein kleines Vermögen gekostet hatte. Aber es war die Investition wert gewesen, denn nur weil er gerne ein Einsiedler war, musste er noch lange nicht wie ein Wilder leben.

Das hatte er lange genug getan, bis Steven ihn beim Klauen erwischt und unter seine Fittiche genommen hatte. Steven Tall, der eine eigene Baufirma besessen und ihm bis zu seinem Tod durch Herzinfarkt alles beigebracht hatte, was es zum Thema Hausbau und eigener Lebensqualität zu wissen gab. Dass der alte Mann keine Ehefrau und Kinder gehabt hatte, hatte Stellan gewusst, ihm war aber erst klargeworden, dass Steven mehr in ihm sah als einen Mitarbeiter, nachdem der Nachlassverwalter ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er der einzige Erbe war.

Seither lebte Stellan von diesem Geld und da er, abgesehen für Bücher und notwendige Anschaffungen, nicht viel ausgab, würde es mit dem zusätzlichen Verdienst, den Rick ihm für die Arbeit als Wächter bezahlte, vermutlich bis an sein Lebensende reichen. Stevens Tod hatte ihm seinen Neuanfang in Sanoro erst möglich gemacht und das würde Stellan dem alten Mann niemals vergessen.

 

 

 

Kapitel 3

- Stellan -

 

 

 

 

Einen Monat später starrte Stellan eines nachmittags völlig verdattert auf einen lockigen, schwarzen Haarschopf.

Als seinem Tiger der fremde Geruch in die Nase gestiegen war, hatten beide, Mann und Tier, einen hiesigen Wächter oder irgendeinen Dummkopf erwartet, der sich aus Versehen in sein Revier verirrt hatte. Das passierte manchmal, obwohl vor allem die Wächter es immer wieder absichtlich taten, um zu sehen, wie lange es dauerte, bis er sie vertrieb. Mit Fairchilds Zögling hatte er jedoch nicht gerechnet, und warum weinte das Kind? Als er sie vor vier Tagen am Waldsee beobachtet hatte, war sie mit einer Gruppe anderer Kinder zusammen gewesen und es war ihr gut gegangen. Hatte sie sich vielleicht verletzt? Stellan konnte kein Blut an ihr riechen, als er schnupperte, machte das Kind damit aber auf sich aufmerksam.

»Geh' weg!«, verlangte sie und zog den Kopf zwischen die Schultern, als er leise knurrte. Dieser Wald war immerhin sein Revier. Wenn, dann würde dieses Kind gehen, nicht er. »Kann man hier nicht mal in Ruhe heulen?«, fragte sie ihn verärgert und sah wütend über die Schulter. »Geh' weg!«

»Geh' du weg. Das ist mein Wald.«

»Weiß ich«, konterte sie altklug und drehte ihm wieder den Rücken zu. »Was glaubst du, weshalb ich hier bin? Keiner traut sich hierher. Sind alles Schisshasen.«

»Schisshasen?« Stellan runzelte irritiert die Stirn. So ein Tier kannte er nicht. »Das verstehe ich nicht.«

Das Mädchen seufzte. »Ist mir klar. Du bist komisch.«

Damit erklärte sie ihm nun wirklich nichts Neues. Ratlos hob er die Nase in die Luft und schnupperte noch einmal, um sich zu vergewissern, dass sie alleine und damit in Sicherheit waren, dann zog er sein Handy aus der Hosentasche, das Rick ihm befohlen hatte bei sich zu tragen, damit er im Notfall erreichbar war, um seinen Alpha anzurufen. Der hatte Kinder und wusste mit Sicherheit, wie in so einer Situation zu verfahren war.

»Du bist genau wie sie.«

Stellan hielt inne. »Wer?«

»Du verpetzt mich, dabei will ich nur ein bisschen im Wald sitzen und heulen. Typisch Erwachsene. Du bist doof.«

»Warum?«, fragte Stellan vollkommen irritiert, da sich noch nie jemand gewagt hatte, ihn offen zu beleidigen. Zudem fand er es mehr als sonderbar, dass dieses Kind sich ausgerechnet in sein Revier begab, um zu weinen. Menschen. Ob Wandler oder nicht, er verstand sie einfach nicht.

»Darum.«

Das war keine Antwort. »Warum?«, fragte Stellan erneut.

»Mann, weil ich mit Dad gestritten habe, okay?«

Sie hatte sich mit dem Arzt gestritten, der die Katzenbabys gerettet hatte? Aber der Wolf war ihr Erzeuger. Stritt man sich mit den eigenen Erzeugern? Stellan schrieb Rick eine Nachricht und steckte sein Handy wieder ein. »Warum?«

»Weil er doof ist.«

Das war Connor Fairchild keineswegs, immerhin wuchsen und gediehen die drei Katzen dank ihm prächtig und er hatte bereits damit begonnen, sie zusätzlich neben der Katzenmilch, nach der sie immer noch lautstark verlangten, mit Frischfleisch zu versorgen. »Dein Erzeuger ist klug«, widersprach Stellan, weil er das Gefühl hatte, den Wolf verteidigen zu müssen, auch wenn er sich das nicht erklären konnte.

»Erzeuger?« Das Mädchen drehte sich auf dem im letzten Winter umgestürzten Baumstamm, der ihr bislang als Sitzgelegenheit gedient hatte, zu ihm um und wischte sich mit beiden Händen über Wangen und Augen. »Du redest komisch. Er ist mein Dad.«

Stellan nickte. »Er hat dich gezeugt.«

»Habe ich doch gesagt.«

»Ich auch.«

»Er weint nicht.«

»Warum sollte er?«, fragte Stellan verdutzt.

»Weil Mama tot ist.«

»Muss man dann weinen?«, hakte Stellan nach, weil er das nicht verstand. Er hatte nie Erzeuger gehabt und die Nonnen im Kloster waren nicht sonderlich freundlich zu ihm und allen anderen Kindern gewesen. Wenn im Kloster ein Kind geweint hatte, hatten sie es dafür ausgeschimpft und manchmal auch geschlagen. Aber immer nur, wenn sie glaubten, dass niemand sie dabei beobachtete.

»Ja, muss man.«

»Warum?«

»Weil man trauern soll. Das ist wichtig.«

»Warum?«

Ihr verweinter Blick wich einem interessierten. »Du hast keine Mama, oder?«

»Nein.«

Sie nickte und sah zu Boden. »Ich auch nicht. Nicht mehr. Und jetzt muss ich vielleicht bald Dad verlassen.«

»Warum?«

»Meine Großeltern sagen, er ist kein guter Vater. Ich soll zu ihnen, dabei kenne ich sie gar nicht. Ich will nicht weg. Ich will bei Dad bleiben.«

Und schon begannen erneut Tränen zu fließen, was Stellan noch ratloser machte als ohnehin schon. Wer nahm denn einem Vater sein Kind weg? Noch dazu, wo das betroffene Kind dies überhaupt nicht wollte? Menschen, dachte er wiederholt und dabei verständnislos mit dem Kopf schüttelnd. Kein Wunder, dass er lieber hier draußen im Wald lebte, wo alles einfach war und keine große Erklärungen brauchte.

»Warum weint man?«, fragte Stellan, denn das Prinzip der Trauerbewältigung verstand er nicht. Er hatte darüber einiges im Internet gelesen, weil Jasper Rivers im letzten Jahr sehr oft geweint hatte, nachdem er entführt worden war, und Rick hatte mehrmals versucht, ihm die Zusammenhänge genauer zu erklären. Wirklich begriffen hatte Stellan es allerdings nicht.

»Weil es wehtut?« Das Mädchen sah ihn verständnislos an und zeigte dann auf seine Brust. »Hier.«

»Du hast Schmerzen? Dann musst du zum Arzt.«

»Nein, nicht so«, wehrte sie ab und schniefte. »Der Schmerz ist in mir drin, weil Mama tot ist und weil Dad nicht trauert. Er arbeitet die ganze Zeit.«

»Arbeit ist falsch?«

»Nein … Mann, du hast ja gar keine Peilung. Wenn jemand stirbt, den du gern hast, musst du um ihn weinen.«

Das sagten alle und Stellan hatte es auch gelesen, aber aus welchem Grund war das so? Und was, wenn jemand einfach nicht weinte? Weil er es nicht wollte oder konnte. Was stimmte dann nicht mit ihm? Stellan überlegte. War vielleicht etwas an ihm verkehrt, weil er noch nie um jemanden geweint hatte?

»Hast du noch nie um jemanden geweint?«, sprach sie dann auch ausgerechnet diese Frage aus und Stellan dachte prompt an Steven, bevor er den Kopf schüttelte. »Das ist krass. Aber du hast schon jemanden verloren, den du gern hattest, oder?«

»Ja«, gab Stellan zu.

»Und du hast deswegen nicht geweint?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich wusste nicht, dass man das tun muss.«

»Hat er dir nicht gefehlt? Warst du nicht traurig, weil er auf einmal nicht mehr da war?«

Stellan überlegte. Er war überrascht gewesen, als er Steven gefunden hatte. Er hatte es erst nicht glauben wollen. Er hatte sich seltsamerweise von Steven betrogen gefühlt, was natürlich völliger Unsinn war. Ein Toter konnte niemanden betrügen. Er war trotzdem enttäuscht gewesen. Und verärgert. Nein, er war nicht nur verärgert, sondern wütend gewesen. So wütend. Weil Steven ihn alleingelassen hatte. Weil er einfach weggegangen war. Weil er ihn verlassen hatte.

Genauso wie die Jungen im Kloster, sobald sie älter wurden und ihn nachts nicht mehr wärmen konnten, wenn es kalt war und er unter der dünnen Decke erbärmlich gefroren hatte.

»Ich war wütend.«

»Warum?«

»Weil er weggegangen ist.«

Das Mädchen nickte. »Ich war auch wütend auf Mama.« Sie sah wieder zu Boden. »Jetzt bin ich nur noch traurig.«

»Warum?«

»Weil ich will, dass sie wiederkommt.«

Aber das war irrational. Tote waren tot und blieben es. »Sie ist tot. Verstorbene kommen nicht zurück.«

»Ich weiß.« Sie sah ihn an, als hielte sie ihn für einen großen Dummkopf. »Wenn Eltern sterben, vermisst man sie. Mama ist tot und ich will sie wiederhaben.«

»Du hast deinen Erz... Vater«, wandte Stellan ein, während er sich gleichzeitig von Minute zu Minute unwohler fühlte. Er war nicht der richtige Ansprechpartner für ein Kind. Schon gar  nicht für eines, das traurig war und weinte. Er wusste zu wenig über solche Dinge, um zu helfen. Wieso wollte er das überhaupt? Er hätte sie vertreiben sollen, wie er es sonst immer tat, und nicht mit ihr reden. Stellan verstand sich selbst nicht mehr.

»Hab' ich nicht«, riss sie ihn aus der Verwirrung über sein eigenes Verhalten. »Er ist viel zu traurig, um sich um mich zu kümmern. Darum arbeitet er ständig. Und er sieht mich immer so komisch an, wenn ich heule.«

»Komisch?«, hakte Stellan sofort nach und war erstaunt, als er erkannte, dass er auf Fairchild wütend war, weil der zuließ, dass sein Junges traurig war.

»Als wäre es meine Schuld, dass Mama tot ist.«

»Das ist nicht wahr, Claudine.«

Das Mädchen fuhr mit einem Schrei herum und Stellan trat instinktiv vor sie, während er sich ebenfalls umdrehte, um den unerwarteten Eindringling lautstark anzuknurren. Den er nicht einmal bemerkt hatte, so abgelenkt war er gewesen. Und Ricks Schmunzeln verriet ihm, dass der Bär das sehr wohl wusste.

»Stellan, würdest du uns bitte entschuldigen?«

Stellan fletschte die Zähne und Rick seufzte leise.

