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Herzflimmern in Kanada

Sammelband

von Mathilda Grace (Autor:in)
460 Seiten
Reihe: Die Ostküsten-Reihe, Band 12

Zusammenfassung

Überarbeitete Neuauflage, Januar 2019 Die folgenden 4 Kurzromane erzählen weitere Geschichten aus dem Ostküsten-Universum, die sich um Nebencharaktere der Reihe drehen. Storyübersicht: 1. Herbstgeflüster 2. Kalt wie Eis 3. Orchideenzauber 4. Kanadisches Feuer

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Herbstgeflüster

 

Der ehemalige Navy Seal Evan 'Bomer' Chambers, hat sich nach einem letzten Job für seinen Freund und Mentor Adrian Quinlan in die Einsamkeit Kanadas zurückgezogen. Er führt in den Wäldern bei Halifax ein beschauliches Leben und teilt sich das Haus mit Welpe Charly und Katzendame Emma. Mit dieser Ruhe ist es schlagartig vorbei, als Bomer eines Nachts von einem Unbekannten angegriffen wird, der gekommen ist, um ihn zu töten.

 

 

Kalt wie Eis

 

Alexander Waters ist ein Ärgernis, für das es in Macs Augen nur eine Lösung gibt – erschießen. Da ihm das aber ein wenig drastisch erscheint und er zudem keine Lust hat, wegen Mordes im Gefängnis zu landen, packt er kurzerhand ein paar Sachen und flüchtet nach Kanada. Sein alter Kumpel Bomer hat mit Sicherheit einen Platz zum Schlafen für ihn, denkt Mac, und nistet sich bei Bomer und dessen Freund Cedric auf der Couch ein. Am nächsten Tag steht überraschend Alexander vor der Tür und damit fängt das Chaos erst so richtig an.

 

 

Orchideenzauber

 

Als sein Kumpel Bomer anfragt, ob er Zeit hätte, etwas außerhalb von Halifax ein paar Holzhäuser für ein Urlaubsresort hochzuziehen, überlegt Severin Sikes nicht lange. Das Geld kommt ihm gelegen und Kanada im Frühling wollte er schon immer mal live erleben. Alles könnte so schön sein, wäre da nicht der Besitzer der Anlage, mit dem Severin keinen einzigen Satz wechseln kann, ohne dass sie sich in die Haare bekommen.

 

 

Kanadisches Feuer

 

Nachdem er bei einem Rohrbruch seine Küche unter Wasser gesetzt hat beschließt Becker, dass Severins Jobangebot aus Kanada gar keine so schlechte Idee ist. Den Sommer über in der Ferienanlage von dessen Freund zu arbeiten, das klingt nach Entspannung pur. Becker liebt die raue Natur und der Rangerkollege seines Kumpels Bomer scheint einem Flirt und mehr nicht abgeneigt. Dumm nur, dass besagter Kollege bereits mit einem Feuerwehrmann verlobt ist, wovon Becker allerdings erst erfährt, als der sie in flagranti beim Sex erwischt.

 

 

Herbstgeflüster

 

Der ehemalige Navy Seal Evan 'Bomer' Chambers, hat sich nach einem letzten Job für seinen Freund und Mentor Adrian Quinlan in die Einsamkeit Kanadas zurückgezogen. Er führt in den Wäldern bei Halifax ein beschauliches Leben und teilt sich das Haus mit Welpe Charly und Katzendame Emma. Mit dieser Ruhe ist es schlagartig vorbei, als Bomer eines Nachts von einem Unbekannten angegriffen wird, der gekommen ist, um ihn zu töten.

 

 

Kapitel 1

 

Kanada hatte es Bomer wirklich angetan.

Seit er vor drei Jahren für Adrians Neffen dessen Freund hier oben gefunden hatte, war Bomer die Gegend um Halifax nicht mehr aus dem Kopf gegangen, und am Ende war es ihm nicht schwergefallen, das Loft mit seinen Kameraden von der Armee hinter sich zu lassen und umzusiedeln.

Er vermisste die Jungs und Amber nicht. Wozu gab es schließlich Telefone? Wenn er mit ihnen reden wollte, tat er es. Wenn er sie sehen wollte, flog er zu ihnen. Bomer liebte die Ruhe hier draußen, die Dichte der umliegenden Wälder, den langen Winter, der Jahr für Jahr eine gefühlte Ewigkeit andauerte. Derzeit trugen die Bäume das bunteste Herbstlaub, das er je zuvor gesehen hatte, und das stetige Flüstern der Bäume im Wind wiegte ihn nachts in den Schlaf. Einen Schlaf, der endlich frei von Albträumen war.

Für nichts in der Welt würde er sein neues, zweites Leben aufgeben, das aus einem kleinen Haus mitten im Wald, einem tapsigen Hundewelpen, einer dickköpfigen Katze und der ihn umgebenden Natur bestand. Er hatte sich um einen Job bei den Park Rangern beworben und behielt jetzt die Umgebung der Hütte im Auge. Dafür gab es zwar nicht viel Geld, aber Bomer reichte es völlig aus, um die nötigen Kosten zu decken.

Den Notgroschen aus seiner Zeit bei den Seals würde er nur anrühren, wenn es notwendig wurde, wonach es derzeit nicht aussah. Er lebte jetzt ein zurückgezogenes, ruhiges Leben. Genau das, was er insgeheim wohl schon lange gesucht hatte, denn Bomer konnte sich nicht daran erinnern, in den vergangenen Jahren so mit sich selbst zufrieden gewesen zu sein, wie in den letzten Monaten, seit er das Haus bezogen hatte.

»Wuff.«

Bomer blickte über die Schulter und lachte, als er Charly entdeckte, der mit einem Ast im Maul auf ihn zukam. Er schaffte es nur mühsam die Pfoten, die für seinen Körper momentan eindeutig zu groß waren, zu sortieren, und landete zweimal fast auf der Nase, bis er ihn erreicht hatte.

Grinsend nahm er dem Welpen dessen Beute ab und warf den Ast so weit er konnte. Charly jagte samt einem begeisterten Kläffen an ihm vorbei. Dieser Hund war die beste Entscheidung der letzten Wochen gewesen, obwohl Bomer lange überlegt hatte, ob er den jüngsten Welpen der Hündin seines Chefs Max nehmen sollte oder nicht. Emma hingegen hatte sich bei seinem Einzug einfach selbst eingeladen, indem sie eines Morgens vor seiner Haustür gesessen und nicht mehr gegangen war. Und da niemand in der Umgebung eine Katze vermisste, lebte sie nun mit Charly bei ihm.

Bomer warf den Ast unzählige Male, während er den Waldweg entlang spazierte. Er schoss einige Fotos von Bäumen, die aussahen, als würden sie den nächsten Herbststurm nicht überleben, und ging bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause zurück, wo er Emma und Charly fütterte, bevor er sich selbst etwas zu essen machte.

Später, nachdem er die Küche aufgeräumt, geduscht und die Bilder an Max geschickt hatte, beschloss Bomer, den Abend gemütlich vor dem Fernseher ausklingen zu lassen. Morgen war Freitag. Sein wöchentlicher Einkauf stand auf dem Plan. Zudem hatte er frei und wollte das verlängerte Wochenende nutzen, um Vorräte für den nahenden Winter zu besorgen. Die Liste hatte er schon vor Tagen geschrieben und Bomer setzte noch Katzenfutter dazu, als ihm einfiel, dass er das beim letzten Mal vergessen hatte.

»Was brauchen wir außerdem?«, fragte er und Emma, die neben ihm auf der Couch lag, hob den Kopf, um ihm einen Blick zuzuwerfen, bevor sie gähnte, sich umdrehte und weiterschlief. Ein wortloses Statement. Bomer lachte und erhob sich, um es ihr nachzutun und ins Bett zu gehen. Nach einem prüfenden Blick auf Charly, der beim Fenster in seinem Korb lag und schlief, löschte er überall das Licht und ging nach oben.

 

Bomer erwachte übergangslos.

Ein Relikt aus seiner Zeit bei den Navy Seals, das ihm das Leben rettete. Ein Messer blitzte kurz im Spiegel auf, als Mondlicht auf die schmale Klinge traf. Bomer wehrte den präzise geführten Schlag mit der bloßen Hand ab. Kein Laut verließ seinen Mund, als sich die Schneide in sein Fleisch bohrte und an der hinteren Seite wieder austrat. Er machte eine Faust und zog seinem überraschten Gegner dadurch dessen Waffe aus den Fingern. Damit hatte der Eindringling eindeutig nicht gerechnet und wich zurück.

Ein Anfänger? Bomer glaubte nicht daran und blieb auf der Hut. Eine gute Entscheidung, denn offenbar war das Messer nicht die einzige Waffe, die der Mann, er war sich sicher es mit einem männlichen Angreifer zu tun zu haben, am Körper trug.

Bomer reagierte sehr schnell, eiskalt, aber ausnahmsweise nicht tödlich. Er wollte wissen, wer der Unbekannte war, und so setzte er die scharfe Klinge gegen ihn ein. Es wurde ein harter Kampf, doch Bomer erlangte aufgrund seiner Erfahrung und Statur rasch die Oberhand. Kein Mensch legte einen Seal von fast zwei Meter Körpergröße problemlos aufs Kreuz. Bomer verpasste dem Typen eine Stichwunde in der Schulter und schlug ihm danach die Beine weg, um ihn zu Fall zu bringen. Dass der Fremde dabei mit dem Kopf auf dem Nachttisch landen würde, hatte er zwar nicht eingeplant, aber der Kampf zwischen ihnen fand so ein abruptes Ende.

 

Eine halbe Stunde später hatte er den Unbekannten medizinisch versorgt, durchsucht und ans Heizungsrohr gefesselt. Mehr Klischee ging nicht, aber er wollte den Mann wegen dessen Beule am Hinterkopf und seiner Wunde an der Schulter lieber im Auge behalten. Und in seinem Schlafzimmer war die Heizung nun mal die beste Möglichkeit, jemanden zu fixieren.

Bomer hatte einen schnellen Rundgang durchs Haus gemacht, Emma und Charly betäubt im Wohnzimmer gefunden, und das ins Küchenfenster geschnittene Loch notdürftig abgedeckt. Ein blutiger Anfänger konnte der Mann nicht sein, so wie er hier eingestiegen war. Vielleicht unerfahren, aber er kannte sich definitiv aus, und hatte genug im Kopf, um keine Papiere in seinen Taschen mit sich herumzutragen. Draußen hatte Bomer bislang nicht nachgesehen, vermutete jedoch, dass irgendwo im Wald ein jetzt herrenloser Wagen stand. Darum würde er sich morgen kümmern. Zuerst wollte er wissen, wer der Fremde war, der gerade leise stöhnte und den Kopf von einer Seite auf die andere drehte.

Er wartete, ob sein Besucher aufwachte, und wandte sich seiner Hand zu, als das nicht passierte. Die lange Klinge war gänzlich durchgegangen, hatte aber keinen großen Schaden angerichtet. Bomer wusste, wie er seine Wunde behandeln musste, damit sie verheilte, und tat es, während er in Ruhe ausharrte, dass der Fremde zu sich kam.

Es dauerte einige Zeit, die er sich vertrieb, indem er das Durcheinander aufräumte, das ihre kleine Prügelei hinterlassen hatte, die blutigen Reste des Verbandszeugs entsorgte und noch einen Blick auf Charly und Emma warf, denen es soweit gut ging. Mit einer Flasche Wasser bewaffnet, setzte sich Bomer schließlich in dem Moment auf sein Bett, als sein Angreifer wach wurde.

Graue Augen blickten ihn zuerst irritiert an, aber er begriff rasch, was mit ihm passiert war. Sein Gegenüber zog an den Handschellen und schnappte nach Luft, weil das der verletzten Schulter natürlich gar nicht gefiel. Bomer ließ ihn schauen. Betrachtete den Unbekannten derweil interessiert, während der sich genau umsah und seinen Blick am Ende wieder auf ihn richtete.

»Wie geht’s deinem Kopf?«

»Brummt heftig.«

»Mehr nicht?«, hakte Bomer nach, weil mit einer Kopfverletzung nicht unbedingt zu spaßen war. Doch der Mann schien alle Sinne beisammen zu haben, so finster, wie er ihn daraufhin ansah.

»Was soll das werden?«, fragte er und hob eine Hand, bis die Kette klirrte, die zwischen beiden Handschellen befestigt war, und ihm genug Spielraum gab, dass er sich bewegen und auch strecken konnte.

Bomer zog ein Bein unter das andere. »Ist das für dich nicht offensichtlich?«

Nein, das war es anscheinend nicht. Zumindest hatte sein Angreifer nicht erwartet, aufzuwachen und gefesselt an einer Heizung zu hängen. Bomer kannte diese Art von Blick, eine Mischung zwischen völligem Unglauben und dem Versuch, sich ja nicht anmerken zu lassen, dass man überrascht war. Wer war dieser Mann und wer hatte ihn hergeschickt?

Außer Adrian und seinen Jungs in Baltimore wusste niemand von diesem Haus. Wie also hatte er ihn finden können? Warum war er mit einem Messer auf ihn losgegangen, statt ihn zu erschießen. Hier draußen im tiefsten Wald hätte kein Mensch den Schuss gehört und ihm damit genug Zeit gegeben, seine Leiche zu entsorgen. Bomer wurde aus seinem Gegenüber nicht schlau und das irritierte ihn.

Allerdings war er gut im Zusammensetzen von Einzelteilen und dieser Kerl war ein einziges, großes Puzzle. Eines von der Sorte, die er lösen wollte, wie bei seiner letzten Affäre. Allerdings war Jake Porter für ihn weit mehr gewesen, als nur Sex, doch Bomer hatte von Beginn an gewusst, dass sie nicht zusammenpassten.

»Normalerweise sollte ich jetzt in einer Zelle sitzen.«

»Normalerweise wärst du bereits tot«, konterte Bomer automatisch, ohne darüber nachzudenken, und für eine Sekunde glaubte er Unsicherheit in den grauen Augen zu erkennen, aber der Augenblick war zu schnell vorbei, als dass er sicher sein konnte.

»Warum bin ich es nicht?«

Eine sehr gute Frage, die Bomer nicht beantworten würde. Wenn hier jemand Antworten verdiente, dann er selbst, und die wollte er jetzt haben. Er bezweifelte jedoch, dass sein Angreifer sie ihm einfach kampflos überließ. Wer in ein Haus einbrach, um einen Menschen zu töten, hatte sich vorher mit Sicherheit einen Plan für den Fall seiner Gefangennahme zurechtgelegt. Es gab zwar Killer, die so etwas nicht taten, weil sie zu gut waren, doch dieser Mann gehörte nicht dazu. Das war für Bomer so sicher, wie das wöchentliche Amen in der Kirche.

»Wer bist du?«

Der Fremde grinste überheblich. »Fick dich!«

Bomer stützte sich auf seine unverletzte Hand zurück. »Komischer Name. Deine Eltern hatten scheinbar einen seltsamen Sinn für Humor.«

Er bekam keine Reaktion, das störte Bomer aber nicht sonderlich. Früher oder später würde er herausfinden, was er wissen wollte, denn entweder war der Mann allein nach Kanada gekommen, um ihn zu töten, oder aber es tauchte bald ein Freund auf, der nach ihm suchte. Bomer tippte instinktiv auf Ersteres.

»Du bist schätzungsweise Ende zwanzig, knapp 1,90m groß und gut trainiert. Für einen Killer hast du allerdings eine zu schlechte Ausbildung. Bleiben in meinen Augen nur zwei Möglichkeiten. Nummer eins, du bist Anfänger und im Auftrag hier. Oder Nummer zwei, die Sache ist persönlich.« Bomer ließ seinen Blick langsam über das lädierte Gesicht des Unbekannten wandern. »Wir kennen uns nicht, da bin ich mir sicher. An einen Kerl wie dich, würde ich mich erinnern. Wer hat dich geschickt?«

Schweigen. Gefolgt von einem abfälligen Blick. In den grauen Augen des Mannes loderte blanker Hass auf, was für Bomer Antwort genug war.

»Persönlich also«, sagte er leise und horchte auf, als es unten jämmerlich jaulte. »Damit haben wir im Übrigen etwas gemeinsam. Du hast meine Tiere verletzt und das nehme ich dir übel. Da ich aber im Allgemeinen nicht zuschlage, wenn jemand bereits am Boden liegt, hast du jetzt Zeit, darüber nachzudenken, ob du meine Fragen zu deiner Person nicht doch beantworten willst. Du wirst so lange hierbleiben, bis ich weiß, wer du bist und wer dich mir auf den Hals gehetzt hat.«

»Du kannst mich nicht einfach so festhalten.«

Bomer zuckte lässig mit den Schultern und stand auf. »Da du offenbar allein gekommen bist, vermisst dich fürs Erste niemand. Ich wohne am Arsch der Welt, Kleiner, und das heißt, keiner wird dich retten können, sofern ich morgen früh beschließe, dass ich genug von dir habe und dich töte. Du solltest daher lieber dafür sorgen, dass ich mich dafür entscheide, dich bei mir zu behalten, meinst du nicht?«

Nach den Worten ließ er den Unbekannten in seinem Schlafzimmer zurück, um sich um Charly und Emma zu kümmern. Wenn sie diese Nacht nicht gesund und munter überstanden, würde er bei seinem störrischen Fremden andere Saiten aufziehen. Bomer hatte die Navy Seals vor Jahren hinter sich gelassen, aber das dort Gelernte nicht vergessen. Und er war bereit es wieder einzusetzen.

 

 

Kapitel 2 

 

Bomer verbrachte den Rest der Nacht auf der Couch im Wohnzimmer, um in der Nähe von Emma und Charly zu sein. Doch die beiden rappelten sich bald wieder auf, und als der Morgen graute, stieg er unter die Dusche und warf anschließend einen Blick in sein Schlafzimmer. Die letzten Stunden hatte er mit einem Ohr regelmäßig nach oben gelauscht, aber nichts gehört. Keine Flüche, kein Versuch sich zu befreien, nichts. Sehr sonderbar.

Genauso merkwürdig war auch der Anblick, der sich Bomer nun bot, denn der Fremde lag auf dem Boden und schlief. Bequem konnte das auf keinen Fall sein, also war er entweder völlig erschöpft oder schwerer verletzt als angenommen. Bomer trat lautlos näher, warf einen prüfenden Blick auf die Schulterverletzung. Er hatte den Pullover seines Gastes nur so weit zerschnitten, damit er an die Wunde herankam, die den Verband bislang nicht durchgeblutet hatte. Ein sehr gutes Zeichen. Die Nähte hielten. Er hockte sich hin und hielt eine Hand vor den Mund des Mannes. Der atmete ruhig und gleichmäßig. Und da ihm zuvor weder übel noch schwindlig gewesen war, konnte Bomer die vermutete Gehirnerschütterung jetzt wohl endgültig ausschließen.

Kopfschüttelnd nahm er sich frische Kleidung aus dem Schrank und ging wieder nach unten, um seine Tiere zu füttern und mit Charly danach eine schnelle Runde ums Haus zu machen. Dabei überlegte Bomer, wie er weiter verfahren sollte. Er musste in die Stadt, soviel stand fest. Allein schon zum Einkaufen und um die kaputte Scheibe zu ersetzen, durch die sein Gast letzte Nacht eingestiegen war. Nur was machte er solange mit ihm? Er hatte einen kleinen Schuppen hinterm Haus, für Werkzeug und Holz für seinen Kamin, aber der war zugig und damit gänzlich ungeeignet, einen Verletzten eine Weile einzusperren.

Bei seinem Glück bekam der unbekannte Angreifer eine Lungenentzündung oder Blutvergiftung und starb ihm weg, bevor er seine Antworten erhielt. Er würde ihn im Haus lassen müssen. Ein verdammt hohes Risiko. Die Chancen waren gut, dass der Mann einen Fluchtversuch wagte und sich genauer umsah, ehe er flüchtete. Er musste seine Waffen im Versteck einschließen. Das war gesichert und ein Safeknacker war sein Einbrecher wohl kaum. Es ging nicht anders, entschied Bomer, Risiko hin oder her. Es dürfte auffallen, falls er nicht bei Morty zum Einkaufen vorbeikam, also würde er genau das tun.

Bomer pfiff und Charly kam bellend zwischen einigen Büschen hervor. Sie liefen ins Haus zurück, wo er den Welpen im Wohnzimmer ließ, sich eine Waffe aus seiner Sammlung holte und nach oben ging. Sein Besucher war wach und sah ihn an. Er runzelte die Stirn, als sein Blick auf die 9mm Beretta fiel, sagte aber nichts. Bomer holte die Schlüssel für die Handschellen aus der Tasche und warf sie dem Mann zu.

»Aufmachen!«

Keine Reaktion.

»Willst du ins Bad oder nicht?«, fragte Bomer und das reichte aus, um die Meinung des Fremden zu ändern. Er entsicherte die Waffe, als der Typ aufstand und Schlüssel und Ketten auf sein Bett warf. »Die Tür geradezu«, sagte Bomer und deutete in den Flur.

Offensichtlich kannte sich sein verhinderter Angreifer mit Schusswaffen aus oder er war zumindest erfahren genug, um zu wissen, dass Bomer sie einsetzen würde, wenn er jetzt versuchte, eine Dummheit zu begehen. Schweigend trat er an ihm vorbei in den Flur und ging durch bis ins Badezimmer. Bomer folgte ihm, schob die Tür von innen zu und lehnte sich dagegen.

»Das ist ein Witz, oder?«

Die ungläubige Frage entlockte Bomer ein spöttisches Grinsen, ehe er seine Arme vor der Brust verschränkte, die Waffe dabei fest mit seiner Hand umschloss. »Du bist bei mir eingebrochen, um mich zu ermorden. Du kannst von Glück reden, dass ich dich überhaupt ins Bad lasse. Du hast zwei Minuten fürs Pinkeln, weitere drei, um dich zu waschen. Deine Zeit läuft.«

Die ersten dreißig Sekunden vergingen damit, dass er in einer Mischung aus Verlegenheit und Ärger angestarrt wurde, aber als Bomer demonstrativ auf die Uhr sah, begriff der Kerl, dass er es ernst meinte. Mit einem Fluch ging er ans Werk und war vier Minuten später fertig. Im ersten Moment wollte Bomer ihn darauf hinweisen, dass er etwas trinken sollte, ließ es dann aber bleiben. Durst machte ihn vielleicht gesprächig.

Er brachte den Einbrecher zurück ins Schlafzimmer und deutete auf die Handschellen. Die grauen Augen verdunkelten sich vor Zorn, worauf Bomer reagierte, indem er seine Waffe auf den Eindringling richtete. Mehr war nicht nötig, um ihn dazu zu bringen, sich selbst an die Heizung zu fesseln. Er hatte offenbar kein Interesse, angeschossen zu werden. Bomer machte, nachdem er überprüft hatte, ob seine Handschellen wirklich fest saßen, wortlos kehrt und sperrte den Typen im Schlafzimmer ein, um Einkaufen zu fahren. Mal sehen, ob er noch hier war, wenn er zurückkam.

 

»Gar nicht schlecht«, kommentierte Bomer das blutig geschürfte Handgelenk und den ausgerenkten Daumen drei Stunden später.

Ein aufgebrachter Blick war die einzige Antwort, die er bekam und Bomer verkniff sich ein Grinsen, während er sein Gegenüber in Augenschein nahm. Die Wunde in dessen Schulter war von dem Versuch, sich zu befreien, wieder aufgegangen und blutete sichtbar durch den Verband. Dazu der Schweiß auf der gebräunten Haut des Fremden und sein abgehackter Atem. Er musste ziemlich heftig und vor allem lange gekämpft haben, um von hier wegzukommen. Es war in Bomers Augen fast ein kleines Wunder, dass er nicht das Heizungsrohr aus der Wand gerissen hatte.

»Ein Rat fürs nächste Mal«, begann er leise und packte das Kinn des Mannes, damit der ihn ansah. »Die Handschellen wurden speziell angefertigt. Wenn du aus ihnen rauskommen willst, braucht es weit mehr, als dass du dir deinen Daumen ausrenkst und das Blut von den aufgeschürften Handgelenken als Schmiermittel benutzt. Und jetzt werde ich mir deine Wunden ansehen. Schlaf' gut, Kleiner.«

Die grauen Augen weiteten sich begreifend. »Wag' es ja nicht, mir ...«

Ein gezielter Schlag gegen die Schläfe des Kerls setzte dem Protest ein jähes Ende. Bomer zog den Schlüssel für die Handschellen aus der Tasche, verfrachtete seinen Gefangenen ins Bett, nachdem er ihn befreit hatte, und holte alles, was er brauchte, um dessen Stichwunde, den Daumen und die Handgelenke zu versorgen.

