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Roadkill

Ein Weg wird dein letzter sein

von Tanja Hanika (Autor:in)
176 Seiten

Zusammenfassung

Blut, Irrsinn und hemmungslose Rache erwarten denjenigen, der seinen Weg verlässt. Mira und Lars fahren nach einem Besuch bei seinen Eltern von der Autobahn ab, um über abgelegene Landstraßen die Gegend zu erkunden. Nach einem verlassenen Bus finden sie bald auch einen verwirrten Busfahrer und ihr kleines Abenteuer wird zu einer Nacht voller Mord und Blut. Drei Jugendliche beenden ihre Geocaching-Schatzsuche im Wald, um stattdessen das sagenumwobene Grab einer Hexe aufzuspüren. Dabei wird ein Killer auf sie aufmerksam, der nach einer Bus-Panne durch die Wälder streift. Sie müssen sich fragen: Wird der Killer oder die tote Hexe sie holen kommen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Roadkill

– Ein Weg wird dein letzter sein

Ein Horrorroman von

Tanja Hanika

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

2. Auflage Mai 2020

Korrektorat: Doris Eichhorn-Zeller, www.perfekte-texte-coburg.de/

Unter Verwendung von:

© Umschlaggestaltung »Roadkill« Cathy Strefford

© Coverdesign »Hexenwerk« Cathy Strefford

© Coverdesign »Der Angstfresser« Christian Eickmanns

© Coverdesign »Scream Run Die« javarman / Fotolia.com

© Coverdesign »Zwietracht« by Rob Allen @n23art

© OpenClipart-Vectors / Pixabay.com

© 2020 Hanika, Tanja

www.tanja-hanika.de

kontakt@tanja-hanika.de

Gartenstr. 12, D-54595 Weinsheim

Alle Rechte in jeglicher Form vorbehalten. Sowohl Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme als auch mechanische, elektronische sowie fotografische Vervielfältigung – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Figuren, Namen und Handlung sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Institutionen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.


Für meine beste Freundin Denise,

die stets ein offenes Ohr, ein Lächeln und

spannenden Gesprächsstoff für mich hat.

Ich bin so froh, dass es dich gibt.


Inhaltsverzeichnis

EINS.

Blutparty

Ein Mann im Wald

Er hatte längst zu Hause sein wollen. Seine leere Wohnung war nicht besonders verlockend, aber besser, als im Wald wegen einer Bus-Panne festzusitzen. Eine Tiefkühlpizza hätte er in den Ofen geschoben und den Fernseher angeschaltet, um sich mit irgendeiner Serie abzulenken. Dabei war es ihm fast egal, welche Sorte Pizza und welche Serie es geworden wäre. Hauptsache, eine Pizza mit viel Käse und eine Serie mit viel Blut.

Der Busfahrer drückte wahllos auf einigen Knöpfen herum. Er nahm das Funkgerät und riss das Kabel ab, das er, wie der Spiegel zeigte, erschüttert anschaute. Das Lautsprechermikrofon samt Kabel warf er neben sich und beachtete es nicht weiter. »Bescheuerter alter Bus«, fluchte er, wobei neben seiner Wut auch deutlich seine Verzweiflung herausklang. Anschließend nahm er sein Handy und hielt es an die Scheibe, um ein Signal zu bekommen.

Es würde eine ganze Weile dauern, bis sie weiterfahren konnten, da war sich der Mann absolut sicher. Handyempfang gab es keinen im Langenbaarer Forst, wie in vielen Waldstücken der Eifel. Wer ländlich lebte, kannte es nicht anders. Er und die anderen Fahrgäste entschieden sich dafür, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, um die Zeit totzuschlagen. Dem Busfahrer gefiel das zwar überhaupt nicht, aber er machte auch keine Anstalten, sie aufzuhalten. Da es sich nicht um eine Reifenpanne, sondern irgendetwas Mechanisches handelte, womit sich keiner auskannte, waren sie ohnehin nicht hilfreich.

»Willst du dich uns anschließen? Mit uns eine Runde laufen?«, fragte ihn ein hagerer und nicht mehr ganz nüchterner Kerl.

Der Mann winkte ab. »Passt schon«, sagte er und stieg aus dem Bus aus, dessen Fahrer hektisch vorne mit seinem Handy hantierte und verschiedene Knöpfe am Bus drückte. Seinen wachsenden Unmut konnte man deutlich erkennen, auch ohne auf die relativ zahmen Flüche zu hören, die der Busfahrer ausstieß. Er hatte das Gefühl, dass ihm die anderen die Luft wegatmeten, und war froh, Abstand zu ihnen gewinnen zu können. So waren ihm seine Mitmenschen generell am liebsten: weit weg von ihm.

Die Waldluft roch nach Holz, Harz und Tannennadeln. Seit die Sonne vom Himmel verschwunden war, wurde es rasch kühler, doch er fand die Frische angenehm. Er entschied sich für einen der Waldwege und dachte, solange er keine Abzweigung gehen würde, müsste er nachher einfach schnurstracks zurücklaufen. Er hatte viele Talente, manche eher zweifelhafter Natur, aber ein guter Orientierungssinn gehörte leider nicht unbedingt dazu. Er hatte vergeblich geübt und hätte ihn gut gebrauchen können, aber am Ende stand er doch da und fand nur mühsam den Weg zurück, den er suchte. Die beiden anderen Männer wandten sich einem anderen Pfad zu, was ihm recht war.

Hier huschte und dort knackte es im Gebüsch und der Mann fand es schade, dass er die Tiere nicht sah, die vor ihm flohen. Die Bewegung tat ihm gut und er nahm sich vor, wieder öfter spazieren zu gehen. Er schlenderte mehrere Minuten in entspannender Einsamkeit den Weg entlang, bis er jemanden fluchen hörte. Geschimpft wurden allerlei derbe Unflätigkeiten, worüber er grinsen musste. Der Busfahrer hätte hier einiges lernen können.

Dann dachte er an das Messer in seiner Tasche, seinen treuen Begleiter. Zwar hatte er nicht das Gefühl, es zum Selbstschutz zu benötigen, aber er wartete schon lange darauf, dass das hübsche Stück wieder zum Einsatz kam. Das Timing musste stimmen. Warum nicht jetzt? Er würde es bereuen, wenn er die Einsamkeit des Waldes verschwendete, die Möglichkeit, die sich so unverhofft aufgetan hatte. Seine Sinne schärften sich, sein Herz schlug kräftig und sein Verstand riet ihm, die Chance nicht verstreichen zu lassen. Seine Finger zuckten. Der Drang, es zu tun, war unbändig. Wieder über das hinauszuwachsen, was er von klein auf tat: Schon als Junge hatte sein Vater ihn mit in den Wald genommen, um Wild zu schießen, aus dem die Mutter die leckersten Eintöpfe kochte. Anfangs hatte er ihm geholfen, das Gewehr festzuhalten. Aber schnell wollte und konnte er es alleine tun. Alleine ein Leben beenden. Er vermochte nicht zu schätzen, wie viele Tiere er inzwischen umgebracht hatte. Es kümmerte ihn nicht. Bei jedem Abschuss hatte er sich gefragt, wie es sich anfühlen würde, wenn er zur Abwechslung nicht ein Wildschwein oder ein Reh erlegte, sondern ein Lebewesen seiner eigenen Spezies.

Dann war der Moment der erfüllten Faszination gekommen. Nicht ganz volljährig war er zum Mörder geworden: mitten in einer milden Regennacht, auf einem hinter der Schule verborgenen Sportplatz, nur mit seinem Messer als Komplizen. Anschließend befriedigte es ihn nicht mehr, ein Tier zu jagen, und doch war es das, womit er den Großteil seiner Zeit vorliebnehmen musste. Er war nicht dumm. Er würde sich nicht erwischen lassen und so passte er stets die richtigen Momente ab.

In ihm wurde es kalt. Jetzt. Er wollte es jetzt tun, um sich wenigstens für eine Weile nicht mehr damit begnügen zu müssen, lediglich davon zu träumen. Vielleicht stellte sich die Bus-Panne nun doch als Glücksfall heraus. Er schritt gemütlich auf den Mann zu, die Hand unter seinem Mantel am Messergriff. »Kann man helfen?«

»Ach, es ist doch alles scheiße. Die verfickte Kettensäge steckt fest. Ich wollte nach Feierabend noch ein bisschen Holz klein machen und jetzt das. Ist mir in den letzten zwanzig Jahren nicht passiert. Das Ding hier ist der letzte Drecksmist. Kauf keine Kettensäge im Sonderangebot, will ich dir geraten haben. So ein Scheiß.«

»Wenn Sie mir zeigen, wo ich anfassen soll, können wir vielleicht zusammen daran ziehen.« Er versuchte bei seinem abwegigen Vorschlag nicht zu lächeln.