»Du weißt, dass ich keine Gefahr für sie bin. Im Gegenteil. Außerdem warten bei dir drei verdammt hungrige Biester auf ihre Fütterung, und ihrem Geschrei nach zu urteilen, das auf dem Weg hierher im Übrigen nicht zu überhören war, sind sie äußerst ungehalten darüber, dass ihr Daddy so lange mit dem Frischfleisch auf sich warten lässt.«

Verdammt. Die Katzenbabys. Er hatte ein Kaninchen für sie erjagen wollen, als ihm unerwarteterweise der fremde Geruch dazwischen gekommen war.

Stellan machte sich mit einem abfälligen Schnauben auf den Rückweg, doch die verblüffte Frage des Mädchens, ob er etwa Kinder hatte, hörte er trotzdem. Ebenso wie Ricks Antwort, dass drei niedliche Katzenbabys das Zepter in seinem Heim übernommen hatten. Stellan knurrte ein zweites Mal und beschloss danach, das folgende Gelächter seines Alpha besser zu ignorieren. Seit Rick von den Katzen wusste, schien er sich die ganze Zeit über die Vorstellung zu amüsieren, dass ein mächtiger Tiger wie er sich um Jungkatzen kümmerte. Was daran so lustig war, verstand Stellan zwar nicht, aber das war in seinem Leben nun wahrlich nichts Neues.

 

Zwei Stunden hatte er Ruhe, dann stieg ihm plötzlich die herbe Duftnote des Bären in die Nase. Rick war direkt vor der Höhle und das überraschte Stellan nicht, darum blieb er in der Küche, wo er gerade den jungen Hasen für die Katzen zerlegte, die lautstark miauend zu seinen Füßen saßen. Es hatte ihn drei Tage und eine Menge an Fauchen und Knurren gekostet, bis sie gelernt hatten, nicht an seinen Hosenbeinen hochzuklettern, während er das Futter vorbereitete.

Das höfliche Klopfen an seiner Tür beantwortete er mit stoischem Schweigen. Nicht dass Rick sich davon abhalten ließ, denn schon kurz darauf trat er zu ihm in die Küchenzeile und ging mit einem leisen Lachen in die Hocke, um die Katzen zu streicheln, die sich das schnurrend gefallen ließen.

»Hast du ihnen mittlerweile Namen gegeben?«

»Nein.«

»Mach' es.« Rick wich etwas zurück, als Stellan ihn wütend ansah, und lehnte sich entspannt gegen die Wand. »Ich habe Claudine nach Hause gebracht.«

»Gut«, sagte Stellan, weil er annahm, dass es das war, und füllte derweil die Schüssel mit den blutigen Fleischstücken, um sie dann auf die Schmutzmatte zu stellen, die er besorgt hatte, um nicht jeden Tag den Küchenboden reinigen zu müssen.

»Hast du verstanden, was sie dir zu erklären versucht hat?«

»Nein.« Stellan betrachtete die gierig fressenden Katzen. Er mochte sie, obwohl sie ihn manchmal nervten. Es würde ihm nicht gefallen, wenn sie starben. »Nun … vielleicht.«

»Vielleicht?«

»Ich wäre nicht erfreut, wenn die Katzen sterben.«

»Ach so?« Rick grinste, als Stellan zu ihm sah. Er knurrte warnend, doch sein Alpha winkte lässig ab. »Fahr' die Krallen wieder ein, ich weiß, was du mir sagen willst. Trotzdem bist du noch weit davon entfernt, wirklich zu begreifen, aus welchem Grund Claudine vorhin geweint hat.«

»Sie sagt, es ist richtig und wichtig.«

Rick nickte. »Das ist es auch und irgendwann wirst du mir erzählen, wo du herkommst und was der Grund dafür ist, dass du niemals geweint hast.«

Das würde nicht passieren. Niemand wusste, wo Stellan in seiner Kindheit gelebt und was er dort erlebt hatte, und genau so würde es bleiben. Nicht weil er Rick nicht vertraute oder ihn für eine Bedrohung hielt, sondern weil diese Zeiten hinter ihm lagen. Steven hatte ihn gelehrt, was wichtig war, um sich selbst versorgen zu können, und jetzt hatte er ein Revier, das beinahe ihm gehörte. Er hatte einen Alpha, der ihn sein Leben so leben ließ, wie Stellan das wollte. Warum sollte er daran irgendetwas ändern, um über Dinge zu reden, die unwichtig waren?

»Eher fresse ich dich«, drohte er, weil er das von Anfang an getan hatte, dabei war es längst nicht mehr so ernst gemeint, wie in der ersten Zeit nach seiner Ankunft in Sanoro. Was auch erklärte, warum Rick lachte, bevor er den Kopf schüttelte. Sein Alpha hatte ihn längst durchschaut. Leider.

»Ein Wächter frisst seinen Alpha nicht.«

»Bin kein Wächter.«

»Doch, das bist du, denn du hast zugesagt und kümmerst dich seit Anfang des Jahres offiziell um unsere Reviergrenzen im Westen. Darüber will ich ohnehin mit dir reden.«

Stellan warf dem Bären einen finsteren Blick zu. »Niemand ist eingedrungen.«

»Ich weiß. Du machst gute Arbeit, ich hatte nicht vor, dich zu kritisieren. Im Gegenteil.« Rick stieß sich von der Wand ab und trat dicht vor ihn. »Ich ziehe dich mit sofortiger Wirkung vom Grenzschutz ab. Dein Gehalt wird weiter gezahlt.«

Stellan blinzelte überrascht. »Warum?«

»Weil du eine andere Aufgabe übernehmen wirst.«

Eine andere Aufgabe? Es gab keine Aufgabe, die er besser ausführen konnte, als den Schutz der Grenze, und Rick wusste das ebenso gut wie Stellan selbst. Er eignete sich für nichts, das einen regelmäßigen Umgang mit Rudelmitgliedern beinhaltete, und er besaß auch keine Ausbildung, die seinem Alpha hätte nützlich sein können. Das Einzige, was er wirklich gut konnte, war Ricks Rudel zu schützen, indem er Fremde von der Grenze und damit von der Stadt fernhielt.

»Welche Aufgabe?«

»Eine abwechslungsreiche.«

»Das ist keine Antwort.«

»Sicher ist es das. Du wirst so viel zu tun haben, dass du dir jeden Abend wünschen wirst, mich gefressen zu haben, was du natürlich nie tun wirst.«

Rick grinste und Stellan dämmerte etwas, das der sture Bär auf gar keinen Fall meinen konnte. Oder vielleicht doch? Egal. Er würde nicht fragen. Er würde es einfach nicht tun. »Nein.«

»Doch. Und du wirst es tun, weil ich dich darum bitte.«

Stellan schüttelte entschieden den Kopf. »Nein!«

Sein Alpha lächelte nachsichtig. »Du erinnerst mich immer mehr an mich, als ich in deinem Alter war. Ich war ebenso stur, stolz und arrogant. Ich dachte, die Welt würde mir gehören. Zu einem gewissen Teil ist das auch korrekt, aber es gibt mehr als unseren Stolz, Stellan. Es gibt viel mehr, als die Einsamkeit hier draußen. Es wird nicht leicht werden, für uns beide nicht, und es wird Zeit brauchen, da du von Grund auf lernen musst, was es heißt, ein Rudel zu führen. Ich werde dir beibringen, was du dafür wissen musst, damit du in ein paar Jahren meinen Platz einnehmen kannst, Stellan Archer.«

Stellan blieb der Mund offenstehen.

»Du bist freigestellt, bis du dich an den Gedanken gewöhnt hast, der Alpha meines Rudels zu werden.«

»Nein!«

Rick wandte sich ab. »Wir telefonieren.«

Stellan knurrte warnend. »Die Antwort ist Nein.«

»Doch.« Rick zog die Tür auf. »Denn wenn du es nicht tust, Stellan, wird das Rudel ohne mich aufhören zu existieren.«

»Nimm einen anderen«, verlangte er und da sah sein Alpha ihn wieder an. »Nicht mich. Du hast viele Wächter. Erfahrene Wandler. Es gibt genügend andere.«

»Keiner von ihnen hat deine Stärke und das weißt du.«

Nach diesen eindringlichen Worten verließ Rick die Höhle und schloss die Tür hinter sich, während Stellan vollkommen fassungslos auf die Stelle starrte, an der sein Alpha eben noch gestanden hatte.

 

 

 

Kapitel 4

- Rick Malloy -

 

 

 

 

»Wenn er dich hier erwischt, landest du als nettes Bärenfell vor seinem Kamin.«

Rick verkniff sich jeden Kommentar zu Normans Worten und deutete dem an, leise zu sein. Er wusste selbst, dass es im Moment nicht ganz ungefährlich war, sich ohne Einladung in Stellans Nähe aufzuhalten, denn der Tiger war stinksauer auf ihn. Das hatte das Knurren vorhin mehr als deutlich gemacht, nachdem der Wind sich gedreht und seinen aktuellen Standort verraten hatte. Mittlerweile wehte der Wind wieder von vorne und das war Normans Glück, denn Rick war sich nicht sicher, ob Stellan auf eine zweite Provokation nicht mit seinen Zähnen reagiert hätte.

»Habe ich etwas an den Augen?«, fragte Norman verblüfft, als er sich neben ihn gehockt hatte.

»Nein, hast du nicht.«

»Dann leide ich ganz offensichtlich an Halluzinationen, die mir im Moment vorgaukeln, dass dieser Menschenfresser sich da drüben von drei niedlichen Katzenbabys sprichwörtlich auf der Schnauze herumtanzen lässt.«

Rick schmunzelte, denn genau das war auch sein allererster Gedanke gewesen, als er heute Morgen hergekommen war, um einen besorgten Blick auf Stellan zu werfen, der sich seit seiner Ankündigung vor einer Woche nirgendwo mehr hatte blicken lassen. Claudine wunderte sich schon darüber, dass sie viermal durch den Wald hatte stromern können, ohne von Stellan dabei erwischt zu werden, und hatte ihn deshalb gestern angerufen, um zu fragen, ob mit ihrem Tiger alles okay war.

Ihrem Tiger.

Der Kleinen war die Formulierung wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, Rick allerdings schon. Was im Übrigen ebenso für gewisse andere Dinge galt. Stellan hatte sich verändert, seit er hier angekommen war. Anfangs war es dermaßen schleichend gewesen, dass es Rick lange Zeit nicht aufgefallen war, aber als zuerst Trent und im letzten Jahr Greg aufgetaucht war, schien das für Stellan Archer wie eine Art innerer Startschuss gewesen zu sein. Rick wusste, dass der Tiger das bislang nicht begriffen hatte, aber er wurde langsam menschlicher. Dieses Wort passte zwar nicht wirklich zu diesem Koloss, es beschrieb das Ganze allerdings am besten, denn Stellan suchte mehr und mehr die Nähe der anderen Rudelmitglieder, und auch dessen war er sich offenbar nicht bewusst.

Manchmal kam es Rick so vor, als würde in Stellans Gehirn die ein oder andere Verbindung nicht funktionieren, dabei war der Tiger keinesfalls dumm. Er las, er forschte nach, wenn ihm etwas unklar war, er beobachtete alles ganz genau – trotzdem verstand er am Ende oftmals die Zusammenhänge nicht.

Rick lachte leise, als eins der Kätzchen Stellan ins Ohr biss, der es daraufhin von sich herunterschüttelte, aber gleichzeitig mit der Pfote auffing, damit der Winzling nicht auf dem harten Boden aufschlug.