Dabei warf er einen Blick auf die Stelle an der Heizung und entschied, es seinem starrköpfigen Gast für die kommenden Tage ein wenig bequemer zu machen. Er holte seine Campingunterlage aus dem Schuppen, bezog ein Ersatzbettzeug und breitete auf dem Fußboden eine Decke aus, auf die er dann alles legte. Mit dem Ergebnis zufrieden, kettete er seinen bewusstlosen Besucher wieder an die Heizung, bevor er sich anzog und erneut das Haus verließ, um den Wagen des Mannes zu suchen. Vielleicht hatte er Kleider zum Wechseln dabei und möglicherweise fand er einen Führerschein oder irgendwas anderes, um seinen namenlosen Einbrecher zu identifizieren.

Was den fahrbaren Untersatz betraf, hatte Bomer Glück, denn den entdeckte er keine drei Meilen vom Haus entfernt im Wald. Bedeckt mit extra abgeschnittenen Ästen und jeder Menge Laub, hatte der Fremde sich viel Mühe gegeben, das Auto, einen schwarzen Pick-up, zu verstecken. Er knackte das Schloss und durchsuchte das Innere. Keine Papiere, keine Kleidung zum Wechseln, nichts, das ihm einen Hinweis gab, mit wem er es zu tun hatte. Dafür war der Tank fast leer, also musste der Mann lange unterwegs gewesen sein. Er fand kein Navigationssystem, was ihn irritierte.

Diese ganze Sache war ein einziges Mysterium und er wollte endlich wissen, was hier los war. Bomer schlug die Tür zu und versteckte den Wagen wieder, bevor er begann, die Umgebung zu durchsuchen. Es musste etwas zu finden sein, selbst wenn es nur die Reste einer Packung von McDonalds oder ein Sandwichpapier waren. Niemand fuhr hunderte Meilen zielgerichtet durch die Gegend, mit nur einem Messer in der Tasche, um einen Menschen zu töten.

Noch so ein Detail, das Bomer Kopfschmerzen bereitete, denn entgegen seiner ersten Annahme hatte der Mann keine anderen Waffen dabei gehabt. Nichts. Nicht mal die Schlüssel zu seinem Pick-up. Wenn das nicht zum Himmel stank, was denn dann? Das Verhalten war komplett widersprüchlich, fand er. Ein Killer konnte der schweigsame Unbekannte nicht sein, dafür stellte er sich zu ungeschickt an. Aber er schien in irgendeiner Art und Weise in der Richtung tätig zu sein. Vielleicht ein Geldeintreiber, der sich als Hobbymörder betätigte? Nur für wen und aus welchem Grund?

Bomer hatte keine Schulden und ein Geldeintreiber ging allgemein nicht mit dem Messer auf sein Opfer los, sondern benutzte die Fäuste. Ein Hobbyattentäter kam auch nicht infrage, denn der suchte sich kaum jemanden zum Umbringen aus, der größer und schwerer war als er selbst. Jedenfalls nicht, wenn er unerfahren war.

Bomer hielt inne, als ihm eine Unebenheit auffiel, die auf den ersten Blick der Natur angepasst war und nicht aufgefallen wäre, hätte er nicht danach gesucht. Er trat näher heran, nahm die Stelle genau in Augenschein, um zu sehen, ob sie durch eine Falle geschützt war. Aber er fand nichts in der Richtung. Keine Drähte, die auf einen Sprengsatz hindeuteten, keine eingegrabene Mine. Er fegte das Laub behutsam zur Seite. Ja, hier war vor kurzer Zeit ein Loch ausgehoben worden. Da er keine Schaufel hatte, nutzte Bomer die Hände. Mit den Ohren in die Umgebung lauschend und seine Augen auf die Erde gerichtet, nur für den Fall, dass doch noch eine Falle zum Vorschein kam, hob er das Loch aus.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, da er vorsichtig blieb, bis er auf eine Schnur stieß, die zu einem Beutel gehörte, den er ausgrub und sicherstellte, dass der nicht durch eine Mine geschützt war, bevor er ihn in die Hand nahm und öffnete.

»Bingo«, flüsterte Bomer zufrieden, als er einen Blick auf die Karten von Halifax und der näheren Umgebung, Schokoriegel und leere Verpackungen derselben Sorte Schokolade, eine halb volle Flasche Wasser und die Wagenschlüssel geworfen hatte.

Ein Dummkopf war der Kerl nicht. Bomer durchsuchte den Inhalt des Beutels nach einem Führerschein, wurde aber nicht fündig. Der Mann wollte seine Identität nicht preisgeben. Bomer suchte weiter und entdeckte schließlich, in einem zweiten Loch, ein paar Meter entfernt, einen weiteren Beutel, in dem die Überreste eines zerstörten Navigationssystems lagen. Er runzelte die Stirn. Was sollte das denn? Ihm stieg ein sehr bekannter Geruch in die Nase und Bomer drehte den Beutel von innen nach außen.

»Verdammt, was soll das?«, fragte er entgeistert und sah den verkohlten Stücken Papier zu, wie sie vor seinen Beinen auf den Boden segelten. Er nahm einen größeren Schnipsel in die Hand. Ein Flugticket. Zumindest war es das gewesen. Bomers Irritation wuchs.

Wieso verbrannte man ein Ticket, behielt aber alle Karten? Und wieso zerstörte jemand ein Navigationsgerät, versteckte aber gleichzeitig das dazugehörige Auto? Das Flugticket konnte er noch damit erklären, dass der Typ möglicherweise nur einen Hinflug gebucht hatte und nun keine Spuren hinterlassen wollte. Doch es erklärte weder den Wagen, zu dem es scheinbar keine Papiere gab, was nahelegte, dass er gestohlen war, noch die Karten über Halifax und die umliegenden Wälder.

Bomer beschlich ein ungutes Gefühl, während er seinen Blick über die entdeckten Dinge schweifen ließ. Falls er sich nicht völlig irrte, und das tat er selten, sah das in seinen Augen nach einem Abschluss aus. Einem endgültigen und entschlossenen. Dieser Mann war nach Kanada gekommen, um ihn eiskalt zu töten und er hatte scheinbar nicht vor, danach an den Ort zurückzukehren, von dem er stammte.

War dieser Fremde in seinem Schlafzimmer etwa auf einem Selbstmordtrip? Bomer schüttelte den Gedanken sofort wieder ab. Nur weil er damals so am Ende gewesen war, dass er sich eine Brücke gesucht hatte, um Schluss zu machen, hieß das noch lange nicht, dass dieser Aushilfsmörder an seiner Heizung es ebenso hielt. Vielleicht war dieser Job einfach sein letzter und er wollte danach ein neues Leben beginnen. Nicht jeder warf gleich alles hin, wie er es vor vielen Jahren vorgehabt hatte.

 

 

Kapitel 3 

 

Die Bierflasche zerschellte auf den Gleisen, er bekam es gar nicht mehr richtig mit. Dafür hatte er schon zu viele von ihnen intus. Erst Wodka, dann Bier. Zwei Sechserpacks, das eben war die letzte Flasche gewesen.

Irgendwann war ihm von dem hochprozentigen Zeug schlecht geworden und er hatte die noch zu einem Viertel volle Flasche von sich geschleudert. Er vertrug einfach keinen Alkohol mehr. Jedenfalls nicht auf leeren Magen. Wann hatte er eigentlich zuletzt was gegessen? Bomer dachte darüber nach, aber sein dröhnender Kopf war, wie der näher kommende Zug, zu ablenkend.

Sollte er diesen nehmen? Es machte ohnehin keinen Unterschied. Der Schnaps war alle, das Bier auch, und er hatte kein Geld mehr in der Tasche. Irgendwo gab es noch seine harten Reserven von den Seals, aber Bomer erinnerte sich nicht mehr daran, wo er sie lagerte. Das bedeutete, für das Loch, in dem er zuletzt gehaust hatte, konnte er die Miete nicht mehr zahlen. Nicht, dass diese Kakerlaken verseuchte Bude ohne ein funktionierendes Türschloss auch nur einen Dollar wert gewesen wäre. Doch sie hatte eine Heizung und ohne die wäre er schon längst jämmerlich erfroren. Was er heute Nacht wohl tun würde, wenn er seinen Arsch nicht hochbekam und sprang.

Was war ein besserer Tod? Erfrieren oder von einem Zug zermalmt werden? Letzteres ging schnell, aber wer erfror, schlief einfach ein. Keine Schmerzen, kein letzter Gedanke an die Qualen, aus denen sein Leben bestand. Keine mögliche Rettung, falls er den Sprung überlebte und entschied, doch lieber von den Gleisen zu kriechen, um es als Krüppel ein zweites Mal zu versuchen. Bomer wusste von einem ehemaligen Kameraden, der das getan hatte und heute ohne Beine im Rollstuhl vor sich dahinvegetierte. Eingesperrt in einer Anstalt, weil er auf der Intensivstation versucht hatte sich umzubringen. So wollte Bomer nicht enden.

Dann lieber der Zug, entschied er und stand auf, was nicht so einfach war, weil sich um ihn herum alles drehte und die Kälte sämtliche seiner Glieder hatte taub werden lassen. Er würde es schon richtig machen und dabei sterben. Ganz sicher. Das Metall der Brücke stach wie Nadeln in seine steifen Finger. Sie war hoch genug, um beim Aufprall wenigstens ein paar seiner Knochen zu brechen, den Rest würde der Güterzug erledigen. Er musste nur noch loslassen.

»Ganz schön endgültig.«

Bomer zuckte zusammen und sah über die Schulter. Wenige Meter entfernt stand ein BMW mit offener Tür und sein Besitzer lehnte mit verschränkten Armen auf dem Dach der Fahrerseite.

»Kann man sich in dieser verfickten Stadt nicht mal in Ruhe umbringen?«, fluchte Bomer und blickte zurück auf die Gleise. Der Zug war fast da.

»Nimm den nächsten.«

»Was?«, fragte er überrascht und riss sich vom Anblick der riesigen Lok los, um erneut einen Blick nach hinten zu werfen. »Wieso?«

»Ich würde vorher gerne den Grund wissen.«

»Hä?«

»Wenn du springst, muss ich das den Cops melden. Die werden wissen wollen, wieso. Vielleicht will deine Familie auch erfahren, warum du es getan hast, wenn sie später deine Einzelteile beerdigen.«

Was war das denn für ein Spinner? »Ich habe keine Familie.«

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Dann die Cops. Bitte erspar es mir, die restliche Nacht auf einem muffigen, nach uraltem Kaffee riechenden Revier zu hocken und Berichte zu unterschreiben.«

Bomer blinzelte und hätte sich gerne gegen die Stirn getippt, um diesem Kerl zu zeigen, für wie bescheuert er ihn hielt. Der konnte nicht ganz dicht sein. Wer sprach denn freiwillig und in tiefster Nacht einen Selbstmörder an, der auf einer Brücke stand? Also mal abgesehen von Cops oder Psychologen? Bomer betrachtete den Mann genauer. Nein, ein Bulle war er sicher nicht und wie ein Psychofutzi sah er auch nicht aus. Eher wie ein Banker.

»Hau ab!«, murrte er schließlich, was nicht wirklich Eindruck hinterließ, denn er wurde dafür angegrinst.

»Geht nicht, ich bin Anwalt.«

»Auch das noch«, stöhnte Bomer und sah frustriert wieder nach unten. Der Zug donnerte gerade unter ihm entlang und ließ das Metall der Brücke leicht vibrieren. »Besten Dank, du Arsch. Jetzt muss ich deinetwegen auf den nächsten warten.«

Leises Lachen ertönte in seinem Rücken, dann warf der Anwalt die Autotür zu und kam langsam auf ihn zu. Er war dabei so vorsichtig und behutsam, dass Bomer instinktiv spürte; der Kerl wusste, wie ernst es ihm war.

»Erzählst du mir, warum du springen willst?«

»Weil mein Leben im Arsch ist.«

»Das ist es immer, wenn sich jemand auf eine Brücke stellt«, konterte der Anwalt und lehnte sich neben ihn an das Geländer. »Erzähl´s mir.«

Bomer schnaubte. »Wieso sollte ich?«

»Wieso nicht?«

»Sag mal, hast du nichts zu tun?« Er warf der menschlichen Nervensäge einen abschätzigen Blick zu. »Ein Anwalt, der spätnachts in seinem teuren Anzug einen Selbstmörder anspricht, der muss echt Probleme haben. Pass lieber auf, dass ich es mir nicht auf einmal anders überlege und dir eine reinziehe, um mir deinen Mantel zu klauen.«

»Du bist ganz schön angriffslustig für jemanden, der sich umbringen will.«

»Na und?«

»Ich heiße Adrian.«

»Scheiß drauf.«

Sein Gegenüber grinste und drehte sich nach vorne, sodass er auf die im Licht der Laternen schimmernden Gleise hinunterschauen konnte. »Ich komme gerade aus dem Büro. Normalerweise fahre ich nicht diesen Weg nach Hause, aber sie bauen auf meiner üblichen Strecke wieder. Trey, mein Mann, wird schon schlafen. Wir haben gestern gestritten.«

Wenn dieser Arsch ihm jetzt seine Lebensgeschichte erzählte, würde er ihm tatsächlich eine verpassen. »Kein Wunder, wenn du so lange arbeitest«, ätzte Bomer und bekam dafür ein Seufzen als Antwort.

»Ich weiß. Nur noch ein paar Tage, dann ist der Fall erledigt. Ich schätze, ich werde wohl bei ihm zu Kreuze kriechen müssen.«

»Hm«, machte Bomer nichtssagend und setzte sich umständlich wieder hin, weil er sich doch langsam blöd vorkam, hier zu stehen und auf den Zug zu warten. Erst da kam in seinem vom Alkohol vernebelten Verstand an, was er eben gehört hatte. »Äh … Du bist mit einem Kerl verheiratet?«

»Ja. Stört dich das?«

»Nee.« Bomer hickste. »Sorry«, nuschelte er und rieb sich den Nacken. »Du bist reich, oder?«

Er wusste gar nicht, wie er auf die Frage kam. Ob es am Anzug lag? Oder wollte er einfach nur das Gespräch nicht abreißen lassen? Noch war der nächste Zug nicht in Sicht und alleine hier sitzen, brachte nur wieder düstere Gedanken mit sich. Da konnte er sich genauso gut mit diesem Anwalt unterhalten.

»Ja, und ich schätze, du nicht«, konterte Adrian und lächelte ihn an. »Aber ich bezweifle, dass du deswegen hier oben sitzt.«

Bomer antwortete nicht, sondern wandte den Blick ab. Was sollte er darauf schon sagen? Was ging es den Typen an? Nichts. Andererseits, was änderte es, ob er ihm davon erzählte?

»Ich wette, dein Leben war immer toll«, sagte er und kümmerte sich nicht darum, wie abfällig seine Stimme klang. »So richtig ekelhaft perfekt mit Kindermädchen, Chauffeur und jeder Menge Kohle. Hatte ich auch mal. Also Geld. Sogar viel. Kriegt man, sofern man dämlich genug ist, ins Ausland zu gehen. Nur verraten sie einem in der Ausbildung nicht, wo man endet, wenn man nicht auf sich aufpasst. Ich fand nie etwas dabei, jemanden umzubringen. Tut man eben für sein Land. Aber den … Ich habe es genossen, den Arschficker Stück für Stück auseinanderzunehmen. Ihn fertigzumachen, bis er nach Mama gebettelt hat. Dann hab ich ihn abgestochen.«

»Marine oder Seal?«, fragte Adrian und riss ihn damit aus seinen Erinnerungen. Gerade rechtzeitig, da sein Magen angefangen hatte, sich von innen nach außen zu stülpen. So fühlte es sich jedenfalls an.

Bomer schluckte einige Male und wischte sich dabei mit der Hand über den Mund. Er hatte plötzlich Durst. Wahnsinnigen Durst. Er nahm ein wenig Schnee in die Hand und formte eine Kugel, an der er dann leckte. Das war zwar nicht gerade Wasser aus der Flasche, aber es beruhigte seine ausgedörrte Kehle.

»Seal. Ich war ein Seal«, antwortete er schließlich auf Adrians Frage.

»Gefangenschaft?«

»Hm«, machte Bomer zustimmend.

»Du warst nicht allein, oder? Du hast jemandem das Leben gerettet.«

Bomer fragte nicht, woher der Anwalt es wusste. Er nickte nur, mehr war nicht drin. Mehr würde niemand aus ihm herauskriegen, nicht ohne Gewalt. So besoffen konnte er nicht werden, um zuzugeben, dass er für Mac seinen Arsch hingehalten hatte, damit sie ihn nicht umbrachten. Und dass er die erstbeste Gelegenheit zur Flucht genutzt und ein Blutbad angerichtet hatte, bevor Chase und der Rest der Truppe sie raushauen konnten. Für Macs Auge war es zu spät gewesen, aber sie hatten überlebt.

»Ich konnte ihn nicht retten ... Den ersten Mann, der mir etwas bedeutete. Er ist in den Tod gesprungen.«

Bomer seufzte leise. »Ach so, ich bin deine gute Tat für heute Nacht, oder was?«

»Nein«, widersprach Adrian sehr leise. »Ich bin deine zweite Chance, wenn du sie willst.«

 

 

Kapitel 4

 

»Zweite Chance«, murmelte Bomer und sah die Beutel in seinen Händen nachdenklich an.

Er hatte Adrians Angebot damals angenommen, obwohl er beim Herunterklettern von der Brücke beinahe abgestürzt war. Doch der Anwalt hatte sofort zugegriffen und ihn festgehalten. Seinen betrunkenen, schweren Körper rabiat über die Brüstung gezerrt, bis sie heftig keuchend auf dem kalten Boden lagen.

In dieser Nacht begann sein Leben mit zwei Männern von vorn, die sich den Arsch aufgerissen hatten, um ihm dabei zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, ob dieser Fremde in seinem Schlafzimmer ebenfalls eine neue Chance oder eine Tracht Prügel brauchte. Doch das würde er nicht herausfinden, indem er weiter hier herumsaß und grübelte. Daher vergrub Bomer beide Beutel, mit ihrem Inhalt, wieder genau dort, wo er sie gefunden hatte, und machte sich auf den Weg nach Hause.

 

»Ich habe Durst.«

»Ist mir scheißegal«, erwiderte er auf die mürrische Begrüßung aus dem Mund des Unbekannten, und nahm sich frische Shorts, um duschen zu gehen.

Vielleicht würde er später nett sein und Wasser rausrücken, aber das kam ganz darauf an, wie sein Gast sich benahm. Hunger dürfte er mittlerweile auch haben, aber was das betraf, wollte Bomer ihn noch mindestens diese Nacht schmoren lassen. Er hielt grinsend den Kopf unter den warmen Wasserstrahl, als ihm einfiel, dass er noch ein Steak im Gefrierschrank hatte. Und das würde er sich zum Abendessen machen, welches er gemütlich im Bett zu essen gedachte, direkt vor der Nase seines hungrigen Einbrechers.

Nach der Dusche fiel Bomer auf, dass er seine Hose im Schlafzimmer liegen gelassen hatte. Er hing das Handtuch auf, schlüpfte in seine Unterwäsche und ging nach nebenan. Aus den Augenwinkeln merkte er, dass er angestarrt wurde, und zwar mit offenem Mund.

»Was ist?«, fragte Bomer irritiert.

»Geiles Tattoo«, bekam er murmelnd zur Antwort und grinste belustigt, als sein Gegenüber nach seinen Worten rot anlief.

»Findest du?« Bomer drehte sich Richtung Spiegel, wohl wissend, dass er dem Mann damit einen perfekten Ausblick gewährte. »Hat eine Ewigkeit gedauert, bis das Ding fertig war.«

»Hm«, machte sein geheimnisvoller Fremder und klang auf einmal verlegen.

Bomer lachte in sich hinein und verschwand aus dem Schlafzimmer, um Emma und Charly zu füttern und sich nebenbei um sein eigenes Essen zu kümmern.

Mister Namenlos gefiel also sein Tattoo. Wenn das nicht hochinteressant war. Bomer kramte eine Pfanne aus dem Schrank und stellte sie auf den Herd. Es war nicht das erste Mal, dass er wegen des Drachens auf seinem Rücken bewundert wurde, allerdings hatte er nie erwartet, dass sein verhinderter Meuchelmörder auch zu der Sorte Mann gehörte, die auf Tattoos abfuhren. Schon gar nicht auf solche großen. Sein farbiger Drache begann auf der rechten Seite in Hüfthöhe und zog sich über den ganzen Rücken. Das Stechen hatte Monate gedauert und die Schmerzen an einigen Stellen waren damals nicht zu verachten gewesen. Doch das Ergebnis war es wert.

Es dauerte nicht lange und der Geruch des Fleisches zog durch sein Haus. Emma und Charly bettelten, bis er ihnen ein paar Stücke Fleisch überließ, bevor er mit dem Tablett, auf dem der Teller mit dem Steak, Pommes und Bohnen stand, nach oben ging. Dazu gab es ein Bier und als Nachtisch frischen Joghurt, den er aus der Packung in eine Kompottschüssel gefüllt und mit Ananasstücken aus der Dose garniert hatte. Das war ein Aufwand, den er normalerweise niemals betrieben hätte, aber für seinen durstigen, hungrigen Gast würde es hoffentlich reichen, um ihn zu quälen und möglicherweise, im Austausch für Wasser und Essen, einige Antworten zu entlocken.

»Das wird nicht funktionieren«, erklärte der Kerl, als Bomer es sich auf seinem Bett bequem gemacht hatte.

»Früher oder später wird es das tun«, konterte er und nahm sich ein paar Pommes. »Mhm, lecker.«

»Arschloch«, grollte es von der Heizung her, aber ihm entging das minimale Grinsen nicht, das ihn, auch wenn es seinen Plan torpedierte, amüsierte.

Bomer konnte sich nicht erklären warum. Eigentlich sollte er sauer sein. Mehr als das sogar. Immerhin hatte er dank dieses Typen auf dem Fußboden ein Loch in der Hand. Die Wunde störte ihn zwar nicht sonderlich, aber sie war da. Für einen Seal eine Schmach. Selbst wenn er seit Jahren außer Dienst war. Das änderte nur nichts an der Tatsache, dass er seinem Gefangenen im Augenblick nicht böse war.

»Versuch es mit Verdursten. Das geht schneller.«

»Tot nützt du mir nichts.«

»Stimmt, du willst Antworten. Hatte ich vor lauter Hunger schon vergessen.«

Bomer grinste und spießte ein Stück Steak auf seine Gabel. »Willst du?«

»Dir die Gabel ins Herz stechen? Oh ja.«

»Immer diese leeren Versprechen.« Bomer aß das Fleisch mit Genuss und verkniff sich ein Lachen, als der Magen seines Gegenübers hörbar knurrte, woraufhin der den Blick abwandte. »Ich habe den Pick-up gefunden«, erklärte er übergangslos. »Und die Beutel, die du vergraben hast.« Bomer war sich der Aufmerksamkeit des Mannes bewusst, obwohl der weiter die Wand neben dem Spiegel anstarrte. »Keine Sprengfallen, keine Minen. Ich war ein bisschen enttäuscht.«

»Beim nächsten Mal werde ich daran denken«, murrte sein störrischer Gast und funkelte ihn wütend an. »Wenn du nicht vorhast, mich einfach kaltzumachen, stell dich besser darauf ein, dass ich sehr lange hierbleibe. Von mir erfährst du kein Wort.«

Bomer nickte, denn er hatte nichts anderes erwartet. »Durchhalten bis zum letzten Atemzug, das hat man dir nicht beigebracht, auch wenn du gerade so tust, als ob es so wäre. Was das angeht, bin ich dir weit voraus.«

»Du bist kein Parkranger.«

»Oh doch, das bin ich«, widersprach Bomer und stand auf. Er nahm sich das Bier vom Tablett und stellte das restliche Essen auf den Fußboden, in Reichweite seines Angreifers, der ihn daraufhin irritiert anstarrte. Er ging vor ihn in der Hocke. »Du hast recht, Durst funktioniert schneller, und da du vorhast fürs Erste bei mir zu leben, solltest du die Gelegenheit nutzen, denn das«, er deutete auf das Steak und den Joghurt, »wird die letzte Nahrung sein, die du in nächster Zeit von mir bekommst.«

»Wer bist du?«

»Willkommen im Club. Denn das frage ich mich auch schon die ganze Zeit, was dich angeht.«

»Foltern in Form von Wasser- und Nahrungsentzug?« Der Unbekannte grinste in einer Art und Weise, als hätte er nichts anderes erwartet. »Das passt zu dir. Obwohl ich ja zuerst dachte, du hantierst lieber mit Messern, Strom oder sonstigen netten Werkzeugen.«

»Das kann ich dir bieten, sofern du darauf bestehst.«

Ein hämischer Blick traf ihn. »Denkst du wirklich, du bist Manns genug dafür?«

Bomer ließ sich sein Erstaunen nicht anmerken, aber die Richtung, die ihr Gespräch nahm, bescherte ihm ein flaues Gefühl in der Magengegend. »Wie viele Menschen hast du schon getötet?«, fragte er kalt.