Sein Gegenüber beugte sich vor, um ihm hier und da etwas an der Kettensäge zu erklären, aber es interessierte ihn kein Stück. Sein Fokus lag allein auf dem Menschen vor ihm, der nicht ahnte, was ihm geschehen würde, während er selbst sich in Gedanken ausmalte, wo er stechen, wo er schlitzen würde. Wie das Blut spritzen und fließen würde. Wie es riechen und schmecken würde. Sein Magen zog sich sehnsüchtig zusammen.

Da zog er das Messer. Seine Finger schlossen sich genüsslich um den Griff. Mit einem Hieb rammte er es ihm in den Rücken.

Sein ganzer Körper kribbelte mit einem Mal, als würden tausend kleine Höllenflammen ihn von innen nach außen verzehren, während der Mann vor ihm auf die Knie ging und japste.

Mit seinen Händen fuhr der Mann am Boden aufgeregt durch die Luft. Offensichtlich versuchte er den Griff der Klinge zu fassen, aber er erreichte ihn nicht.

Welche Organe er beim anderen genau getroffen hatte, war ihm egal. Der Killer legte einen Finger nach dem anderen um den Griff und zog das Messer langsam aus dem Körper des Fleischsacks. Dieses Gefühl! Und dazu das leise schmatzende Geräusch, als die Klinge den Körper verließ. Es betörte ihn. Nun rammte er es erneut durch die Jacke in das Fleisch seines Opfers. Mal für Mal durchstach er Haut, Nerven und Muskelstränge, nur selten traf er auf Knochen, die einen unschönen Widerstand leisteten. Seine Übung machte sich bezahlt: Immer wieder glitt sein Messer in das weiche Fleisch, wurde beinahe wie von einem Sog erfasst, der vom Körper ausging. Er verfiel einem natürlichen Rausch, wie ihn auch manche Tiere kannten: Die Bäume um ihn herum verschmolzen mit dem Schatten, sein ganzer Fokus legte sich auf den Köper vor ihm. Er roch das Blut und spürte, wie das Messer mit seinem Opfer verschmolz, das zusehends mehr erschlaffte. Er wollte nicht, dass es aufhörte. Nein, er wollte mehr. Brauchte viel mehr. Er musste einen neuen Fleischsack für sich finden, wie er seine Opfer gerne nannte.

Als der Mann vor ihm nicht mehr zuckte und sein eigener Arm müde war, trat er einen Schritt zurück. Schwer atmend betrachtete er sein Werk. Er streckte seinen Rücken durch und genoss mit einem Seufzen die Entlastung, nachdem er so lange vornübergebeugt gewesen war. Leckte sich die Lippen, auf denen seine Zunge ein paar kleine Blutspritzer fand.

Er entdeckte einen Hochsitz nur wenige Meter vor ihm am Wegesrand. Da kam ihm eine Idee, der er nicht widerstehen konnte. Und anschließend wollte er schauen, was aus diesen beiden Männern geworden war, die bei ihm im Bus gesessen hatten. Er hatte noch längst nicht genug davon, Menschen zu töten. Fleischsäcke. Die beiden wären perfekt, um diese Nacht unvergesslich zu machen.

Vielleicht war das Fest noch nicht zu Ende.

Vielleicht hatte seine Blutparty gerade erst begonnen.

ZWEI.

Bitte wenden!

Mira

»Fahrt vorsichtig«, sagte Lars‘ Mutter, ehe sie ihm einen Abschiedskuss auf die Wange gab und auch Mira ein letztes Mal umarmte. Lars‘ Mutter drückte ihren Sohn an sich, als wäre es die letzte Umarmung in ihrem Leben, ganz wie Mütter es taten, die der Meinung waren, ihren Nachwuchs viel zu selten zu Gesicht zu bekommen. Mira musste schmunzeln. Nachdem Lars‘ Mutter ihn endlich freigegeben hatte, blieben seine Eltern in der Haustür stehen, während Lars den Motor startete und das Licht einschaltete, und sahen den beiden nach, wie sie aus der Einfahrt rollten.

Trotz der Aufregung über das erste Kennenlernen seiner Eltern war Mira aufgefallen, wie seltsam die letzten Stunden auch für Lars gewesen waren: nicht, weil er sie ihnen endlich vorstellte, sondern weil das neue Haus seiner Eltern ihm so fremd war. Beim Umzug und den Renovierungsarbeiten hatte er zwar mit angepackt, aber jetzt, eingerichtet, musste er sich fremd und zu Hause zugleich gefühlt haben. Altbekannte Möbel, neues Haus. Mira kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass ihn das verrückt gemacht haben musste.

Nach einem letzten Blick in den Rückspiegel, aus dem Eltern und Haus inzwischen längst verschwunden waren, sagte Lars: »Was für ein Abend. Was sagst du? Wie findest du die beiden?«

»Nett. Wirklich freundlich und einige deiner Angewohnheiten und Eigenarten haben sich durch das Kennenlernen heute eindeutig erklärt.«

»Was zum Beispiel?« Gespielt entgeistert und ein Lachen unterdrückend, schaute er zu ihr.

»Den Tick mit deiner Augenbraue hast du von deinem Vater. Der zieht die auch so hoch, wenn er genau zuhört. Und dein Lachen klingt wie das von deiner Mutter. Keine Sorge, natürlich ist deins viel männlicher.«

Lars pikte sie mit dem Finger in die Seite. »War wohl keine so gute Idee, dich hierher mitzunehmen. All die Aufregung, ob ihr euch mögt oder an die Gurgel geht, und jetzt wirst du frech.«

»Hey, ich hab mich doch fantastisch benommen. Zumindest vor den beiden.«

»Ja, das muss man dir lassen.« Beide fielen in ein leises Lachen ein und Mira bekam ihr Lächeln für die nächsten Kilometer, die das Auto durch die Dunkelheit glitt, nicht mehr aus dem Gesicht. Es war wirklich gut gelaufen und sie war extrem beruhigt, dass Lars so nette Eltern hatte. Die Beziehung mit ihm war ihr überaus wichtig, sodass es für sie schlimm gewesen wäre, wenn sie seine Eltern nicht hätte leiden können.

Während Lars auf die Autobahn auffuhr und das Navi ankündigte, dass sie sechzig Kilometer zu fahren hätten, bevor sie die Autobahn wechseln mussten, entdeckte Mira die Mondsichel am Himmel und genoss es, einfach da zu sein, wo sie war. Miras Augen wurden trocken und ihre Lider schwer. Sie lehnte sich im Sitz zurück und sagte: »Ich mach mal für ein paar Minuten die Augen zu. Ich bin gleich wieder da.«

»Bis gleich, Schatz«, erwiderte Lars und schaltete leise die Radiomusik an, was ihr stets half, sich zu entspannen.

»In drei Kilometern rechts abbiegen. Danach links halten«, empfahl das Navi nach nur gefühlten fünf Minuten, in denen Mira vor sich hingedöst hatte. Als sie auf die Uhr schaute, verriet diese ihr jedoch, dass sie ungefähr eine halbe Stunde tief geschlafen haben musste.

»Da bist du ja wieder«, sagte Lars und spielte damit auf eine ihrer Insider-Storys an: Eines Nachts hatte Mira Geräusche in der Wohnung über ihnen gehört, und das, obwohl die betreffenden Nachbarn im Urlaub waren. Mira hatte versucht Lars zu wecken, wobei die beiden sich nicht einig waren, welchen Grad ihre Panik dabei hatte. Mira versicherte jedem, der die Geschichte zu hören bekam, dass sie nur leicht nervös gewesen wäre, wobei Lars stets breit grinsend »Hysterisch!« flüsterte. Da die Geräusche längst verstummt waren, bis sie Lars wachgerüttelt hatte, meinte Mira hinterher, dass er sie allein gelassen hatte, als wäre er weg gewesen. Heute konnte sie darüber lachen, aber damals war ihr deutlich anders zumute gewesen. Der Scherz, dass der andere abwesend wäre, sobald er oder sie schlief, hielt sich bei den beiden hartnäckig.