»Ein sibirischer Tiger, der mit Katzenbabys spielt. Wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen sehen würde, ich würde es dir nicht glauben«, murmelte Norman erstaunt und seufzte im nächsten Moment. »Rick ...«

»Meine Entscheidung steht fest.«

Norman schnaubte. »Du bist nicht zu alt für den Job. Warte noch ein paar Jahre, bis einer der Jüngeren bereit ist.«

»Der einzig andere, dem ich es zugetraut hätte, kann nicht mehr nach Sanoro zurückkommen, das weißt du. Die Jüngeren sind zu jung, die Älteren zu alt, dem Rest fehlt die nötige Kraft oder das Durchsetzungsvermögen. Ich habe genug mit Culpeo Inc. zu tun, bis Sienna soweit ist, das Geschäft zu führen.«

»Er hat keinerlei Erfahrung. Er weiß doch nicht einmal, wie man sich in einem Rudel verhält. Er ist ein Einzelgänger.«

»Sieh ihn dir an«, hielt Rick ruhig dagegen, ohne den Blick von Stellan abzuwenden. »Da drüben liegen gerade 250 Kilo an purer Muskelkraft auf dem Waldboden und er spielt mit drei kleinen Katzen, als wären sie seine Jungen. Als müsste er sie schützen, wie wir die Jüngeren im Rudel. Er liebt die Kätzchen, obwohl er überhaupt nicht weiß, was das Wort bedeutet.« Rick warf Norman einen bedeutsamen Blick zu. »Du hast recht, ich war mir nicht sicher, was ihn angeht, bis ich heute hierherkam und das da gesehen habe. Stellan hat keine Ahnung von nichts, das stimmt, aber er liebt Kinder und er kann mit ihnen umgehen. Auf seine ganz eigene, ungewöhnliche Art. Er hat Claudine letzte Woche geholfen. Er hat sie mit seinen Fragen von der Trauer um ihre Mutter abgelenkt. Dieser Baum von einem Kerl tut instinktiv das Richtige, Norman, und er beweist dabei weit mehr Gespür als wir beide zusammen überhaupt besitzen.«

Norman gab mit einem Nicken nach. »Wann wirst du den Befehl, sich von ihm fernzuhalten, für die Wächter aufheben?«

»In drei Tagen.«

»Glaubst du, das ist genug Zeit für ihn? Du weißt, dass ihre Tiere sofort damit anfangen werden, sich einen Platz in seiner Rudelhierarchie zu suchen, die er noch nicht mal hat, oder? Er weiß doch gar nicht, dass er ...«

»Instinkt, Norman. Sein Tiger weiß es und das reicht völlig aus, bis ich dem Mann alles beigebracht habe.«

Norman verdrehte die Augen. »Ja, ja, ja. Du sturer Bock. Es könnte für unsere Jungs trotzdem gefährlich werden, wenn er beschließt, dass dein Vorschlag scheiße ist.«

»Das hat er längst getan, aber ich bin mir sicher, dass er keinem Wandler etwas tun wird. Das hat er noch nie getan, es sei denn, derjenige hatte es verdient, und das weißt du.«

»Sicher weiß ich das, ich bin schließlich kein Dummkopf.«

»Aber?«, hakte Rick sofort nach, weil er das jetzt endgültig mit Norman klären wollte. Seine rechte Hand war von Anfang an strikt gegen die Entscheidung gewesen, Stellan die Zukunft des immer weiter wachsenden Sanoro-Rudels anzuvertrauen, aber bisher nicht damit herausgerückt, was er genau an Stellan auszusetzen hatte.

»Es ist kein Aber im üblichen Sinne«, antwortete Norman knurrig. »Ich weiß einfach nicht, was ich von ihm halten soll. Er lebt so weit weg von all jenen Dingen, die für uns Wandler normal sind. Alltag eben. Wie soll er wissen, was er wann zu tun hat? Wie soll er später dein Rudel zusammenhalten, wenn er überhaupt nicht weiß, was es bedeutet, in einem zu leben?«

»Ich werde es ihm beibringen.«

Norman stöhnte frustriert. »Rick ...«

»Und ich werde es nicht alleine tun. Die junge Fairchild hat bereits damit angefangen, Stellan zu zeigen, wie Bindungen in einem Rudel funktionieren«, erklärte Rick ruhig und Norman nickte mit einem tiefen Einatmen.

»Das weiß ich. Jacques hat die beiden im Wald zusammen gesehen und wollte seinen Augen nicht trauen. Archer hat sich mit ihr unterhalten. In ganzen Sätzen. Er war von ihr derartig abgelenkt, dass er Jacques nicht mal bemerkt hat. Das hat dem Wölfchenego übrigens sehr gutgetan.«

Rick lachte leise. »Typisch Jacques.«

»Wie wahr«, stimmte Norman ihm zu und schaute erneut zu Stellan, der immer noch mit seinen Katzen beschäftigt war. »Und die Kleine? Ist sie sicher bei ihm?«

»Hundertprozentig. Claudine tut Stellan gut.« Rick grinste. »Was er natürlich abstreiten würde, wenn man ihn fragte.«

»Was du nicht tun wirst.«

»Du hast es erfasst.«

»Ihr Vater … Man hört so einiges.«

Rick runzelte die Stirn. Gerüchte gab es immer, wenn ein neues Gesicht nach Sanoro zog, aber Normans nachdenklicher Tonfall diesbezüglich machte ihm Sorgen.

»Über den Sorgerechtsstreit?«

»Nein, über ihn. Seine Ehe. Seine verstorbene Frau. Falls es stimmt, was geredet wird, hatten sie wohl so einige Abenteuer mit dritten Partnern.«

Ah ja, die Geschichte. Er wusste sie von Connor persönlich, weil der junge Arzt ein anständiger Mann und außerdem der Meinung gewesen war, sein neuer Alpha sollte davon von ihm selbst erfahren und nicht von irgendjemand anderem. Connor und Christy waren sehr jung Eltern geworden und ganz sicher nicht perfekt gewesen, aber sie hatten immer ihr Bestes für ihr Kind gegeben. Und in Ricks Augen war das mehr als genug, denn Claudine hatte sich wunderbar entwickelt und war ein tolles, wenn auch momentan etwas schwieriges Mädchen.

Andererseits war das durch den Tod ihrer Mutter wohl zu erwarten gewesen. Mit genügend Zeit würde sie den Verlust ohne allzu große seelische Schäden verkraften und eines Tages hoffentlich darüber hinwegkommen. Das gleiche galt für ihren Vater, der nun wahrlich kein Getuschel darüber brauchte, dass er als junger Mann einen Tick zu wild gewesen war.

»Das ist Privatsache.«

»Du weißt also davon.«

»Er hat es mir gesagt.«

Norman nickte. »Auch, dass sie diese kleinen Spielchen zu dritt nach der Geburt der Tochter weitergespielt haben?«

»Selbst das ist Privatsache«, antwortete Rick und sah seine rechte Hand ernst an. »Ich erwarte, dass darüber nicht länger getratscht wird. Der Junge hat genug zu verkraften.«

»Ich kümmere mich darum.«

»Gut.« Rick war zufrieden, Norman allerdings nicht, wenn er dessen verkniffen wirkenden Gesichtsausdruck richtig deutete, der Rick zum Schmunzeln brachte, weil er sich gut vorstellen konnte, woran Sebastians Vater gerade heftig zu knabbern hatte. »Es mag uns alten, konservativen Kerlen nicht gefallen, was sie getan haben, Norman, aber das muss es auch nicht. Selbst ich bin nicht verstaubt genug, um nicht zu sehen, wie gut Greg Jaspers seelischem Wohlbefinden tut, obwohl er ihn pro Woche mindestens zweimal übers Knie legt.« Norman schnaubte und Rick grinste heiter. »Sag' nichts. Ich bin zufällig über die beiden gestolpert, als sie im Wald … Nun ja … Diese Lichtung erweist sich stetig wachsender Beliebtheit, was Sex im Freien angeht.«

Norman sah ihn erstaunt an. »Du etwa auch?«

Rick zuckte mit den Schultern. »Annie war begeistert.«

»Keine Details«, grollte Norman und sah kopfschüttelnd zu Archer zurück. Doch gleichzeitig zupfte ein Lächeln an seinen Mundwinkeln. »Stell' dir Archer auf dieser Lichtung vor. Ein unbezahlbares Motiv für eine Postkarte, vor allem wenn er im Fell auftaucht.«

»Ich schätze, ein gewisser Wolf würde es derzeit noch nicht zu schätzen wissen.«

Norman merkte auf. »Ein Gefährte?«

Rick wiegte überlegend den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Noch nicht. Ich muss sie erst zusammen sehen, um es genau zu wissen.«

»Wer?«, fragte Norman so neugierig, wie es sonst nur ihre Jüngsten waren, und doch konnte Rick die Reaktion verdammt gut verstehen. Jedes Elternpaar im Rudel hoffte mittlerweile darauf, dass Stellan Archer endlich einen Gefährten oder eine Gefährtin fand, damit ihre ungebundenen Söhne und Töchter aufhörten, dem hochgefährlichen Tiger mit glühenden Blicken nachzuschmachten, sobald der auf einem seiner immer noch viel zu seltenen Ausflüge in der Stadt auftauchte.

Und was das betraf, war Rick froh, dass Stellan die Blicke der jungen Wandler nicht zu deuten wusste, ansonsten wäre er längst mit wehenden Fahnen aus Sanoro geflüchtet und hätte ihn um das Erlebnis gebracht dabei zuzusehen, wie der Tiger sich Hals über Kopf verliebte. Es bereits getan hatte, ohne es zu wissen. Und zwar in einen schwarzhaarigen Lockenkopf mit großer Klappe und einem Vater, der laut Jasper zu viele Fragen über Stellan stellte, als dass es noch unauffällig gewesen wäre.

»Unser neuer Arzt.«

»Der dürre Hering?« Norman warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Das könnte gefährlich werden. Für beide.«

Ja, leider, dachte Rick düster. »Das ist mir klar. Stellan hat keine Ahnung, wie man ein normales Leben führt und das von Fairchild ist derzeit komplett aus den Fugen. Noch dazu bringt er ein Kind mit in die Beziehung, das könnte dem Tiger nicht gefallen. Wobei ich das nicht einmal glaube, so wie Stellan mit Claudine umgeht. Trotzdem werden wir den Dreien helfen müssen, damit es funktioniert.«

»Du meinst, damit sie überhaupt eine Chance haben.«

»Sei nicht immer so pessimistisch«, tadelte Rick halbherzig, denn dafür hatte er Norman schließlich. Irgendwer musste den Überblick behalten, seit Rick beschlossen hatte, Annies Bitten nachzugeben, die Stellan unbedingt und am besten noch heute verkuppeln wollte. Und er, als ihr liebender Gefährte und auch Alpha des Rudels, hatte sich gefälligst darum zu kümmern. Annies Worte, die ihm immer wieder ein Grinsen entlockten, wenn an ihr diesbezügliches Gespräch zurückdachte.

»Ich nenne das Realität.«

Das warnende Knurren des Tigers wehte zu ihnen herüber und nach einem auffordernden Blick zu Norman, begannen sie sich sofort und lautlos zurückzuziehen.  Die Geduld des Tieres und auch die des Mannes in ihm waren eindeutig erschöpft. Es war Zeit zu gehen. Und das taten sie dann auch, begleitet vom triumphierenden Brüllen des Tigers.

»Er ist so ein arroganter Sack«, grollte Norman und brachte Rick damit wieder einmal zum Lachen.

Ja, das war Stellan Archer manchmal wirklich und gerade deshalb mochte er den Tiger, der ihn so sehr an sich und seine Zeit als Einzelgänger erinnerte. Doch dank Annie waren diese einsamen Jahre längst Geschichte und Rick würde alles dafür tun, damit auch Stellan die Chance bekam, dasselbe Glück zu finden, das er mit Annie und ihren gemeinsamen Kindern Tag um Tag erleben durfte.

 

 

 

Kapitel 5

- Stellan -

 

 

 

 

Zehn Tage nach Ricks Ankündigung begann es.

Die erste Grenzübertretung zu seinem Revier hielt Stellan für einen Zufall, vor allem als er den zurückgelassenen Geruch Sebastian Monroe zuordnete. Der Jaguar war ein zu erfahrener Wächter, um absichtlich zu provozieren. Doch es blieb nicht der einzige Vorfall dieser Art und mit der Zeit begann Stellan zu dämmern, dass Ricks Entscheidung, ihn als Nachfolger zu wählen, kein Geheimnis mehr war. Und scheinbar waren die Wächter des Rudels darüber nicht sonderlich begeistert.

Was er gut verstehen konnte, weil es ihm genauso ging. Er wollte nicht die Verantwortung für ein Rudel übernehmen. Er wollte seine Ruhe. Ihm reichte völlig aus, dass er drei lästige Katzen hatte, die sich zu wahren Vielfraßen entwickelten und eine Vorliebe für Junghasen besaßen, die weitaus schwerer zu erbeuten waren, als ein altes oder verletztes Tier.

