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In Erfüllung seiner Pflicht

von Mathilda Grace (Autor:in)
400 Seiten
Reihe: Chicago - Reihe, Band 1

Zusammenfassung

Gefallen in Erfüllung seiner Pflicht. Das dachte Garrett Wilks zumindest, als sein für tot erklärter Verlobter, der Marine Tyler Mason, plötzlich quicklebendig vor seiner Tür steht. Jahrelang hat Garrett um Tyler getrauert. Jahrelang hat er Kade McQueen verflucht, der ihm die Nachricht von Tylers Tod überbrachte und gleichzeitig dessen bester Freund war. Heute haben sich beide Männer ein gemeinsames Leben aufgebaut, das mit Tylers Auftauchen auf den Kopf gestellt wird. Garrett und Kade sind mit der Situation vollkommen überfordert und Tylers auffälliges Verhalten macht ihnen schnell deutlich, dass es mehr brauchen wird als Medikamente und Besuche bei einem Traumatherapeuten, damit Tyler das, was ihm in seiner fünfjährigen Gefangenschaft angetan wurde, überstehen kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

Impressum

© 2017 Mathilda Grace

Am Chursbusch 12, 44879 Bochum

Text: Mathilda Grace 2016

Foto: SiNoMo; Pixabay

Coverdesign: Mathilda Grace

Korrektorat: Corina Ponta

 

Web: https://mathilda-grace.blogspot.de/

 

Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.

 

Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden.

 

In Erfüllung seiner Pflicht enthält homoerotische Handlungen.

 

 

Danksagung

 

Mein Dank geht an Frau Mag. rer. nat. Corina Ponta, die mir in allen Fragen rund um die Themen PTBS und Traumabewältigung mit ihrer fachlichen Kompetenz beratend zur Seite stand. 

 

 

Zum Thema

 

Die Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, ist eine ernst zu nehmende, psychische Erkrankung, der vor allem im militärischen Bereich für sehr lange Zeit kaum die dringend benötigte Aufmerksamkeit zuteilwurde. Auch heute werden immer noch zu viele Soldaten nach ihrer Rückkehr aus Kriegseinsätzen mit ihren Problemen allein gelassen bzw. wird ihnen die Suche nach Hilfe durch bürokratische Hürden unnötig erschwert.

 

Verschiedene Studien (u. a. zum Vietnamkrieg) haben ergeben, dass durchschnittlich ein Drittel aller Soldaten (wobei die Dunkelziffer bedeutend höher liegen dürfte), die aus Einsätzen in den verschiedensten Kriegsländern überall auf dieser Welt nach Hause zurückkehren, anschließend an einer PTBS erkranken.

 

Viele von ihnen leiden ihr Leben lang unter den Folgen.

 

 

 

Gefallen in Erfüllung seiner Pflicht. Das dachte Garrett Wilks zumindest, als sein für tot erklärter Verlobter, der Marine Tyler Mason, plötzlich quicklebendig vor seiner Tür steht. Jahrelang hat Garrett um Tyler getrauert. Jahrelang hat er Kade McQueen verflucht, der ihm die Nachricht von Tylers Tod überbrachte und gleichzeitig dessen bester Freund war. Heute haben sich beide Männer ein gemeinsames Leben aufgebaut, das mit Tylers Auftauchen auf den Kopf gestellt wird. Garrett und Kade sind mit der Situation vollkommen überfordert und Tylers auffälliges Verhalten macht ihnen schnell deutlich, dass es mehr brauchen wird als Medikamente und Besuche bei einem Traumatherapeuten, damit Tyler das, was ihm in seiner fünfjährigen Gefangenschaft angetan wurde, überstehen kann.

 

 

Prolog

 

 

 

 

Wie er da steht.

In dieser schicken Uniform.

Kein Staubkorn auf dem Stoff. Seine blitzenden Abzeichen so akkurat an der Uniform befestigt, als hätte er sie mit einem Lineal gezogen. Die auf Hochglanz polierten Schuhe glänzen im untergehenden Sonnenlicht, das ihn von hinten beleuchtet und mir die Assoziation einer Halluzination vermittelt, denn genau das muss er sein.

Das Gesicht, die Augen, der harte Zug um den Mund – sein Anblick ist so vertraut und gleichzeitig so fremd. Er kann es nicht sein, denn er ist tot. Wir haben ihn beerdigt. Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben, wir haben einen leeren Sarg beerdigt, denn es gab keine Leiche von ihm.

Abgesehen von der, die gerade vor mir steht und sich jetzt mit einer vorsichtigen Bewegung die Uniformmütze vom Kopf zieht. Er muss verletzt sein und er ist kahl geschoren. Komplett kahl. So habe ich ihn noch nie gesehen. Er hat eine rote, kaum verheilte Narbe auf der linken Kopfseite über dem Ohr, die ich nicht kenne. Zudem fehlt ihm das Ohrläppchen und ich kann eine weitere Narbe sehen, die unter dem Kragen seiner Jacke verschwindet. Großer Gott, er hat an seiner linken Hand nur noch drei Finger.