»Ja, zurück an Bord, Captain.« Sie setzte sich gerade hin und schaute sich um. »Warum sind wir nicht mehr auf der Autobahn? Es waren doch sechzig Kilometer und dann hätten es noch mal achtzig sein müssen, bevor wir abfahren. So lange habe ich aber nicht geschlafen.«

»Nein, ich dachte, wir fahren anders und lernen die Gegend kennen. Du hast wieder mit deinen kleinen Schnarchern angefangen, da war es nur eine Frage der Zeit, bis du aufwachst.«

»Oh nein, Mister, ich schnarche nicht. Niemals!« Mira fuhr sich durch die Haare. »Eine Erkundungstour gerade nachts, wo wir kaum was sehen?«

»Auf der Autobahn erlebt man keine Abenteuer, auf der Landstraße aber vielleicht schon.«

Mira grinste. »Deine Eltern waren mir heute genug Abenteuer. Willst du nicht schnell heim?«

»Nein, ich fühle mich fit, richtig aufgedreht. So spät ist es ja auch noch nicht. Wir können in zehn oder zwanzig Kilometern zurück auf die Autobahn wechseln.«

Mira war einverstanden. Sie wusste, wie neugierig Lars war und dass er gerne abseits von Wald- und Wanderwegen spazierte und auf Entdeckungstouren ging. Sie vermutete, dass er die Region, in der seine Eltern nun lebten, näher kennenlernen wollte, damit er sich dort nicht mehr fremd vorkam oder wie ein Gast fühlte. Obwohl es sie selbst nicht danach drängte, wollte sie ihm nicht den Spaß verderben, ein paar kurvigen Landstraßen durch kleine Eifeldörfer zu folgen. Hier herrschte kein Verkehr, was sie als Stadtkind selten erlebt hatte. Die Straßen waren leer, in den Ortschaften regte sich nichts, obwohl es erst kurz nach einundzwanzig Uhr war. Es war, als hätte die Dunkelheit alles Leben nach drinnen gedrängt, wenn nicht sogar ausgelöscht. Ein wenig fröstelte Mira bei dem Gedanken und schaltete die Sitzheizung ein. Obwohl der Herbst sich bisher mild gezeigt und längst nicht alle Blätter gefärbt oder von den Bäumen geblasen hatte, kühlte es nachts bereits ziemlich ab. Sie mukkelte sich in ihrem Sitz ein.

»Guck mal, wie sternenklar die Nacht ist. Vielleicht finden wir ja einen Parkplatz«, schlug Lars vor.

»Du Romantiker.«

»Nein, im Ernst, daheim in der Stadt gibt es das nicht mehr. Wenn du mal richtig viele Sterne sehen willst, dann hier und heute Nacht.«

Mira lehnte den Kopf an die Scheibe und betrachtete den Himmel genauer. Verblüfft stellte sie fest, dass Lars recht hatte. Sie wusste nicht, ob sie jemals so viele Sterne gesehen hatte – und das aus dem Auto heraus und während der Fahrt. »Wow, das sieht wunderschön aus. Gute Idee, halt an und dann machen wir uns über den Käsekuchen her, den deine Mutter uns eingepackt hat. Ein Sternenpicknick.«

»Klingt nach einem perfekten Plan.« Lars tippte auf dem Navi herum, was bei Mira während der Fahrt stets für eine leichte Unruhe sorgte. Sie verkniff es sich, ihn zu bevormunden, und schwieg dazu. »Ich habe einen Parkplatz gefunden, der mit einem Fernglas-Zeichen markiert ist. Das steht für schöne Aussicht, wenn ich mich richtig erinnere. Wahrscheinlich gute Voraussetzungen zum Sterneschauen, oder?«, sagte er schließlich. »Dann wirst du endlich unter einem ordentlichen Sternenhimmel stehen. Und wenn nötig können wir das noch mit einer Pinkelpause verbinden.«

»Deine Eltern haben sich für ihren Alterswohnsitz eine richtig schöne Gegend ausgesucht. Mir gefällt es hier.«

»Wirst du etwa doch noch zum Landei?«

»Ich muss mich doch an dich anpassen. Vielleicht ziehen wir ja auch eines Tages aus der Stadt raus. Wenn dich deine Landei-Wurzeln rufen.«

Lars lachte. »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Du liebst den Trubel der Großstadt.«

»Vielleicht überzeugen mich ja die Sterne.«

Die Landstraße wand sich um Hügelkuppen und schwang sich durch Täler, die sie in angenehmem Schweigen durchfuhren. Mira konnte es kaum erwarten, hierher zurückzukehren und bei Tag eine kleine Wanderung zu unternehmen. Sie hatte ganz spontanen, aber umso heftigeren Gefallen an der Landschaft der Eifel gefunden, die sie hier und da an das malerische Schottland erinnerte, in dem sie den schönsten Urlaub ihres Lebens verbracht hatte, und nach dem sich ihr Herz nach wie vor sehnte. Schroffe Felsen, grüne Wälder und behagliche Einsamkeit. Eine kleine Pause vom Stadtkind-Dasein, die sie in den Ferien gerne in Anspruch nahm.

»Ist dir mal aufgefallen, wie viele Kreuze hier am Straßenrand stehen?«, fragte Lars irgendwann.

Mira nickte, zunächst noch in Gedanken versunken. Es beschäftigte sie, wie und wann sie wieder nach Schottland würde reisen können, dann bemerkte sie aber, dass er ihre Antwort nicht mitbekommen haben konnte. »Ja«, sagte sie und drehte sich nach dem um, an dem sie gerade vorübergegangen waren. »Woran liegt das wohl?«

»Enge Straßen bei teils heftiger Witterung. Aquaplaning, Eis und Schnee. Und vielleicht erlauben sie hier solche Erinnerungs- und Mahnmale eher als in der Stadt.«

»Irgendwie unheimlich zu wissen, dass man an einer Stelle vorüberfährt, an der ein Mensch gestorben ist.«

»Und es wären sehr viel mehr solcher Gedenksteine, wenn überall einer stünde, an dem jemals jemand abgekratzt ist. Überleg mal, wie viele Menschen es schon vor uns gab.« Lars trommelte mir den Fingern auf das Lenkrad. »Irgendwo müssen die ja gestorben sein.«

»Bitte wenden«, vermeldete das Navi und verlor dann ganz den Empfang. Mira konnte am Nachthimmel einige dicke Wolken entdecken, die schnell vom Westen her aufzogen.

»Du hast doch gar keine Ausfahrt verpasst«, sagte Mira überrascht und kaum hatte sie fertig gesprochen, bekam das Navi wieder ein Signal und zeigte ihnen die Route an.

Lars tätschelte ihren Oberschenkel. »Keine Sorge, du bist in guten Händen. Hier mitten im Nirgendwo unter dicken Wolken geht eben mal die Verbindung zum Satelliten flöten. Ich finde auch so zum Sternenparkplatz.«

»Sagte er und ward nie mehr gesehen.« Mira beugte sich zu Lars und küsste seinen Oberarm. »Wenn es noch bedeckter wird, können wir das Sternengucken vergessen. Und das GPS-Signal kommt dann auch nicht durch. Das alte Ding müssten wir wirklich mal ersetzen. Neue Geräte sollen ja fast immer ein Signal empfangen.«

»Die Wolken sind bestimmt so schnell wieder weg, wie sie aufgezogen sind. Ich bring dich zu den Sternen.«

Die Landstraße wurde schmaler und wand sich in Serpentinen hügelaufwärts. Mira sah, dass Lars das Lenkrad fester griff und seine Augenbrauen konzentriert zusammenzog. Wo bringst du uns nur hin?, fragte sie sich, wollte ihn aber nicht ablenken, indem sie es laut aussprach.

Sie fuhren über die Hügelkuppe, aber der Parkplatz war noch sieben Kilometer entfernt. Die Bäume standen immer dichter. Auf der schmalen Straße durch den verlassenen Wald zu fahren verursachte ihr einen Schauer: Es kam eine unheimliche Stimmung in ihr auf, die vor einem Kilometer noch nicht greifbar gewesen war, aber Mira genoss das kleine Abenteuer. Ihnen war lange kein Auto entgegengekommen und es kam ihr beinahe vor, als wären sie die letzten Menschen in einer postapokalyptischen Welt. Zur Krönung des Ganzen wurde der Bildschirm des Navis schwarz. In dessen Mitte prangte der Schriftzug »Signal Lost«.

»Sieht übler aus als eben«, stellte Mira fest.

»Wird schon wieder. Immerhin ist die Straße jetzt nicht mehr so kurvig. Gleich bekommt Madame ihr Käsekuchen-Sternenpicknick serviert.«

In Miras Magen war es flau geworden und sie konnte sich nicht vorstellen, etwas vom Kuchen zu essen, den Lars‘ Mutter ihnen eingepackt hatte. Sei keine Spielverderberin, mahnte sie sich selbst. Dass sie keinen Kuchen gewollt hätte, war noch nie vorgekommen und so würde sie auch dieses Picknick zu genießen wissen.