»Keinen. Du wirst der erste und einzige sein!«

Bomer erhob sich und hielt den Augenkontakt mit dem Mann, der ihn mit einem Blick ansah, als gäbe es nichts, was er mit ihm tun könnte, das er selbst nicht bereits erlebt hätte. »Achtunddreißig.« Er brauchte diese Zahl nicht erklären, sein Gegenüber begriff auch so, was gemeint war, so schockiert, wie er ihn daraufhin ansah. »Beantwortet das die Frage, ob ich Manns genug dafür bin?«, fragte er trocken und deutete auf das Messer vom Besteck, das neben dem Teller lag. »Wenn du klug bist, erledigst du das Problem für mich. Sich die Pulsadern aufzuschneiden, um damit Schlimmerem zu entgehen, halte ich für durchaus legitim.«

Der Unbekannte wurde so blass, wie eine frisch gekalkte Mauer, und das war der letzte Beweis, den Bomer noch gebraucht hatte, um sicher zu sein. Dieser Mann hatte vom Töten nicht die geringste Ahnung. Trotzdem ließ er sich nicht in eine Ecke drängen. Das Ganze lief nicht im Geringsten so ab, wie Bomer es gewohnt war. Normalerweise reichten seine Statur und das Andeuten von Dingen, die er zu tun gedachte, vollkommen aus, um Gegner zu Fall und zum Reden zu bringen. Aber der hier würde nicht so einfach zu knacken sein.

Bomer gestand sich ein, dass er davon beeindruckt war, aber gleichzeitig ärgerte ihn die Hartnäckigkeit des Mannes. Er musste unbedingt ein wenig runterkommen, bevor er einen Fehler machte. Charly bellte und gab ihm den perfekten Grund, sich für eine Weile aus dem Staub zu machen. Er zwinkerte seinem Gast zu.

»Du hast Glück. Mein Hund hat Sehnsucht nach mir. Wir reden später weiter. Guten Hunger.«

 

Zwei Bier später hatte er sich ausreichend beruhigt, dass er gefahrlos sein Handy nehmen und eine Nachricht verfassen konnte. Er löschte sie dreimal, weil er nicht die richtigen Worte fand, und fluchte schlussendlich, um das nächstbeste abzuschicken, was seine Finger hergaben. Es würde keine fünf Minuten dauern, bis eine Antwort kam, so gut kannte er seinen Mentor. Vor allem, da er außer: 'Ich habe Probleme.' nichts geschrieben hatte. Auf Adrian Quinlan war in solchen Fällen Verlass.

Bomer schlug den Kragen seiner Jacke hoch und warf einen Ast für Charly, der ihm schwanzwedelnd und laut bellend nachjagte. Er beobachtete den Welpen amüsiert, weil der kleine Racker immer wieder stolperte. Bis er ein ausgewachsener, eleganter Labrador war, würden noch Monate ins Land gehen.

Der Wind frischte auf und Bomer verwünschte sich, weil er vergessen hatte, sich eine Mütze und Handschuhe mitzunehmen. Es war spät und dunkel, die Temperatur lag im Keller und würde in der Nacht vielleicht schon die Nulllinie überschreiten. Neben dem baldigen Schnee war Bodenfrost angesagt. Das nächste Mal würde er auf einen Spaziergang verzichten und beim Kamin bleiben. Den er heute nicht mal angezündet hatte, fiel ihm ein.

Bomer runzelte angesäuert die Stirn. Sein Gast wurde langsam zu einem ernsten Störfaktor. Er brachte seinen normalen Tagesablauf durcheinander, und das gefiel ihm nicht. Sein Handy piepte und lenkte ihn ab.

Ruf an, Dickschädel!

Kurz und knapp, so typisch Adrian. Bomer schmunzelte, warf erneut den Ast, welchen Charly ihm zurückgebracht hatte, und tippte eine Antwort. Sein Handy klingelte keine Minute später.

»Lass den Blödsinn! Du weißt ganz genau, dass ich immer Zeit für dich habe.«

»Du hättest beschäftigt sein können.«

»Wenn ein Mann wie du freiwillig Kontakt aufnimmt und zugibt, dass er Probleme hat, nehme ich mir Zeit für ihn. Egal, was ich gerade tue. Also? Was ist los?«

Bomer gab den Vorfall von letzter Nacht in knappen, ungeschönten Sätzen wieder. Adrian hörte stumm zu, bis er an der Stelle mit seinem Schlafzimmer ankam.

»Moment. Du hast mir eben nicht gesagt, dass du den Kerl bei dir gefangen hältst, oder?«

Es war besser, dass Adrian sein folgendes, genervtes Augenverdrehen nicht sehen konnte. Der Anwalt hätte ihm dafür sofort die Leviten gelesen. Gut, das würde er sowieso tun, also konnte er es genauso gut hinter sich bringen, dachte Bomer.

»Doch, habe ich. Er sitzt seit gestern Nacht angekettet an meiner Heizung im Schlafzimmer.«

»Evan!«

»Was? Hätte ich ihn etwa laufen lassen sollen?«, fragte Bomer giftig und hielt das Handy vom Ohr weg, als Adrian daraufhin laut auf Japanisch fluchte.

»Das ist illegal!«, zischte er anschließend. »Noch dazu, wo er verletzt ist. Ich sage ja nicht, dass ich es an deiner Stelle nicht genauso gemacht hätte. Aber wenn der Junge stirbt, aus welchen Gründen auch immer, bist du dran.«

»Nicht, wenn es keine Leiche gibt.«

Das saß. Adrian schwieg eine Weile. »Also schnön. Reden wir Klartext. Hast du seine Verletzungen versorgt?«

»Ja.«

»Geht es ihm sonst gut?«

»Noch ja.«

»Das heißt?«

»Er will mir weder sagen, wer er ist, wer ihn geschickt hat, noch was er will.«

»Dich umbringen, dachte ich.«

»Ja, aber ich will einen Grund wissen.«

»Ah«, machte Adrian verstehend. »Du denkst darüber nach, ihn höflich zu fragen. Wobei 'höflich' wohl eher das falsche Wort dafür ist. Ganz der Folterknecht, der du früher warst, nicht wahr?«

Bomer schnaubte bei Adrians abfälligem Tonfall. »Spiel dich nicht so auf. Du weißt sehr gut, was ich früher gemacht habe, und trotzdem hast du meinen versoffenen Arsch von der Brücke geholt.«

»Zu dem Zeitpunkt kannte ich dich kein Stück, vergiss das nicht. Und du weißt, dass ich der Letzte bin, der dir wegen unorthodoxer Methoden in den Rücken fällt. Aber zwischen einem Faustschlag, um ein paar Antworten zu bekommen, und foltern, besteht ein großer Unterschied, Evan.«

»Kommst du mir jetzt wieder mit den Grenzen, die man besser nicht überschreitet?« Bomer trat sauer gegen einen alten, knorrigen Baumstamm, den er vor wenigen Wochen gefällt hatte, als der drohte, über den Spazierpfad zu stürzen. »Ich will wissen, wer er ist. Und er wird es mir erzählen, so oder so, Anwalt!«

»Schick mir ein Foto von ihm und ich finde es raus«, verlangte Adrian und Bomer ballte die freie Hand zur Faust. »Und knurr mich jetzt ja nicht an, Evan. Du weißt, dass ich in dem Fall recht habe!«

»Leck mich!«

»Danke für das Angebot, aber ich bin verheiratet.«

»Du blöder ...«

»Evan, reiß dich zusammen oder dieses Telefonat ist beendet und du hast spätestens morgen Mittag Mac und Chase auf dem Hals.«

Bomer knirschte vor Ärger mit den Zähnen. »Das ist Erpressung!«

»Funktioniert es?«

»Ja«, murrte er und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Kein Foto«, erklärte er nach einer Weile, die Adrian schweigend am anderen Ende gewartet hatte. »Dabei hinterlässt du Spuren.«

»Willst du mich beleidigen?«

»Nein, aber wir beide wissen, dass es nun mal so ist. Jemand könnte unabsichtlich aufgeschreckt werden.«

»Du bist uneinsichtiger, als gut für dich ist.«

»Ich habe vom Besten gelernt.«

»Ach ja? Sag mir seinen Namen und ich schicke ihm einen Strauß Blumen als Dankeschön.«

Bomer musste ungewollt lachen. »Das darf ich nicht und das weißt du. Adrian, unsere Freundschaft beruht auf Vertrauen … Na ja, wohl eher auf Geheimniskrämerei, aber darin sind wir gut. Was ich damit sagen will, ist, dieser Kerl bleibt hier, bis ich Antworten habe, und ich erzähle dir das, falls du nichts mehr von mir hörst. Dann ist ihm gelungen, zu tun, weshalb er gekommen ist.«

»Du rufst mich an oder schickst Nachrichten. Regelmäßig. Alle zwei Tage. Höre ich nichts von dir, schicke ich Chase und die Jungs los.« Adrian atmete hörbar durch. »Bomer, geh nicht zu weit. Das hat dich bei den Seals fast das Leben gekostet. Verlier nicht die Kontrolle. Egal, was er sagt oder tut, reiß dich zusammen. Versprich mir das.«

»Ich versuche es.«

»Einverstanden. Ich erwarte deine Nachricht.«

»Danke. Bis in zwei Tagen.«

»Warte«, bat Adrian, bevor er auflegen konnte. »Da ist etwas an dem Mann, das dich nervös macht. Du musst dazu nichts sagen, ich kann es an deiner Stimme hören. Vielleicht solltest du herausfinden, was es ist.«

»Warum?«

»Weil er seit Jahren der erste Mann ist, den du länger als ein paar Stunden am Stück um dich hast, ohne ihm bisher an die Gurgel gesprungen zu sein. Auch wenn die Umstände diesbezüglich ein klein wenig … nun, ich sage mal, ungewöhnlich sind.«

Bomer biss sich auf die Zunge, um kein Wort dazu zu sagen, weil er sich sonst verraten hätte.

»Dein Techtelmechtel mit Jake zählt nicht.«

»Verdammt!«, fluchte er und Adrian lachte. »Wer hat es dir erzählt?«

»Ihr wurdet gesehen. Von einem von Trevors Leuten. So erfuhr es Maggie und die hat es Jake natürlich sofort unter die Nase gerieben.«

»Das erklärt nicht, woher du davon weißt.«

»Liam erzählt mir alles.«

»Das tut er nicht«, widersprach Bomer, denn Jakes junger Freund war eine Menge, aber keine Klatschtante.

»Wenn ich ihn erpresse schon«, konterte Adrian, was ihn unwillkürlich grinsen ließ. »Und, nein, du willst nicht wissen, womit ich ihn erpresst habe«, sprach der Anwalt hörbar amüsiert weiter. »Aber was dich und Jake angeht, es hätte nicht funktioniert … Ihr seid zu verschieden. Du zu geheimnisvoll, er zu ehrlich und hilfsbereit. Dein unbekannter Gast scheint mir eher deine Richtung zu sein.«

Bomer blieb der Mund offenstehen. »Das soll ja wohl ein Scherz sein? Willst du mir weismachen, ich habe den Mann, der mir, ohne dabei mit der Wimper zu zucken, ein Messer durch die Hand gejagt hat, an meine Heizung gefesselt, weil ich ihn geil finde?«

»Ich habe nichts von 'geil' gesagt, Bomer, das ist deine Interpretation. Ich denke, dass irgendetwas an ihm dich fasziniert. Wäre es anders, hättest du mir nicht von ihm erzählt, sondern ihn letzte Nacht umgebracht.«

Adrian legte auf, ehe er reagieren konnte. Bomer fluchte nicht. Er schrie seine Wut auch nicht heraus, wie sein Therapeut es damals vorgeschlagen hatte. Das war nicht sein Stil. Noch nie gewesen. Bomer bevorzugte es leise und unauffällig. Ein weiteres Überbleibsel aus seiner Zeit bei den Seals. Man konnte schließlich nicht lachend und tratschend in einen Einsatz ziehen.

Er schob das Handy in seine Jacketasche und nahm den Ast aus Charlys Maul, der ganz still zu seinen Füßen gewartet hatte, so als wüsste er, dass es besser war, sein Telefonat mit Adrian abzuwarten. Dieser sonst so wilde Welpe besaß ein sehr sensibles Gespür für Stimmungen, das hatte er mit Emma gemeinsam. Die alte Norwegerdame brauchte ihn nur anzusehen, um zu bekommen, was sie wollte, und zwar jedes Mal.

Bomer warf den Ast und Charly stob begeistert hinter ihm her. Lächelnd sah er dem Welpen zu, atmete tief die eisige Abendluft ein und fragte sich, ob sein noch immer namenloser Besucher wohl erneut versucht hatte, sich zu befreien. Er traute es ihm durchaus zu, überlegte Bomer, und pfiff leise. Charly sah ihn an, bellte und kam zu ihm, als er mit der Hand gegen seinen Oberschenkel klopfte.

»Komm, mein Junge. Ab nach Hause.«

Es war an der Zeit herauszufinden, mit wem er es zu tun hatte.

 

 

Kapitel 5

 

Aus der geplanten Fragerunde wurde aber nichts, denn als Bomer eine Stunde später in sein Schlafzimmer trat, lag der Fremde schlafend in seinem provisorischen Bett. Er hätte ihn aufwecken können, aber als Bomer auf ihn zutrat, um genau das zu tun, brachte er es nicht fertig und ärgerte sich wahnsinnig darüber. Was war bloß mit diesem Typen, dass er Skrupel entwickelte?

Das war nur Adrians Schuld. Der hatte ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt und bei seinem Pech würde er ihn jetzt nicht mehr loswerden. Genauso wie Mister Unbekannt.

Bomer kam den ganzen Abend lang nicht zur Ruhe und drehte sich irgendwann von einer Bettseite auf die andere, oder starrte die Decke an, um irgendwann in einen unruhigen Schlaf zu fallen, aus dem er schreiend wieder erwachte. Es dauerte lange, bis er klar genug war, um zu begreifen, dass er in seinem eigenen Bett lag und nicht im Dschungel, wo sie sich an ihm vergangen hatten.

Am ganzen Körper zitternd, schob er die Bettdecke zurück und hob die Beine langsam über den Rand. Als er mit den Fußsohlen den eiskalten Boden berührte, war es wie ein kleiner Schock. Er zischte auf, denn die Kälte tat weh. Stach wie spitze Nadeln in seine nackten Füße. Dennoch blieb Bomer sitzen und wartete, bis das Zittern aufhörte und die Nadeln zu einem mühsam ertragbaren Pochen wurden. Er begann zu frieren.

»Was hast du geträumt?«

Bomer zuckte zusammen und sah zur Heizung. Mist. Er hatte seinen Gefangenen völlig vergessen. Sein erster Albtraum seit Monaten und dann bekam dieser komische Kerl ihn auch noch live mit. »Nichts.«

»Wenn jemand schreiend aus dem Schlaf hochfährt und dabei zittert und nach Luft schnappt, als wäre er im Traum ermordet worden, kann ich mir an zehn Fingern abzählen, was los ist. Also spar dir die Lüge.«

»Es geht dich nichts an.«

»Feigling.«

»Arschloch!«, zischte Bomer und stand auf. Er musste sich am Nachttisch festhalten, weil sein Kreislauf verrückt spielte, und ärgerte sich darüber, dass der Kerl diese Schwäche auch noch mitbekam. Ohne einen Blick auf ihn zu werfen, ging er hinüber ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Erst warm, dann heiß, dann kalt. Es half und ließ ihn wieder zu sich kommen.

Warum heute? Nach all der Zeit, die er ruhig und ohne Erinnerung an seine Vergangenheit geschlafen hatte. Bomer hielt den Kopf unter den warmen Wasserstrahl. Bald würde es endgültig kalt werden, wenn er den Vorrat im Boiler verbrauchte, aber das war ihm gleichgültig. Es war sein Haus, sein Badezimmer, sein heißes Wasser. Er lebte hier, in seiner neuen Heimat, und die wollte er sich nicht von einem verhinderten Meuchelmörder oder den Schatten seiner Vergangenheit nehmen lassen.

Er drehte das Wasser erst ab, als es zu kalt wurde, und ging ins Schlafzimmer zurück, wo er irritiert in der Tür stehen blieb. Emma saß auf seinem Bett und putzte sich, während Charly hechelnd bei seinem unbekannten Gast lag und sich von ihm streicheln ließ.

»Wie ist sein Name?«

»Charly«, sagte Bomer automatisch und ging an seinen Schrank, um sich eine frische Shorts anzuziehen. »Die Katze heißt Emma.«

»Ich mag Tiere«, murmelte sein störrischer Gefangener. »Wir hatten nie welche.«

»Wir?«

Es kam keine Antwort, und als Bomer sich umdrehte, hatte der Mann ihm den Rücken zugewandt und sich wieder hingelegt. Ein Puzzlestück, das an seinen Platz rückte, begriff Bomer, denn dieses 'wir' verriet sein Gegenüber. Obwohl er keinen Beweis hatte, war er nun sicher, dass der Grund für all das hier einen Namen hatte, und der Mensch dahinter war seinem Gefangenen sehr wichtig gewesen.

Rache also.

Bomer lehnte sich mit seinem Rücken ans Kopfteil vom Bett, schaltete das Licht aus und ließ zu, dass Emma sich neben ihm zusammenrollte. Er würde auch Charly lassen, wo er war, denn dort schien er gut aufgehoben zu sein. Bomer sah zum Fenster hinaus und betrachtete den Mond, während er nachdachte.

Wenn er wenigstens einen Namen gehabt hätte, einen Hinweis darauf, wen er getötet, für wen er sterben sollte. Auge um Auge. Das Sprichwort war Bomer geläufig. Er hatte es bei den Seals selbst angewendet. Sogar öfter, als ihm mittlerweile lieb war. Aber früher war sein Leben von Befehlen geprägt gewesen, und er wollte nicht mehr morden oder selbst in den Tod gehen, ohne den Grund dafür zu kennen.

Sein Blick wanderte zurück auf den Mann am Boden. Er sah seinen Atembewegungen einige Zeit zu und schmunzelte, als Charly über ihn kletterte, um es sich eng an der lebenden Wärmequelle gemütlich zu machen. Sein Gast zog den Welpen im Schlaf an sich, was Bomer einen Stich im Inneren bescherte, den er verärgert von sich schob. Genauso wie den flüchtig durch seinen Verstand rasenden Gedanken, wie es sich wohl anfühlen würde, wäre er der Umarmte.

Mit Jake hatte es ihm gefallen. Nachdem er sich von seinem Schock erholt hatte, mitten in der Nacht wach zu werden und von zwei langen Beinen und starken Armen umschlungen zu sein. Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, Jake einfach auf sich liegen zu lassen, aber mit jeder Sekunde, die vergangen war, hatte Bomer gespürt, wie er ruhiger geworden war und sich entspannt hatte.

Vielleicht sollte er es auf diesem Weg probieren. Mit Gelassenheit, Ruhe und Freundlichkeit. Da er mit seinen Androhungen von neuer Gewalt augenscheinlich nicht weiter kam, war es einen Versuch wert.

 

»Was soll das jetzt für ein Trick sein?«

»Ich bin ein netter Gefängniswärter und lasse dich heute duschen.« Bomer lehnte sich belustigt an den Türrahmen. »Du kannst natürlich auch gerne dreckig bleiben, wenn dir das lieber ist.«

Das hör- und sichtbare Misstrauen, welches ihm von der anderen Ecke des Badezimmers aus entgegenschlug, war amüsant und lästig zugleich. Bomer knurrte der Magen und sie diskutierten hier schon mehrere Minuten herum. Seit er seinem Gast gesagt hatte, dass er duschen konnte und sich Zeit lassen durfte, stand der neben der Toilette und starrte ihn mit vor der Brust verschränkten Armen an. Es hätte ihm klar sein müssen, dass der Mann ihm nicht so einfach glauben würde, aber dieses Hin und Her zerrte langsam an Bomers Nerven.

»Herrje, es ist nur Wasser und Duschgel. Keine Säure auf deiner Haut. Stell dich nicht so an.«

Obwohl er danach böse angesehen wurde, entging Bomer der sehnsuchtsvolle Blick nicht, der einen Augenblick zur Duschwanne wanderte. »Und du bleibst die ganze Zeit wieder an der Tür stehen, damit ich nicht aus dem Fenster hüpfe, oder was?«

»Korrekt«, antwortete Bomer trocken und ließ seine Augen mit Absicht genießerisch über seinen Gefangenen wandern. Er wusste nicht, woher der plötzliche Wunsch kam, den Sturkopf ein bisschen zu necken, aber dessen Reaktion folgte auf dem Fuße.

»Sieh mich nicht so an!«

»Warum denn nicht?«, stichelte Bomer feixend. »Ich will schließlich auch etwas davon haben, dass du mir seit Tagen auf die Nerven gehst.«

»Und das bekommst du, indem du mich unter deiner Dusche bespannst?« Den Worten folgte ein sehr abfälliges Schnauben. »Echt jämmerlich. Fällt dir keine bessere Foltermethode ein?«

»Ich überlege noch, und bis mir was Passendes für dich einfällt, genieße ich einfach deinen Anblick.«

Ein trotziger Blick traf ihn, der Bomer fast lachen ließ. Aber damit hätte er möglicherweise eine Schlägerei herausgefordert, daher grinste er nur, was kurz darauf sogar erwidert wurde. Bomer ließ sich sein Erstaunen darüber nicht anmerken.

»Ein schwuler Parkranger, der aussieht, als hätte er in den letzten zwanzig Jahren zu viele Gewichte gestemmt. Ich glaub's ja nicht.«

Bomer verschränkte die Arme vor der Brust. »Hast du etwas gegen Schwule?«

»Solange du mir nicht an den Arsch gehst, nein.« Der Mann stutzte, blickte ihn misstrauisch an. »Ah, ich verstehe. Das gehört also zu deinem Plan. Du wartest ab, bis ich nackt bin, und dann fällst du über mich her.«

Der letzte Satz vertrieb jede alberne Stimmung, die in ihm eben noch vorgeherrscht hatte. Bomer erstarrte und das entging dem Namenlosen nicht, der daraufhin irritiert die Stirn runzelte. Doch bevor er etwas sagen konnte, hatte Bomer die wenigen Schritte von der Tür bis zur Toilette bereits überbrückt und drängte sein Gegenüber gegen die Wand.

»Es gibt schlimmere Foltermethoden, als eine Frau oder einen Mann zu vergewaltigen, und trotzdem ist es das, wovon sich die wenigsten Opfer jemals wieder erholen. Sofern sie es überhaupt überleben. Aber nur zu deiner Information, ich werde deinen Arsch nicht anrühren. Das würde ich niemals jemandem antun, kapiert?«

»Oh mein Gott.«

Bomer ließ von dem Mann ab und machte kehrt. Die Tür des Badezimmers knallte hinter ihm zu, als er in den Flur stürmte. Das ehrlich gerufene »Es tut mir leid.« aus dem Inneren, hörte er dennoch.

Soviel zu Freundlichkeit, Gelassenheit und Ruhe. Am liebsten hätte Bomer das Haus verlassen, um eine sehr lange Runde durch den Wald zu machen. Aber das wagte er nicht, immerhin war ein ungefesselter Attentäter in seinem Badezimmer. Der keine Kleidung zum Wechseln besaß, fiel ihm abrupt ein. Bomer fluchte unflätig und machte kehrt, um in sein Schlafzimmer zu gehen und Abhilfe zu schaffen. Was er trug, würde dem Kerl nicht passen, dazu war er zu schlank und zudem kleiner als er selbst, aber fürs Erste musste es eben reichen.

Als er mit einem Stapel Wäsche in den Flur trat, ging die Tür vom Badezimmer auf. Sein Gast hatte sich in eins der größeren Badetücher gewickelt und Bomer runzelte irritiert die Stirn, da er sich damit bis zur Brust bedeckte. Das taten normalerweise eher Frauen. Seltsam.