Nur schien die Wächter sein Wunsch nach Ruhe und Stille nicht sonderlich zu kümmern, auch wenn er über die meisten Grenzübertretungen vorrangig amüsiert statt verärgert war. Sie wussten, dass sie ihm in einem echten Zweikampf nur wenig entgegenzusetzen hatten, und je mehr Zeit verging, desto mehr hatte er das Gefühl, als würden sich die Erfahrensten unter den Wächtern seit Ricks Ankündigung wie kleine Jungs aufführen. Genau wie es die neuen, jungen Wächter auf der Hochzeit von Monroe und Morgan getan hatten.

Stellan hielt, auf dem Weg zum Waldbach, um zu trinken, abrupt inne und schnupperte. Da. Schon wieder. Monroe. Der Geruch war frisch, der Jaguar konnte noch nicht weit sein, und der Tiger in ihm ging sofort in Lauerstellung. Dieser Kater fing langsam an, wirklich lästig zu werden. Sebastian Monroe war stark und ein kluger Jäger. Sowohl als Tier als auch als Mann. Wieso benahm er sich seit Tagen so irrational und forderte ihn ständig heraus? Stellan verstand es nicht, doch dem Sibirischen Tiger in ihm waren diese Überlegungen völlig egal. Er wollte loslaufen. Er wollte jagen, seine Beute stellen. Er wollte Monroe erwischen und ihm zeigen, was es bedeutete, ohne Einladung in seinem Wald herumzustreifen.

Der Tiger brüllte laut und wütend und als der freche Kater mit einer ebenso lauten Herausforderung reagierte, gab es kein Halten mehr.

Monroe war schnell, wendig und gewitzt. Zweimal schaffte er es fast, ihm zu entwischen, aber als Tiger war Stellans Nase um Längen besser als in seiner menschlichen Form. Noch dazu war er stärker und hatte eine größere Ausdauer. Darum war er auch nicht sonderlich überrascht, als Monroe schließlich den Weg zum Haus ihres Alphas einschlug, um aus seinem Revier zu flüchten und ihm so zu entkommen.

Doch der Tiger wollte auf die sichere Beute nicht verzichten und verließ sein Revier ohne zu zögern, um dem Wächter auch außerhalb der Grenze nachzujagen. Es ging Stellan dabei nicht einmal um eine erfolgreiche Jagd an sich, er wollte den Jaguar einfach nur erwischen. Er wollte ihn anknurren und beißen. Er wollte ihn lehren, was es hieß, wieder und wieder mit Absicht sein Revier zu betreten. Stellan wollte dem Kater zeigen, wer von ihnen der Stärkere war, deswegen beschleunigte der Tiger sein Tempo noch einmal, bevor er zum Sprung ansetzte.

Sie landeten in einem Knäuel aus Schwänzen, Beinen und muskulösen Körpern, fauchend und brüllend mitten in Rick Malloys Gartenzaun, der ihrem Gewicht nicht standhielt. Die einzelnen, schmalen Holzlatten zerbrachen krachend und dass dabei keiner von ihnen verletzt wurde, erschien dem Mann in ihm wie ein Wunder. Der Tiger jedoch triumphierte brüllend, als er den Jaguar unter sich begrub und ihm seine Krallen in die Seite schlug. Nicht zu tief. Er wollte nicht verletzen. Es ging nur um eine unmissverständliche Warnung, die auch ankam, denn der Körper des Jaguars erschlaffte.

Sebastian Monroe ergab sich seiner Stärke und das genügte dem Tiger vollauf. Er zog sich zurück und überließ Stellan die Kontrolle, was dazu führte, dass er kurz darauf splitternackt über einem ebenso nackten Wächter saß, der mürrisch zu ihm hoch starrte.

»Warum wundert mich das jetzt nicht?«

Stellan sah verdutzt zur Seite. Ricks Gefährtin stand in der offenen Terrassentür, die Hände in die Seiten gestützt, und sah sie tadelnd an.

»Sebastian Monroe, warst du etwa schon wieder in seinem Revier?«

Der Kater unter ihm räusperte sich. »Äh, nein?«

»Du kannst genauso schlecht lügen wie dein Vater«, grollte Annie Malloy und nahm kopfschüttelnd eine Decke von einem der Korbstühle, die auf der Terrasse standen. »Stellan, hast du Hunger? Du bist zum Essen eingeladen. Und du ...« Ihr Blick galt Sebastian und er verfinsterte sich, während sie näherkam, um Stellan die Decke zu reichen, der sich daraufhin erhob. »... wirst dafür sorgen, dass die anderen Wächter aufhören, sich zu benehmen, als wären sie dumme Kinder. Stellan ist ein Alpha ohne jede Erfahrung, vergesst das nicht ständig.«

»Ja, Mam.«

»Gut. Verschwinde.«

»So?«, fragte Monroe entsetzt und Stellan musste sich, auch wenn er seine Reaktion nicht verstand, tatsächlich ein Grinsen verkneifen, als der Wandler plötzlich schamhaft die Hände vor seinen Intimbereich hielt.

»Strafe muss sein«, konterte Ricks Frau trocken und wandte sich mit einem fröhlichen Lächeln ihm zu. »Komm' ruhig rein, Stellan. Du kannst mir beim Kochen Gesellschaft leisten und ich werde dir derweil in aller Ruhe erklären, warum du schon seit Tagen so viel unerwarteten Besuch hast.«

Stellan folgte ihr schweigend ins Haus und nahm auf ihren Blick hin am Küchentisch Platz. Er kam sich ein wenig seltsam vor, nur in eine Decke gehüllt im Haus seines Alphas zu sitzen, aber da die Frau sich nicht daran zu stören schien, blieb Stellan wo er war und schnupperte interessiert, denn vom Herd stieg ihm ein köstlicher Geruch in die Nase.

»Hühnchen«, erklärte sie ungefragt und holte Gemüse aus dem Kühlschrank. »Für einen Eintopf.« Nachdem sie sich alles zum Zerkleinern des Gemüses geholt hatte, begann sie mit der Arbeit und sah zwischendurch fragend zu ihm. »Und? Hast du dir schon eigene Gedanken gemacht, warum unsere Jungs dich derzeit so oft herausfordern?«

»Sie sind mit Ricks Entscheidung nicht einverstanden.«

»Stimmt.« Annie wandte sich dem Topf auf dem Herd zu, um den Inhalt einmal umzurühren. »Allerdings haben sie bei der Nachfolgerfrage nichts zu melden. Ein Alpha wählt selbst, sofern er nicht vorher getötet oder durch eine Abstimmung im Rudel abgesetzt wird, wenn er sich seines Rangs nicht mehr als würdig erweist. Unsere Gesetze besagen, dass Rick seine Wahl ausführlich begründen muss und das hat er bei unserer letzten Rudelversammlung getan. Du hast das Potenzial, um ein sehr guter Alpha für unser Rudel zu werden.«

Stellan knurrte warnend. »Nein.«

Sie lachte leise. »Doch, Stellan Archer. Es geht bei der Frage nicht darum, was du willst, wir sprechen nur über deine sehr wohl vorhandenen Fähigkeiten. Sie sind unausgereift, du wirst viel lernen müssen, aber das Potenzial ist vorhanden.«

»Ich sage Nein.«

Annie nickte. »Das ist dein gutes Recht.«

Stellan blinzelte irritiert. »Rick hat das ignoriert.«

»Natürlich hat er das.« Ihr heiteres Lachen verstand Stellan nicht, doch Annie winkte ab, als sich ihre Blicke trafen, ehe sie begann, Möhren klein zu schneiden. »Ich erkläre es dir. Rick hat dein Nein ignoriert, weil mein Bär genauso ein Sturkopf ist wie du. Er hofft, dass er dich mit der Zeit mürbe machen kann. Als Alpha sieht, spürt und weiß er Dinge, die allen anderen verborgen bleiben, und aus diesem Grund weiß er, dass du die perfekte Wahl bist, um ihn zu ersetzen.«

»Er ist ein guter Alpha«, grollte Stellan, der nicht verstand, warum der Bär unbedingt einen Nachfolger wollte. Nur weil er älter wurde? Aber das wurde jeder mit der Zeit. Zählten nicht andere Dinge mehr? Erfahrung? Bindungen? Kenntnisse? Eben all das, was Rick hatte, er selbst jedoch nicht.

»Das bestreitet auch niemand, Stellan, aber Rick wird nicht jünger, während das Rudel wächst und schon in einigen Jahren eine Führung brauchen wird, die er ihnen dann vielleicht nicht mehr bieten kann. Jüngere Wandler brauchen Stärke. Ein gutes und sicheres Fundament, um sich zu entwickeln, und mit den neuen Familien kommen viele Kinder zu uns. Eines Tages wird der Zeitpunkt kommen, an dem sie sich das erste Mal wandeln und dann müssen sie ihren Platz im Rudel finden. Das wird in einigen Fällen nicht ohne Kämpfe gehen. Du hast es in kleiner Form bereits auf Trents und Sebastians Hochzeit erlebt, als die neuen Wächter ständig versuchten, dich herauszufordern.«

»Ich habe sie zurückgewiesen.«

»Natürlich, denn du hast das Alphasein in dir.«

»Rick hat es befohlen.«

Annie schüttelte schmunzelnd den Kopf und stellte einen zweiten Topf auf den Herd, in den sie die Möhren kippte. »Du hast es nicht nur deswegen getan, Stellan, lüg' mich nicht an. Du wusstest, dass sie dir unterlegen sind und dass du sie ohne große Anstrengung töten könntest. Und dir war klar, was passieren würde, wenn du das tust. Du hast abgewogen, ob ein dummer Junge es wert ist, deine Heimat bei uns zu verlieren. Du magst es nicht so sehen, aber dein Instinkt, richtig von falsch zu unterscheiden, ist viel ausgeprägter als bei den meisten Wandlern. Einer der Vorteile, ein Alpha zu sein.«

»Bin keiner.«

Sie deutete mit ihrem Messer auf ihn. »Sebastian und die anderen Wächter würden nicht immerzu bei dir auftauchen, wenn du kein Alpha wärst. Sie wissen um ihren Platz in Ricks Rudel, aber sie wissen nicht, welchen sie bei dir haben werden. Das macht sie nervös und deshalb suchen sie unaufgefordert deine Nähe. Es ist ihr Instinkt, sich dem zukünftigen Alpha zu nähern. Grenzen auszutesten und zu sehen, wo sie an deiner Seite stehen werden. Sie können gar nicht anders und du wirst einen Platz für sie finden. Für Sebastian hast du es schon getan, als du ihn vorhin gejagt hast.«

Stellan runzelte die Stirn. »Ich habe ihn gejagt, weil er mich gestört hat.«

»Warum?« Annie sah ihn ernst an. »Denk' in Ruhe darüber nach, ehe du antwortest. Sie sind seit Tagen in deinem Revier, doch Sebastian war der erste, auf den dein Tiger losgegangen ist. Warum?«

Eine gute Frage und Stellan nahm sich eine Weile Zeit zum Nachdenken, während er der Bärin zusah, wie sie das Fleisch aus dem Topf holte und abkühlen ließ, um das übrige Gemüse zu den Möhren zu geben. Sie arbeitete mit sicheren Händen und schien sich nicht im Mindesten an seiner Anwesenheit zu stören. Ihre Ruhe imponierte ihm. Genauso wie ihm Sebastians Hartnäckigkeit imponiert hatte, während die übrigen Wächter in seinem Tiger nur ein Gähnen auslösten. Nein, das stimmte nicht. Einer der Wölfe, Bill, war bei den letzten Malen frecher und forscher gewesen als zuvor. Ob er ihn als nächsten jagte?