Lars drosselte die Geschwindigkeit, obwohl die Straße fast geradeaus führte und keine Kurve beschrieb. Mira brauchte einen Moment, um den Grund auszumachen. Rechts vor ihnen befand sich eine Parkbucht, in der ein Bus angehalten hatte. Obwohl die Rücklichter ihnen rot entgegenleuchteten und sogar die Innenbeleuchtung eingeschaltet war, konnte Mira weder einen Busfahrer noch irgendwelche Passagiere erkennen.

»Wo sind alle hin? Wo ist der Busfahrer?«, fragte Mira. »Sieht ganz einsam und verlassen aus.«

Lars starrte in die Dunkelheit und rollte an der Parkbucht vorbei. »Ich kann auch niemanden entdecken.«

»Das ist echt seltsam.« Mira spielte am Gurt herum, ihre Finger wollten etwas zu tun haben. »Der macht doch bestimmt nicht Pause hier, oder?«

»Vielleicht hatte er eine Panne und holt Hilfe.«

»Zu Fuß? Dann hätte er doch die Lichter ausgemacht. Damit die Batterie nicht leer wird.«

»Vielleicht hat er Angst, den Bus nicht wiederzufinden.«

Mira lachte einmal spitz auf. »Genau.« Ihr Gesicht verdüsterte schneller, als sich eine Gewitterwolke vor den Mond schieben konnte. »Was ist da nur los? Nicht, dass er über dem Lenkrad zusammengebrochen ist oder so. Sollten wir umkehren und noch mal nachsehen?«

Lars musterte sie. »Willst du das?« Noch hatte er nicht Gas gegeben, sondern rollte nur langsam über den Asphalt.

Mira stieß die Luft zwischen ihren Lippen aus, ehe sie sagte: »Andererseits sieht das schon sehr wie eine Falle aus. Das schreit: ›Kommt, Leute, steigt aus, schaut nach, und dann haben wir euch im Todesbus. Nächster Halt: Schlachthaus!‹«

»Wer ist ›wir‹ in deinem Szenario?«, fragte Lars schmunzelnd, wobei der vorsichtige Zug um seine Augen Mira ein nervöses Kribbeln durch den Körper schickte.

»Rocker, Hinterwäldler oder kannibalische Milchbauern? Entflohene Häftlinge oder gelangweilte Drogendealer? Such es dir aus, die Möglichkeiten sind vielfältig.«

»Aber unwahrscheinlich. Um einiges unwahrscheinlicher als ein Zusammenbruch oder ein Herzanfall oder ein Hirnschlag, schätze ich.«

Mira zog den Gurt vor, als würde er ihr die Luft zum Atmen nehmen. »Du willst nicht umkehren?«

»Nein, ich denke, die Leute hier kommen auch ohne unsere Hilfe klar. War eh nicht geplant, dass wir hier vorbeifahren. Im Bus war niemand. Wir hätten es gesehen, falls jemand über dem Lenkrad gehangen wäre. Weißt du, ich liebe deine Moral. Aber manchmal musst du die besser abstellen.«

Mira seufzte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Gleichzeitig warnte es sie dringend davor, sich einzumischen oder aus dem Auto auszusteigen. Sie fragte sich, ob man die eigene Moral zu einem Schalter machen sollte, um sie nach Bedarf an- und auszuknipsen.

»Letzte Möglichkeit, falls du dich umentscheiden möchtest«, sagte Lars im Tonfall eines Spielshow-Moderators. »Umkehren oder weiterfahren – entscheiden Sie sich jetzt!«

DREI.

Schatzsuche 2.0

Elias

Elias zog die Haustür hinter sich zu und atmete langsam aus. Eltern! Wo gehst du hin? Wann bist du wieder daheim? Zwar hatte er durchsetzen können, dass er ging, wohin er wollte, und dort blieb, so lange er eben bleiben wollte, aber die ständigen Fragen gingen ihm doch auf die Nerven. Nur dieses Schuljahr noch und dann würde er studieren. Irgendwo weit weg von zu Hause, das stand fest. Immerhin das.

Er stieg zu Jule und Flo ins Auto. Beide drehten sich um. Jule hupte wie immer einmal kurz, bevor sie losfuhr, als wäre sie die Kapitänin und das Geräusch das Zeichen, dass sie nun die Segel setzten. »Wohin geht’s heute Abend?«, fragte Elias.

»Florian hat die Koordinaten und den Schatz ausgesucht«, sagte Jule, als wäre ihr Vorhaben bereits zu diesem Zeitpunkt zum Scheitern verurteilt. »Und weißt du, wohin der gute alte Flo uns schickt, ohne dass er es selbst gecheckt hätte? Ich hab die Koordinaten geprüft und es ihm zeigen müssen.«

Flo boxte Jule sachte gegen die Schulter. »Komm schon, mach kein Drama, das ist nur ein beknackter Wald.«

»Wohin denn?«, wollte Elias wissen. Ihr gemeinsames Hobby hatten sie zuletzt auf die Nacht verlagert. Einer brachte Musik mit, einer sorgte für Alkohol und der Dritte plante den zu suchenden Cache. Jule hatte als Einzige mit Führerschein bisher die Fahrten übernommen, aber bald wären auch Flo und Elias mobil, ohne Eltern als Beifahrer.

»Die Dose ist im Langenbaarer Forst versteckt.«

Elias lächelte. »Langenbaarer Forst? Das ist doch der Hexenwald.«

»Nein«, widersprach Flo vehement und drehte sich zu Elias um. »Das ist kein Hexenwald. Es heißt nur, dass eine auf dem ehemaligen Hinrichtungsplatz spuken würde. Der Wald ist einfach ein Wald, verdammt noch mal.«

»Es heißt, dass dort der Geist einer Hexe spuken würde. Wegen der Leichen, die dort gefunden wurden. Jeder kennt das Gerede«, gab Jule zu bedenken und setzte den Blinker. »Grausam entstellte Leichen übrigens. Als wären Rituale an ihnen veranstaltet worden und als wären sie dabei angefressen worden. Es gab viele Leichen und immer wieder welche. Ein Wunder, dass das kein Sperrgebiet ist. Oder eine Touristenattraktion für Geisteskranke. Wie dich.«

»Überall werden Leichen gefunden. Garantiert ist in jedem Wald schon mal jemand draufgegangen.« Flo klang, als hätte er Jule dieselbe Antwort schon öfter gegeben an diesem Abend. »Du glaubst doch gar nicht an solche Gruselgeschichten. Oder du etwa, Elias?«

Zwar wäre Elias lieber woanders hingefahren, aber Flo hatte die Koordinaten ausgesucht und dabei würden sie bleiben. Selbst wenn die Challenge vor dem Loggen langweilig wäre oder der gelaufene Track besonders anspruchsvoll oder zu öde wäre, würde keiner sich beklagen. Das war die Abmachung. »Nope. Hexen? Bin ich zwölf? Lasst uns das Ding durchziehen, dann sind wir vielleicht noch früh genug zurück, um ein Abschluss-Bier zu trinken und ‘ne Runde zu zocken und. Dieses Mal nehm ich den Porsche und häng euch beide ab!«

Jule sagte: »Jetzt im Ernst, ihr beide könnt doch nicht die Hexe ignorieren. Es ist scheißdunkel in dem Forst, da schlottern euch die Eier, sobald wir dort sind. Und ich muss euch dann heim zu euren Mamis fahren. Den Weg könnten wir uns sparen, ich sag’s ja nur.«

Elias schaute schmunzelnd nach vorne und beobachtete über den Rückspiegel, wie Jule eine Grimasse schnitt. Er zog den Reißverschluss seiner Regenjacke ein Stück höher und freute sich darauf, im Gelände unterwegs zu sein. Seine Gedanken kreisten um die Hexe, die irgendwo dort begraben sein sollte, wo sie nun herumspazieren wollten. Dorethe Wagner war ihr Name, den jedes Kind im Umkreis von vielen Kilometern kannte und am Lagerfeuer seinen Freunden zuflüsterte. Elias glaubte weder an Spuk noch an Hexen, aber irgendwie unheimlich war es ihm schon. Erst als er seine verkrampfte Hand vom Gurt löste, an dem er sich festgehalten hatte, wurde ihm klar, dass es ihn nicht so kaltließ, wie er gerne geglaubt hätte.