Ihre Blicke trafen sich. Keiner sagte ein Wort. Bomer war trotzdem klar, dass sein Gast genau wusste, was ihm angetan worden war. Vielleicht zu genau?

»Hier«, sagte er schließlich und streckte den Arm mit der Kleidung aus.

»Ich hoffe, du hast ihn dafür fertiggemacht.«

»Ja.«

»Gut«, erklärte Mister Unbekannt und nahm die Sachen. Im nächsten Moment seufzte er leise. »Es gibt einen dritten Beutel mit Ersatzkleidung. Direkt neben deinem Schuppen, von der Tür aus rechts.«

Bomer verstand das ohne weitere Erklärung. »Du wolltest dich danach sauber machen und meine Leiche mitsamt dem Haus und deinen Klamotten verbrennen, richtig?«

»Richtig.«

»Guter Plan.«

»Ich weiß.«

»Zieh dich an und komm runter frühstücken«, sagte Bomer und wandte sich ab.

»Keine Handschellen?«

Er blieb an der Treppe stehen, sah aber nicht zurück. »Ich bin ein Seal. Wenn du denkst, es mit mir aufnehmen zu können, versuch dein Glück.«

Das leise »Fuck!« in seinem Rücken ließ Bomer den ganzen Weg hinunter in die Küche grinsen, auch wenn er sich dabei vorkam wie ein Trottel. War er jetzt komplett verrückt geworden, den Typen ohne Handschellen frei im Haus herumlaufen zu lassen? Er würde höllisch auf seinen Hintern aufpassen müssen, wenn er nicht tot und als Aschehäufchen enden wollte.

 

Sie schlichen den Rest des Tages umeinander herum, ein anderes Wort fiel Bomer dafür nicht ein. Charly fand es toll, noch jemanden zu haben, den er nerven konnte, und sein Gefangener mochte Tiere wirklich. Das bewies er den ganzen Tag lang immer wieder. Selbst Emma ließ sich von ihm streicheln und seine einzige Hausdame war äußerst wählerisch, was das betraf. Max konnte sie zum Beispiel nicht leiden und ging ihm aus dem Weg, sobald der auf einem seiner seltenen Besuche vorbeischaute. Es erstaunte Bomer jedes Mal aufs Neue, wenn Emma sich dazu herabließ, die Gesellschaft seines Gastes zu suchen.

Der sich im Übrigen selbst um seine dreckige Wäsche kümmerte, nachdem sie den dritten Beutel ausgegraben hatten. Bomer nannte zwar keinen Trockner sein Eigen, aber auf den Luxus einer Waschmaschine wollte er nicht verzichten. Das musste sein Generator aushalten, der für Strom und warmes Wasser sorgte.

Nach dem Abendessen, das sie schweigend aßen, sich dabei nachdenklich taxierend, gingen sie gemeinsam mit Charly eine Runde spazieren. Es fiel kein Wort zwischen ihnen und trotzdem hatte Bomer das Gefühl, als wüsste er alles über den stillen Mann neben sich. Dabei wusste er im Grunde genommen nichts. Keinen Namen, kein Geburtsdatum, keine Erinnerungen – kein Leben. Sie waren sich ähnlich und Adrian hatte recht mit dem, was er am Telefon gesagt hatte. Irgendetwas war an dem Kerl, dass er ihn nicht loslassen konnte. Nur was?

Nach ihrer Rückkehr ins Haus entschied sich Bomer für eine Dusche. Die verschaffte ihm zwar keine weiteren oder neuen Erkenntnisse, aber sie lenkte ihn einige Zeit von seinen fruchtlosen Grübeleien ab. Und wo er schon dabei war, holte Bomer seinen Rasierer aus dem Schrank und rückte dem Gestrüpp in seinem Gesicht zu Leibe. Da er wie üblich vergessen hatte, sich Sachen mitzunehmen, verließ er das Badezimmer nur mit einem Handtuch um die Hüfte.

Bomer sah einen langen, schmalen Schatten auf sich zukommen und wich sofort aus. Der Kaminhaken sauste haarscharf an seinem Ohr vorbei. Durch den Fehlschlag aus dem Gleichgewicht gebracht, brauchte sein Angreifer einige Sekunden, um sich wieder zu fangen, doch die reichten Bomer für ein Zurückschlagen aus.

Sie landeten in einem Knäuel aus Armen und Beinen am Boden. Der Kaminhaken fiel klappernd zur Seite und Bomer nagelte den Mann unter sich fest. Mit wütendem Blick sah er auf ihn runter. »Du musstest es versuchen, nicht wahr?«

»Was hast du erwartet?«, fuhr sein Gegenüber ihn an. »Dass ich nichts tue? Dass wir weiter einen auf gute Freunde machen, obwohl wir das nicht sind?«

»Ich hatte erwartet, dass du mehr Verstand hast, als einen ehemaligen Seal anzugreifen, der nackt aus dem Bad kommt. Die Tür zum Schlafzimmer steht auf, meine Nachttischlampe ist an und leuchtet in den Flur. Bist du wirklich so ein Stümper? Man greift entweder im Dunkeln an oder sorgt dafür, dass kein Schatten fällt. Ein blutiger Anfänger stellt sich nicht so dilettantisch an, wie du gerade!«

»Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung, dass ich nicht in dein Bild des kalten, gefühllosen Killers passe.«

Bomer knirschte vor Wut mit den Zähnen. »Ich sollte dich dafür umbringen!«

»Mach doch!«

»Damit du dich bestätigt fühlst, was mich betrifft? Tut mir leid, aber den Gefallen tue ich dir nicht, Kleiner.«

»Nenn mich nicht, Kleiner!«

Bomer zerrte seinen Gefangenen am Pulloverkragen zu sich, bis sich ihre Nasen fast berührten. »Solange du dich wie ein Baby aufführst, nenne ich dich auch so!«

»Wichser!«

»Ach, wechseln wir jetzt wieder zu den Beleidigungen aller Art über? Gut zu wissen.«

»Du mieses Dreckschwein!«

»Wer von uns beiden versucht ständig, mir eine Klinge durchs Herz zu jagen?«

»Du verdienst es!«

»Und warum, bitteschön?«

»Weil du Celvin Morgan umgebracht hast!«

»Nein, das habe ich nicht«, widersprach Bomer, da ihm der Name nichts sagte. Sein Gegenüber schnaubte abwertend, was ihn aus einem unerfindlichen Grund sehr störte. Er ließ ihn los und hockte sich neben ihn, zog dabei den Kaminhaken näher zu sich. »Ich kenne die Namen von allen Männern und Frauen, die ich getötet habe. Celvin Morgan gehört nicht dazu.«

»Lügner.«

»Ich habe es nicht nötig zu lügen.« Bomer erhob sich. »Ganz im Gegensatz zu dir, mein Freund.« Er packte den Kerl am Kragen, zerrte ihn auf die Füße und schob ihn mit dem Gesicht voran gegen die Wand, wo er ihm beide Arme auf den Rücken drehte. »Und du wirst heute Nacht nicht im warmen, gemütlichen Schlafzimmer übernachten, sondern draußen im Schuppen!«

Nach den Worten schlug er seinen Gast k.o., warf ihn sich über die Schulter und machte sich auf den Weg nach unten. Er war stinkwütend und enttäuscht, was Bomer noch mehr ärgerte, als der Angriff, der früher oder später hatte kommen müssen. Aber wenigstens war er endlich ein wenig schlauer. Er würde herausfinden, wer dieser Celvin Morgan war, doch das hatte bis morgen Zeit.

Bomer verfrachtete seinen Gefangenen in den kleinen Schuppen und fesselte ihn an Hand- und Fußgelenken, um jeden Fluchtversuch von vornherein zu unterbinden. Danach ging er sich anziehen und brachte eine Decke zu seinem Gast, da er nicht wollte, dass der Mistkerl über Nacht erfror. Anschließend verzog er sich ins Bett, auch wenn ihm bewusst war, dass er in den nächsten Stunden kein Auge zumachen würde.

 

Um Mitternacht gab er frustriert auf.

Sich selbst aufs Übelste verfluchend, rannte Bomer aus dem Haus und knipste die Taschenlampe an, ehe er die Tür öffnete, um in den engen Schuppen zu leuchten. Er war auf einen Angriff gefasst, der nicht kam. Es wäre ihm allerdings lieber gewesen, denn der Anblick, der sich ihm bot, war mit Worten schwer zu beschreiben.

»Verdammter Mist«, murrte er und legte die Lampe auf das Regal neben der Tür, damit er seine Hände frei hatte, um seinen vor Angst zitternden Angreifer von den Fußfesseln zu befreien. Die Handschellen würden jedoch bleiben, wo sie waren. »Wie kann ein Mann wie du Schiss vor Spinnen und Käfern haben?«, zischte er und schob mit den Füßen die vielen zertretenen Tierkörper beiseite, die um die Decke herum verteilt auf dem dreckigen Boden lagen. »Es sind bloß Insekten.«

»Arschloch!«

Diese Beleidigung hatte er verdient. Bomer war sogar erleichtert darüber, denn das ausgesprochene Wort wies darauf hin, dass sich der Schock seines Gastes offenbar in Grenzen hielt.

»Zitterst du aus Panik oder vor Kälte?«

»Fick dich!«

Bomer packte ihn am Kragen. »Antworte mir, Kleiner, sonst bleibst du den Rest der Nacht hier!«

»Beides.«

Damit konnte er leben und würde es nicht weiter kommentieren. Das Ganze war dem Mann auch so schon peinlich genug, was sein Gesichtsausdruck verriet.

»Steh auf und geh vor. Ins Schlafzimmer.«

»Ich bringe dich um.«

»Ja, ja, ja«, wehrte Bomer seufzend ab. »Aber bitte nicht mehr heute Nacht. Ich brauche meinen Schlaf.«

 

 

Kapitel 6

 

Das restliche Wochenende sprachen sie nur, wenn es unbedingt notwendig war. Bomer erlaubte seinem Gefangenen am nächsten Morgen zu duschen, damit er den Dreck vom Schuppen wegwaschen konnte, schickte Adrian am Sonntagabend die versprochene Nachricht aufs Handy und ging danach schlafen.

Er war Montagmorgen mit Max im Büro verabredet, und als Bomer um Punkt sechs Uhr aufstand, schlief sein Gast noch. Allerdings recht unruhig und er schien selbst im Schlaf und trotz der zweiten Decke, die er ihm letzte Nacht gegeben hatte, zu frieren. Bomer drehte die Heizung höher und stellte einen Teller Obst und eine kleine Plastikflasche mit Wasser auf den Boden, bevor er sich auf den Weg machte, um mit Max den Arbeitsplan der Woche zu besprechen.

Das war schnell erledigt, und da er keine Lust hatte, sich schon wieder mit seinem störrischen Einbrecher zu beschäftigen, entschied Bomer, entgegen seiner sonst üblichen Vorgehensweise, in Carol´s Diner frühstücken zu gehen.

Er mochte die alte Dame gern, die den Laden in dritter Generation führte, und sich die anfallende Arbeit mittlerweile mit ihren Söhnen teilte. Außerdem hatte sie ihn gleich in der ersten Woche, nachdem er hergezogen war, vor einer Schlägerei mit zwei homophoben Trinkern bewahrt. Carols Wort hatte in dieser Straße viel Gewicht, und wenn sie sagte, dass es in Ordnung war, dass Bomer auf Männer stand, dann war es das auch. Seither hatte er Ruhe, sowohl vor weiblichen Annäherungsversuchen als auch vor den beiden stänkernden Säufern, die zu allem Übel regelmäßige Kunden bei ihr im Diner waren.

»Nanu?«, fragte Carol erstaunt und laut, als er durch die Tür trat, und lenkte damit natürlich sofort sämtliche Aufmerksamkeit auf ihn. Das war der einzige Nachteil an dieser Frau, ihre Lautstärke. »Willkommen, Fremder. Du hast dich ja schon ewig nicht mehr blicken lassen. Ist dir dein Haus unterm Hintern weggebrannt, oder was?«

»Kann man hier ein Frühstück kriegen, ohne dass es in weniger als zehn Minuten die ganze Stadt weiß?«

»Nein. Zumindest nicht, wenn man zwei Meter groß ist und so gut aussieht wie du.« Carol grinste ihn breit an. »Du weißt, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre und du nicht auf Jungs stehen würdest ...«

»Wärst du immer noch zehn Jahre zu alt.«

Carol brach in schallendes Gelächter aus. »Rotznasig, wie üblich. Na los, setz dich her zu mir, bevor ich dich übers Knie lege, weil du keine Manieren hast.«

Bomer setzte sich zu ihr an die Theke und sparte sich, eine Bestellung aufzugeben. Carol würde ihm das vor die Nase stellen, was sie für richtig hielt, und Bomer hatte in den letzten Monaten die Erfahrung gemacht, dass Carols Essen immer schmeckte. Er war kein regelmäßiger Gast im Diner, im Gegenteil. Aber jedes Mal, wenn er vor der Frage stand, wo er etwas essen sollte, das er nicht selbst gekocht hatte, kehrte er hierher zurück. Und zwar nicht nur wegen der guten Speisekarte.

Ein Teller mit Rühreiern, zwei Sandwichs und Speck, dazu ein Becher Kaffee, wurden vor ihm abgestellt. Er nahm wortlos die Gabel und begann zu essen.

»Du warst schon immer maulfaul, aber das toppt alles.«

Bomer schnaubte nur.

»Was ist los, Bursche? Einen schlechten Wochenstart gehabt?«

»Nenn mich nicht Bursche.«

»Ah, er spricht«, stichelte Carol auf ihm herum, ehe sie einem anderen Gast Kaffee nachschenkte, was Bomer einen Moment Ruhe einbrachte. »Wieso kommst du her, wenn du nicht reden willst? Und sag jetzt nicht, weil du meine Gesellschaft schätzt, dann werde ich böse.«

»Ich wollte nicht nach Hause«, gab Bomer maulig zu.

»Warum?«

»Schlecht geschlafen.«

»Hm«, machte Carol, was alles und nichts heißen konnte. »Wie geht’s dem Welpen?«, fragte sie schließlich, was Bomer automatisch grinsen ließ.

»Stolpert ständig über seine eigenen Pfoten.«

Carol lachte. »Das wird werden, wenn er groß ist. Wie hast du ihn eigentlich genannt?«

Bomer sah verdutzt auf. »Hat Max dir das noch nicht erzählt?«

»Doch.« Carol schmunzelte. »Aber irgendwie musste ich dich dazu bringen, dass du mich mal anguckst. Mit diesen dunkelgrünen Augen und dem engelsblonden Haar kannst du Herzen brechen, mein Lieber, aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, dass es deines ist, was im Moment einen Riss hat.«

»Hat es nicht«, murrte Bomer und senkte den Blick, um weiter zu essen.

»Wie heißt er?«

»Wer?«

»Der Mann, der dir den Kopf verdreht hat?«

»Niemand hat mir ...«

Bomer brach ab und erstarrte. War das der Grund, warum er immer wieder zögerte, die Hand an den Typen zu legen und ihm die Antworten mit bloßer Gewalt zu entlocken? Hatte Carol etwa recht? Hatte er sich in einen Mann verliebt, der alles dafür tun würde, ihm den Kopf abzuschneiden und auf einen Pfahl zu spießen?

»Oh je, du wusstest es nicht?«

»Scheiße«, flüsterte Bomer und ließ die Gabel auf den Teller sinken. Ihm war der Appetit vergangen. »Auch das noch.«

»Na, na, na … so schlimm ist es nicht, verliebt zu sein. Selbst für einen harten Kerl, wie du einer bist.«

»Du hast keine Ahnung, wovon du da redest, Carol.«

»Wie sollte ich auch? Du schweigst oder brummelst vor dich hin. Eine Frau kann viele Stimmungen in Männern erkennen, aber Gedanken lesen kann sie nicht. Als du in mein Diner kamst, das erste Mal, meine ich, war mir sofort klar, dass du ein anständiger Kerl bist. Einer mit Rückgrat und Herz. Vielleicht warst du nicht immer so, aber heute schon.« Carol strich ihm über die Wange und lachte liebevoll, als er instinktiv zusammenzuckte. »Ich bin kein Mann, ich weiß, aber ich habe dich sehr gern. Du bist hier immer Willkommen. Ob allein oder an der Seite des Mannes, in den du so heftig verliebt bist, dass es für mich als Außenstehende fast schon amüsant ist. Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, sagt dir das zufällig was?« Sie stellte ihm eine Tüte vor die Nase. »Und jetzt hau ab und erledige deinen Job. Dein miesepetriges Gesicht vergrault mir die Kunden.«

Bomer bezahlte und verließ grußlos das Diner. Er sah offensichtlich so finster drein, dass ihn eine Gruppe von Bauarbeitern, die seinen Weg zum Wagen kreuzten, mit misstrauischem Blick weiträumig umrundete. Wirkte er auf seinen Gast auch so abweisend und gefährlich, fragte sich Bomer, und stieg in seinen schwarzen Range Rover, wo er die Tüte von Carol auf den Beifahrersitz stellte. Er hatte so eine Ahnung, was sich darin befand, trotzdem dauerte es eine Weile, bis er den Mut fand nachzusehen.

»Verflixte Hölle!«, fluchte er und rollte das obere Ende der Tüte zusammen, um die Schokomuffins nicht länger ansehen zu müssen. Es waren zwei. Für ihn und seinen angeblichen Freund, der keiner war. Er schnaubte, schnappte sich die Tüte und stieg wieder aus dem Auto, um die Muffins im nächsten Mülleimer am Straßenrand zu entsorgen. So weit kam es noch, dass er einem verhinderten Attentäter ein Geschenk mitbrachte.

 

Bomer war sich durchaus bewusst, dass die Chancen eines erneuten Fluchtversuchs bei seinem unfreiwilligen Gast stiegen, je länger er sich von seinem Haus fernhielt. Dennoch schaute er mittags nur kurz vorbei, um einen Blick auf Emma und Charly zu werfen, und verschwand gleich wieder, nachdem er aus dem oberen Stockwerk ein leises Husten vernommen hatte.

Vielleicht hatte sich der Kerl durch die paar Stunden im Schuppen einen Schnupfen geholt. Das schadete ihm nichts. Außerdem es war eine gerechte Strafe für die Nerven, die er ihn kostete. Bomer schob sein aufkommendes, schlechtes Gewissen beiseite, weil er den Mann nicht mal gefragt hatte, ob der vielleicht aufs Klo musste, während er tiefer in den Wald ging.

 

Mit den letzten Sonnenstrahlen im Rücken machte Bomer sich am Abend auf den Heimweg. Diesmal galt sein erster Blick dem Gefangenen, der kaum sichtbar unter der Decke lag und schon wieder oder immer noch schlief. Er ließ ihn liegen, ging duschen und nahm sich etwas zu essen. Dabei fiel ihm der Teller ein, den er am Morgen oben stehen gelassen hatte. Er war unberührt. Aber etwas Wasser hatte der Sturkopf getrunken.

Bomer stand eine Weile neben ihm und überlegte, ob er ihn aufwecken und ein paar Worte mit ihm wechseln sollte. Nur welche? Am Ende ließ er es bleiben und ging schlafen.

 

Ein stetiges Klappern weckte Bomer tief in der Nacht. Er blieb ganz ruhig liegen, orientierte sich erst mal und erkannte dann irritiert, dass das Klappern von der Heizung kam. Umgehend auf der Hut, lauschte er, konnte sich aber keinen Reim auf das Geräusch machen, denn es klang nicht so, als versuche sein Gast gerade einen Ausbruch.

Bomer setzte sich lautlos auf. Mittlerweile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und die viertel volle Sichel des Mondes bot gerade genug Licht, um auf dem Boden zu erkennen, dass der Mann immer noch an der üblichen Stelle lag. Allerdings war er nicht länger in die Decke gewickelt und schlief, sondern er hatte sich auf dem Rücken gedreht, die Bettdecke zur Seite geschoben und zitterte am ganzen Körper.

Was, zur Hölle …?

Bomer schaltete die Nachttischlampe ein und erhob sich. Das war kein Trick, erkannte er, denn der frische Schweiß auf der Haut des Mannes war echt, genauso wie sein rasselnder Atem. Er ging zu ihm hinüber und legte eine Hand auf die feuchte Stirn, um sie im gleich darauf erschrocken wegzureißen. Der Kerl glühte.

»Scheiße!«, fluchte Bomer und eilte zurück zum Bett, um den Schlüssel für die Handschellen zu holen. Vorhin hatte er nur gehustet. Wo kam auf einmal das hohe Fieber her?

Er verfrachtete seinen Gefangenen ins Bett und stand danach erst mal ratlos vor Selbigem. Was jetzt? Er hatte keine Ahnung, was man mit Kranken tat. Dafür gab es Ärzte. Bomer konnte Schnitt- und Stichwunden ohne Probleme behandeln. Er hätte auch eine Kugel entfernen oder einen gebrochene Knochen richten können, aber bei einer Grippe, oder woran immer der Mann plötzlich litt, war er überfragt. Er war Soldat und kein Krankenpfleger.

Sollte man bei Erkältungen nicht schwitzen? Also war es wohl besser, wenn sein Gast zugedeckt war. Das setzte Bomer umgehend in die Tat um und stand dann genauso ratlos neben dem Bett wie zuvor. Ein leises Stöhnen ließ ihn im nächsten Moment das Gesicht verziehen, dann kam das Zittern zurück und Bomer wandte sich ab. Er musste etwas tun, um zu helfen, und er kannte nur einen, den er jetzt anrufen konnte. Der Ahnung hatte. Hoffentlich.

»Ein Anruf um die Uhrzeit? Hast du ihn getötet?«

»Nein.« Bomer seufzte und setzte sich neben den Mann, der offenbar sein Herz gestohlen hatte, aufs Bett. »Du hast eine Tochter und ich … Er ist krank. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Was hat er?«, fragte Adrian und Bomer hörte es am anderen Ende rascheln. Vermutlich stand er auf.

»Fieber. Und nicht zu knapp. Er schwitzt, zittert und hat gehustet«, zählte Bomer auf und strich seinem Gast eine feuchte Strähne braunen Haares aus der Stirn.

»Was hast du an Medikamenten da?«

»Gegen Fieber? Gar nichts ... Ich könnte ihm notfalls ein Bein amputieren, aber solchen Kleinkram ...«

»Das ist kein Kleinkram, Evan! Daran kann selbst ein erwachsener Mann im schlimmsten Fall sterben!«, fuhr Adrian ihn an und Bomer erstarrte.

»Was?«

»Im schlimmsten Fall, der nicht eintreten wird. Gut, lass mich mal überlegen ...« Adrian murmelte etwas, das Bomer nicht verstand. »Da haben wir es … Strikte Bettruhe. Mach ihm Wadenwickel. Sieh zu, dass er viel trinkt. Wasser oder Tee. Saft geht auch. Du kannst ihn mit warmem Wasser waschen, am ganzen Körper, und danach dick einpacken. Leg ihm einen feuchten Lappen auf die Stirn, falls er noch Kopfschmerzen bekommt.«

Adrian blätterte in einem Buch, den Geräuschen nach zu urteilen, die an Bomers Ohr drangen. »Was machst du da eigentlich?«

»Das, wonach es sich anhört«, antwortete Adrian mit einem Lächeln in der Stimme. »Wer von uns hat hier die Tochter und damit eine gefühlte Million Elternratgeber im Bücherregal?«

Bomer konnte nicht anders. Er lachte leise und zuckte im nächsten Moment zusammen, als er bemerkte, dass seine Hand mittlerweile an der Wange seines Gastes lag, der sich mit dem Gesicht ihm zugewandt hatte und ihn aus fiebrigen Augen ansah. Bevor Bomer fragen konnte, wie es ihm ging, fielen die Lider wieder zu und der Atem des Mannes wurde tiefer.

»Bomer? Ein, zwei Tage, höchstens. Wenn das Fieber bis dann sinkt, gut. Wenn nicht, schaff ihn ins Krankenhaus.«

»Ist das ein Befehl?«

»Muss es einer sein?«

Bomer seufzte. »Nein. Wie mache ich Wadenwickel?«

»Geh ins Badezimmer, ich erkläre es dir«, antwortete Adrian und Bomer tat es. Er hörte zu, machte die Wickel nach den Anweisungen des Anwalts und war erleichtert, als sie endlich da waren, wo sie hingehörten.