»Monroe ist stark«, sagte Stellan schließlich und Annie warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Sind die anderen schwach?«

»Ja.« Stellan überlegte kurz. »Nein. Nicht alle.«

»Trotzdem greifst du sie nicht an.«

»Der Tiger ist von ihnen gelangweilt. Er findet sie amüsant, manchmal nervig, aber er empfindet sie nicht als Bedrohung.« Stellan horchte in sich hinein. »Heute war es anders. Monroe hat meinen Tiger verärgert. Er hält den Kater für stärker als die anderen.«

»Richtig. Dein Tier hat das erkannt und Sebastian energisch in seine Schranken verwiesen. Eine ziemlich leidige, aber leider notwendige Geste.«

Was im Umkehrschluss hieß, er würde die übrigen Wandler ebenfalls jagen müssen, wenn er in seinem Revier wieder Ruhe haben wollte. Stellan schnaubte frustriert und Annie lachte.

»Ich weiß, ich weiß. Es ist nervig und lästig und in unseren Augen völlig überflüssig, aber sie sind Machos und sie wollen wissen, wer der Boss ist. Darum ist mir auch klar, dass meine Worte an Sebastian im Grunde nutzlos waren. Die sturen Kerle werden dir trotzdem auf die Pelle rücken.«

»Warum hast du sie dann gesagt?«, fragte Stellan ratlos.

»Damit sie nicht übertreiben. Die Wächter kennen Rick und sie wissen bei ihm, wann es genug ist. Mit dir fehlt ihnen diese Erfahrung und das habe ich Sebastian vorhin gesagt. Er hat es begriffen und wird es auch weitergeben.« Annie zwinkerte ihm zu. »Keine Sorge, du wirst es überleben.«

»Ich könnte sie fressen.«

»So wie Claudine?« Stellan sah die Bärin empört an, was sie lachen ließ. »Ich weiß, du hast ihr kein Haar gekrümmt.« Sie deutete mit einem Kochlöffel auf ihn. »Was mich allerdings zu der Frage bringt, warum nicht?«

Was war das denn für eine seltsame Frage? Stellan warf der Bärin einen erstaunten Blick zu. »Sie ist ein Kind.«

»Ihr Vater ist das nicht.«

»Er hat meinen Katzen geholfen«, erklärte Stellan, der keine Ahnung hatte, worauf sie mit ihrer Erwähnung von Fairchild hinauswollte. Im nächsten Moment spannte er sich sichtlich an, weil er plötzlich Ricks Geruch wahrnahm.

»Du machst es dir zu einfach, aber gut, fürs Erste lasse ich dich mit der Erklärung durchkommen.« Annie sah amüsiert an ihm vorbei. »Hallo, mein Liebling. Wir haben heute einen Gast zum Abendessen.«

»Ich wusste nicht, dass Gäste bei uns nackt am Tisch sitzen müssen«, grollte Rick und Stellan sah irritiert und gleichzeitig auch fasziniert zu, wie sein Alpha sich zwischen ihm und der Bärin postierte und ihm einen sehr finsteren Blick schenkte, nachdem er seine Gefährtin geküsst hatte. »Warum kommst du nackt in mein Haus?«

»Ich habe eine Decke«, antwortete Stellan verwundert, weil er auf einmal das Gefühl hatte, unerwünscht zu sein. Er erhob sich, um zu gehen.

»Bleib, Stellan«, bat Annie lächelnd und boxte Rick auf dem Weg zum Kühlschrank in die Rippen. »Im Übrigen kommt er nackt in unser Haus, weil deine Wächter ihm seit Tagen auf die Nerven gehen. Also hat er einen bis in unseren Garten gejagt.«

Ricks Gesichtsausdruck wurde ein wenig milder und nach einem Blick in den Garten begann er zu grinsen. »Ich wette, spätestens morgen ist der Zaun wie neu. Wen hast du erwischt, Stellan?«

»Monroe.«

»Verstehe.« Rick verließ die Küche und kehrte wenig später mit einem Stapel Kleidung zurück, den er ihm in die Hände drückte. »Sie dürften zu kurz sein, aber für einen Abend wird es gehen. Wie lange kannst du die Katzenbabys allein lassen?«

»Ein paar Stunden.«

»Gut.« Rick öffnete einen der oberen Küchenschränke und reichte ihm drei tiefe Teller. »Deck' den Tisch, damit wir essen können. Und danach reden wir.«

»Worüber?«, fragte Stellan misstrauisch und verteilte dabei die Teller auf dem Tisch.

»Deine glänzende Zukunft als Alpha dieses Rudels.«

Stellan knurrte erbost, Rick knurrte unbeeindruckt zurück und Annie begann zu lachen.

 

 

 

Kapitel 6

- Connor -

 

 

 

 

Montag.

Connor hasste Montage.

Vor allem, wenn sie um sechs Uhr früh begannen, weil Bee ihn so lange nervte, bis er aufstand und sie in den Garten ließ.

Ohne ihre altersschwache Blase hätte er bis zum Klingeln des Weckers noch eine ganze Stunde schlafen können, aber da er schon mal wach war, konnte er genauso gut die Waschmaschine anstellen, den Saustall aufräumen, zu dem ihre Küche in den letzten paar Tagen mutiert war, und nebenbei für Claudine ein richtiges Frühstück machen, damit sie nicht wieder mit leerem Magen in die Schule ging.

Nicht dass seine Tochter diese Geste zu schätzen gewusst hätte, als sie anderthalb Stunden später nach unten kam, einen Blick auf den gedeckten Tresen hinter der Kochinsel warf und dann mit einem mürrischen Blick verkündete, dass sie keinen Hunger hätte.

»Dann nimm ein paar Sandwichs mit in die Schule«, sagte Connor und nahm den Kakao aus dem Schrank, weil Claudine morgens seit der Grundschule eine Tasse warmen Kakao trank. Zumindest hatte sie das getan, bis Christy gestorben war.

»Wozu?«, fragte Claudine und ihr aufmüpfiger Tonfall ließ Connor innehalten. Er drehte sich zu ihr.

»Um später etwas zu essen. Oder willst du den ganzen Tag mit knurrendem Magen rumlaufen?«

Sie zuckte die Schultern. »Du isst doch auch nichts.«

»Das ist ...« Sein 'etwas anderes' ging in einem genervten Stöhnen von Claudine unter, bevor sie ihm Augen verdrehend den Rücken zuwandte und die Küche verließ. Connor atmete tief durch, in der Hoffnung, dass es ihm helfen würde, ruhig zu bleiben, weil er sich nicht schon wieder mit ihr streiten wollte, und folgte seiner Tochter in den Flur. »Claudine?«

Sie war schon in ihre Turnschuhe geschlüpft und griff jetzt nach ihrem Rucksack. »Ich muss los.«

»Du hast noch eine halbe Stunde Zeit.« Connor deutete mit der Hand in die Küche. »Willst du nicht wenigstens …?«

»Treff' mich vor der Schule.«

Nein, Claudine wollte offensichtlich nicht. Connor verkniff sich ein resigniertes Seufzen. »Mit wem denn?«, fragte er, weil er neugierig war und weil er hoffte, dass, sobald sie hier neue Freunde fand, sie ihm irgendwann vergeben würde, dass er sie aus New York City in diese Kleinstadt geschleift hatte.

»Kann dir doch egal sein.«

»Ist es aber nicht«, konterte Connor prompt und fühlte, wie er langsam die Geduld verlor. Dass Claudine ihn danach aufmüpfig ansah, machte es nicht besser. »Es ist mir nicht egal, mit wem du dich triffst.«

»Und wenn ich es dir nicht sage?«, fragte sie giftig. »Wenn ich dir stattdessen sage, dass es dich einen Scheißdreck angeht, mit wem ich rumhänge. Was machst du dann, Dad?«

Nichts. Connor tat gar nichts, außer ihr stillschweigend den Rücken zuzudrehen, in die Küche zu gehen und das Essen in den Mülleimer zu werfen, nachdem er die Haustür zuschlagen hörte. Was hätte er auch tun sollen? Claudine anschreien? Ihr wegen ihrer Wortwahl die Leviten lesen und ihr anschließend das Essen mit Gewalt in den Rucksack stopfen? Dann hätte sie noch einen Grund mehr, ihn zu hassen. Nein, so tief würde er niemals sinken. Es war einfacher, sich niedergeschlagen auf die Fliesen sinken zu lassen und lautlos zu weinen, bis es an der Zeit war, die Wäsche in den Trockner zu räumen und Jasper abzuholen.

Als Connor um Punkt acht Uhr dreißig schließlich aus dem Haus trat, hatte er sich wieder gefangen.

Jasper würde nichts merken, dafür würde er schon sorgen. Außerdem hatte er frischen Kaffee für sie dabei und so wie er Jasper mittlerweile neu kennengelernt hatte, würde der ihn bis zu ihrem ersten Termin über alle Neuigkeiten informieren, die sich am vergangenen Wochenende in Sanoro ergeben hatten. Und meist tat Jasper das so lebhaft, dass sie vermutlich wieder eine Menge zu lachen haben würden.

Connor stieg die paar Stufen zur Veranda der Rivers hoch. Es hatte sich nach ihrer Klinikeröffnung Anfang Juni schnell so ergeben, dass er Jasper morgens abholte, um dann gemeinsam zur Arbeit zu laufen. Die Klinik lag nur ein paar Fußminuten von ihren Häusern entfernt, praktischer ging es kaum.

Die Haustür wurde aufgerissen, ehe Connor überhaupt die Chance hatte zu klingeln.

»Ich werde das nicht einfach so abtun, Jasper!«

»Wie schön, dass mich das nicht die Bohne interessiert, du Arsch!«, schrie Jasper mit dem Rücken zu ihm stehend zurück und machte im nächsten Moment erschrocken einen Satz nach hinten, als er Connor vor sich entdeckte. »Fuck, hast du mich erschreckt. Bin ich zu spät?«

»Nein.« Connor runzelte besorgt die Stirn, als ein wütender Greg im Flur auftauchte. »Störe ich?«

»Nein. Ich wollte gerade gehen. Nicht wahr, mein Schatz?«

»Jasper, ich warne dich. Mach' es nicht«, grollte Greg hinter Jasper und Connors Augen weiteten sich überrascht, als Jasper nur leise kicherte und dann ohne ein weiteres Wort, aber dafür mit hoch erhobenem Kopf, aus dem Haus eilte.

Connor sah ihm kurz nach und dann zu Greg. »Ähm ...«

»Richte ihm bitte aus, dass ich heute Abend mit dem Essen auf ihn warten werde.« Gregs Blick wurde drohend. »Und dass er besser pünktlich erscheint, weil ich ihm sonst seinen kleinen, frechen Arsch versohle, und zwar gründlich.«

Connor blinzelte. »Das soll ich ihm sagen?«

»Wortwörtlich.«

Greg verschwand in der Küche und ließ ihn stehen. Connor stand noch ein paar Sekunden wie bestellt und nicht abgeholt vor der offenen Haustür, bevor er beschloss, selbige einfach zu schließen und Jasper Gregs Worte auszurichten. Irgendwann später. Und er würde dabei garantiert nicht fragen, was sie zu bedeuten hatten. Er würde vor allem nicht fragen, ob die Worte wirklich ernst gemeint waren. Nein, er würde einfach so tun, als hätte er dieses seltsame Gespräch nicht gehört.

Nur leider entpuppte sich sein schöner Plan als Ding der Unmöglichkeit, denn in der Klinik stapfte Jasper mit finsterem Gesicht von einem Behandlungsraum zum nächsten, und als er Greg dabei zum dritten Mal die Pest an dessen offenbar viel zu behütenden Hals wünschte, wurde es Connor zu bunt.