Die Geschichten, die über das angebliche Satansweib kursierten, hatten ihn wohl mehr beeindruckt, als Elias sich hatte eingestehen wollen. Es hieß, dass die Hexe alles und jeden verschlang, der ihrem Grab zu nahe kam. Menschenfleisch sei es, aus dem sie die Energie für ihr schier ewiges Fortbestehen zog. Je jünger, desto besser. Düster lächelnd hatte Elias‘ Großvater ihm vor Jahren von den menschenfressenden Frauen erzählt, die angeblich unerkannt unter den Menschen lebten und ihr böses Hexenwerk taten. Dorethe Wagner schrieb er besondere Kräfte und Zauber zu, die sie mit all jenen Satansweibern teilte, die ihr Kinderfleisch brachten. Tiergestalten könne sie annehmen, verriet sein Opa und fügte stets hinzu, dass sie Menschlein gerade in diesem Alter bevorzugte, in dem Elias zufällig steckte. Unzählige Albträume hatten die Geschichten seines Opas ihn gekostet, bis seine Mutter ein Hexengeschichtenverbot ausgesprochen hatte, da sie sich selbst keine schlaflosen Nächte mehr aufbürden wollte.

Die drei fuhren durch die Nacht, lachten und redeten oft gleichzeitig, so wie immer, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Sie erzählten sich von lustigen oder verrückten Videos, die sie im Internet gefunden hatten, kommentierten, wie heiß welche Mädchen an der Schule waren, wobei Jule ihnen nach einer Zeit gerne vorwarf, wie oberflächlich ihre beiden besten Freunde waren. Sie gaben mit ihren Erfolgen in den aktuellen Spielen an, die sie auf der Konsole oder am PC zockten, oder erzählten sich von Filmen, die sie gesehen hatten. Nur wenige Kilometer trennten sie vom Ziel und ihre Scherze verebbten erst, als Jule von der Landstraße in einen Waldweg einbog.

Die plötzliche Stille im Auto ließ Elias schwer schlucken. Es war, als presste sich die Dunkelheit an die Scheiben des Autos, um einen gierigen Blick auf die Freunde werfen zu können. Er hatte jetzt schon das Gefühl, dass ihm die Eier schlotterten, wie es Jule so schön ausgedrückt hatte. Nur wollte er sich nicht wie ein Feigling aufführen und biss die Zähne zusammen. Sei kein Schisser, warnte er sich selbst.

Das Auto holperte über den schmalen Waldweg, bis Flo sie bat, anzuhalten. Jule zog die Handbremse fester als auf dem halbwegs ebenen Untergrund nötig und ließ die Frontscheinwerfer an, nachdem sie den Motor zum Schweigen gebracht hatte. »Echt jetzt? Hier?«, fragte sie.

Elias sagte: »Wir waren schon oft abends im Wald unterwegs. Im Dunkeln. Das heute wird auch nicht anders. Schaut mal, ist sogar ganz leicht nebelig, das sorgt für die passende Atmosphäre.«

Flo nickte, woraufhin Jule das Licht ausschaltete und als Erste ausstieg. Aus dem Kofferraum nahmen sie Taschenlampen und Elias schulterte wie die anderen seinen Rucksack.

Wortlos reichte Jule Flo das GPS-Empfangsgerät und die drei stapften los, Elias hintenan. Er fühlte sich unbehaglich, gar verletzlich am hinteren Ende der Reihe, obwohl er bei den meisten Ausflügen hinter den beiden her stapfte. Allerdings war er sich nie zuvor so ausgeliefert vorgekommen. Beobachtet. Alles Einbildung, sagte er sich. Gleichzeitig genoss er aber auch den kleinen zusätzlichen Nervenkitzel, den die Geschichten um die Hexe aus dem Langenbaarer Forst verursachte. Das Kribbeln im Bauch konnte sich durchaus angenehm anfühlen, wenn er sich nicht zu sehr in seine Vorstellungen hineinsteigerte, wie die Hexe mit teils abgeblätterter Haut und von Maden befallenen blutigen Stellen ihn von hinten packen und zerfleischen würde. Er liebte Horrorfilme, aber selbst hier zu sein war eine ganz andere Nummer. Angst und Nervenkitzel rangen miteinander. Umso mehr freute er sich auf die Schatzsuche-Ausflüge im Sommer, wenn der Boden nicht mehr so matschig war und ihnen kein kalter Wind um die Ohren pfiff. Wenn Elias nicht Angst vor etwas in der Dunkelheit hatte, was gar nicht da war. Hoffentlich.

Nach einer Weile überquerten sie eine Landstraße. Flo murmelte: »Überall Zivilisation.« Sein großer Traum war es, nach der Schule seinen Rucksack zu packen und für ein Jahr die Welt zu erkunden. Elias schätzte, Flo würde es nicht die Metropolen ziehen, sondern er würde irgendwelche ländlichen Regionen aufsuchen, in denen sich die meisten anderen Touristen verloren fühlen würden.

Jule flüsterte: »Besser das als eine Hexe auf deinen Fersen mitten im Nirgendwo.«

»Hier in der Nähe müsste das Grab doch sein, oder?«, fragte Elias.

Jule leuchtete mit der Taschenlampe rechts und links den Weg ab, als würde sie gleich darauf stoßen. »Bisschen weiter im Wald drin, glaube ich. Aber dort vorne ist doch die Tankstelle, oder?«

Flo sagte: »Die ist doch schon ewig geschlossen. Da lassen sich keine Snacks mehr auftreiben.«

»Nicht wegen der Snacks, Trottel. Lasst uns trotzdem mal dran vorbeilaufen, auch wenn es ein kleiner Umweg ist! Ich würde gerne ein paar Fotos für mein Instagram machen.«

Elias drängelte sich an den beiden anderen vorbei und führte sie den schmalen Pfad entlang, der keine zwei Meter neben der Landstraße verlief. Ein Knacken im Unterholz ließ ihn an den Rand des Pfades treten. Er starrte in die Dunkelheit und wartete darauf, dass ein Reh oder ein Fuchs den Lichtstrahl seiner Taschenlampe passierten. Irgendetwas, was das Geräusch erklären würde. Es zeigte sich aber kein Tier. Da seine Freunde ihn zurücküberholt hatten und er erneut das Schlusslicht bildete, tat er ein paar hastige Schritte, um sie einzuholen. Abhängen lassen wollte er sich nicht. Nicht heute Nacht und nicht ausgerechnet in diesem Waldstück.

Der Weg führte um eine enge Kurve, als Flo mit einem Mal stehen blieb, sodass Jule gegen seinen Rücken prallte. »Krass, guck mal«, sagte Flo und deutete auf den Boden vor ihnen. Ein Tierkadaver lag mitten auf dem Pfad. Sein Fell war stumpf und der Körper wirkte bereits ein wenig in sich eingefallen.

»Totes Reh«, sagte Elias und konnte nicht aufhören, die zerfetzte Kehle des Tieres anzustarren.

»Ein Jäger war das wohl kaum«, mutmaßte Jule.

»Eher nicht.« Elias ging in die Hocke und betrachtete wie auch seine Freunde die Wunde näher. Noch vor fünf Jahren hätten sie Stöcke gesucht, um darin herumzustochern, aber aus dem Alter waren sie heraus. Sie hatten genug Kadaver in unterschiedlichen Verwesungsstadien angestochert, um das ein für alle Mal hinter sich zu haben. »Aber jetzt im Ernst: Fällt euch ein Tier ein, das hier heimisch ist und so etwas machen könnte?«

Flo sagte: »Ein Fuchs reißt doch kein Reh in der Größe, egal, wie hungrig er ist. Sieht nicht aus, als wäre es krank oder schwach gewesen vor seinem Tod. Ich wette also gegen Fuchs, hab aber echt keinen Schimmer, was das verursacht haben könnte.«

Elias sagte: »Er hat es vielleicht nicht selbst gerissen. Aber fressen Füchse nicht Aas? Er könnte daran geknabbert haben, wenn es schon tot dalag.«

»Vielleicht war es ja ein Wolf?«, riet Jule. »Die verbreiten sich doch gerade überall in Deutschland. Könnte doch auch hier der Fall sein. Oder – ich hab es: eine Killerfledermaus. Das wäre genial. Eine neue Art von Vampirfledermäusen entwickelt sich hier bei uns und in hundert Jahren wird man wehmütig an die Zeit denken, als es diese Viecher noch nicht gab.«

»Hast du schon was gesoffen, bevor du uns abgeholt hast?«, fragte Flo.

Elias schüttelte den Kopf. »Wenn es Wölfe in der Gegend gäbe, hätten wir davon schon gehört. Und warum sollte der dem Reh den Hals so lecker aufknabbern, es dann aber nicht weiter auffressen? Satt wurde der so nicht.«

»Blutdurst«, flüsterte Flo.