»Ist das normal, dass er sich dagegen wehrt?«

»Ja, ist es. Du musst die Wickel neu machen, sobald sie trocken sind. Ansonsten lass ihn schlafen und brav schwitzen. Sein Körper müsste es allein hinkriegen, aber behalt ihn trotzdem im Auge. Und vergiss dabei nicht, dass er trinken muss.«

Bomer nickte, fest entschlossen, sich um den Mann in seinem Bett zu kümmern. »Er hat mir einen Namen gesagt … Der Typ, den ich angeblich getötet habe und wegen dem er hier ist. Celvin Morgan.«

»Ich finde raus, wer das ist. Kümmere dich um ihn und ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst.«

»Habe ich das nicht immer?«

Adrian gluckste. »Nein. Nicht immer, Sturkopf.«

»Adrian?«

»Hm?«

»Du hattest recht.« Bomer musste nicht erklären, was er meinte, Adrian würde es wissen. Das tat dieser Anwalt ständig, ob es ihm gefiel oder nicht.

»Ich weiß.«

Adrian legte auf und Bomer sah seufzend auf den Kerl in seinem Bett hinunter, der aussah, als würde er dorthin gehören. Aber dieser Wunschtraum dürfte wohl das bleiben, was er war, ein Traum. Doch selbst wenn es nur eine Fantasie war, konnte ihm diese niemand wegnehmen. Zumindest nicht in den nächsten Stunden und Tagen.

 

Es war spät am Morgen, als das nächste Lebenszeichen unter den ganzen Decken zu merken war, die Bomer in der Nacht herangeschafft hatte. Ein kaum hörbares Stöhnen verriet ihm, dass sein Gast anwesend war. Nicht wirklich wach, aber zumindest so weit bei klarem Verstand, dass er ihn aus grauen Augen fixieren konnte. Bomer nutzte die sich bietende Gelegenheit, um ihm wieder etwas Tee einzuflößen.

Die Thermoskanne, die er in der Nacht gekocht hatte, war fast leer, auch wenn wohl etwa ein Drittel in seinem Bettlaken und dem Kopfkissen versickert war. Er würde es später frisch beziehen.

»Hörst du mich?«

Sein Gegenüber runzelte die Stirn, schaffte dann aber ein Blinzeln. Bomer war zufrieden und beugte sich über ihn, um seine Temperatur zu fühlen. Sie schien ein wenig gesunken, jedenfalls kam es ihm so vor.

»Kannst du mir sagen, wie es dir geht?«

Bomer grinste, als die Antwort ein genervter Blick war, bevor sich die grauen Augen schlossen. Kurz darauf war der Typ eingeschlafen. Eine perfekte Gelegenheit, um ihn zu waschen, in saubere Kleidung zu stecken und für eine Weile auf den Fußboden neben die hochgedrehte Heizung zu legen, damit er sein Bett beziehen konnte.

Er bereitete alles vor, bevor er die Decken wegräumte und sich daran machte, den Mann auszuziehen. Er war völlig durchgeschwitzt, sodass Bomer einige Mühe hatte, ihn aus dem Pullover und der Hose zu bekommen. Sogar die Socken klebten an den Füßen fest, aber Bomer hatte Erfahrung darin, nasse Sachen vom Körper zu kriegen, und am Ende lag sein Gegenüber in einer knielangen Shorts vor ihm. Trug man die nicht am Strand? Wer zog denn so was als Unterwäsche an? Egal, sie musste weg.

Bomer machte sich ans Werk. Obwohl er es nicht tun wollte, konnte er nicht anders, als seinen Gast auch jetzt genau in Augenschein zu nehmen. So wie er es schon mit dem Rest von dessen Körper getan hatte, und was er sah, gefiel ihm. Weit mehr, als es das sollte. Bomer spürte, wie er hart wurde, und ärgerte sich sofort darüber, weil dafür im Moment nun wirklich kein guter Zeitpunkt war.

Die erste Narbe entdeckte er knapp einen Zentimeter unterhalb des Übergangs vom Oberschenkel zur Leiste. Zuerst wunderte er sich über die runde Form, bis er die zweite und dritte Narbe freilegte. Und diesen ersten Narben folgten unzählige weitere. Beide Beine waren mit verschiedensten Verletzungen übersät. Am schlimmsten hatte es die Innenseiten der Oberschenkel getroffen. Wer immer dabei zu Werke gegangen war, hatte gewusst, was er tat.

Je näher die Narben dem Intimbereich kamen, desto zahlreicher wurden sie. Und Bomer wusste genau, wie diese kleinen, runden Verletzungen entstanden waren. Brennende Zigaretten. Dazu gab es Schnittwunden, die aussahen, als hätten Rasierklingen oder eine sehr scharfe Klinge sie verursacht. Ein Skalpell vielleicht. Ihm fielen aus dem Stand eine Menge Schnittwerkzeuge ein, die so eine Art Narbe verursachen konnten.

Merkwürdig nur, dass auf der Brust nichts zu sehen war. Er sah sich den restlichen Körper näher an. Nichts. Was ihn irritierte und ihm zugleich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend bescherte. Irgendetwas entging ihm gerade, nur was? Bomer atmete tief durch, als ihm im nächsten Moment einfiel, dass er sich den Rücken noch nicht angesehen hatte. Die einzige Körperstelle, die übrig war, und irgendwie ahnte er, welcher Anblick ihn dort erwartete. Bomer drehte seinen Gast behutsam auf die Seite und verzog gequält das Gesicht, denn die Realität übertraf seine Vorstellung leider um Längen.

»Verdammt!«, fluchte er fassungslos und brachte seinen Gast wieder in die Rückenlage.

Darum hatte er so abgeklärt auf seine Androhung von Folter reagiert. Der Mistkerl wusste wirklich Bescheid. Die länglichen Narben auf seinem Rücken, von Messern, Peitschen und nur Gott wusste was noch alles, sprachen eine eindeutige Sprache. Wer hatte den Mann gefoltert und warum? Bomer ballte vor Wut seine Hände zu Fäusten.

 

 

Kapitel 7

 

Adrians Anruf kam am nächsten Abend, da hatte sich Bomer weit genug beruhigt, um nicht allein schon vom Gedanken an die vielen Narben die Nerven zu verlieren. Außerdem war das Fieber in den letzten Stunden so weit gesunken, dass er auf neue Wadenwickel verzichtet hatte und jetzt darauf wartete, dass sein Gast aufwachte.

Es war nicht leicht gewesen, Max um ein paar freie Tage zu bitten, ohne die Wahrheit zu sagen, aber er hatte sich nicht getraut, den Kranken tagsüber für einige Zeit allein zu lassen. Am Ende hatte sein Boss trotz einer unübersehbaren Neugier den Urlaub genehmigt. Sein offiziell angegebener Grund, 'Private Probleme', dürfte zu jeder Menge Gerüchten auf der Arbeit und bei Carol führen, da Max und seine Kollegen Stammkunden bei ihr waren. Bomer würde sich damit befassen, sobald es dazu kam, und das war nicht heute oder morgen.

»Der Mann bei dir heißt Cedric Morgan. Er ist Celvins älterer Bruder.«

Bomer stöhnte auf. »Scheiße.«

»Das kannst du laut sagen«, kommentierte Adrian seine Worte ernst. »Setz dich, ich muss dir noch mehr erzählen, und das wird dir nicht gefallen. Zudem wollte ich dir etwas per Mail schicken, bis mir eingefallen ist, dass du da oben nicht mal einen PC besitzt. Also kommt der Kram morgen oder übermorgen per Bote.«

»Okay.« Bomer ging in die Küche, holte sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier und setzte sich ins Wohnzimmer. »Ich sitze.«

»Erinnerst du dich an einen der allerersten Jobs, die du für mich gemacht hast? Den Drogendeal?«

Bomer musste eine ganze Weile überlegen, dann fiel es ihm ein. »Ja. Für deinen Kumpel, diesen Cop, dem du einen Gefallen schuldig warst.«

»Genau. Der Russe, dem du dabei das Geschäft am Hafen vermasselt hast, hat kurze Zeit später einen seiner eigenen Jungs erschossen, weil der gegen ihn auspacken wollte. Er hat es offenbar dir in die Schuhe geschoben, deshalb ist der Bruder hinter dir her. Die Details stehen im Bericht, der auf dem Weg zu dir ist. Das Ganze ist ein heilloses Chaos. Ich würde ewig brauchen, dir das am Telefon zu erzählen.«

»Was ist mit seinen Narben?«, fragte Bomer und riet damit ins Blaue hinein. Doch als Adrian am anderen Ende hörbar die Luft ausstieß, fühlte er sich in seinem Verdacht bestätigt. Der Anwalt wusste bedeutend mehr über die Sache. »Red schon.«

»Du hast sie gefunden?«

»Als ich ihn gestern waschen wollte, ja. Sie sind nicht zu übersehen.«

»Hm«, machte Adrian und seufzte anschließend. »Also gut ... Es gibt Gerüchte und davon jede Menge. Angeblich hat die Mutter ihre Söhne an Freier verkauft. Angeblich hat Cedric sich selbst angeboten, um Celvin zu beschützen. Angeblich haben die Jungs etwas mit der Überdosis der Mutter zu tun, was ich nicht glaube. Aber selbst wenn, weine ich dieser Frau keine Träne nach. Cedric und Celvin sind dem Staat durchs Raster gerutscht und Koslow in die schmutzigen Hände gefallen. Und nachdem er Celvin losgeworden ist, hat er dasselbe mit dessen Bruder vor.«

Ein weiteres Puzzlestück, das an seinen Platz rückte. Bomer nickte. »Das erklärt, wieso er nicht wusste, dass ich ein Seal war.«

»Bingo«, sagte Adrian zustimmend. »Ich versuche noch herauszufinden, wie Koslow dich finden konnte. Das interessiert die Cops übrigens auch brennend.«

»Ihr glaubt, der Tipp kam vom Revier?«

»Ja.«

»Korrupte Cops.«

»Ja. Schon wieder«, knurrte Adrian und Bomer lehnte sich kopfschüttelnd zurück, weil er dessen Wut darüber verstehen konnte. Er kannte die ganze Geschichte um die Entführung von Kilian McDermott, der für Adrian und David wie ein eigener Sohn war, auch wenn er selbst mit diesem Teil der Familie nicht viel zu tun hatte. »Wie geht’s Cedric denn mittlerweile?«

Bomer ließ seinen Blick automatisch Richtung Zimmerdecke wandern. »Soweit ganz gut. Das Fieber ist runter, er schläft die meiste Zeit.«

»Glück für dich.«

»Adrian ...«, begann Bomer drohend, denn der leicht belustigte Unterton in dessen Stimme verriet ihm genug, um sofort auf der Hut zu sein.

»Oh, ich muss leider Schluss machen. Mein Mann hat Sehnsucht nach mir. Melde dich, falls du was brauchst oder noch Fragen zu dem Bericht hast.«

»Mistkerl.«

Bomer legte auf, als Adrian anfing zu lachen, ließ das Bier stehen und ging nach oben, wo sein Gast, der jetzt endlich einen Namen hatte, ihm zugewandt, schlafend in seinem Bett lag. »Cedric heißt du also«, murmelte er und betrachtete ihn eine Weile grübelnd, bevor er beschloss, ihn weiterschlafen zu lassen und in die Stadt zu fahren. Er wollte neue Kleidung für Cedric kaufen und noch etwas anderes besorgen, das Carol garantiert freuen würde.

 

Es dauerte allerdings bis zum Wochenende, ehe er dazu kam, Cedric die neuen Sachen zu geben, und ihm die Hühnersuppe ans Bett zu bringen, die er bei Carol geholt hatte. Eine Suppe, die ihn garantiert teuer zu stehen kam, aber der überraschte Ausdruck in Cedrics Gesicht war es wert. Bomer schmunzelte, als der ihn ratlos ansah.

»Die ist nicht vergiftet, ich schwöre es.«

»Richtige Hühnersuppe?«, fragte Cedric überrascht und sah auf die Schüssel in seinen Händen. »Ähm … Hast du sie gemacht?«

»Nein.« Bomer kratzte sich verlegen an der Nase. »Ich kann nicht gut kochen. Es reicht für mich selbst, aber … Ich habe sie bei einer Freundin gekauft.« Cedrics erstaunter Blick reizte ihn zum Lachen, doch Bomer riss sich zusammen. »Sie lässt dich grüßen.«

»Du bist für mich in die Stadt gefahren, um Suppe zu kaufen?«

»Ich musste eh einkaufen.«

Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber er würde bestimmt nicht freiwillig zugeben, dass er Carol extra um die Suppe gebeten hatte. Und dass er ihr deswegen jetzt einen Tanz auf der alljährlichen Halloweenparty in ihrem Diner schuldete.

»Oh, okay … Danke.«

Irgendwie schien er nicht der Einzige zu sein, der verlegen war. Bomer winkte ab. »Iss sie und trink deinen Tee!«, befahl er mürrischer, als er eigentlich wollte, und flüchtete aus dem Schlafzimmer.

Das war nicht gut. Cedric, er und dieses Gespräch. Von den Blicken wollte er lieber gar nicht erst anfangen. Bomer wusste, dass er Cedric in den letzten Tagen viel zu intensiv beobachtet hatte, und dessen Reaktion auf sein Tattoo hatte er ebenfalls nicht vergessen. Und wie er angesehen worden war, als er sich heute Morgen im Bett gestreckt hatte.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die letzte Nacht neben Cedric zu verbringen, aber Bomer hatte keine Lust gehabt auf dem Boden zu schlafen und seine Couch war auf Dauer unbequem. Zudem bot das Bett Platz für drei Leute, also warum nicht? Allerdings hatte er die Überlegung ohne Cedric gemacht, dessen Blick förmlich auf seinem nackten Oberkörper und dem Tattoo geklebt hatte. Dabei war Bomer nach ihrem letzten Gespräch im Bad der Meinung gewesen, dass er gar nicht auf Ärsche stehen würde. Zumindest nicht auf männliche.

Seit ein paar Stunden wusste er es besser. Cedric war an ihm interessiert und Bomer ging es nicht anders. Das Problem war nur, dass Cedric Morgan ihn immer noch umbringen wollte.

 

»Danke für die Sachen«, sagte Cedric, als er eine knappe Stunde später nach unten kam und das benutzte Geschirr in die Küche brachte.

Bomer brummte nur und beobachtete Cedric, der auf wackligen Beinen an ihm vorbei lief und sich neben Charlys Korb auf den Boden setzte, den Rücken dabei an die Heizung lehnte. Wirklich gut ging es ihm noch nicht, aber sein unnachgiebiger Blick verriet deutlich, dass sich Bomer den Befehl, zurück ins Bett zu gehen für die nächste Zeit sparen konnte.

»Ich habe oben das Fenster zum Lüften geöffnet.« Cedric ließ den Blick zum Kamin schweifen und zuckte leicht mit einem Mundwinkel, als er dabei den Kaminhaken entdeckte, mit dem er Bomer vor ein paar Tagen angegriffen hatte. »Ich wollte die Bettwäsche wechseln, aber ...«

»Du sollst dich erholen. Ich mache das nachher.«

»Schon gut, ich wollte bloß helfen.« Cedric sah ihn beim Reden nicht an, was Bomer ärgerte.

»Du bist krank.«

»Aber nicht tot«, widersprach Cedric trotzig, was ihn wütend schnauben ließ.

»Oh Wunder, ich auch nicht. Und deinen Freund, den Kaminhaken, solltest du besser hängen lassen. In den nächsten Tagen kannst du ihn nicht lange genug halten, um mir eins über den Schädel zu ziehen.«

Cedric sah ihn angesäuert an. »Ich könnte es mit dem Suppenlöffel versuchen, wie wäre das?«

»Es dürfte eine Weile dauern, mir damit das Herz aus der Brust zu schälen.«

»Super, dann tut es wenigstens richtig weh«, zischte Cedric und stöhnte anschließend genervt auf. »Herrgott, ich wollte mich nur für deine Hilfe bedanken. Du hättest mich genauso gut aus dem Haus werfen und draußen im Wald verrecken lassen können. Was hat dich eigentlich heute gebissen, du Idiot?«

»Du!«

Cedric tippte sich vielsagend an die Stirn und war kurz abgelenkt, als Charly jaulend in seinen Schoß kroch, um gestreichelt zu werden. Bomer hätte den Welpen am liebsten aus dem Zimmer geworfen. So ein Verräter.

»Du spinnst ja. Ich liege seit Tagen flach und habe nichts anderes getan, als zu schlafen ...«

»Und mich anzugaffen!«

»Na und? Du siehst nun mal verboten geil aus und ich bin ...« Cedric verstummte abrupt und Bomer starrte ihn sprachlos an.

»Du bist was?«, fragte er, als er sich gefangen hatte, und überlegte gleichzeitig, ob er darauf tatsächlich eine Antwort wollte.

»Nichts«, murrte Cedric, wurde aber rot. »Bilde dir bloß nichts darauf ein.«

Bomer verkniff sich ein Grinsen. Diese Reaktion hätte er nicht erwartet und sie amüsierte ihn. »Soll ich mein T-Shirt ausziehen? Für den besseren Ausblick, meine ich.«

»Nein!«

Bomer musste sich heftig auf die Zunge beißen, um ein lautes Lachen zu unterdrücken. »Wieso nicht? Mir ist warm genug«, konterte er trocken und Cedric ging hoch, wie eine sprichwörtliche Rakete.

»Verflucht, Chambers! Das ist überhaupt nicht lustig. Du weißt genau, warum ich hier bin, und dass ich dich heiß finde, passt mir absolut nicht in den Kram. Von der Tatsache, dass du wohl ein netter Kerl bist, ganz zu schweigen. Also hör auf, mich damit zu verarschen, dass du ...«

»Ich will Sex mit dir, Cedric.«

Dem blieben seine folgenden Worte im Hals stecken und Bomer zuckte lässig mit den Schultern, als daraufhin keine Erwiderung kam. Er würde seinen vorherigen Satz nicht zurücknehmen oder abändern, da er der Wahrheit entsprach. Auch wenn Bomer das nicht gefiel. Ganz und gar nicht, um ehrlich zu sein. Es stand zu viel zwischen ihnen, als dass er daran denken durfte, Cedric Morgan über die Schulter zu werfen und in sein Bett zu tragen. Natürlich tat er es trotzdem und ärgerte sich wahnsinnig darüber.

Vielleicht war es an der Zeit, die Fakten auf den Tisch zu packen. Er wusste längst Bescheid, Adrians Brief war vorgestern gekommen und Bomer hatte ihn mittlerweile so oft gelesen, dass er die schlimmsten Stellen bereits in und auswendig kannte.

»Du kennst meinen Namen?«

Bomer streckte auf der Couch lässig die Beine aus. »Deinen Namen und auch den Rest der Geschichte, die dich hergeführt hat. Ich weiß, dass Celvin dein Bruder war.«

Das ließ er erst mal sacken, weil er ahnte, wie schwer es Cedric fallen würde, mit ihm darüber zu reden. Sofern er es überhaupt tat. In diesem zwanzig A4 Seiten langen Bericht stand jedes noch so dreckige Detail über das Leben der Brüder. Es war Dreck, den man eigentlich von Kindern fernhalten sollte, doch Larissa Morgan hatte sie mit Absicht hineingestoßen, um Geld zu machen. Mit Hilfe der eigenen Söhne.

»Das ändert gar nichts«, erklärte Cedric schließlich und vergrub das Gesicht in Charlys Fell.

»Das ändert alles und du weißt es.«

Cedric blieb still und streichelte unablässig über Charlys Fell, doch das Zittern seiner Hände entging Bomer nicht. Er erkannte Verdrängung, wenn er sie sah, aber er sagte nichts dazu, weil jedes Wort im Augenblick zu viel gewesen wäre. Stattdessen stand er auf und verließ schweigend das Wohnzimmer. Oben wartete sein Bett darauf frisch bezogen zu werden und dafür würde er sich ausgiebig Zeit lassen. Vielleicht war es genug, Cedric die Wahrheit vor Augen zu führen. Vielleicht reichte es aus, damit er begriff, dass er von jenem Mann, den er Vater und Freund nannte, von vorne bis hinten betrogen worden war.

Bomer hoffte es und zweifelte insgeheim doch daran. Es wäre zu einfach gewesen, und das war ein Begriff, den er schon vor sehr langer Zeit für immer aus seinem Wortschatz gestrichen hatte.

 

 

Kapitel 8

 

»Keine Handschellen mehr?«

Bomer sah von der Waffenzeitschrift auf, in der er gerade las, als Cedric am späten Abend ins Schlafzimmer kam. Sein Blick folgte der ausgestreckten Hand in Richtung Heizung, denn er hatte am Nachmittag alles von dort weggeräumt. Kein Knast am Heizungsrohr mehr. Keine Gefangenschaft. Er war über den Punkt hinaus und hoffentlich sah Cedric das genauso. Bomer ging es nicht darum, ihn in sein Bett zu kriegen, also nicht ausschließlich, aber im Moment war ihm wichtiger, Vertrauen zu zeigen. Wenn Cedric nicht neben ihm schlafen wollte, war das in Ordnung, solange er sich dann mit der Couch zufriedengab.

»Nein.«

»Warum nicht?«

Bomer klappte die Zeitschrift zu und legte sie auf den Nachttisch. »Weil ich denke, dass du weißt, was mit Celvin passiert ist. Ich habe ihn nicht getötet und du hast genug Gerechtigkeitsbewusstsein, um mich nicht für einen Mord zu töten, den ich nicht begangen habe. Du kannst im Wohnzimmer schlafen, wenn dir das lieber ist. Ansonsten ...« Bomer deutete auf das zweite Bettzeug neben sich. »Der Platz ist frei.«

Cedric sah unbehaglich auf das Bett. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«

»Ich rede nur vom stinknormalen Schlafen, Cedric, nicht vom Knutschen, Fummeln oder Ficken.« Bomer grinste, als sein Gegenüber wie erwartet rot wurde. »Leg dich hin oder geh nach unten, aber hör auf, mit diesem hilflosen Gesichtsausdruck neben meinem Bett zu stehen. Morgen ist noch genug Zeit zum Reden.«

»Ich bin nicht hilflos.«

»Dann eben verunsichert.«

»Du ...«

»Morgan!« Bomer schlug die zweite Bettdecke auf und sah Cedric auffordernd an. »Wir sind beide müde, du bist immer noch angeschlagen. Also komm endlich ins Bett oder geh runter, aber triff eine Entscheidung. Alles andere kann warten.«

Cedrics stiller Kampf war deutlich in seinem Gesicht erkennbar, und Bomer atmete innerlich erleichtert auf, als der sich wenig später neben ihn legte und die Decke hochzog. Er schmunzelte, weil Cedric ihm den Rücken zudrehte, was so stark nach Absicht und gleichzeitiger Nervosität roch, dass er im Normalfall mit Sicherheit darüber gelacht hätte. Aber heute verkniff er sich jeglichen Kommentar dazu und schaltete das Licht aus.

Der nächste Tag würde früh genug auf sie zukommen und damit das Gespräch, das sie führen mussten, wenn sie so etwas wie eine Zukunft haben wollten. Wie immer die ab morgen auch aussah.

 

Bomer schlief nicht viel in dieser Nacht. Er schreckte regelmäßig auf, wenn Cedric sich bewegte, und kam sich nach dem dritten Mal langsam dämlich vor, da der Mann neben ihm wirklich schlief, sich dabei nur leider unruhig im Bett hin und her drehte. Doch er konnte seine über die Jahre antrainierten Instinkte nicht abschalten, und Cedric war nun mal erst mit dem Messer und dann mit einem Kaminhaken auf ihn losgegangen.

Irgendwann gab Bomer auf und drehte sich behutsam auf die Seite, sodass er Cedric ansehen konnte. Durch die dicken Wolken am Himmel war es zu dunkel, Details zu erkennen, allerdings brauchte er ohnehin kein Licht, um sich an das kleine Grübchen im Kinn, den Bartschatten und die etwas nach links gebogene Nase zu erinnern. Er hatte den Schwung von Cedrics Kinn ganz genau vor Augen, kannte die Beschaffenheit der mit Schorf bedeckten Stichwunde in dessen Schulter ebenso, wie die Lage der beiden störrischen Augenbrauen, die in verschiedene Richtungen wuchsen.

Bomer hätte ohne hinzusehen auf die kaum noch sichtbare Narbe, einige Zentimeter rechts über Cedrics schmaler Oberlippe deuten können. Es war keine Narbe wie jene an seinen Beinen und auf dem Rücken. Vielleicht war er als Kind hingefallen. Er wusste um die Verspannungen in Cedrics Schultern und er kannte die genaue Lage der drei Leberflecke auf dessen Oberkörper. Einer lag links vom Bauchnabel, einer unterhalb der linken Brustwarze und der Dritte rechts, in Höhe der letzten Rippe.