»Garrett? Wer ist es denn?«, fragt Kade aus der Küche, wo er den Tisch fürs Abendessen deckt, doch ich kann ihm nicht antworten, weil ich bloß dastehe und diesen lebenden Toten anstarre, den ich vor über fünf Jahren heiraten wollte.

Es kam nur nie dazu. Ich habe die von ihm ausgesuchten Ringe längst verkauft. Ich habe meine letzten Erinnerungen an ihn vor über einem Jahr im Kamin verbrannt, in der Hoffnung, endlich mit seinem Tod abschließen zu können. Endlich dem neuen Mann in meinem Leben die Aufmerksamkeit schenken zu können, die er verdient.

Und jetzt steht ein Toter vor meiner Tür und sieht mich an, als wäre es erst gestern gewesen, dass er aus dieser Haustür, unserer Haustür, hinaus in den Tod gegangen ist.

Friendly Fire.

Das hat Kade damals zu mir gesagt, als er drei Wochen nach Tylers Aufbruch, einen Priester an seiner Seite, wie es seit Jahren Brauch ist, an meine Tür klopfte, um mir zu sagen, dass sein bester Freund, mein Verlobter, in einer gottverdammten Wüste getötet worden ist. Gemeinsam mit einigen Kameraden, von denen es zumindest genug Überreste gab, um die Kosten für einen Sarg zu rechtfertigen.

Wir hatten uns erst kurz zuvor dieses Haus gekauft.

Es war klein, aber gemütlich. Und es lag in einem ruhigen Vorort von Chicago, mit viel Grün um uns herum. Genau wie wir es wollten, denn wir hatten viele Pläne. Eine Hochzeit, ein Hund und dann, in ein paar Jahren, ein Kind. Adoption oder Leihmutterschaft, das wollten wir nach seiner Rückkehr aus Afghanistan entscheiden.

Doch Tyler kam nicht zurück und alles, was mir blieb, war unser Haus.

Und Kade, dessen leichte Schritte jetzt in unsere Richtung kommen. »Garrett? Wer ist …?« Er verstummt mitten im Satz, genauso wie seine Schritte hinter mir. »Oh mein Gott.«

»Hallo«, sagt der Mann vor mir plötzlich leise und verzieht den Mund zu etwas, das vermutlich ein Lächeln darstellen soll, doch ich sehe nur eine schmerzerfüllte Grimasse, drei fehlende Zähne und dunkelblaue Augen, in denen nicht der Funke eines Gefühls zu erkennen ist. »Darf ich reinkommen?«

 

 

Kapitel 1

 

 

 

 

Seit über einer Stunde steht er jetzt vollkommen reglos am Fenster des Wohnzimmers, während die späte Augustsonne in der Ferne untergeht und einer rasch aufziehenden Dunkelheit Platz macht.

Genauso lange telefoniert Kade flüsternd im Flur, um für uns in Erfahrung zu bringen, wie es sein kann, dass ein offiziell für tot erklärter US-Marine ganz offensichtlich quicklebendig ist. Wobei das Wort nicht wirklich zu Tyler passt, wenn ich ihn so betrachte, doch mir fällt im Augenblick einfach kein anderes ein. Ich verstehe von Kades Telefonat mit seinem ehemaligen Vorgesetzten nicht viel, aber die Worte Kriegsgefangenschaft und Vergeltungsschlag sind selbst mir als Nicht-Marine geläufig.

Sie haben Tyler und zwei andere US-Marines, ebenfalls vor Jahren fälschlich für tot erklärt, aus irgendeiner Höhle geholt, die sie zuvor bombardiert hatten. Dass sie dabei tatsächlich auf Überlebende stoßen würden, noch dazu auf die eigenen Leute, hatte das Einsatzteam garantiert nicht geplant. Wer immer die Soldaten damals für tot erklärt hat, durfte bereits seinen Hut nehmen, kann ich aus Kades hitzigen Antworten heraushören, nachdem er wütend gefragt hat, wie das möglich ist.

Ehrlich gesagt ist mir das momentan völlig egal. Tyler ist hier. Am Leben. Der Rest kann warten. Wenigstens bis morgen, denn jetzt ist er hier.

Bei uns.

Zu Hause.

Acht Wochen nachdem sie ihn ausgeflogen haben, hat Kade mir vor einigen Minuten zugeflüstert, ehe er sein nervöses Auf- und Ablaufen im Flur wieder aufnahm. Man hat Tyler gerettet, zusammengeflickt, immer wieder verhört und schlussendlich aus dem Militärkrankenhaus entlassen, als er am Ende einfach aufhörte mit ihnen zu sprechen und stattdessen wieder und wieder verlangte, zu mir gebracht zu werden. Der dortige Psychologe hat Tylers Wunsch unterstützt und deshalb steht er nun keine zehn Meter von mir entfernt ruhig da.