Jule grinste bescheuert und Elias wusste, dass sie Schwachsinn von sich geben würde, noch bevor sie anfing zu reden. »Vielleicht war es ja die Hexe. Schlägt einmal in jeder Vollmondnacht ihre Zähne in ein Lebewesen, damit sie sich beim nächsten Vollmond erneut erheben kann.«

Flo schubste Jule in Richtung des Kadavers. »Leck mal dran, vielleicht beißt du dann auch in jeder Vollmondnacht eine Kehle durch.«

Jule stieg als Erste über das tote Reh und steckte ihm anschließend die Zunge heraus.

»Ich werde nachher mal googeln, welches Tier das gewesen sein könnte«, sagte Elias, folgte aber seinen Freunden den Weg entlang und achtete sehr darauf, weder mit Schuhen noch mit der Hose das Fell des Rehs zu berühren.

Nach einigen Metern und einer weiteren Kurve stießen sie auf das verlassene Tankstellengebäude. Der Werbeschriftzug der Marke war längst verblasst, die Scheiben mit zerfledderter Zeitung verklebt und die Fassade war schmutzig.

»Da steht ein Taxi«, sagte Flo kurz nachdem es Elias selbst entdeckt hatte, und zeigte mit dem Finger darauf.

Sie spazierten weiter darauf zu. Elias sagte: »Ob dort jemand drinnen ist? Seht ihr irgendjemanden?«

»Zum Bezahlen in der Tanke wird der Fahrer nicht hier angehalten haben.« Jule rannte um die beiden herum. Sie sprach schnell und die Worte purzelten geradezu über ihre Lippen: »Aber im Gestrüpp, irgendwo um uns herum, überall und nirgends, da könnte er sein. Und er hat ein Messer und einen Trichter dabei, damit er seinen Tank mit unserem Blut füllen kann.« Mit der Hand machte sie eine Geste, als stäche sie mit einem Messer neben ihren Köpfen in die Luft.

»Nein, da ist niemand«, sagte Flo betont lässig und ignorierte Jule ebenso, wie es Elias tat.

Als sie das Taxi erreichten, blieben seine Freunde dahinter stehen und schauten sich um, während Elias nach vorne lief. Er legte seine Hand auf die Motorhaube. »Noch warm«, verkündete er. »Das Taxi steht noch nicht lange da.«

»Fahrer und Fahrgast sind also nicht weit weg«, sagte Flo. »Oder Fahrgäste.«

»Oder nur der Fahrer allein«, ergänzte Elias.

Jule mutmaßte mit gerunzelter Stirn: »Ob sich jemand ein Taxi gerufen hat, um eine Leiche im Wald zu entsorgen? Und der Taxifahrer kriegt Extra-Cash, wenn er beim Verbuddeln hilft?«

Flo fragte an Elias gewandt: »Warum sind wir noch mal mit der Spinnerin befreundet?«

»Weil sie ein Auto hat«, sagte Elias, als wären sie nicht schon seit der fünften Klasse beste Freunde. »Wahrscheinlich hatten die einfach eine Panne oder der Kunde wollte schnell telefonieren und der Fahrer ist eine rauchen gegangen. Ganz easy.«

»Was ist da für ein seltsamer Hut auf der Hutablage?«, fragte Jule.

Flo zuckte mit den Schultern, sagte aber: »Ein Regenhut? Sieht aus, als läge da irgendwas drunter. Dann lasst uns die Tankstelle genauer abchecken.« Er kam zu Elias, legte seine Hand auf die Motorhaube und marschierte als Erster auf die Tankstelle zu.

»Das ist eine Falle, Leute«, gab Jule in bedrohlichem Singsang von sich. »Sagt später nicht, ich hätte euch nicht gewarnt! Wohin sollen die Taxileute sonst gegangen sein als in die Tankstelle rein?«

Flo fragte Elias ganz beiläufig und halbseitig grinsend: »Zockst du eigentlich noch dieses dämliche Karatehamster-Spiel auf dem Handy?«

»Das heißt Karatetiger und ist genial. Nur weil deine Wurstfinger zu ungeschickt sind, um meinen Highscore zu knacken, ist das Spiel nicht schlecht.«

»Hört auf zu streiten, Mädels. Schaut mal da, habt ihr das gesehen?« Jule beobachtete angestrengt die Tankstelle.

Beide schüttelten den Kopf.

Jule schnaubte. »Ihr wärt beschissene Ermittler. In der Tankstelle ist kurz Licht hinter der Scheibe aufgeflackert. Das Zeitungspapier wurde kurz von hinten angeleuchtet.«

»Mit einer Taschenlampe?«

»Nein, da war kein Lichtkreis. Eher, als hätte jemand kurz ein Handy angemacht.«

Elias verzog das Gesicht. Er bezweifelte, dass Jule gesehen hatte, was sie ihnen glaubhaft machen wollte. »Meinst du, die Taxitypen machen drinnen ein romantisches Dinner bei Handyschein?«

»Ich meine gar nichts und teile euch beiden Deppen lediglich mit, was ich beobachtet habe, während ihr wieder mal herumzickt.«

Sie erreichten die Tankstelle und blieben vor dem seit Jahren unbenutzten Gebäude stehen. Verfallen war die Tankstelle längst nicht, aber manche Scheiben waren eingeschlagen und mit Brettern zugenagelt. Die Zapfsäulen waren mit verschiedenen Schriftzügen besprüht worden, ebenso die Wände des Gebäudes ringsherum.

»Sieht echt cool aus«, sagte Jule und lief auf die Graffiti zu, über die sie den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe schwenkte. Sie drückte kurz auf ihrem Smartphone herum und machte anschließend ein paar Bilder, für die sie sich verbog und letztendlich auch in die Hocke ging.

Neuer Content für ihren Instagram-Account, dachte Elias und überlegte, ob er auch ein Foto machen sollte. Jules Begeisterung steigerte sich. »Viele Schimpfwörter, wie nett. Aber hier, die Hieroglyphen! Richtig in 3D irgendwie. Und was soll das da heißen: ›Kink … erlitzchen‹? Meinen die irgendwas mit kinky? Aber nice gemacht, der Farbverlauf.«

Flo klopfte Jule auf die Schulter. »Du bist eloquent wie sonst was. Kinkerlitzchen steht da.«

»What ever«, murmelte Jule und fotografierte weiter.

Elias sagte: »Wenn da schon Leute drin sind, sollten wir vielleicht abhauen. Nicht dass die denken, wir hätten ihren Drogendeal oder so beobachtet. Sonst haben wir die am Hals.«

Jule versuchte einen Blick in die Tankstelle zu erhaschen. Sie legte die Stirn ans Glas und Elias schauderte wegen der Kühle, die direkt auf ihre Haut übergehen musste. Obwohl sie eine Ecke gefunden hatte, die nicht von Zeitungspapier bedeckt war, bekundete sie, dass sie nichts außer Dunkelheit und Schatten und ein paar schemenhafte Umrisse von dem, was ein Kassenbereich und in paar leere Regale sein mochten, erkannte. Elias hätte sie am liebsten zurückgezogen und konnte es nicht fassen, dass Jule gar keine Angst davor hatte, entdeckt zu werden, wenn sie doch Licht gesehen hatte.

»Die Dose, die wir suchen, ist da nicht drinnen. Lasst uns lieber weitergehen, damit wir unseren Geocaching-Trip abschließen können.«

Jule nickte langsam zu Flos Worten. »Ich bin auch nicht so scharf drauf, da jetzt reinzugehen. Staub und Langeweile gibt’s genug bei dir zu Hause, Elias.«

»Quatschkopf«, kommentierte er das und folgte den beiden, die zwischen den Zapfsäulen und dem Tankstellengebäude weiterliefen, um sich zurück auf den Weg zur Dose zu machen. Elias drehte sich noch mal zur Tankstelle um. Niemand kam herausgeschlichen, um ihnen zu folgen.

Flo fragte: »Wer ist denn der dort drüben?«

Der Mann stand ein Stück die Straße hinunter am Fahrbahnrand und fuchtelte mit seinem Handy in der Luft herum.