Doch am meisten faszinierte Bomer die schmale Linie dunkler Haare, die zu Cedrics Intimbereich führten, und die so weich waren, dass er am liebsten ständig mit den Fingern durch sie gestrichen hätte. Aber seit Cedric kein Fieber mehr hatte, ließ er sicherheitshalber die Hände von ihm. Er konnte sich dessen Reaktion lebhaft vorstellen, wenn Cedric ihn dabei erwischte, wie er ihn heimlich berührte. Nur weil der auf Männer stand, bedeutete das noch lange nicht, dass er sich gleich mit ihm im Bett wälzen wollte.

Bomer hätte zwar an sich nichts dagegen gehabt, aber er war kein Fantast. Cedric war als Junge und Teenager missbraucht worden. Wer konnte da schon sagen, ob er jetzt als Erwachsener überhaupt ein Sexleben hatte.

»Du siehst mich an, als wäre ich ein Kuchenstück mit Sahne für dich.«

Bomer fuhr überrascht zusammen. Ihm war nicht aufgefallen, dass Cedric nicht mehr schlief. Das war ihm noch nie passiert. Jedenfalls nicht, seit er bei den Seals gelernt hatte, wie man den Standort und Zustand von Menschen mithilfe ihres Atemrhythmus herausfand.

»Es ist viel zu dunkel. Du kannst nicht erkennen, wie ich dich ansehe.«

»Das muss ich auch nicht. Es reicht, dass ich es fühlen kann. Du bist hart, Evan.«

Bomer stockte der Atem, als er spürte, dass es wahr war. Im nächsten Augenblick wich er hektisch von Cedric zurück und fiel dabei beinahe aus dem Bett. Verdammte Scheiße.

»Solange du mich nicht anfasst, ist das okay«, wiegelte Cedric ab und drehte sich auf den Rücken. »An Sex habe ich keinen Bedarf.«

»Allgemein oder nur mit mir?«, fragte Bomer und biss sich gleich darauf auf die Lippe. War er verrückt geworden, so etwas zu fragen? »Vergiss die Frage.«

»Wieso sollte ich?« Cedric wandte sich von ihm ab. »Ich kann es verstehen, immerhin waren meine Blicke nicht sehr unauffällig … Ja, ich stehe auf dich. Nein, das gefällt mir gar nicht. Den Grund kennst du. Ja, ich liebe dein Tattoo. Nein, ich werde nicht über dich herfallen. Es fällt mir eh schon schwer genug, dich nicht anzufassen … Das gefällt mir im Übrigen auch nicht.«

»Was? Das mit dem übereinander herfallen oder dass du mich anfassen willst, aber zu feige dazu bist?«

»Es geht nicht um Feigheit«, zischte Cedric. »Es geht um Zurückhaltung und mit der ist es bei mir in den letzten Tagen nicht weit her, wenn es um dich geht. Und das gefällt mir überhaupt nicht. Die Situation war bedeutend leichter, als ich noch der festen Überzeugung war, du hättest meinen Bruder erschossen.«

Cedric glaubte also nicht mehr daran, dass er Celvins Mörder war. Gut zu wissen. Bomer sagte nichts mehr dazu, das hätte jetzt zu weit geführt. Stattdessen grinste er lässig. »Ich habe dir also von Anfang an gefallen?«

Cedric schnaubte. »Hast du in letzter Zeit in den Spiegel gesehen, Blödmann? Ich müsste blind sein, wenn mir ein Kerl wie du nicht gefällt. Du hättest dir den Bart nicht abrasieren dürfen.«

Bomer hätte beinahe losgelacht. Er beherrschte sich mit Müh und Not. »Du stehst also auf Bärte?«

»Ja«, log Cedric, dabei hatte Bomer schon begriffen, dass er ihm ohne Bart weitaus besser gefiel.

»Du kannst deinen ruhig wachsen lassen.«

Cedric fluchte unflätig. »Der wäre längst weg, wenn du nicht den Rasierer aus dem Badezimmer entfernt hättest. Und das weißt du ganz genau!«

Das stimmte, fiel Bomer ein und es trübte die alberne Stimmung. Rasierklingen konnten perfekt als Waffe benutzt werden, deswegen hatte er darauf geachtet, dass Cedric sie nicht in die Finger bekam. Vielleicht war es an der Zeit auch in dieser Hinsicht sein Vertrauen zu zeigen.

»Du kannst dich morgen rasieren.«

»Danke.« Cedric murmelte einen saftigen Fluch. »Kann ich jetzt weiterschlafen? Oder hast du noch eine schlüpfrige Frage über mein Sexleben, das dich im Übrigen einen Scheiß angeht!«

Wo kam denn der aggressive Tonfall plötzlich her? Bomer runzelte die Stirn. »Ich habe doch gar nicht ...«

»Es gibt keins, klar? Und da du mich nackt gesehen hast, muss ich dir wohl kaum erklären, wieso das so ist.«

Bomer drehte sich auf den Rücken und starrte, über sich selbst verärgert, an die Decke. Er hätte seine Klappe halten sollen. Was fiel ihm nur ein, einen missbrauchten und gefolterten Kerl zu fragen, ob er eine Aversion gegen Sex mit ihm hatte? Manchmal war er wirklich ein Vollidiot, dachte Bomer und legte einen Arm über seine Augen. Er würde dieses für Cedric äußerst heikle Thema nie wieder ansprechen, entschied er und drehte sich auf die Seite.

Wandte Cedric damit genauso den Rücken zu, wie der es bei ihm tat. Es war das Beste so. Für sie beide.

 

Die unsichere, schwer gedrückte Stimmung zwischen ihnen hielt sich über den ganzen nächsten Morgen. Bomer gab Cedric einen Rasierer und kümmerte sich um ein Frühstück für sie beide. Dafür räumte Cedric hinterher ungefragt die Küche auf und verschwand anschließend in den Wald, um spazieren zu gehen und nachzudenken.

Bomer ließ ihn ziehen, versorgte Emma und Charly, mit dem er ebenfalls eine kurze Runde lief, bevor er sich daran machte die dreckige Wäsche, die sich in den letzten Tagen angesammelt hatte, zu waschen. Er bezog sein Bett neu, verstaute das zweite Bettzeug wieder im Schrank und packte Cedrics Sachen in dessen Beutel. Wahrscheinlich würde der nach dem Gespräch, das wie eine Gewitterwolke über ihnen hing, sofort aufbrechen.

 

Es war beinahe Mittag, als Cedric zurückkam.

Charly schlug an und wollte raus zu ihm. Bomer öffnete wortlos die Tür und der Welpe stob bellend davon. Kurz darauf war vor dem Haus Gelächter zu hören und Bomer lehnte sich von innen gegen das Holz der Tür, um leise zu seufzen. Er war so was von im Arsch. Carol hätte es 'schwer verliebt' genannt, aber Bomer fand, dass seine Worte besser dazu passten. Plötzlich bekam er die Tür gegen den Kopf.

»Hey? … Ist alles in Ordnung da drin?«, fragte Cedric irritiert und Bomer trat beiseite, um ihn reinzulassen.

»Ja, ich wollte nur raus«, antwortete er und deutete zu Charly, der mit einem Ast im Maul unten an der Treppe der Veranda saß. »Zu ihm, um genau zu sein.«

»Soll er rein?« Cedric wandte ihm den Rücken zu. »Ich spiele gern noch mit ihm.«

»Nein!«, sagte Bomer heftiger, als er gewollt hatte, was ihm einen misstrauischen Blick von Seiten Cedrics einbrachte. »Wir sollten reden«, setzte er nach und machte kehrt, um nach oben zu gehen und den Bericht zu holen, der in seinem Safe hinter dem Kleiderschrank lag. Dort bewahrte er alles an Geld und Papieren auf, was wichtig für ihn war, und natürlich eine geladene Waffe. Nur für alle Fälle.

Cedric hatte Charly ins Haus geholt und saß mit ihm an der Heizung, als Bomer ins Wohnzimmer trat. Der Anblick war vertraut und dagegen wehrte er sich mit aller Kraft. Das musste aufhören. Cedric war schon bald zurück in seinem alten Leben, während seines hier oben in Kanada stattfand, und Bomer war nicht bereit, sein Haus aufzugeben, Emma und Charly zurückzulassen und wieder in die Stadt zu ziehen. Keine Stadt der Welt war es wert, die Freiheit und die Ruhe hinter sich zu lassen, die draußen herrschte.

Cedric wäre es möglicherweise wert gewesen, das Ganze auf einen Versuch ankommen zu lassen, aber diese Option stand ihm leider nicht zur Verfügung, also würde er sich diesen Mann aus dem Kopf schlagen, sobald der sein Haus und ihn verlassen hatte.

»Celvin Morgan«, las er vor und ließ sich auf seinem bevorzugten Platz auf der Couch nieder, »war einundzwanzig Jahre alt, als er in New York City in einer Mülltonne gefunden wurde. Mit vier Schüssen in Gesicht und Oberkörper förmlich hingerichtet.« Er sah von dem Bericht auf und zu Cedric hin. »Laut offiziellem Bericht geriet er bei einem Drogendeal in eine Schießerei.«

Cedric machte ein abfälliges Geräusch. »Schwachsinn. Er war kein Junkie.«

»Niemand muss süchtig sein, um zu dealen«, hielt Bomer trocken dagegen, denn was das betraf hatte er genug eigene Erfahrung. Man tat eine Menge, wenn es darum ging, sich Alkohol oder Geld für die nächste Miete zu beschaffen.

»Du blödes Arschloch! Celvin war clean.« Cedric warf ihm einen drohenden Blick zu. »Darauf habe ich immer geachtet, also behaupte nicht solchen Scheiß. Er hat nichts genommen und wäre auch jetzt noch sauber, wenn du ihn … wenn man ihn nicht umgebracht hätte.«

Bomer seufzte stumm, denn jetzt kam der schwere Teil. Der, wo er seinem Gegenüber klarmachen musste, dass sein Bruder nicht so unschuldig war, wie er dachte. Und dass er seit vielen Jahren belogen worden war. »Hat dir das Dimitri erzählt?«

Cedric erstarrte. »Woher kennst du diesen Namen?«

»Ich kenne alle Namen. Dimitri Koslow ist sein richtiger. Ein russischer Einwanderer, der es dank seiner illegalen Geschäfte weit gebracht hat. Wusstest du, dass er eine Handfeuerwaffe besitzt, die das gleiche Kaliber hat wie die Waffe mit der Celvin erschossen wurde?«

»Na und? Was beweist das?«

»Nicht viel. Nur, dass ich Gewehre oder Messer nutze, keine Handfeuerwaffen.«

Cedrics graue Augen zogen sich misstrauisch und abwehrend zugleich zusammen. »Wird das deine Taktik? Mich weichkochen, meinen Bruder beleidigen, und den Mord an ihm dann dem einzigen Mann in die Schuhe schieben, dem wir nicht egal waren? Nur weil ich glaube, dass du es nicht warst, erlaube ich dir noch lange nicht, die Menschen in den Dreck zu ziehen, die mir alles bedeutet haben. Celvin war sauber und Dimitri hat uns geholfen. Er hat meinen Bruder und mich großgezogen, nachdem unsere Mutter sich mit Drogen abgeschossen hatte. Er hat sich darum gekümmert, dass wir erst die Schule beenden, bevor wir arbeiten. Er hat Celvin und mir einen Job gegeben. Er ist wie ein Vater für mich.«

»Ein Vater, der deinen Bruder erschossen hat, der für ihn Drogen vertickte.«

»Blödsinn!«

»Dimitri Koslow ist ein Mörder. Man konnte ihm nur nie etwas nachweisen. Celvin hat ihn beobachtet, wie er einen seiner Geschäftspartner totgeprügelt hat. Er ging zur Polizei und machte einen Deal, der lautete, du und er bekommen eine neue Identität sowie er Straffreiheit bei seinen Drogengeschichten. Im Gegenzug wollte er aussagen. Dein ach so perfekter Wohltäter hat das herausgefunden und Celvin ermordet. Koslow hat es mir in die Schuhe geschoben, da ich ihm vor einigen Jahren einen Drogendeal vermasselt habe.«

Cedric schüttelte den Kopf. »Du lügst.«

Bomer warf ihm Adrians Bericht hin. »Lies es selbst, da steht alles schwarz auf weiß. Sie konnten ihn nicht verhaften, weil die Kugeln in Celvins Körper zu deformiert waren, um sie einer Waffe zuordnen zu können.«

Cedric sah unentschlossen auf die Papiere vor seinen Füßen und Bomer erhob sich, um in die Küche zu gehen und sich ein Bier zu nehmen. Er konnte verstehen, dass es nicht leicht war zu erfahren, dass das bisherige Leben eine Lüge war, aber er war es leid als Mörder hingestellt zu werden, der er nicht wahr. Jedenfalls nicht in diesem Fall.

»Ich habe deinen Bruder nicht getötet«, sagte er im Gehen, ohne sich umzudrehen. »Das ist der Beweis. Du musst jetzt entscheiden, wem du mehr glaubst, einem Mörder und Gangster, der dich nach Strich und Faden belogen hat, oder einem Freund von mir, der Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, um an diesen Bericht zu kommen.«

 

Eine Stunde musste er warten, bis Cedric leise in die Küche kam. Bomer saß mit dem Rücken zur Tür und hob nicht mal den Kopf, als Cedric zögernd in seinem Rücken stehen blieb. Emma, die bereits eine Weile schnurrend auf seinem Schoß lag, sprang jetzt runter und miaute. Das brachte Cedric hinter ihm zum Seufzen und Bomer konnte sich sehr gut vorstellen, warum das so war. Wenn Emma gestreichelt werden wollte, schlich sie ihm immer mit wachsender Begeisterung um seine Beine und tat das wahrscheinlich auch gerade bei Cedric.

»Und? Erstichst du mich jetzt von hinten?«, fragte Bomer verbittert und trank danach den letzten Schluck seines Biers. »Oder wartest du ab, bis ich schlafend im Bett liege?«

»Hör auf, dich wie ein Arschloch zu benehmen.« Cedric klang genauso niedergeschlagen, wie Bomer sich momentan fühlte. »Vor ein paar Jahren sagte Celvin eines Nachts, dass wir höllisch aufpassen müssen, was Dimitri angeht. Ich hielt es für Übertreibung, aber ich schätze, er wusste schon lange, dass mit ihm was nicht stimmt. Er war schon immer schlauer als ich.« Cedric räusperte sich. »Dein Freund, der den Bericht besorgt hat, kann ich mit ihm reden?«

Bomer deutete auf sein Handy, das auf der Theke lag. »Die Nummer ist im Speicher. Er heißt Adrian.«

Cedric trat an ihm vorbei, nahm das Handy an sich und verzog sich ins Wohnzimmer. Bomer hörte ihn leise reden, verstand jedoch nicht, was gesprochen wurde. Es verging einige Zeit, bis das Gespräch endete, aber Cedric kam nicht zurück in die Küche und Bomer erhob sich, um nachzusehen. Er fand ihn, mit dem Rücken an die Heizung gelehnt, auf dem Boden sitzend, wo er blicklos in die Ferne starrte.

Bomer kannte den Gesichtsausdruck, den Cedric gerade zur Schau trug. Er hatte ihn in den letzten Jahren oft gesehen. Im Spiegel und auch bei anderen Leuten, die psychisch am Ende waren. Soldaten sahen häufig so aus, wenn sie aus Einsätzen in Kriegsgebieten zurückkamen. Bomer hatte für eine verdammt lange Zeit so ausgesehen, nachdem er in Gefangenschaft vergewaltigt worden war. Und darum wusste er, dass es nichts gab, was er jetzt sagen konnte, das geholfen hätte. Alles, was er tun konnte, war, sich zu Cedric zu setzen und ihm zeigen, dass er da war.

 

»Wieso jetzt? Wieso hat er so lange abgewartet, dich mir auf einem Silbertablett zu präsentieren, obwohl er wusste, wer du bist?«, fragte Cedric irgendwann, als es draußen bereits dunkel zu werden begann.

»Was hat Adrian dazu gesagt?«, wollte Bomer wissen.

»Er denkt, dass Dimitri Zeit brauchte, um deinen echten Namen ausfindig zu machen, weil du damals noch eine falsche Identität hattest. Und dann musste er nur auf den passenden Moment zu warten, um sein Wissen gegen dich und mich einzusetzen.«

Bomer nickte. »Das wäre logisch.«

»Ich weiß«, murmelte Cedric und rieb sich die Augen.

Sie waren rot und geschwollen von den Tränen, die er in den letzten Stunden, ohne dabei einen Ton von sich zu geben, geweint und die Bomer nicht kommentiert hatte, da er mit Gefühlsausbrüchen nicht umgehen konnte. Im Streiten und Kämpfen war er erstklassig, aber wenn jemand weinte, überforderte ihn das komplett.

»Das erklärt aber nicht, warum er mir sagte, du wärst es gewesen. Er muss gewusst haben, dass …« Cedric brach ab und je länger das Schweigen andauerte, umso sicherer war Bomer, was er gleich zu hören bekam. »Ich war so ein Idiot. Er hat gesagt, du bist ein normaler Parkranger. Aber kein Ranger kämpft wie du. Das hatte ich schon begriffen, bevor du mir sagtest, dass du bei den Seals warst. Ich habe seine Worte nie hinterfragt, ihm immer vertraut.« Cedric rieb sich das Gesicht. »Er muss sich insgeheim köstlich über meine Blödheit amüsiert haben. Dabei wollte ich nur ein Zuhause für Cel und mich.«

»Und er wusste das. Er hat eure Notlage für sich ausgenutzt. Den Wunsch nach einer Familie. Nach jemandem, der da ist und sich kümmert. Jemand, der euch liebt. Ich wette, er weiß auch, woher deine Narben stammen.« Cedric zuckte zusammen, sagte aber nichts. »Du hast ihm davon erzählt, oder? Dass die Freier deiner Mutter ...«

»Hör auf!«

Bomer nickte nur, denn mehr als eine Bestätigung seiner Theorie hatte er nicht gewollt. Ein weiteres Teil in dem großen Puzzle, das Cedric für ihn anfänglich gewesen war, und das er mittlerweile fast zusammengesetzt hatte. Eine drogenabhängige Mutter, ein Bruder, den Cedric mit seinem eigenen Körper jahrelang beschützt hatte, bis Koslow auf der schmutzigen Bildfläche erschienen war. Mehr war gar nicht nötig gewesen. Koslow hatte leichtes Spiel gehabt, die Jungs für sich einzunehmen, und als Celvin dann angefangen hatte unbequeme Fragen zu stellen, hatte man ihn entsorgt, wie ein Stück Abfall.

Ob Cedric auch vergewaltigt worden war, so wie er im Dschungel? Bomer hoffte innerlich, dass ihm zumindest das erspart geblieben war. Mit der Folter und dem Rest an Missbrauch in seiner Jugend hatte er noch genug zu kämpfen, das war bei ihrem Gespräch letzte Nacht mehr als deutlich geworden. Bomer würde nicht fragen. Nicht heute und auch nicht morgen. Wahrscheinlich niemals. Es ging ihn nichts an, und außerdem würde er dann im Gegenzug ebenfalls nach seinem früheren Leben gefragt werden.

Eine Vorstellung, die ihm Gänsehaut bescherte, denn er war sich nicht sicher, ob er in der Lage war, derartige Fragen zu beantworten. Es war für ihn furchtbar genug gewesen, als er es das eine Mal gewagt hatte, sich David anzuvertrauen. Und das auch nur, weil der so wütend auf ihn gewesen war, dass Bomer Angst gehabt hatte, ihn und Adrian durch seinen Aussetzer zu verlieren.

Mehrere Wochen lang, nachdem Adrian ihn von der Brücke geholt hatte, hatten ihn seine Albträume Nacht für Nacht wiederholt aus dem Schlaf gerissen, bis der Anwalt ihn eines Abends so heftig bedrängt hatte, dass er am Ende ausgerastet war.

Erst hinterher, als es vorbei gewesen war und Adrian blutend unter ihm auf dem Fußboden gelegen hatte, war Bomer klar geworden, dass er dringend Hilfe brauchte, und er hatte sie bekommen. Dieser sture Anwalt war bei ihm geblieben. Er hatte ihn nicht im Stich gelassen. Ganz im Gegenteil. Er hatte Bomer sogar vor seinem eigenen Ehemann in Schutz genommen, als der ihm für Adrians blaues Auge, den lädierten Kiefer und seine gebrochene Rippe den Kopf abreißen wollte.

Das hatte David am nächsten Abend trotzdem getan, als er, nicht gänzlich unerwartet für Bomer, in seiner Wohnung aufgetaucht war, um ihm die Leviten zu lesen.

Aber davon wusste Adrian bis heute nichts, und wenn es nach Bomer ging, würde sich das auch niemals ändern.

 

 

Kapitel 9

 

»Mach sofort die Tür auf!«

Bomer zuckte nervös zusammen und verzog gequält das Gesicht. Er kannte die wütende Stimme im Flur und er wusste, warum der Mann gekommen war. Genauso wie ihm klar war, dass der jedes gottverdammte Recht hatte herzukommen und ihn für das, was er in seinem Wahn gestern Adrian angetan hatte, grün und blau zu schlagen.

Trotzdem verging eine gefühlte Ewigkeit, bis Bomer die wenigen Meter zur Tür hinter sich gelassen hatte, um diese zu öffnen.

Zorn, und davon jede Menge, stand in Davids Gesicht, als sich ihre Blicke trafen. Bomer trat schweigend zurück und bat Adrians Mann damit in sein kleines Apartment, das der Anwalt ihm vor über einem Monat organisiert hatte. Ebenso wie den Job am Hafen, der ihn körperlich so sehr forderte, dass er die täglichen Stunden kaum zum Nachdenken kam. Das tat er nachts, was zu schlimmen Albträumen führte, die der Grund für den aufgebrachten Gesichtsausdruck waren, den David zur Schau stellte, während er eintrat.

Bomer schloss die Tür hinter ihm und wollte gerade eine Entschuldigung aussprechen, als David abrupt zu ihm herumfuhr und ohne Vorwarnung zuschlug. Dessen Faust landete schmerzhaft auf seinem Wangenknochen und Bomer stolperte überrascht zurück gegen die Tür.

Er wagte es nicht, etwas zu sagen, geschweige denn sich zu wehren, dazu war er zu entsetzt. David hasste Gewalt. Allerdings liebte er Adrian über alles und somit war seine Reaktion mehr als verständlich.

»Das war für meinen Mann«, sagte David nach einer Weile, die er ihn nur angesehen hatte, und wandte sich im nächsten Moment ab, um ins Wohnzimmer zu gehen. »Und jetzt werden wir darüber reden, was du ihm letzte Nacht angetan hast. Ich hoffe für dich, du hast eine gute Erklärung für seine Verletzungen, denn falls mir nicht gefällt, was du zu sagen hast, wirst du dir wünschen, mich niemals kennengelernt zu haben, Evan Chambers.«

»Ich … Es tut mir leid«, brachte er leise und erst nach mehreren Anläufen hervor, bekam dafür jedoch nur ein Schnauben zur Antwort.

Vergebung würde er heute kaum bekommen, aber er hatte sie auch nicht verdient. Bomer ließ die Schultern hängen und folgte David langsam ins Wohnzimmer, wo der sich auf einem der zwei Sessel niedergelassen hatte, die seine Couch flankierten. David beobachtete ihn, wie er sich in der Tür herumdrückte und nicht wusste, was er sagen oder tun sollte. Am Ende hielt Bomer dem Blick nicht mehr stand und sah zu Boden.

»Mein Gott, was hat man dir angetan? Und was hat Adrian zu dir gesagt, dass du komplett die Fassung verloren und ihn geschlagen hast?«

Bomer schüttelte seinen Kopf. Darauf würde er nicht antworten. Er hatte auch Adrian nicht geantwortet und selbst für David, obwohl der eine Erklärung verdiente, konnte er nicht über seinen Schatten springen.