»Was?«

Jasper sah ihn irritiert an. »Hm?«

»Was ist zwischen dir und deinem Mann los? Er lässt dir übrigens ein paar nette Dinge ausrichten, die ich jedoch nicht wiederholen werde.«

Aus Jaspers ratlosem Blick wurde ein träges Grinsen. »Ach ja? Lass mich raten, es hat mit Abendessen, Pünktlichkeit und Arsch versohlen zu tun?«

»Hat es.«

»Gut.« Jasper leckte sich sichtlich genießerisch die Lippen. »Das heißt, ich muss mindestens eine Stunde zu spät kommen, dann ist seine Laune perfekt.«

»Muss ich das verstehen?«, fragte Connor mehr sich selbst und hob hilflos die Arme hoch, als Jasper lachte. »Was? Ich bin kein Experte für … Was auch immer.«

»Hey, hast du mir nicht selbst erzählt, dass du mit Christy ab und zu einen anderen Kerl vernascht hast? Und jetzt wirst du auf einmal schüchtern, weil ich mir von meinem Mann den Hintern versohlen lasse? Das habe ich doch schon in der Uni gemacht, erinnerst du dich nicht mehr?«

Connor erinnerte sich sehr wohl, aber das war Jahre her. Sie führten heute beide völlig andere Leben. »Sicher weiß ich das noch, doch das ist ewig her und normalerweise hast du deine damaligen Lover nicht angeschrien und als Ärsche betitelt.«

»Ach das.« Jasper winkte ab. »Greg ist sauer auf mich, weil ich ihm nichts von der Buchveröffentlichung erzählt habe.«

»Welcher Buchveröffentlichung?«

»Meiner.«

»Du hast ein Buch geschrieben?«, fragte Connor überrascht und sein Freund nickte. »Wow.«

»Findest du?« Jasper zuckte mit einem verlegenen Grinsen die Schultern. »Jedenfalls schreibe ich schon am zweiten und Greg, der Sturkopf, will nicht, dass ich das erste Buch auf den Markt bringe. Darüber streiten wir übrigens seit Monaten, also mach' dir keinen Kopf.«

»Moment, warum will er nicht, dass du es veröffentlichst? Es ist dein Buch, also auch deine Sache, oder nicht?«

»Grundsätzlich schon ...«

»Aber?«, hakte Connor nach, als Jasper die Lippen schürzte und sich an der Nase kratzte. Offenbar steckte hinter der Buch-Geschichte ein bisschen mehr als ein harmloser Streit darüber, ob dieses Buch es wert war, auf den Markt gebracht zu werden oder eben nicht.

»Die Sache ist ein bisschen komplizierter.« Jasper warf ihm einen nachdenklichen Blick zu und seufzte dann nachgebend. »Connor, es gibt da ein paar Dinge, die du nicht von mir weißt und die sind der Grund dafür, dass Greg wegen dem Buch so wütend auf mich ist. Wobei er nicht wirklich sauer ist, er macht sich einfach Sorgen, dass eine Buchveröffentlichung zu viel für mich sein könnte.«

»Inwiefern?«

»Die Geschichte ist nicht schön, Connor.«

Ja, das konnte er sich mittlerweile an fünf Fingern abzählen und trotzdem nickte Connor. »Ich möchte sie hören. Aber nur, wenn das in Ordnung ist. Ich will nicht für weiteren Streit bei Greg und dir verantwortlich sein, nur weil ich neugierig bin.«

Jasper nickte und setzte sich auf die Behandlungsliege, auf der ein mit Sonnenblumen bedrucktes Polster lag, das Jasper bei ihrem Einzug in die renovierte Praxis aus seinem früheren Behandlungsraum in seinem alten Haus mitgebracht hatte. Für Connors Raum hatten sie noch einmal dasselbe Polster besorgt und im Warteraum hatte ein Freund von Jasper eine Wiese mit Sonnenblumen an die Wand gemalt.

Sämtliche Räume ihrer Praxis waren offen und einladend gestaltet, zumindest wenn er da die hektische Notaufnahme, in der er zuvor gearbeitet hatte, als Vergleich heranzog. Dort war es nur um Effizienz gegangen. Verständlich zwar, immerhin ging es in einer Notaufnahme um Notfälle, oft auch um Leben und Tod, aber für ein gutes Arbeitsklima waren die kalkweißen Wände nicht sonderlich förderlich gewesen.

Bei Jasper und ihm standen hingegen immer die Patienten und vor allem ihr Wohlbefinden im Vordergrund, selbst wenn sie nur im Wartezimmer saßen. Und das gefiel Connor weitaus besser. Ganz im Gegensatz zu Jaspers aktueller Gesichtsfarbe, die sich immer mehr einem ungesunden blass annäherte.

»Jas, was ist los?«, fragte er besorgt und Jasper zuckte heftig zusammen. Doch bevor Connor nachfragen konnte, schüttelte sein Freund den Kopf.

»Ich bin trockener Alkoholiker, das weißt du.«

Connor nickte. »Weil du einige Scheiße gebaut hast, bevor du angefangen hast zu studieren, ich erinnere mich.«

»Richtig. Und genau die Scheiße habe ich in meinem ersten Buch verarbeitet. Greg hat es im letzten Sommer gelesen und macht sich jetzt ziemlich große Sorgen, dass mögliche, negative Reaktionen mich seelisch wieder umwerfen.«

»Wieder?«, fragte Connor misstrauisch und als Jasper samt gequältem Lächeln die Schultern zuckte, wusste er auf einmal, dass es gleich ganz dick kam. »Jas? Was ist passiert?«

»Ich wurde letztes Jahr entführt und vergewaltigt.«

Connor wurde übel. »Was?«

»Die Männer, die Jagd auf Wandler gemacht haben, du hast vermutlich davon gehört ...«

Jasper brach ab und Connor nickte, allerdings mehr zu sich selbst, denn Jasper hatte mittlerweile den Blick abgewandt und starrte auf den Boden. »Ja. Diese Designer, die in ihrem Haus in die Luft geflogen sind. Es gibt ein paar Gerüchte, dass das Ganze kein Unfall war, aber laut der Polizei konnte man dafür keine Beweise finden, also wurde der Fall geschlossen.«

»Tja, da Rick einen Senator gut kennt, dessen Tochter von diesen Schweinen ermordet wurde ...«

»Ach, du Scheiße. Die waren das?«, fragte Connor entsetzt, denn diese Wandlermorde waren auch in New York City unter ihresgleichen ein Thema gewesen. Nur hatte niemand je eine direkte Verbindung rüber nach Los Angeles ziehen können, die ganze Sache war zu sehr unter Verschluss gehalten worden.

Jasper nickte. »Unser Rudel hat mich gerettet und dann ihr Haus in die Luft gesprengt. Kaputte Gasleitung. Offiziell ist die Sache als Unfall eingestuft und das bleibt auch so, dafür wird Senator Oswald schon sorgen. Trent wurde übrigens ebenfalls entführt, zusammen mit mir, und später noch angeschossen. Er wäre fast gestorben. Stellan hat einen der Männer getötet, Paul den zweiten. Du kennst Paul noch nicht, aber er hat durch die beiden Irren seinen Ehemann verloren.«

Connor fehlten die Worte. »Himmel, Jas, ich ...«

»Vergiss es.« Jasper winkte ab. »Ich bin in Therapie. Sie hilft mir und ich glaube, dass auch das Buch helfen wird. Aber Greg sieht das anders, weil ich nach der Vergewaltigung kurz davor war, wieder mit dem Trinken anzufangen.«

»Er hat Angst um dich«, murmelte Connor und sein Freund nickte. »Du hättest es ihm vorher sagen sollen.«

»Oh Mann, nicht du auch noch.« Jasper stöhnte frustriert. »Ja, du hast recht, ich weiß, aber mir war klar, dass er ausflippt, ganz egal, wann ich es ihm sage. Also wollte ich erst alles unter Dach und Fach haben. Woher hätte ich bitte wissen sollen, dass gleich der erste Verlag, an den ich mein Manuskript geschickt habe, anbeißt und es schon ein halbes Jahr später rausbringen will?« Jasper sah ihn an und grinste verlegen. »Ich dachte mir, schick' es an eine Handvoll Verlage, warte ein bisschen ab und dann mach' es selbst.«

»Du hast nicht daran geglaubt, dass sie es wollen?«, fragte Connor, war aber insgeheim nicht sonderlich überrascht.

Jasper hatte an der Uni immer eine verdammt große Klappe gehabt und war oft auch ziemlich aufbrausend gewesen, aber Connor hatte sehr schnell herausgefunden, dass das alles nur reine Fassade war, um zu verbergen, wie sensibel sein Freund in Wirklichkeit war. Wie sehr es ihm wehtat, wenn er Patienten nicht retten konnte, und wie stark Jasper immer wieder an sich und seinen Fähigkeiten, ein guter Arzt zu werden, gezweifelt hatte. Scheinbar hatte sich daran in den letzten Jahren nicht viel geändert.

»Nein«, gab Jasper leise zu. »Aber ich wollte es zumindest versucht haben. Tja, letzte Woche kam dann mein Vertrag mit der Post. Greg hat den Umschlag aufgemacht, weil er an uns beide adressiert war und er sich natürlich wegen des für ihn unbekannten Absenders wunderte. Ich war abends noch nicht mal zur Tür rein, da flogen mir schon die Schimpfwörter um die Ohren. Er war so wütend, weil ich ihm nichts erzählt habe, das glaubst du gar nicht.« Jasper zuckte mit den Schultern und starrte wieder zu Boden. »Er beruhigt sich schon wieder.«

Connor verdrehte die Augen, musste aber dabei gegen ein Schmunzeln ankämpfen. »Jas ...«

»Ja, ja, ich weiß. In ein paar Tagen werde ich mich bei Greg entschuldigen, er wird mir verzeihen und dann ...«

»Brauchst du die nächsten drei Tage ein Kissen für deinen brennenden Hintern?«

Anstatt zu antworten, sah sein Freund ihn von unten herauf an und sein folgendes, unübersehbar dreckiges Grinsen sprach für ihn ganze Bände. Connor stöhnte und brachte Jasper damit zum Lachen.

»Und?«, fragte Jasper kurz darauf. »Konntest du dich schon ein bisschen einleben? Rick hatte befohlen, dich und Claudine erst mal in Ruhe zu lassen, damit ihr Zeit für euch habt, aber … Nun ja, es sind jetzt schon zwei Monate und … Wie sage ich es dir am besten?«

Ah, offenbar war seine Schonzeit vorbei. Connor hatte sich insgeheim schon gewundert, dass Jasper bislang kein Wort zu seinem Aussehen über die Lippen gekommen war. Dabei hatte er ihm sein Entsetzen ansehen können, als er mit Claudine und Bee vor ihrem neuen Haus aus dem Auto gestiegen war. Aber da an jenem Tag, neben Jasper, auch Rick und andere Wandler zu ihrer Begrüßung erschienen waren, hatte Jasper ihn einmal von Kopf bis Fuß betrachtet und anschließend fest umarmt. So wie er es früher getan hatte.

Manche Dinge änderten sich eben doch nie.

Andere hingegen … Connor sah an sich hinunter. »Ich sehe aus wie ein Skelett, ich weiß.«

Jasper schürzte die Lippen. »Ganz so schlimm ist es nicht. Noch nicht. Allerdings bin ich Arzt und du kennst mich ...«

Oh ja, er kannte Jasper. Ganz besonders wenn es um dessen Patienten ging und scheinbar war er eben zu einem geworden. Connor schmunzelte. »Ich weiß, du musst immer jedem helfen, du kannst gar nicht anders.«

»Ich bin nun mal Arzt. Also?«

Connor zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht ganz einfach für uns. Claudine ist … Sie vermisst ihre Mum.«

»Und du?«, hakte Jasper einfühlsam nach.