»Sie werden hier keinen Empfang bekommen. Totes Gebiet«, sagte Flo laut. »Können wir Ihnen helfen?«

Erschrocken drehte sich der Mann zu ihnen um, den Elias auf Anfang fünfzig schätzte. Ein kleiner Bierbauch hing über den Bund seiner ausgebeulten Jeans und seine graue Kurzhaarfrisur war leicht verstrubbelt. »Nein, ja. Danke. Ach, ist das ein blöder Mist-Tag. Mein beschissener Bus hat irgendeine Panne, es geht nichts mehr. Und die paar Fahrgäste, die ich dabeihatte, wollten sich die Beine vertreten und keiner ist mehr zu finden. Empfang hab ich auch keinen, es ist zum Durchdrehen.«

»Wahrscheinlich werden Sie hier auch keinen kriegen«, sagte Jule. »Ihr Handy können Sie wegstecken, außer Sie benutzen es als Taschenlampe.«

Kurz meinte Elias, der Busfahrer würde das Handy ins Gebüsch werfen vor Wut. »Kacke. So ein verdammter Kackmist. Dabei will ich einfach heim zu meinem Hackbraten. Ich meine natürlich zu meiner Ehefrau, die hat ihren Hackbraten gemacht. In der Tankstelle gibt es nicht zufällig noch ein Münztelefon oder so?«

»Eher nicht«, sagte Flo. »Viel Glück noch.«

Die Freunde gingen weiter und nachdem sie sich ein paar Schritte vom noch schimpfenden Busfahrer entfernt hatten, brachen sie erst in leises, dann in immer lauteres Gelächter aus. Für Elias war das Lachen wie ein Ventil, durch das er seine Anspannung besser in den Griff bekam, und er schätzte, dass es Flo und Jule mit ihrem überdrehten Ausbruch nicht anders ging. Sie überquerten die Landstraße, an der auch die Tankstelle lag, und drangen tiefer in den Hexenwald ein, um endlich ihren Geocaching-Ausflug abzuschließen und die Dose aufzuspüren.

Jule schwenkte ihre Taschenlampe vom rechten Gebüsch zur linken Seite und wieder zurück. Sie konzentrierte sich mehr auf das umliegende Gestrüpp als auf den schmalen Waldweg, den sie beschritten, als erwartete sie, dass ein tollwütiges Tier hervorspringen und sie verschlingen wollte. Elias wollte sie gerade fragen, was sie eigentlich suchte, da fragte sie: »Wusstet ihr eigentlich, dass es hier noch einen Grabstein gibt? Für die Hexe, meine ich. Sonst könnte man ihr Grab ja nicht finden. Soll auf einer kleinen Lichtung sein.«

»Du veräppelst uns! Davon höre ich das erste Mal«, sagte Flo. »Ich dachte, die wäre halt irgendwo begraben, aber nicht, dass die Stelle irgendwie markiert ist.«

»Kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer will, dass ihr Grab gefunden wird«, sagte Elias. Er war skeptisch, es würde zu gut passen, dass Jule einen ihrer Scherze trieb. Dieses Mal perfekt zugeschnitten auf ihr Abenteuer im dunklen Wald. Gleichzeitig spürte er, wie sein verräterisches Herz heftig im Brustkorb pochte: Ihm war mulmig und gleichzeitig wollte er herausfinden, welches Spiel Jule mit ihnen spielte.

»Mediensperre, damit sich die Touristen hier nicht rumtreiben«, sagte Jule. »Es soll hier nicht nur spuken, die Alte hat sogar einen Grabstein. Das denke ich mir echt nicht aus!«

Elias schüttelte den Kopf. »Will nicht jede Region möglichst viele Touristen? Ist gut für die Läden und das Image und so. Und warum machen die den Stein dann nicht gleich weg, wenn sie damit nicht Besucher anlocken wollen?«

»Mein Vater hat mir davon erzählt. Und der meinte, dass der Stadtrat verhindern will, dass es publik gemacht wird. Dafür passiert hier einfach zu oft was. Denkt an die Leichen. Wäre kein gutes Image für die Gegend. Aber wäre wirklich cleverer, wenn die den einfach abreißen, und gut ist.«

»Vielleicht steht der unter Denkmalschutz?«

»Dann sollten wir nach dem Grabstein statt nach der Dose suchen«, beschloss Flo, dessen Stimme von Unglauben troff. »Unser übliches Geocaching können wir nächstes Mal wieder machen. Einen Hexengrabstein findet man nicht alle Tage.«

Elias sagte: »Gut, suchen wir das Grab statt Dose Nummer dreitausend und fünf. Weißt du denn, wo er stehen soll?«

»Es gibt hier irgendwo doch diesen gelb markierten Fahrradweg.« Jule deutete mit ihrem Finger in eine Richtung, korrigierte sich aber ein Stück weit nach rechts und schwenkte dann unschlüssig zurück. »Jedenfalls: Wo der sich zum Waldwanderweg abtrennt, ist noch eine ganz kleine, unauffällige Abzweigung. Da muss man lang und nach einer Zeit ist man auf einer Lichtung. Dort am Rand müsste es sein. Am oberen Rand, ich hab keine Ahnung, welche Himmelsrichtung das sein soll.«

»Das klingt, als hättest du dir das eben gerade ausgedacht, als dein Spatzenhirn nichts anderes zu tun hatte«, sagte Flo.

Jule hob die Hände. »Dann glaub mir halt nicht. Frag doch deine Eltern oder Großeltern. Die kennen das Hexengrab der Dorethe Wagner ganz bestimmt.«

»Es kommt mir zwar seltsam vor, dass von uns dreien nur du davon gehört haben willst«, sagte Elias, »aber wir können es gerne drauf anlegen.« Die Hand, in der er seine Taschenlampe hielt, fühlte sich inzwischen feucht von seinem Schweiß an. Die Dunkelheit drängte sich dichter an ihn heran als sonst. Als würde sie ein Geheimnis verbergen, von dem sich niemand wünschen würde, dass sie es preisgeben würde. Als wäre die Finsternis angedickt von Albtraumgestalten und Boshaftigkeit. Und diese Dunkelheit wollte Elias nur deshalb alles verraten, um ihn anschließend zu töten.

»Wie oft hast du heute Nacht eigentlich schon ihren Namen gesagt?«, fragte Flo. Elias sah ihm an, dass er es kaum schaffte, sein Grinsen zu unterdrücken.

»Warum?«, wollte Jule wissen und blieb ihm eine Antwort schuldig.

Flo schnaubte. »Du kennst dich doch so toll aus. Noch nie gehört, dass es bei ihr wie mit Bloody Mary ist? Wenn du in derselben Nacht fünf Mal ihren Namen sagst, kommt sie und zieht dich in ihr Grab hinab. Dann liegst du neben ihr, bis du verfault bist. Und dafür musst du nicht mal vor einem Spiegel stehen wie bei Mary.«

»Das hast du dir jetzt aber ausgedacht«, sagte Elias. Fieberhaft überlegte er, wie oft er den Namen schon gesagt oder gedacht hatte. Ob es schon genügte, den Namen zu denken?

Jule lachte. Sobald sie sich beruhigt hatte, holte sie tief Luft und sagte: »Dorethe Wagner!«

VIER.

Falle oder Notfall?

Mira

Mira saß neben Lars und versuchte durchzuatmen, während er das Lenkrad nun nicht mehr allzu verkrampft festhielt, seitdem der Bus aus dem Rückspiegel verschwunden war. Was hätten sie auch wegen eines leeren Busses tun sollen? Sie beide würden ihr Sternenpicknick genießen und dann nach Hause fahren. Sie versuchte sich auf den erfolgreichen Tag zu konzentrieren: Endlich kannte sie Lars‘ Eltern persönlich, war erleichtert, dass seine Mutter und sein Vater Menschen waren, mit denen sie künftig gut auskommen würde. Sie dachte an den grellbunten Kunstdruck seiner Mutter, der eine vergrößerte Leguan-Haut zeigte, und war froh, dass diese so einen netten und coolen Eindruck gemacht hatte. Den Gedanken an sie als eventuelle Schwiegermutter in spe verkniff sich Mira, so gut sie konnte. Sie wollte nichts überstürzen. Aber wer hatte seine Gedanken schon völlig im Griff?

Die Landstraße beschrieb eine Kurve und Mira rutschte im Sitz leicht nach rechts, bis die plötzliche Bremsung sie gegen den Gurt presste.

»Was zum …?«, fragte Mira.

Ein Mann stand hektisch winkend hinter dem weißen Streifen, der die rechte Fahrbahn begrenzte. Auf Mira wirkte er alles andere als gefährlich, aber nicht jedem Schurken oder Unmenschen stand das ins Gesicht geschrieben. Circa fünfzig, verstrubbelt und neben der Spur – sowohl auf die Fahrbahn als auch auf seinen Geisteszustand bezogen. Aufgeregt warf er seine Arme in die Luft. Sein Blick war nicht klar, sondern er wirkte verwirrt, wie er abwechselnd ihnen zuwinkte, sich dann über die Schulter schaute und dann sein Handy anstarrte.