»Wie groß bist du? Etwa zwei Meter oder kurz darunter? Ein Schlag von dir würde reichen, dass ich vorerst nicht mehr aufstehe. Du warst ein Seal, Bomer. Du könntest mich töten. Und dennoch stehst du an der Tür, traust dich nicht, mich anzusehen und lässt dich sogar von mir schlagen. Warum?«

»Ich hab's verdient.«

»Nein, das hast du nicht. Niemand verdient Prügel.«

»Ich habe Adrian geschlagen.«

»Deswegen auch mein Faustschlag. Meine Art, dir zu sagen, dass ich diesen Mann liebe und es verflucht noch mal nicht gutheiße, dass er deinetwegen jetzt verletzt ist. Es ist mir dabei auch scheißegal, dass er dich verteidigt hat und eine Teilschuld auf sich nimmt, weil er dich gestern bedrängt hat. Ich kenne Adrian und weiß, dass das nur zu gut der Wahrheit entspricht. Er überschreitet immer wieder Grenzen, wenn er helfen will. Aber darum geht es mir nicht und jetzt sieh mich an und rede mit mir!«

»Ich kann nicht.«

»Was ist mit dir passiert? Bei deinem letzten Auftrag für die Regierung? Was war der Grund dafür, dass dein Freund Mac sein Auge verloren hat, und dass du gleich nach deiner Rückkehr alles hingeworfen hast, um dich zu Tode zu saufen?«

David zog die richtigen Schlüsse, ebenso wie Adrian es gestern getan hatte. Und mit Sicherheit kannte er die Antwort auf all seine Fragen längst, der Kerl war nicht dumm. Warum David sie unbedingt durch ihn bestätigt haben wollte, war Bomer jedoch ein Rätsel.

»Ich will nicht darüber reden.«

»Verstehe, du schlägst stattdessen lieber Menschen, denen du wichtig bist.«

Tiefschlag. Und zwar weit unter jeder Gürtellinie. Das hatte sich nicht einmal Adrian getraut. Bomer machte beunruhigt einen Schritt zurück.

»Wenn du jetzt gehst, sind wir geschiedene Leute!«

Bomer erstarrte auf der Schwelle. Der Tonfall war eindeutig. David meinte das todernst. »Und was ist mit Adrian?«, fragte er.

»Ich entscheide nicht für ihn, Evan, nur für mich. Du musst dich jetzt allerdings auch entscheiden. Schweigst du weiter und riskierst neue Aussetzer oder traust du dich, sprichst es aus und machst eine Therapie, um mit der Zeit damit leben zu lernen. Denn im Moment kannst du es nicht. Im Gegenteil. Du bist weit davon entfernt.«

»Du weißt nicht, wovon du redest«, wehrte Bomer ab, spürte aber, dass sein Widerstand zu bröckeln anfing. Davids ruhige, zu allem entschlossene Tonlage, brachte ihn nicht so auf die Palme, wie es Adrian getan hatte, obwohl ihre Worte ähnliche waren.

»Doch, Evan, das weiß ich sehr wohl. Als mein erster Mann starb, bin ich abgestürzt, und saß am Ende mit einem ganzen Rudel Schnapsflaschen im Schlafzimmer, um Schluss zu machen. Ich wäre in jener Nacht gestorben, wenn ich nicht einen Freund gehabt hätte, der nach mir schauen wollte und verhindert hat, dass ich an einer Alkoholvergiftung krepiere.«

Bomer schüttelte den Kopf, starrte weiter auf den Boden, weil er sich nicht traute David anzusehen. »Das ist nicht dasselbe.«

»Ich weiß. Jemanden zu verlieren oder vergewaltigt zu werden, ist ein ziemlich großer Unterschied, aber das Ergebnis hinterher ist das Gleiche. Zumindest bei uns beiden. Du wolltest auf der Brücke sterben und du bist auf dem besten Weg ein zweites Mal dort zu landen. Ich habe den Absprung damals durch Freunde geschafft und mir scheint, du vergisst im Moment, dass du ebenfalls welche hast.«

Was David sagte, tat weh, und zwar weit mehr, als Bomer bereit war, sich hier und heute einzugestehen. Er hatte nicht mehr die Kraft dazu, vielleicht würde er sie nie wieder haben. Es war unerheblich, dass David die Wahrheit ausgesprochen hatte. Freunde hin oder her, er war derjenige, der sich mit dem ganzen Dreck in seinem Kopf auseinandersetzen musste. Und in seinem Schädel steckte eine Menge Mist, den Bomer am liebsten für immer begraben hätte.

»Es war meine Wahl. Meine Entscheidung. Ich hätte Mac damals sterben lassen können, stattdessen entschied ich …« Bomer brach ab und schluckte. »Gefickt wie eine Frau. Ein Bückstück, das bist du, nicht mehr, hat er gesagt, bevor er mir … Ein enger, jungfräulicher Arsch, der ...«

Mit der Hand vor dem Mund machte Bomer abrupt kehrt und rannte ins Bad, um sich zu übergeben, bis nur noch Gallensaft hochkam und seine Kehle reizte, sodass er laut husten musste.

»Hier.«

Ihm wurde ein Glas Wasser gereicht, und während er Schluck für Schluck trank, legte David ihm einen feuchten, kühlen Lappen in den Nacken, berührte ihn ansonsten aber nicht, so als wüsste er, dass Bomer ihm ausgewichen wäre, hätte er es getan.

»Weiß Adrian davon?«, fragte David mitfühlend und Bomer beschränkte sich bei der Antwort auf ein Kopfschütteln. »Darf er es wissen?«

Bomer schnappte entsetzt nach Luft. »Nein!«

»In Ordnung.«

»Einfach so?«, hakte er nach und ließ zu, dass David ihm kurz die Schulter drückte.

»Ja, Bomer, einfach so. Ich verspiele kein Vertrauen. Schon gar nicht, wenn es so unter Zwang entsteht, wie unseres hier gerade.«

»Ich ...«

»Lass das einfach so stehen, okay? Ich weiß, wie sehr du an uns zweifelst. Ich stand auch einmal vor der Frage, ob ich Adrian vertrauen kann oder nicht, und du kannst mir glauben, ich habe es ihm nicht leicht gemacht, als er sich einen Platz in meinem Leben erkämpft hat. Aber er war hartnäckig und das bin ich heute auch. Ich mache dabei Fehler, so wie eben, und es tut mir leid, dass ich nicht gesehen habe, wie schlimm die Erinnerung ist. Ich werde garantiert nicht losziehen und Adrian erzählen, was du mir gesagt hast. Das bleibt unter uns, ich gebe dir mein Wort darauf!«

Bomer seufzte und stellte das leere Glas neben sich auf die Fliesen, bevor er die Toilettenspülung betätigte und aufstand, um sich die Zähne zu putzen. Er wollte diesen ekligen Geschmack des Erbrochenen loswerden.

Als er fertig war, stand das Glas nicht mehr da und David hatte das Badezimmer verlassen, ohne dass er es bemerkt hatte. Bomer schöpfte mit der Hand Wasser, um noch ein paar Schlucke zu trinken, ehe er zurück ins Wohnzimmer ging. Es war leer. Im ersten Moment dachte Bomer, David wäre gegangen. Dann stieg ihm der Geruch nach Huhn in die Nase.

»Du kochst?«, fragte er verwundert, als er in der Tür zur Küche stehen blieb.

»Nicht wirklich«, antwortete David und schmunzelte. »Du hast kaum was da, aber für Sandwichs und eine Suppe reicht es.« Er zwinkerte ihm zu. »Für einen Kaffee sorgst du aber besser persönlich.«

Bomer musste lachen. Die Geschichten über Davids mehr als grausigen Kaffee hatte er bereits gehört, und er wollte nicht riskieren, seinen Magen heute noch mehr zu quälen. Deshalb kümmerte er sich selbst darum und sah David währenddessen dabei zu, wie der aus seinen mageren Vorräten einen Teller mit Sandwichs und eine Nudelsuppe aus der Tüte zauberte. Er musste dringend einkaufen gehen. Der Job am Hafen, den Adrian für ihn organisiert hatte, brachte genug Geld ein, um die Miete für diese kleine Wohnung und Essen zu zahlen. Aber auf Dauer war es zu wenig, das wusste Bomer.

»Ich brauche einen neuen Job«, sagte er und biss in ein Sandwich, weil David ihn schon auffordernd ansah. »Einen Anfang.«

»Du brauchst vor allem Hilfe, aber da du genauso ein Dickschädel bist, wie ich es früher mal war«, David sah ihn schmunzelnd an, »werden wir ein Geschäft machen, von dem wir alle etwas haben.«

»Wir?«

»Adrian und ich.«

»Was?«, fragte Bomer irritiert und David goss für sie beide Kaffee ein, bevor er sich zu ihm an die längliche Theke setzte, die er statt eines Küchentischs hatte.

»Mein sturer Mann und ich haben uns gestern lange unterhalten, und wir sind uns zumindest dahingehend einig, dass es nichts für dich ist, den Rest deines Lebens Kisten am Hafen zu stapeln. Adrian hat ein Angebot für dich und davon wird er dir in ein paar Tagen erzählen. Sei also besser angemessen überrascht, sofern du nicht willst, dass er von unserem kleinen Date heute erfährt.« David wiegte bedächtig den Kopf. »Allerdings hat dieses Angebot ein paar Haken.«

Bomer ahnte, um welche Form von Haken es dabei ging. »Ich muss eine Therapie machen.«

»Unter anderem.«

Er zog einen Teller mit Suppe zu sich, lehnte sich danach aber erst mal zurück. »Und wenn ich sie mache, was dann?«

»Das Angebot gilt nur für dich und die vier Männer, von denen du Adrian erzählt hast. Ein Gruppenangebot sozusagen.«

Bomer erstarrte. »Warum?«

David reichte ihm ein Stück Brot und wartete, bis er es in die Hand nahm. »Weil wahre Freunde nun mal das Wichtigste im Leben sind.«

Das hatte Adrian ihm auch schon gesagt und da war durchaus was Wahres dran. Bomer biss vom Brot ab und aß einige Löffel der Suppe, während er nachdachte. Konnte er sich darauf einlassen? Wollte er es? Oder war es leichter, alleine zu bleiben? Sicher war es das, aber es war auch feige und genau darauf spielte David an. Was das betraf, war er genauso stur und dickköpfig wie der Mistkerl von Anwalt. Bomer verdrehte innerlich die Augen, als er an Adrian dachte. An dessen wissende Augen, sein lässiges Grinsen und diesen: Ich bekomme eh immer, was ich will - Ausdruck im Gesicht, der ihm gestern Abend eine Tracht Prügel eingebracht hatte.

Bomer verzog das Gesicht und schob den Teller von sich. Ihm war der Appetit vergangen. »David … Es tut mir wirklich leid.«

»Entschuldigung akzeptiert.«

Das erleichterte Seufzen verließ seine Lippen, bevor er es verhindern konnte. Bomer griff nach seiner Kaffeetasse, um etwas in den Fingern zu haben. »Was euer Angebot angeht, ich weiß nicht, wo die Jungs sind.«

»Dann solltest du es schnellstens herausfinden.«

»Ist das eure Art von Hilfe?«, fragte Bomer und warf David einen frustrierten Blick zu. »Mir eine Aufgabe geben, damit ich beschäftigt bin? Keine Zeit habe, um in der Vergangenheit zu leben. Damit ich nach vorne sehe und irgendwann, das hofft ihr beide zumindest, kapiere, dass ihr nur das Beste für mich wollt?«

David begann zu grinsen. »Du hast es erfasst.«

»Hast du eine Vorstellung, wie schwer es sein wird, ehemalige Seals zu finden, die garantiert nicht gefunden werden wollen?«

»Nein«, antwortete David belustigt. »Aber du wirst es mir in den kommenden Tagen und Wochen mit Sicherheit regelmäßig erklären.«

»Arsch.«

»Ja, ich habe dich auch gern.« David lachte. »Und wenn ich´s mir recht überlege … Ruf einfach meinen Mann an. Er weiß, wo sie sind.«

Bomer blieb verblüfft der Mund offenstehen.

 

 

Kapitel 10

 

Nein, er konnte Cedric nicht von diesem Abend mit David erzählen, der, nach seinem Hilfeschrei an Adrian auf der Eisenbahnbrücke in Baltimore, ein weiterer, entscheidender Wendepunkt in seinem früheren Leben gewesen war. Eines Tages vielleicht, aber nicht hier und heute.

»Ich muss wissen, wieso Celvin gestorben ist«, sagte Cedric leise und wandte sich ihm zu.

»Koslow wird dich umbringen.«

»Nicht, wenn ich schneller bin«, konterte Cedric und erhob sich dabei. »Ich will die Wahrheit wissen.«

Bomer stand ebenfalls auf. »Du kennst die Wahrheit. Sei ehrlich.«

Cedric stieß die Luft aus, dann nickte er. »Mag sein, aber ich will es aus seinem Mund hören. Ich will, dass er mir ins Gesicht sieht und zugibt, dass er mich nur aus dem Grund hergeschickt hat, damit du mich tötest. Weil ich die falschen Fragen stelle. Weil ich die Schnauze voll davon habe, für ihn Geld einzutreiben. Weil ich endlich aufhören will. Weil ich, nachdem ich mit dir fertig war, weggehen wollte, und zwar für immer. Aber das weißt du ja alles längst, du hast schließlich den Wagen und die beiden Beutel gefunden, und dir garantiert deinen Reim darauf gemacht.«

Natürlich hatte er das und mit seiner Antwort hatte Cedric ihm das letzte Puzzlestück eben höchstpersönlich in die Hände gedrückt. Das war also der Grund für das alles. Cedric wollte raus aus diesem Leben und Bomers Tod hätte der Startschuss für seinen Neuanfang sein sollen. Eigentlich hätte er darüber wütend sein müssen, aber er war es nicht. Er verstand den Wunsch nach einer zweiten Chance, die Cedric durchaus verdiente, bei dem, was er als Junge durchgemacht hatte.

Das war zwar keine Entschuldigung für sein Leben als Helfershelfer eines Gangsters oder für die Mordversuche an ihm und die übrigen Verbrechen auf Cedrics Liste, aber es war eine Erklärung, die Bomer nachvollziehen konnte. Doch trotz alledem wollte er ihn nicht einfach ziehen lassen, denn neben all seiner Wut, schien Cedric eines zu vergessen.

»Einen Menschen ermorden, ist nicht so einfach, wie du denkst«, sagte Bomer leise. »Und ich weiß, wovon ich rede, glaub´s mir.«

Cedric presste seine Lippen zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und wich einen Schritt vor ihm zurück. »Er hat es verdient. Ich weiß, wie man eine Waffe benutzt, ich mag sie nur nicht. Aber abdrücken, das kann ich. Und das werde ich auch.«

Nach diesen Worten, die Cedric nie in die Tat umsetzen würde können, weil er kein Mörder war, schob der sich an ihm vorbei und verließ das Wohnzimmer. Bomer wartete ab, bis oben eine Tür zuschlug, dann seufzte er tief und setzte sich auf die Couch. Er würde Cedric niemals aufhalten können. Nicht ohne Gewalt anzuwenden, was auf keinen Fall infrage kam. Es gab nichts, was er sagen oder für ihn tun konnte, das an Cedrics Entschluss etwas geändert hätte.

Da war ein Mann, der seit vielen Jahren belogen und betrogen worden war. Bomer verstand gut, dass er Rache wollte. Es fragte sich allerdings, ob Cedric sie überlebte.

Energische Schritte auf der Treppe ließen ihn einige Minuten später aufhorchen. »Cedric?«, rief er und die Schritte verstummten. »Wenn du überlebst und am Ende feststellst, dass du keinen Ort mehr hast, an den du gehen kannst, komm hierher zurück. Meine Tür steht für dich offen.«

Stille kehrte ein, mit der Bomer gerechnet hatte, denn so ein Angebot hatte Cedric mit Sicherheit nicht erwartet. Ob er es annahm oder nicht, war Cedrics Sache, doch zumindest ging er mit dem Wissen, dass hier in Kanada, in diesem Blockhaus, ein neues Zuhause auf ihn wartete.

»Du hast das wirklich ernst gemeint, oder? Das mit dem Sex und …«, Cedric zögerte einen Moment, »...  uns.«

»Ja.«

Das leise Klappen der Haustür war Cedrics Antwort, als er ihn verließ. Bomer war zufrieden. Nichts zu sagen, war immerhin kein nein, also bestand Hoffnung. Er wusste, dass seine Worte keine typische Liebeserklärung gewesen waren, doch sie entsprachen der Wahrheit, auch wenn er nicht erklären konnte, warum das so war. Liebte er Cedric Morgan? Bomer wusste es nicht. Da war etwas zwischen ihnen, dessen war er sich mittlerweile sicher und er hatte das auch akzeptiert, aber er konnte nicht benennen, was es war.

Wahre Liebe, wie sie Adrian für seinen Ehemann David fühlte, oder eher diese merkwürdigen Blicke, die Bomer gerne Schmachterei nannte, mit denen sein Kumpel Chase immer seine Frau Amber bedachte. Das war es doch, wovon in Millionen Liedern gesungen und ebenso vielen Büchern erzählt wurde.

Hatte er Cedric auch so angesehen?

Verliebt sein oder lieben, wo war der Unterschied? Woher wusste man, was was war? Wie sollte er erkennen, was er für Cedric fühlte oder nicht fühlte, wenn er keinerlei Vergleichsmöglichkeiten hatte? Der letzte Mann in seinem Bett, Jake, war nur Sex gewesen, obwohl Bomer so ehrlich zu sich war, dass er gegen eine Wiederholung mit ihm nichts einzuwenden gehabt hätte. Im Grunde genommen war es aber immer auf Sex hinausgelaufen. Affären, sofern man mehrfachen Sex mit derselben Person so nennen durfte. Doch Liebe? Zusammen leben, gemeinsam etwas unternehmen. Vielleicht eines Tages Kinder haben. Konnte er sich das mit Cedric an seiner Seite vorstellen?

Bomer strich Emma über den Kopf, als sie schnurrend auf ihn sprang und dann begann ihre Krallen in seine Oberschenkel zu bohren. »Du weißt, dass du das nicht sollst«, tadelte er nicht sonderlich ernst und wurde mit einem wissenden Blick aus grünen Augen belohnt. »Ja, schon klar, du bist der Boss. Aber wir müssen jetzt beide abwarten. Vielleicht kommt er zurück zu uns.«

Und was passiert dann?, schienen ihn Emmas kluge Augen zu fragen und Bomer zuckte hilflos mit den Schultern. »Wenn ich das bloß wüsste«, murmelte er und hob Emma von seinem Schoß. Er musste raus. Mit Charly oder alleine. Egal. Hauptsache an die frische Luft, bevor ihm die Decke auf den Kopf fiel und ihn samt seinen Zweifeln und einem kleinen Fitzelchen Hoffnung unter sich begrub.

 

Die folgenden Tage waren die sprichwörtliche Hölle.

Mindestens einmal pro Tag fand sich Bomer mit seinem Wagenschlüssel in den Fingern neben seinem Range Rover wieder, bereit, alles stehen und liegenzulassen, um Cedric zu folgen und dafür zu sorgen, dass der heil aus der Sache herauskam. Er tat es nicht, weil er Emma und Charly nicht sich selbst überlassen konnte. Und weil Cedric, verdammt noch mal, alt genug war, um eigene Entscheidungen zu treffen und mit deren Folgen zu leben.

Zumindest redete er sich das immer wieder ein, wenn er ins Haus zurückging, um den Schlüssel wegzubringen und sich dann in die Stille des Waldes flüchtete. Dass er eigentlich hätte arbeiten müssen, ignorierte er, genau wie die Anrufe von Max, die am Dienstagabend anfingen und erst Freitagmittag aufhörten.

Charly ließ sich allerdings schwerer ignorieren, denn der Welpe wollte trotz seiner miesen Laune beschäftigt werden, und Freitagabend gab Bomer schließlich frustriert auf und verließ mit dem Racker für eine lange Runde das Haus. Als er über eine Stunde später zurückkam, stand neben seinem Rover ein zweiter Geländewagen, dessen Besitzer er nur zu gut kannte.

»Oh je, jetzt gibt’s Ärger«, murmelte er, als sich sein Besucher erhob, der bislang auf der Treppe der Veranda gesessen hatte. Sein Welpe bellte begeistert und stürmte auf Max zu, der lachte und ihn dann ausführlich streichelte.

Bomer sah beiden schweigend zu, und als Max für Charly einen alten Ast warf, setzte er sich auf die Treppe. Sein Boss war wütend, und zwar so sehr, dass er lieber erst mit dem Hund tobte, um sich etwas abzureagieren, statt sofort mit ihm zu reden. Das hatte Bomer schon ein paar Mal bei Max erlebt und er war froh darüber. Nicht jeder besaß eine so gute Selbstbeherrschung.

Es dauerte nicht lange, bis Charly müde wurde und zu ihm kam. Bomer klopfte neben sich und der Welpe legte sich auf die untere Stufe. Dann sah er zu Max auf, der mittlerweile vor ihm stand, beide Hände verärgert in die Seiten gestemmt.

»Du siehst echt Scheiße aus.«

Bomer zuckte nur mit den Schultern, was für Max als Antwort ausreichte. Der Mann brauchte meistens keine langen Erklärungen, er wusste auch so, was los war.

»Eigentlich bin ich gekommen, um dir den Arsch aufzureißen, weil du bereits seit Tagen unentschuldigt der Arbeit fernbleibst, aber das kann ich mir wohl sparen.«

Bomer schwieg weiter.

»Carol sagte heute Morgen, ich solle nicht so streng mit dir sein, du wärst verliebt. Und deiner Frage wegen Urlaub nach zu urteilen, hat sie recht.« Max setzte sich zu ihm auf die Treppe. »Ich vermute, deine privaten Probleme waren in deinem Bett und haben sich jetzt aus dem Staub gemacht?« Max seufzte, als er immer noch nichts erwiderte. »Verrätst du mir wenigstens einen Namen?«

»Er heißt Cedric.«

»Und?«, hakte Max nach. »Ist er wirklich weg?«

»Ja.«

»Kommt er wieder?«

»Ich weiß es nicht.«

Sein Boss schnaubte entrüstet. »Und wieso sitzt du dann hier auf deinem Arsch und bläst Trübsal? Hol ihn zurück!«

Das hätte er im Normalfall vielleicht sogar getan, aber zwischen Cedric und ihm war nichts normal. Nur konnte er das Max schlecht sagen, sonst würde er ihm den Rest dieser ganzen, vertrackten Geschichte erzählen müssen, und das wollte Bomer auf gar keinen Fall riskieren. Er schätzte Max zwar nicht so ein, dass der sie an die Cops verpfiff, aber eine Garantie gab es nie, und Bomer lebte zu gerne hier draußen, als dass er sein neues Leben für ein bisschen Ehrlichkeit aufs Spiel gesetzt hätte. Max musste nicht alles wissen.

»Das ist nicht so einfach.«

»Liebe ist nie einfach, Blödmann. Aber hier zu heulen und im Selbstmitleid zu baden, bringt ihn garantiert nicht zurück in dein Bett.«

Das wusste er auch selbst. Dazu brauchte er keinen finster dreinblickenden Chef, der es ihm unter die unglückliche Nase rieb. »Arschloch!«, zischte Bomer und wurde dafür angegrinst. »Was?«

»Ja, ja, die Wahrheit ist hart. Ich weiß.«

Bomer verdrehte resigniert die Augen. »Ich kann ihn nicht zurückholen, Max. Er muss selbst entscheiden, was er will und ob er das überhaupt mit mir teilen will.«

»Woran hapert es denn?«

»An seiner Vergangenheit«, gestand er leise.

»Mist«, murmelte Max und klopfte ihm auf die Schulter. Ein hilfloser Versuch freundlich zu sein, der nichts brachte. »Okay, was willst du jetzt tun? Weiter hier sitzen und rumheulen, bis Cedric irgendwann seine Wahl trifft? Oder soll ich dich mit Arbeit zuwerfen, dass du keine Zeit zum Nachdenken hast? Und ich sollte dazu sagen, dass, wenn du dir das Heulen aussuchst, ich dir leider sagen muss, dass Michelle fest entschlossen ist, dich in diesem Jahr zum Weihnachtsessen einzuladen. Das bedeutet für dich, drei Hunde, zwei Kinder, eine wahnsinnige Katze, meine Frau und ich. Und ein Essen, das sie gekocht hat.«

Bomer schauderte unwillkürlich. Er hatte ein einziges Mal von Michelle gekochte Suppe probiert und sich prompt den Magen verdorben. »Deine Frau kann nicht kochen.«

»Da siehst du mal, was ich aus großer Liebe zu ihr seit zehn Jahren durchmache.«

Bomer grinste ungewollt.