»Ich auch.«

»Sprecht ihr darüber?«

»Nein.«

»Vielleicht ist es noch zu früh«, sagte Jasper nachdenklich und zwinkerte ihm im nächsten Moment zu. »Aber wie man so hört, hat sich deine Süße schon einen neuen Freund angelacht. Du hast bestimmt von ihm gehört. Ein großer, finsterer Kerl, der am liebsten kleine Kinder frisst.« Connor murmelte einen Fluch und Jasper gluckste. »Ich weiß, ich weiß. Rick versucht immer noch herauszufinden, wer diesen Blödsinn in die Welt gesetzt hat. Auch wenn ich glaube, dass Archer das eher lustig findet.«

»Archer«, grollte Connor und hob resigniert die Hände, als Jasper ihn belustigt ansah. »Was findet sie nur an diesem Kerl? Alle meinen, er wäre gefährlich, was ich jetzt nicht bestätigen kann. Aber ich war nur einmal bei ihm und Claudine mag ihn nun mal. Weiß der Teufel wieso.«

»Er hat drei Katzenbabys«, schlug Jasper vor, doch Connor schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht, dass es nur daran liegt. Sie findet ihn cool und krass und affengeil … Claudines Worte, als ich das letzte Mal versuchte, mich mit ihr über Archer zu unterhalten.«

»Ich habe mit Rick darüber gesprochen und er sagt, dass er seine Hand dafür ins Feuer legen würde, dass Stellan ihr nichts tun wird.«

»Und das weiß er woher?«, fragte Connor, denn davon war er nicht wirklich überzeugt, auch wenn er Archer nun wahrlich nichts unterstellen wollte. Der Tiger schien zwar etwas seltsam, aber ansonsten eher harmlos zu sein. Zumindest war das der Eindruck, den er bei seinem ersten und einzigen Besuch in der Höhle gewonnen hatte, denn natürlich hatte Archer sich wegen der Katzen nicht mehr bei ihm gemeldet. Etwas anderes hätte Connor auch gewundert, um ehrlich zu sein.

»Er ist der Alpha. Er weiß es. Außerdem verbringt er mehr Zeit mit Archer als wir alle zusammen. Wenn ich Rick richtig verstanden habe, scheint der Tiger von deiner Kleinen irritiert und zugleich fasziniert zu sein. Was auch immer das bedeutet. Ich glaube allerdings nicht, dass sie bei ihm in Gefahr ist, im Gegenteil. Ich weiß jedoch mit Sicherheit, was sie macht, wenn du ihr verbietest, ihn zu sehen.«

Das wusste Connor auch, darum hatte er bisher kein Wort zu dem Thema fallenlassen. Claudine würde komplett auf die Barrikaden gehen, wenn er ihr tatsächlich verbot, diesen Tiger zu besuchen, und das konnte er nun wahrlich nicht auch noch gebrauchen. Sie stritten sich auch so schon ständig.

»Ob ich was sage oder nicht, sie findet sowieso bald wieder einen neuen Grund, um mich anzufauchen. Vorhin war es die Frage nach Freunden in der Schule, woraufhin sie mir hämisch erklärte, dass sie es mir nicht sagen würde und was ich denn dagegen tun wolle.«

»Oh je.« Jasper verzog mitfühlend das Gesicht. »Willst du darüber reden?«

»Sie ist ein Teenager. Das sagt doch alles.«

»Nicht unbedingt. Ihr habt beide jemanden verloren, aber das heißt nicht, dass du dir alles gefallen lassen musst, was sie verzapft.«

»Ich weiß ...«

»Aber?«

Connor verdrehte genervt die Augen. »Jas, können wir bitte das Thema wechseln? Danke sehr.« Jasper zuckte zusammen, als hätte er ihn geschlagen und Connor hob entschuldigend die Hände. »Gott, Jas, ich wollte nicht … Hör' mal, ich bin einfach total genervt. Sie zickt wegen jeder Kleinigkeit, und wenn es nur die Butter auf ihrem Schulbrot ist, das sie nicht mal essen würde, wenn ich es ihr in den Rucksack stopfe. Doch anstatt mich wie ein Erwachsener zu benehmen und es auszusitzen, zicke ich zurück, bis sie mit den Türen knallt, oder ich schweige sie an, weil das in meinen Augen immer noch besser ist, als sie von morgens bis abends anzuschreien.«

»Connor?«

»Was?«, fauchte er und verzog sofort das Gesicht, als Jasper blass wurde. »Tut mir leid. Bitte entschuldige.«

Jasper nickte und sprang leichtfüßig von der Liege, um sich stattdessen neben ihn an den Schreibtisch zu lehnen. »Ist schon gut. Ich bin ziemlich schreckhaft geworden, wenn jemand laut wird, aber dafür kannst du nichts. Ist nicht deine Schuld, okay? Ich wollte auch nur sagen, dass es normal ist, bei dem, was ihr gerade durchmacht. Christy fehlt euch beiden. Mann, sie fehlt sogar mir, dabei kannte ich sie kaum. Aber ich weiß noch, wie gerne und viel sie gelacht hat.« Jasper stupste ihm neckend mit dem Ellbogen in die Rippen. »Und ich weiß, wie sehr sie dich geliebt hat … Und wo wir schon dabei sind, ich weiß ebenfalls, dass sie sich mit Händen und Füßen auf einen gewissen Tiger gestürzt und ihn in euer Bett geschleift hätte.«

»Jasper!«

Der grinste frech. »Was? Stimmt doch. Behaupte jetzt nicht, dir wäre nicht aufgefallen, wie gut der Kerl aussieht.«

»Wenn man auf die rauen Typen steht«, murmelte Connor und zuckte mit den Schultern, weil Jaspers Grinsen daraufhin um einiges breiter wurde. »Jas, lass das bitte. Ich bin nicht an ihm interessiert.«

»Ach nein?«

»Jas ...«

»Ich mein' doch nur ...«

»Christy ist noch nicht mal ein Jahr tot. Also hör' bitte auf, mich verkuppeln zu wollen, okay? Ich will das nicht. Ich will … Keine Ahnung, was ich will, aber garantiert keinen Riesen, der mich mit einem Schlag unangespitzt in den Boden rammen würde. Da kann er noch so gut aussehen, ich will absolut gar nichts von ihm, klar?«

Jaspers Augen weiteten sich. »Oh Scheiße.«

»Was ist?«, fragte Connor verständnislos.

»Dasselbe hast du damals über Christy gesagt. Dass sie geil aussieht, aber du absolut nichts von ihr willst.«

Herrje, ausgerechnet daran konnte Jasper sich nach all den Jahren immer noch erinnern? Er hätte ihm nie davon erzählen sollen. Connor verdrehte die Augen. »Oh Mann, Jas ...«

»Hey, das hast du mir selbst erzählt.« Jasper tat unschuldig. »Wie lange hat es noch mal gedauert, bis du sie geheiratet hast, was du anfangs natürlich absolut nicht wolltest, und Claudine unterwegs war?«

»Jas!«

»Gibt es was Neues von Christys Eltern?«

Das war doch mal ein krasser Themenwechsel, aber er kam Connor gerade recht. Er wollte sich im Moment wirklich nicht mit diesem Tiger befassen. Du liebe Güte, er hatte diesen Mann erst einmal gesehen und der hatte ihn dabei die ganze Zeit nur angeknurrt und sich gegen seine Hilfe gesträubt. Faszination hin oder her, das waren kaum gute Voraussetzungen, um sich darüber Gedanken zu machen, ob es vielleicht an der Zeit war, mal wieder Sex zu haben. Wobei Sex mit diesem mürrischen Riesen mit Sicherheit ein umwerfendes Erlebnis war, das er nie mehr vergessen würde.

Nein. Schluss damit!

Er würde keinen Sex mit Stellan Archer haben und damit basta. Claudine war wichtiger. Ihr neues Leben in Sanoro war wichtiger. Alles andere konnte warten. Er wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Allein der Gedanke, sich einen Mann wie Archer zum Liebhaber zu nehmen und das dann seiner Tochter erklären zu müssen, verursachte Connor Bauchschmerzen. Von den anderen Bauchschmerzen in Bezug auf Christys Eltern gar nicht zu reden.

»Seit dem Umzug herrscht Schweigen im Walde«, sagte er schließlich, was zwar der Wahrheit entsprach, aber leider der Tatsache geschuldet war, dass Connor weder das Gericht noch Claudines Großeltern über besagten Umzug informiert hatte.

Was ihn im schlimmsten Fall in eine Gefängniszelle bringen würde, doch auch damit wollte er sich nicht befassen. Es gab so einiges, mit dem Connor sich derzeit nicht befassen wollte, aber die kopflose Flucht nach Sanoro, denn nichts anderes war dieser Umzug gewesen, stand ganz oben auf der Liste. Dabei war ihm sehr wohl klar, dass er damit eine Straftat begangen hatte. Christy hätte ihm für diese feige Vogel-Strauß-Taktik die Leviten gelesen und ihn aufgefordert, um Hilfe zu bitten, doch Connor brachte die Wahrheit, dass er so gut wie pleite war und mit einem Bein praktisch schon im Gefängnis saß, einfach nicht über die Lippen.

»Na wenigstens etwas«, murmelte Jasper zufrieden und sah auf, als es an der Tür klingelte. »Ach Gott, unser erster Termin heute. Vorsorgecheck von Jesses Zwillingen. Die Jungs werden dir gefallen. Quatschen die ganze Zeit und man versteht kein einziges Wort.«

Connor lachte leise. »Wie alt?«

»Ein Jahr und sie sind richtige Wirbelwinde. Ich komme«, rief Jasper Richtung Tür, doch vor der standen nicht Jesse und seine Gefährtin mit ihren Söhnen, sondern Stellan Archer, der Claudine dabei hatte, die darüber sichtlich verärgert war.

»Was ist passiert?«, fragte Connor, nachdem er Archer und Claudine mit in seinen Behandlungsraum genommen und die Tür hinter den zwei geschlossen hatte. Das würde zwar weder Jasper und schon gar nicht einen anderen Gestaltwandler vom Lauschen abhalten können, aber zumindest hatten sie hier ein wenig Privatsphäre.

»Nichts«, maulte Claudine und lud ihren Rucksack einfach auf seinem Schreibtisch ab. Connor sparte sich jedes Wort dazu und sah fragend zu Archer.

»Ich habe sie im Wald aufgegriffen.«

»Im Wald aufgegriffen?« Connor warf seiner Tochter einen bösen Blick zu. »Claudine, du hast Schule.«

»Na und.«

»Na und?«, echote Connor verblüfft und wandte sich dabei erneut Archer zu. »Danke, dass Sie sie zu mir gebracht haben.«

»Sie war darüber nicht erfreut.«

»Kein Wunder, du Verräter!«

»Claudine! Es reicht!« Connor fuhr zu ihr herum. »Du hast Unterricht und du weißt genau, was Rick von Drückebergern hält. In seinem Rudel herrscht Schulpflicht und du hast ihm dein Wort gegeben, dich an seine hiesigen Gesetze und Regeln zu halten. Ist dir dein Wort so wenig wert?«

»Nein!«, schrie sie erbost und baute sich vor ihm auf. »Aber ich habe keinen Bock darauf, einen zweiseitigen Aufsatz über meine Eltern zu schreiben. Über die Frage, warum ich sie liebe und was ich mir von ihnen wünsche. Denn das einzige, was ich mir wünsche, wird nie in Erfüllung gehen, weil man Tote nun mal nicht zurückholen kann. Soll ich das etwa in den Aufsatz schreiben?«

Großer Gott. Was sollte er denn darauf jetzt bitte antworten, ohne dabei völlig hilflos zu wirken? An ihrer Stelle hätte er mit Sicherheit nicht anders reagiert, nur machte es das nicht besser oder richtiger. Andererseits würde jeder Lehrer für solch eine Situation Mitgefühl zeigen, sofern er nicht völlig gefühllos war. Trotzdem. Verständnis hin oder her, sie durfte nicht einfach die Schule schwänzen. Wenn er ihr das einmal erlaubte, würde sie es immer wieder tun, und dann würde Christy stinksauer aus ihrem Grab steigen und ihm einen kräftigen Tritt in seinen Hintern verpassen, weil er Claudine das durchgehen ließ.

»Ja«, antwortete Connor leise und rang um Beherrschung, weil er auf einmal kurz davor war vor ihr und diesem Tiger in Tränen auszubrechen. Und das kam nicht infrage. Eher stürzte er sich kopfüber vom nächsten hohen Baum. »Stellan, würdest du uns bitte alleine lassen?«

Der seltsame Wandler verließ den Raum ohne ein weiteres Wort und Connor suchte Claudines Blick. Sie rang genauso mit sich, wie er selbst es gerade tat, und als sie wegschauen wollte, hob er mit einer Hand ihr Kinn an, bis sie sich schlussendlich direkt in die Augen sahen.