»Kaffeeflecken«, sagte Lars ganz abrupt. »Hat sich wohl ordentlich mit Kaffee bekleckert, der Mann da.«

Mira drehte sich überrascht zu ihm. Sie bemerkte, dass sie Lars mit offenem Mund anstarrte, weil sie nicht nachvollziehen konnte, was gerade in ihm vorging. Kaffeeflecken?! »Willst du mich verarschen? Das ist Blut auf seiner Kleidung und kein Kaffee. Halt an, der braucht Hilfe.«

Lars schüttelte den Kopf. »Kaffee. Der findet schon eine Serviette zum Saubermachen.« Er lenkte das Auto in einem Bogen an dem Mann vorbei.

Einen kurzen, aber sich schier endlos dehnenden Moment starrten sich Mira und der Fremde an. Es erschütterte sie erheblich. Die Sekunde, in der sich ihre Blicke ineinander verfangen hatten, ließ einen Kälteschauer wie eine Welle von Eiswasser über ihren Körper spülen.

Mira schaute in den rechten Außenspiegel. Wollte herausfinden, wie der Mann sich weiterhin verhielt. Er drehte sich kurz nach dem Auto um und setzte dann seinen Weg an der Seitenlinie entlang fort. Jeder Schritt schien ewig zu dauern, so sehr wankte er.

»Du hättest anhalten müssen. Dreh um, der Mann braucht unsere Hilfe. Das war doch kein gottverdammter Kaffee!«

»Aber es muss auch nicht sein eigenes Blut sein.« Lars fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Noch hatte er nicht beschleunigt, sondern ließ den Wagen durch die Finsternis rollen. »Hast du denn das Messer an seinem Gürtel nicht gesehen? Es könnte eine Falle sein. Vielleicht ist er ein Killer, der sein nächstes Opfer sucht. Jemanden, der für ihn anhält.«

Mira fasste sich unwillkürlich an den Hals. Es bereitete ihr Mühe zu schlucken. Nein, ein Messer hatte sie nicht bemerkt. Lars würde mich nicht belügen? Sonst hätte er doch bestimmt angehalten, um zu helfen. Oder will er nur mein Gewissen beruhigen und hat selbst keins mehr? Ihre Gedanken verknoteten sich in ihrem Kopf. War der Mann am Straßenrand Opfer oder Mörder? Ihr Herz raste, wenn sie daran dachte, dass sie beinahe auf ein menschliches Monster hereingefallen wäre. Gleichzeitig zog sich ihr Innerstes wegen der Möglichkeit zusammen, dass sie und Lars sich weigerten, jemandem zu helfen, der ihre Hilfe benötigte.

Als könnte Lars spüren, wie aufgewühlt sie war, wie sehr sie nicht nur an seinen Worten, sondern auch an ihm zweifelte, sagte er mit beschwichtigender Stimme: »Hör mal, das ist mir ein bisschen zu viel Zufall: der leere Bus und kurz darauf ein Mann, der vermeintlich unsere Hilfe braucht. Es ist so verdammt dunkel, da könnte eine ganze Fußballmannschaft von Axtmördern im Gebüsch sitzen und warten, bis jemand anhält.« Er rieb sich mit der Linken über seine Stirn, als würde ihm das beim Denken helfen. Diese Geste hatte Mira immer gefallen und beruhigte sie auch jetzt durch ihre Alltäglichkeit. »Ich bin jederzeit bereit und gewillt, anderen zu helfen, aber das darf dich oder uns nicht in Gefahr bringen.«

»Okay, das sehe ich ein, auch wenn du wohl einen Tick zu viel Horrorfilme gesehen hast. Aber wie wäre es, wenn wir dann die Polizei rufen? Entweder der Mann braucht wirklich Hilfe. Dann bekommt er sie. Oder er führt etwas im Schilde. Dann wird er gestoppt.«

»Na, hoffentlich rücken die mit genug Verstärkung an. Ich will keine Polizisten in den Tod schicken.«

»Lars!«

»Nein, du hast recht. Ich traue der Menschheit vielleicht zu viel Schlechtes zu, was weiß ich. Du bist nicht nur rattenscharf, sondern auch clever wie sonst was.«

»Rattenscharf? Das sagen nur noch Opas, oder?«, sagte Mira und gab sich Mühe, die unangenehme Stimmung aufzuhellen. Sie wühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Smartphone und zog es heraus. »Verdammt noch mal, das kann doch nicht wahr sein. Sind wir in einen deiner beschissenen Horrorfilme geraten, oder was?« Kaum hatte sie einen Blick auf das Display geworfen, ließ sie ihr Smartphone sinken und legte es auf ihren Oberschenkeln ab.

Lars brauchte gar nicht zu ihr herüberzuschauen, um zu verstehen. »Du hast also keinen Empfang. Ha! Wirklich wie im Gruselfilm. Wie sieht es bei meinem aus? Oder versuch es vielleicht mit einem Neustart.«

Sie fuhren in langsamem Tempo an einer baufälligen Tankstelle vorbei, die Mira nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ein Taxi stand dort geparkt. Mehr erkannte sie nicht. Erneut griff sie in ihre Handtasche, die stets auch Lars‘ Hab und Gut Unterschlupf bot. Eine der Begleiterscheinungen einer Beziehung, wie Mira festgestellt hatte: Man benötigte größere Taschen, damit man den Kram des Liebsten herumschleppen konnte. Ihren Fingerkuppen gönnte sie den kleinen Moment, um über ihren Schlüsselanhänger zu gleiten. Die Stoff-Giraffe mit irrwitzigem Gesichtsausdruck war ein Geschenk ihrer besten Freundin gewesen, bevor sie nach Amerika ausgewandert war.

»Auch nichts«, teile sie ihm mit. »Scheiße, verdammt.«

Kurz blieb es still im Auto wie in einem Grab. Lars trommelte auf dem Lenkrad herum. »Ich wende.«

Miras Herz schlug schneller. Irgendwie war sie allzu bereit, nun doch nur die Polizei zu rufen. »Warum das denn jetzt?«

»Ich will nicht ewig von einer falschen Entscheidung verfolgt werden.« Lars atmete genervt aus. »Wir müssen ja nicht aussteigen. Ich lasse das Fenster ein Stück runter und rede mit ihm. Notfalls fahren wir mit Vollgas weg.«

Fast hätte Mira ihn gebeten, es nicht zu tun. Sie dachte an ein eingeschlagenes Seitenfenster, durch das er seinen Arm strecken könnte. An einen aufgeschlitzten Reifen, der ihre Flucht vereiteln würde. Und zuletzt daran, dass der Mann womöglich einfach eine Schusswaffe ziehen und die beiden im Handumdrehen erschießen würde. Oder er würde nur Lars abknallen und ihr dann mehr Zeit widmen, als ihr lieb wäre. »Du glaubst also nicht, dass es eine Falle ist?«

»Wir sind ja nicht im Film. Warum immer vom Schlimmsten ausgehen? Du hast dich ja auch heute nicht mit meiner Mutter gestritten. Oder meinen Dad angeflirtet. Aber du behältst die Handys im Blick und verständigst die Polizei, sobald es eben geht. Das Picknick verschieben wir dann wohl besser aufs nächste Mal, falls du wieder mit zu meinen Eltern kommen möchtest.«

»Sofern du mich noch mal mitnehmen möchtest.«

Lars streichelte ihr über den Oberschenkel, nahm dann ihre Hand und gab ihr einen Kuss auf die Rückseite ihrer Finger. Danach wurde er sehr ruhig, um sich auf die Begegnung mit dem befleckten Mann vorzubereiten.

Der Knoten in Miras Magen wurde größer, je näher sie der Stelle kamen, wo der Mann gestanden hatte. Sie würde sich erst beruhigen können, wenn sie zurück auf der Autobahn, zurück in der Zivilisation wären und nicht mehr diese dunklen, dicht bewaldeten Hügel hinauf und hinunter fahren würden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739492902
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Blut Slasher Hexe Splatter Killer Messer

Autor

  • Tanja Hanika (Autor:in)

Tanja Hanika ist Autorin von Horror- und Schauerromanen. Geboren wurde sie 1988 in Speyer, studierte in Trier Germanistik und zog anschließend in die schaurig-schöne Eifel, wo sie mit Mann, Sohn und Katze lebt. Seit sie mit acht Jahren eine »Dracula«-Ausgabe für Kinder in die Hände bekam, schreibt und liebt sie Gruselgeschichten.
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Titel: Roadkill