»So gefällst du mir schon besser.« Max lachte. »Also? Arbeit oder Weihnachtsessen? Aber denk nicht, dass du dich mit dem Job vor Carols Halloweenparty drücken kannst. Sie erzählt seit Tagen überall herum, dass du kommst. «

»Fuck!«

»Wem sagst du das. Aber du wirst nicht alleine sein, also keine Sorge. Ich muss auch hin. Michelle hat darauf bestanden.« Max seufzte tief. »Wir Kerle sind echt arme Schweine, oder? Und all das nehmen wir aus Liebe auf uns.«

»Ich ...«

»Nein, sag es nicht«, fuhr Max ihm über den Mund. »Du liebst ihn, sonst würdest du nicht hier sitzen wie ein Trauerkloß. Und jetzt hoch mit dir. Du verziehst dich ins Bett und kommst morgen früh ins Büro. Dort kannst du mir und deinen lieben Kollegen nämlich Benny vom Hals halten. Der ist frisch in Mandy verliebt und deshalb eine Nervensäge ohne gleichen.«

»Mandy? Und was ist aus Cindy geworden?«, fragte Bomer verblüfft, doch Max winkte ab.

»Das war letzte Woche. Benny ist siebzehn und voller Hormone, schon vergessen?«

»Ich bringe ihn um, wenn er mir auf den Zeiger geht«, drohte Bomer nicht ganz ernst, weil er das natürlich nie tun würde. Dazu mochte er Carol viel zu gerne. »Vielleicht bin ich auch nett und quäle ihn nur ein bisschen.«

Dafür müsste ein warnender Blick ausreichen, denn Benny hatte Angst vor ihm, was Bomer bei jeder Begegnung mit dem großen, schlaksigen Teenager aufs Neue amüsierte. Irgendwann würde er Benny abfangen und fragen, wieso der ihm aus dem Weg ging, aber nicht morgen. Den Spaß wollte er sich nicht entgehen lassen, und vielleicht lenkte ihn Gesellschaft ja von Cedric ab. Es war den Versuch wert.

Max grinste und erhob sich. »Tu dir keinen Zwang hast. Darum sollst du schließlich kommen. Benny hat Schiss vor dir, was heißt, wir können in aller Ruhe unseren Papierkram erledigen, solange du im Büro bist. Wobei mir einfällt, von dir fehlen auch noch Berichte.«

»Ja, ja, ja«, nörgelte Bomer und stand auf. »Rettet mich das vor Carols Party? Immerhin ist der Junge ihr Enkel.«

Max grinste ihn hämisch an. »Nein.«

»Ich hatte es befürchtet.«

 

 

Kapitel 11

 

Plötzlich war Oktober und mit ihm kam der alljährliche Wahnsinn von Halloween.

Es schien Bomer, als hätten sämtliche Bewohner von Halifax ihre Stadt über Nacht in eine lebende Geisterbahn verwandelt. Er betrachtete die Dekoration mit einer Mischung aus milder Belustigung und ehrlichem Staunen und wehrte Carols Versuch, ihm für sein Haus einen großen Kürbis aufzuschwatzen, sehr energisch ab.

Soweit kam es noch, dass er sich an diesem Irrsinn beteiligte, dem die Menschen verfallen waren. Das Ganze mochte ja für Kinder ganz nett sein, aber Bomer konnte damit nichts anfangen. Um der schnöden Wahrheit die Ehre zu geben, konnte er derzeit nicht mal mit sich selbst etwas anfangen.

Max hielt Wort und so war er tagsüber mit Arbeit eingedeckt, um nicht dauernd an Cedric denken zu müssen. Aber die Nächte waren zu lang, um nicht zu grübeln, und das tat er. Vor allem, seit Adrian ihm gestern eine sonderbare Nachricht geschickt hatte.

Wieso hast du ihn gehen lassen? So blöde wäre nicht mal meine Schreibtischlampe gewesen.

Was sollte er mit diesen beiden Sätzen bitteschön anfangen, und überhaupt, warum ging dieser sture Anwalt nicht ans Telefon? Er hatte ihn fünfmal angerufen, drei Nachrichten hinterlassen und sechs SMS geschickt. Die Reaktion war gleich Null. Dasselbe bei David. Bomer wäre am liebsten ins Flugzeug gestiegen, um die zwei in Baltimore zu besuchen und persönlich nachzufragen, was der Quatsch sollte. Andererseits sah er gar nicht ein, ihnen nachzurennen. Wenn sie nicht auf seine Anrufe reagieren wollten, dann eben nicht.

Sie würden sich schon wieder einkriegen. Er hatte für so einen Unsinn keine Zeit. Eher keine Lust, aber das gab man natürlich nicht zu. Bomer verdrehte die Augen und nickte Charly zu, als der bellte.

»Geht gleich los.«

Ihre nachmittägliche Runde durch den Wald stand an und Bomer schlüpfte in seine Stiefel, bevor er Jacke und Leine vom Haken nahm, und sein Handy einsteckte. Nur für alle Fälle. Er zog sich an und warf einen Blick auf die Uhr, um zu erfahren, wie lange er mit seinem Racker unterwegs sein konnte, bis es dunkel wurde.

Es war kurz vor drei Uhr nachmittags, als Bomer seine Haustür aufzog, um mit Charly nach draußen zu treten. Er sah hinauf in einen strahlend blauen Himmel, wärmte sein Gesicht mithilfe der Sonne, die das Herbstlaub in allen Farbvariationen von Gelb und Rot leuchten ließ, und zog die Tür hinter sich zu. Charly bellte erneut und machte ihn damit auf einen Wagen aufmerksam, der den Waldweg zu seinem Haus entlang kam.

Bomer klappte die Kinnlade runter, als er den Mann hinterm Steuer erkannte. Im nächsten Moment piepte sein Handy, vermeldete den Eingang einer neuen Nachricht. Er zog es aus der Tasche und rief sie auf.

Ab sofort bist du für seine Sicherheit zuständig. Und wehe, du machst es nicht vernünftig. Der Bursche liebt dich.

Adrian. Dieser Mistkerl.

Endlich verstand er dessen letzte Nachricht. Der Anwalt musste die ganze Zeit seine schützende Hand über Cedric gehalten haben, zumindest soweit es ihm möglich gewesen war. Bomer schüttelte grinsend den Kopf und steckte das Handy weg. Er würde später antworten.

Cedric war wichtiger, der eben den Motor abstellte und dann ausstieg. Er verzog schmerzhaft den Mund und Bomer starrte ihn fassungslos an, als das Ausmaß seiner Verletzungen sichtbar wurde. Cedrics rechte Wange war eine einzige Prellung und schimmerte in allen Regenbogenfarben. Und wie er sich bewegte, war das Schlimmste durch seine Kleidung noch verborgen. Bomer sah äußerlich gelassen zu, wie Cedric eine große Reisetasche von der Rückbank holte, das Auto abschloss und dann auf ihn zukam. Langsam und hinkend. Er zog das linke Bein deutlich nach und mit seinem linken Arm stimmte ebenfalls etwas nicht. Bomer fluchte innerlich. Er hätte Cedric nie alleine gehen lassen dürfen.

»Was ist mit dem Pick-up passiert?«, fragte er so ruhig, wie er es in seinem aufgewühlten Zustand hinbekam.

»Der ist in New York.«

»In New York?«, wiederholte Bomer überrascht und Cedric nickte, runzelte dabei die Stirn.

»Du hast seltsame Freunde.«

»Ich habe keine Freunde«, widersprach er, weil er nicht verstand, worauf Cedric hinauswollte. »Na schön, ein paar«, korrigierte sich Bomer, als ihm Adrian, David und seine alten Seals-Jungs einfielen. Und irgendwie konnte er Carol und Max wohl auch dazu zählen. »Allerdings nicht in New York. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

»Kennst du einen Bullen namens Tyler?«

Bomer überlegte eine ganze Weile, aber da klingelte bei ihm nichts. »Nein.«

»Er kennt aber deinen Freund, diesen Anwalt«, meinte Cedric und da fiel auf einmal der Groschen bei Bomer. Damit musste dieses Raubein Johnson gemeint sein, für den er damals Koslows Drogendeal vermasselt hatte. Er hatte nie nach dem Vornamen des mürrischen Cops gefragt, je weniger man in der Hinsicht wusste, desto besser.

»Du meinst Johnson. Ja, den kenne ich.«

»Zieht der immer so ein Gesicht?«

Bomer nickte. »Soweit ich weiß, ja. Nur nicht, wenn er mit seinem Freund unterwegs ist.«

»Der hat ...?« Cedric unterbrach sich und winkte ab. »Ich will es nicht genauer wissen. Auf jeden Fall hat der Cop sich um den Wagen gekümmert, nachdem er letzte Nacht in der Bruchbude von Zimmer auftauchte, wo ich mich schon seit über einer Woche verstecke, um mir den Hintern aufzureißen und mich ins Flugzeug zu stecken.« Cedric deutete hinter sich. »Das ist ein legal erworbener Mietwagen.«

Bomer grinste. »Wie langweilig.«

»Wem sagst du das«, ging Cedric auf seinen Scherz ein und verzog im nächsten Moment das Gesicht, als er vor ihm zum Stehen kam.

»Brauchst du einen Arzt?«

»Nein.« Cedric ließ die Tasche neben sich auf den Boden fallen. Nur eine Armlänge trennte sie noch. Gefühlt war es eine Meile. »Ich war im Krankenhaus und bin verduftet, bevor mich die Bullen in eine Zelle stecken konnten. Sie suchen nach mir. Deshalb hat der Cop mich ins Flugzeug gesetzt. Er meinte, Adrian bräuchte Zeit, um die Sache zu klären, daher musste ich aus der Stadt verschwinden.«

»Was ist passiert?«

»Dimitri ist tot.«

»Hast du es getan?«, fragte Bomer und wusste die Antwort in der Sekunde, als Cedric seufzte.

»Nein. Ich konnte nicht abdrücken. Sein Bodyguard, Sergej, hatte nicht so viele Skrupel. Er hat uns gehört, als wir stritten. Und er hatte ebenfalls einen Bruder. Mikail wurde erschossen. So wie Celvin. Die Bullen wollen, dass ich gegen Sergej aussage. Aber das mache ich nicht.«

»Gute Entscheidung.«

»Ich wollte mich verabschieden. Wenigstens das … Es ist besser als nichts, oder?« Cedric ließ seinen Blick nachdenklich über die Umgebung schweifen. »Und du hast zu mir gesagt, deine Tür steht offen.«

Das tat sie und daran würde sich nichts ändern. Doch scheinbar musste er Cedric das deutlicher machen, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Er wusste zwar nicht so wirklich, wie er es anstellen sollte, aber im schlimmsten Fall würde der Dickschädel eben wieder in Handschellen an seiner Heizung enden, bis er es begriffen hatte.

»Cedric? Willst du bleiben?«

»Soll ich denn?«

»Ja.«

Cedric schluckte, sah ihn aber immer noch nicht an. »Ich möchte bleiben, aber die Polizei wird nicht einfach so aufgeben. Sie wollen Sergej einbuchten und ich habe keine große Wahl. Meine Polizeiakte dürfte so lang wie mein Arm sein. Wenn ich nicht aussage, werde ich in einer kleinen Zelle im Knast verschwinden, und zwar auf Nimmerwiedersehen.«

Die Gefahr bestand durchaus, aber Cedric hatte nicht geschossen. Koslow war von seinem Leibwächter getötet worden, also hatte die Polizei vermutlich nicht viel oder sogar nichts Konkretes gegen Cedric in der Hand. Bomer war bereit, es auf den Versuch ankommen zu lassen, und da Adrian Johnson mit in die Sache hineingezogen hatte, schien der Anwalt das ebenso zu sehen. Er würde gleich mit ihm telefonieren, um Details zu erfahren, aber zuerst wollte er Cedric dazu bringen, bei ihm zu bleiben.

»Adrian wird sich darum kümmern, darauf kannst du dich verlassen. Er hat sein Wort noch nie gebrochen.«

»Du ...«

»Kann man dir irgendetwas nachweisen?«

»Ähm ...« Cedric überlegte. »Keine Ahnung. Die Typen, bei denen ich Geld eingetrieben habe, werde kaum etwas sagen, und sonst habe ich mich immer zurückgehalten.«

»Also bist du im Grunde nur ein Zeuge für den Mord an Dimitri.«

»Ja, schon, aber ...«

»Lass Adrian diese Sache regeln«, unterbrach er Cedric, denn so hatte er sich das vorgestellt. Die Bullen hatten keine Beweise, keine beweisbaren Anschuldigungen, sonst säße sein Freund bereits im Gefängnis. »Er hat es bei mir damals auch hinbekommen.« Bomer überbrückte den letzten Abstand zwischen ihnen und sah auf Cedric hinunter, da er an die zehn Zentimeter größer war als der. »Ich lasse dich nicht noch einmal gehen.«

Cedrics Blick war eine Mischung aus Hoffnung, Angst und diesem letzten Zögern, da er nicht sicher war, ob er das alles nur träumte. Bomer hatte vor vielen Jahren genauso in Adrians Gesicht gesehen, als der ihm den Ausweg, ein zweites Leben, angeboten hatte.

»Wenn du bleibst, dann bleibst du. Bei mir. Uns. In diesem Haus. Solange du mich willst.«

Das folgende Schweigen wurde durch das Rascheln in den Bäumen und Charly gestört, der sich langweilte und angefangen hatte, in Büschen, die direkt am Wegrand standen, zu wühlen und dabei leise zu knurren und zu schnaufen. Bomer warf ihm einen kurzen Blick zu und richtete seine gesamte Aufmerksamkeit dann wieder auf Cedric, da der Welpe noch eine Weile beschäftigt sein würde.

»Also? Muss ich etwa die Handschellen wieder auspacken und dir das Bett an meiner Heizung einrichten, oder bleibst du freiwillig?«

Cedric blickte verdutzt zu ihm auf, und als Bomer ihm ein neckisches Zwinkern schenkte, lächelte er kurz. »Du bist ein Fesselfetischist, hm? Nein, antworte nicht. Das wäre mir jetzt eindeutig zu viel.« Cedric räusperte sich. »Bomer, ich habe keine Ahnung davon ... Ich habe mich nie getraut, verstehst du? Immer nur aus der Ferne beobachtet und mir vorgestellt, wie es … wie es sich anfühlen könnte, wenn …«

»Sex mit einem Mann, ja, ich weiß«, sprach er die Worte aus, die Cedric nicht über die Lippen kamen. »Das war mir schon nach unserem Gespräch klar. Ich verlange auch nicht von dir, dich sofort in mein Bett zu legen. Ich möchte nur wissen, ob du bleiben willst. An meiner Seite. Hier in Kanada. In diesem Haus hinter mir. Das ist alles, was mir im Augenblick wichtig ist.«

»Ja«, sagte Cedric entschlossen und nickte dabei. »Ja, ich will bleiben.«

»Na dann … Willkommen zu Hause.«

 

 

Kapitel 12

 

Zwei Wochen.

Vierzehn elend lange Tage, in denen Cedric sich von seinen vielen Prellungen, einer ausgerenkten Schulter und einem Streifschuss im Bein erholte, während Bomer die meiste Zeit damit beschäftigt war, in seinem Schrank klar Schiff zu machen, um etwas Platz für Cedrics Sachen zu schaffen.

Im Normalfall hätte er dafür höchstens eine Stunde gebraucht, aber seine Nervosität lenkte ihn ab, und zwar so sehr, dass er immer wieder Pausen einlegen musste. Es war nun mal doch ein gewaltiger Unterschied, Cedric als Freund hier wohnen zu lassen und ihn nicht mehr als Gefangenen, Kranken oder einen Gast zu sehen, der gezwungenermaßen bei ihm schlief.

Laut Adrian, mit dem er mehrere Male telefoniert hatte, würde er sich daran gewöhnen. Das brauchte nur Zeit und die besaßen sie dank des Anwalts jetzt zur Genüge.

Bomer hatte nicht gefragt, was Adrian angestellt hatte, um Sergej dazu zu bringen ein volles Geständnis abzulegen und außerdem als Kronzeuge gegen Koslows Geschäftspartner aufzutreten. Aber damit hatte sich der Bodyguard Straffreiheit erkauft und Cedric war aus dem Schneider. Alles andere war Bomer herzlich egal.

Cedric und er waren genug damit beschäftigt, sich auf ein Leben zu zweit einzustellen, denn weder sein Freund noch er selbst besaßen irgendeine Erfahrung darin, wie ein Pärchen miteinander auskam. Wie man zusammenlebte und so seine Zeit plante. Gemeinsam. Aber sie gaben sich Mühe, teilten den Haushalt, kümmerten sich um Emma und Charly, und Cedric schaute ihm seit zwei Tagen bei seiner Arbeit über die Schulter, weil er sie spannend fand. Trotzdem hatte er Max' Angebot ausgeschlagen, für ihn zu arbeiten und sich stattdessen für Carol entschieden, weil ihr ab November jemand im Büro fehlte. Ein Schreibtischjob.

Bomer wäre mit so einer Arbeit eingegangen, doch Cedric freute sich darauf, zu planen, zu organisieren, mit Bestellungen und Geld zu jonglieren.

Und er mochte Carol, mitsamt ihrer Familie, was wichtig war, dachte Bomer, während er verärgert auf die Tanzfläche sah. Falls Carols Ältester die flinken Finger auf Cedrics Rücken noch tiefer wandern ließ, würde er ihn umbringen.

Das hatte er jetzt davon, dass er Cedric Hühnersuppe besorgt hatte, als der krank in seinem Bett gelegen hatte. Ein Tanzabend. Eine echte Halloweenparty für die ganze Straße, und das Diner war mittlerweile gerammelt voll.

Am liebsten wäre er geflüchtet, aber er konnte Cedric ja schlecht hier alleine lassen. Sie waren zusammen mit dem Auto hergekommen und würden auch gemeinsam wieder fahren. Sofern er dann noch fahrtüchtig war. Bomer warf einen nachdenklichen Blick auf das Bier in seiner Hand, runzelte die Stirn und stellte die Flasche weg, um zu einer Cola zu greifen, mit der er sich durch die Menschen in Richtung Ausgang drängte. Er brauchte frische Luft.

Vor der Tür standen einige Leute, die Bomer nicht kannte. Sie ließen ihn vorbei und er ging einige Schritte den Gehweg entlang, um sich gegen die Wand vom Diner zu lehnen. Es war kalt, eine leichte Brise brachte die Halloweendekoration an den Häusern zum Rascheln. Überall hingen Laternen, Totenköpfe, Skelette, Hexen und Geister. Kürbisse in allen Formen und Größen standen vor den Geschäften und waren mit Kerzen bestückt, deren flackerndes Licht die bizarrsten Schatten warf. Das alles war eindeutig nicht seine Welt. Die Begeisterung der Leute über dieses Fest hatte er als Junge geteilt, aber das war lange her. Nur Cedric zuliebe standen seit einer Woche ein beleuchteter Kürbis auf seiner Veranda und einer in seiner Küche.

»Du fühlst dich unwohl, nicht?«

Bomer hielt das schiefe Grinsen nicht zurück, als sein Blick zu Cedric schweifte, bevor er nickte und abwartete, bis sein Freund zu ihm aufgeschlossen hatte. »Ich kann damit nichts anfangen.«

»Willst du fahren?«

»Du hast Spaß. Ich warte«, wehrte er ab und meinte es auch so, dennoch seufzte Cedric tadelnd und trat zu ihm. »Sieh mich nicht so an. Nur weil Halloween ist, musst du kein finsteres Gesicht ziehen. Auch wenn es ganz gut zur Dekoration um uns herum passt.«

Cedric lachte leise. »Blödmann. Außerdem komme ich an deinen bösen Blick niemals ran. Ist da noch was drin?« Er deutete auf die Cola und Bomer reichte sie ihm. »Danke«, sagte Cedric, nachdem er etwas getrunken hatte, und lächelte. »Das habe ich gebraucht.«

»Hat Mike dir nach eurem Tanz etwa keinen Drink spendiert?«, fragte Bomer und verfluchte sich dafür, weil er nicht verhindern konnte, dass seine Stimme abfällig klang.

»Du magst ihn nicht.«

Das traf auf die meisten Leute zu, mit denen er zu tun hatte. Bomer zuckte mit den Schultern. »Ich mag Menschen im Allgemeinen nicht.«

»Du magst mich.«

»Du bist eine Ausnahme«, gab er ehrlich zu und ließ seinen Blick die Straße entlang wandern. »Carol und Max sind gelegentlich auch Ausnahmen«, setzte er leise nach und sah wieder zu Cedric, der ihn angrinste. »Was?«

»Du bist eifersüchtig auf Mike.«

»Bin ich nicht.«

»Ich mag das.«

»Cedric!«

»Was?«, tat der unschuldig und gluckste, als Bomer das mit einem abfälligen Schnauben beantwortete. »Evan, er ist nicht schwul.«

Bomer runzelte die Stirn. »Warum tanzt er dann so mit dir? So … eng.«

»Mike tanzt einfach gerne.« Cedric klaute sich erneut die Cola von ihm. »Männer, Frauen … Es ist ihm egal, und was spricht schon dagegen, wenn man nicht gerade vom Scheitel bis zur Sohle homophob ist?«

»Hm«, machte Bomer schlicht, denn darauf fiel ihm keine Erwiderung ein.

»Lass uns heimfahren.«

»Und die Party?«

Cedric winkte ab. »Es gibt immer irgendwo eine Party. Jetzt will ich mit meinem Freund nach Hause fahren, Charly eine Runde ums Haus jagen, Emma ein bisschen ärgern und dann ins Bett gehen.«

Bomer war erleichtert, von hier wegzukommen, ließ es sich aber nicht anmerken, während er die Cola im nächsten Mülleimer entsorgte und anschließend Cedrics Hand nahm, um zu verhindern, dass der liebe Mike ihn noch mal auf die Tanzfläche zerrte.

»In Ordnung. Gehen wir uns verabschieden. Aber du erklärst das Carol«, sagte er und Cedric ließ sich lachend von ihm zurück ins Diner ziehen.

 

Eine halbe Stunde später standen sie beide grinsend auf der Veranda, während Charly glücklich bellend in der Einfahrt umhersprang. Immer dem Lichtschein nach, den Bomer mit einer Taschenlampe erzeugte, mit der er ihnen nur den Weg zum Haus hatte leuchten wollen, weil er bei ihrem Aufbruch zu Carols Party vergessen hatte, das Außenlicht einzuschalten. Hätte Bomer das gewusst, wären die ersten Abende mit dem Welpen weitaus weniger stressig und lang gewesen. So konnte man den frechen Racker also problemlos müde kriegen.

Er knipste die Taschenlampe aus, als Charly müde wurde und lachte, denn der Racker ließ sich genau dort, wo er gerade war, hechelnd aufs Hinterteil fallen. Cedric verließ glucksend die Veranda, um ihn zu holen und ins Haus zu tragen. Bomer folgte den beiden, schloss die Tür hinter sich ab und sah dann lächelnd dabei zu, wie sein Freund Charly in den Korb bei der Heizung legte, ihn streichelte und grinsend wartete, bis Charly die dunklen Augen zufielen.

Bomer ging in die Knie, als Emma um seine Beine strich und gestreichelt werden wollte, was er ausführlich tat, bis die alte Dame wieder abzog und es sich auf der Couch gemütlich machte. Sein Blick wanderte zu Cedric, der ihn mit einem Gesichtsausdruck anschaute, für den Bomer keine Beschreibung fand.

»Was ist los?«, fragte er in einer Mischung aus Sorge und Irritation, da er das Gefühl nicht loswurde, dass ihm gerade irgendetwas Wichtiges entging.

Cedric antwortete nicht, sondern erhob sich und kam auf ihn zu. Bomer runzelte die Stirn, wich dabei nach hinten zurück, bis ihn die Haustür stoppte. Cedric lächelte triumphierend und trat ganz nah vor ihn.

»Cedric …?«

»Wann bist du zuletzt geküsst worden?«

Bomer blinzelte. »Äh … Was?«

»Ein Kuss. Du weiß, was das ist, oder?«

»Natürlich weiß ich, was ein Kuss ist.« Was sollte das denn jetzt werden? Bomers Irritation wuchs. »Ich frage mich allerdings, wieso du mir so eine Frage stellst?«

»Reine Nervosität.«

»Weswegen?«, hakte er nach, obwohl er es zu ahnen begann, und als Cedric die Augen verdrehte, war sich Bomer auf einmal sicher.

»Ist das nicht offensichtlich?« Sein Freund stemmte empört beide Hände in die Seiten. »Mike hat gesagt ...«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739442099
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Drama Ostküsten-Reihe schwul Familie Liebe Romanze

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Schriftstellerin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Fantasy, Thriller und Romanzen. Weitere Informationen zu meinen Büchern, sowie aktuelle News zu kommenden Veröffentlichungen, findet ihr auf meiner Homepage.
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Titel: Herzflimmern in Kanada