»Ich liebe dich, Claudine, und ich weiß, dass es wehtut und im Moment nicht ganz leicht ist. Aber Ja, du hättest das ruhig in den Aufsatz schreiben können, immerhin wünschst du es dir doch, also hättest du die Wahrheit gesagt.«

Claudine schnaubte abfällig. »Das ist doch blöd. Sie ist tot.«

»Die Wahrheit zu sagen, ist niemals blöd, Baby.«

»Bin kein Baby mehr.«

Connor lächelte traurig. »Oh doch, für mich schon.«

»Mann, Dad, ich ...« Sie stutzte und starrte ihn im nächsten Moment aus großen Augen an. »Dad, du weinst ja.«

»Weil ich deine Mum genauso furchtbar vermisse wie du«, gab Connor leise zu und danach brachen bei ihnen gemeinsam alle Dämme.

Doch zum ersten Mal, seit sie Christy an dieses zu schnell fahrende Arschloch verloren hatten, fühlte es sich nicht falsch an, vor Claudine zu weinen. Es fühlte sich nicht falsch an, auch mal schwach zu sein, statt vor seiner Tochter immer so zu tun, als wäre er es nicht und dabei komplett zu versagen. Es fühlte sich richtig an, die eigenen Tränen zuzulassen und gleichzeitig die von Claudine wegzuwischen.

»Sie fehlt mir«, schluchzte seine Kleine schließlich und warf sich förmlich in seine Arme.

»Mir auch.« Connor zog Claudine fest an sich. »Deine Mum fehlt mir so sehr, dass ich manchmal das Gefühl habe, dass es ohne sie nicht mehr weitergeht. Aber das tut es. Wir sind hier. Du und ich, wir sind noch da, und du kennst deine Mum. Sie würde mit uns schimpfen, weil wir hier wie zwei Wasserfälle heulen, statt zu lachen, unser Leben zu genießen und glücklich zu sein.«

»Ich will aber nicht ohne sie glücklich sein.«

»Ich auch nicht. Aber irgendwie schaffen wir es schon. Und weißt du auch, wieso?«

»Wieso?«

»Weil deine Mum es sich gewünscht hätte.«

Claudine seufzte und krallte die Hände in seinen Pullover. »Sorry, dass ich dich zu Hause so angefaucht habe.«

»Ist schon gut.«

»Ich hab' dich lieb, Daddy.«

Oh Gott, wie lange hatte er das nicht mehr von ihr gehört? Wie sehr hatte er es vermisst, Daddy zu sein? Wie sehr hatte er sie vermisst? Seine Kleine. Die so schnell groß geworden war und schon bald ein Teenager sein würde. Und dann dauerte es nur noch einen Wimpernschlag, bis sie anfing, Dates zu haben und ihm ihre Freunde oder Freundinnen vorzustellen. Großer Gott, allein die Vorstellung bescherte ihm Gänsehaut, während er gleichzeitig Christy in seinem Kopf lachen hören konnte. Sie hätte ihn wochenlang damit aufgezogen, dessen war er sich sicher.

Doch dazu hatte sie jetzt leider keine Gelegenheit mehr und er würde allein einen Weg finden müssen, mit all den kleinen und großen Dramen fertigzuwerden, die Claudines Pubertät so mit sich brachte.

Allein.

Seit Christy tot war, war er allein, und das war für Connor das Schlimmste daran. Er war nie zuvor so allein gewesen. Er wusste überhaupt nicht, wie das ging. Erst hatte es seine Eltern gegeben und dann Christy. Aber jetzt waren sie alle tot und er hatte niemanden mehr außer Claudine, denn Christys Eltern zählte er nicht zu seiner Familie. Das hatte er nie getan und das würde sich auch niemals ändern. Diese Menschen verdienten ihre wunderbare Enkelin gar nicht. Sie hatten schon ihre eigene Tochter nicht verdient und wenn sie ihn fanden …

Nein. Nicht darüber nachdenken.

Nicht hier. Nicht jetzt.

Nicht, wo er eben erst seine Tochter wiedergefunden hatte.

Connor küsste sie liebevoll auf den Scheitel. »Ich liebe dich auch. Über alles, Claudine. Du, deine Mum und Bee, ihr drei seid das Beste, was mir je passiert ist.«

»Dad?«

»Hm?«

»Ich hab' keine Freunde in der Schule.«

Connor verkniff sich ein Seufzen, da er es insgeheim schon befürchtet hatte. »Du findest noch welche, ganz sicher.«

»Aber ich mag Stellan.«

Tja, das nahm er jetzt und für die Zukunft besser einfach so hin. Immerhin hatte der Tiger auf Claudine aufgepasst und sie sicher in die Stadt zurückgebracht. Und wenn seine 13-jährige Tochter sich einen circa 40-jährigen, zwei Meter großen und oft maulfaulen Riesen als neuen, besten Freund auserkoren hatte, war es eben so.

»Obwohl er dich verpetzt hat?«

Claudine lachte leise. »Ja. Er hat gesagt, dass Schule wichtig ist. Er konnte überhaupt nicht verstehen, weshalb ich sie nicht mag. Er ist gerne zur Schule gegangen, hat er mir erzählt. Weil er dort lesen gelernt hat. Hast du gesehen, wie viele Bücher er in seiner Höhle hat?«

»Ja, als ich wegen seiner Katzen … Moment mal.« Connor löste sich von Claudine, um sie erstaunt anzusehen. »Du warst bei ihm zu Hause?«

Seine Tochter grinste verlegen. »Na ja ...«

»Was?«

»Ich hab' ihm gesagt, wenn er mir die Katzen zeigt, gehe ich ab sofort wieder zur Schule. Jeden Tag. Und sie sind echt süß, Dad. Der eine Kater hat ganz blaue Augen.« Claudine sah ihn entrüstet an. »Er will ihnen aber keine Namen geben, ist das zu fassen? Er sagt, wenn sie älter werden, leben sie in Freiheit und brauchen keine Namen.«

Connor verkniff sich ein Lachen, obwohl ihn das blanke Unverständnis in Claudines Gesicht mächtig amüsierte. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie seine Tochter mit Archer diskutiert hatte, und er konnte sich auch ziemlich gut dessen Unverständnis über diese Namensfrage vorstellen.

»Tja, ich schätze, du wirst es ihm noch mal genau erklären müssen. Namen sind schließlich wichtig.«

»Sag' ich doch.«

»Aber die Schule ist wichtiger.«

Claudine stöhnte und lachte zugleich. »Ich wusste, dass das jetzt kommt.«

»Soll ich dich schnell hinbringen?«, bot er an und lachte, als sie einen beleidigten Flunsch zog. »Was?«

»Ich muss bestimmt nachsitzen. Frau Meyer ist echt streng bei so was.«

Connor schmunzelte. »Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Erzähl' deiner Lehrerin, wieso du nicht da warst. Ich wette, sie wird es verstehen. Und wenn du trotzdem nachsitzen musst, warst du wenigstens ehrlich. Rick fände das bestimmt gut und ich, ich wäre wahnsinnig stolz auf dich.«

»Ehrlich?«, fragte Claudine unsicher und Connor nickte.

»Ganz ehrlich.«

 

 

 

Kapitel 7

- Stellan -

 

 

 

 

»Du hast mich verraten.«

Das sah Stellan zwar vollkommen anders, aber nach diesem Vorfall wegen ihrer Schule letzte Woche, hatte er sich mit Rick über Claudine unterhalten und wusste daher, dass sie wohl am leichtesten zu besänftigen sein würde, wenn er sich einfach bei ihr entschuldigte und ihr schwor, es nie wieder zu tun. Was er zwar für Unsinn hielt, aber Rick hatte fünf Kinder und war für Stellan damit eindeutig der Erfahrenere auf diesem Gebiet.

»Es tut mir leid. Ich tue es nicht wieder.«

Claudine, die mit in den Seiten gestemmten Händen direkt vor seiner Tür stand, blinzelte irritiert, als hätte sie etwas völlig anderes von ihm erwartet. Und dann verdüsterte sich ihr Blick bedenklich. »Willst du mich verarschen?«

»Was?«, fragte Stellan ratlos, worauf Claudine ein Geräusch von sich gab, das Ähnlichkeit mit dem Schnauben eines Stiers hatte. Eines sehr wütenden Stiers.

»Du würdest dich niemals freiwillig entschuldigen, weil du gar nicht wüsstest, wofür. Ich habe die Schule geschwänzt und damit verdient, dass du mich verpfeifst. Was nicht heißt, dass ich dir verzeihe … Also? Wer hat dir das eingeredet?«

Stellan wollte Rick nicht verraten, also deutete er mit dem Versuch eines Lächelns auf die Katzen, weil sie der zweite Tipp seines Alpha gewesen waren, falls seine Entschuldigung nicht funktionieren sollte. »Willst du ihnen Namen geben?«

»Stellan!« Sie stapfte verärgert mit dem Fuß auf und schob sich dann kurzerhand an ihm vorbei in die Wohnhöhle, wo sie sofort von den drei Katzen in Beschlag genommen wurde und sich kichernd zu ihnen hockte. »Rick, oder?«

»Wie bitte?«

»Ach, hör' auf.« Ein tadelnder Blick traf ihn. »Ich wette, er war es. Du gehst immer zu ihm, wenn du mich oder überhaupt uns Gestaltwandler mal wieder nicht verstehst.«

»Das ...«, entsprach der Wahrheit, stellte Stellan überrascht fest, wobei er noch verblüffter darüber war, dass Claudine über ihn und diese Angewohnheit Bescheid wusste. Er runzelte die Stirn. »Woher weißt du das?«

»Ist doch logisch.«

»Logisch?«

»Ja, logisch«, wiederholte sie und hörte auf, die Katzen zu streicheln, um ihn stattdessen ernst anzusehen. »Man geht mit wichtigen Fragen immer zu Leuten, die man liebt oder denen man vertraut. Ich gehe zu Dad, weil er mein Dad ist. Du gehst zu Rick, weil er unser Alpha ist und du ihn magst. Also ist das logisch.«

»Ich mag niemanden.«

»Pfft, du lügst ja.«

»Das tue ich nicht«, entrüstete sich Stellan knurrig und sah Claudine verärgert an, was bei ihr nur leider nie viel Eindruck hinterließ. Er verstand dieses Kind einfach nicht.

»Du magst mich.«

Kurz. Knapp. Auf den Punkt. Stellan war sprachlos, weil er das eigentlich sofort verneinen sollte, wie er es immer tat, das aber weder konnte noch überhaupt wollte. Claudine war so … merkwürdig, frech, laut, irritierend, erfrischend. Sie hatte keine Angst vor ihm. Sie beleidigte ihn. Sie gab ihm Widerworte. Sie lächelte ihn an. Ihn. Das taten Rick und Annie ab und zu zwar auch, aber wenn dieses vorlaute Mädchen es tat, war das etwas anderes. Es war besonders.

Warum eigentlich?

Die Frage brachte ihn vollkommen außer Konzept. Warum war es ein Unterschied, ob ein Kind ihn mochte oder sonst ein Wandler? War das nicht gleichgültig? Nein, war es nicht, denn dem Tiger gefiel die Überlegung gar nicht, Rick ebenso gern zu haben wie Claudine. Sie war auch für sein Tier eindeutig etwas Besonderes, nur fand Stellan keine Antwort auf die Frage, was so seltsam anders an ihr war.

Claudine ließ von den Katzen ab und trat mit einem breiten Grinsen auf ihn zu. »Du musst mir ein Eis kaufen.«

Sie wollte Eis zur Abkühlung? So heiß war es draußen doch gar nicht. Oder meinte sie etwa das bei Kindern jeden Alters beliebte Speiseeis? Stellan wollte schon fragen, als ihm abrupt einfiel, dass er es hier mit einem Kind zu tun hatte. Natürlich meinte Claudine Speiseeis. Dennoch. Wie kam sie auf einmal darauf?

»Warum?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739401591
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Dezember)
Schlagworte
Drama schwul Fantasy Gestaltwandler Nacht-Trilogie Familie Liebe Gay Romanze Liebesroman

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Autorin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meinem Autorenblog.
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Titel: Nachtjäger