Er hat Haltung angenommen, wozu auch immer. Die Beine sind leicht gespreizt und er hat beide Hände auf dem Rücken verschränkt. Er wirkt auf mich wie eine leblose Statue. Früher habe ich diesen Anblick geliebt, vor allem, wenn er dabei seine Uniform trug. Heute macht er mir Angst, weil Tyler so still ist.

Damals, als wir uns kennenlernten, hielt er seinen Mund im Normalfall nur, wenn ich ihn küsste. Er war nie wirklich still in meiner Gegenwart. Nicht einmal nachts, wenn er im Schlaf murmelte und mich an sich zog, wobei er immer lächelte und dann seufzend wieder in seinen Träumen versank. Tyler hatte praktisch rund um die Uhr etwas zu erzählen, doch seit er uns bat, reinkommen zu dürfen, hat er kein einziges Wort mehr zu Kade oder zu mir gesagt.

Ich habe überlegt, ihm ein Bier anzubieten, damit wir uns auf die Couch setzen können, um irgendwie einen Anfang zu finden, doch wenn ich ehrlich bin, traue ich mich im Moment nicht einmal ihn anzusprechen. Ich bin so froh, dass Tyler lebt und hier ist, doch gleichzeitig schreckt mich sein Verhalten ab. Er sieht so steif und angespannt aus, dass er mir immer mehr wie eine scharfe Granate vorkommt. Statt also etwas zu sagen, stehe ich stumm in der Tür, blicke auf seinen schmalen Rücken und suche jenen Mann, in den ich mich vor mehr als fünfzehn Jahren verliebt habe.

Aber er ist nicht hier und ich weiß nicht, wer dieser Mann da drüben am Fenster ist. Mein Tyler ist es jedenfalls nicht und insgeheim bin ich erleichtert, dass ich mich nicht allein mit ihm auseinandersetzen muss. Kades Anwesenheit gibt mir etwas Sicherheit, doch ich habe das ungute Gefühl, dass ich davon bald noch bedeutend mehr brauchen werde.

Ich war nie ein besonders mutiger Mensch. Im Gegenteil, ich habe Männer wie Tyler und Kade schon als kleiner Junge bewundert. Soldaten, die für ihre Heimat in den Krieg ziehen. Sie waren Helden für mich. Natürlich ist der goldene Schein mit den Jahren der Realität gewichen und mir ist bewusst, dass Soldaten keineswegs immer nur die strahlenden Supermänner sind, wie unsere Regierung sie gerne darstellt. Es gibt bei ihnen genauso viele böse Menschen, wie überall sonst auf der Welt.

Tyler war allerdings einer von den Guten. Ein Mann mit Herz und Verstand, der einen geplatzten Reifen in weniger als fünf Minuten wechseln konnte, während ich komplett ratlos danebenstand und rätselte, welche Schraube wohl zu welcher Mutter passt. Tyler fand das damals sehr komisch. Allerdings fand er mich gleichzeitig auch sehr niedlich, darum hat er mich so lange bequatscht, bis ich mit ihm essen ging.

Drei Wochen später bin ich von zu Hause aus- und bei ihm eingezogen. Es war das totale Chaos. Ich, der Nerd mitten im Studium zum Webdesigner, er, der zukünftige Marine in der Grundausbildung. Wir waren ständig Pleite, aber wir haben es irgendwie geschafft, denn wir haben uns über alles geliebt. Wir haben uns zwar manchmal so laut gestritten, dass die Wände unserer Bruchbude wackelten, die dermaßen dünn waren, dass wir den Nachbarn regelmäßig beim Sex zuhören konnten, aber wir haben uns geliebt.

So stark, dass ich an Tylers Tod garantiert zerbrochen wäre, hätte Kade mich nicht aufgefangen und verhindert, dass ich mir ein paar Wochen nach Tylers Beerdigung mit dem Messer die Pulsadern aufschneide.

»Garrett?«

Ich zucke zusammen, als Kade mich am Arm berührt. Mein Blick sucht seinen. »Und?«

Kade deutet wortlos in den Flur und ich folge ihm, obwohl mir nicht wohl dabei ist, Tyler einfach stehenzulassen. Er wird wissen, dass wir über ihn reden, er ist kein Dummkopf. Doch gleichzeitig bin ich irgendwie auch erleichtert, ihn nicht mehr im Blickfeld zu haben. Ich bin eben kein Soldat und schon gar nicht mutig. Ich bin ein Computerfreak, der zu Hause arbeitet und überaus glücklich damit ist, am Schreibtisch zu sitzen, das Haus ordentlich zu halten und sich in schöner Regelmäßigkeit von seinem Freund ins nächste Nirwana vögeln zu lassen. Seit Kade die US-Marines verlassen hat und in einer Autowerkstatt arbeitet, führen wir ein normales, langweiliges Leben und bis vor einer Stunde waren wir damit vollauf zufrieden.

»Zusammengefasst: Sie haben eine Stellung von Rebellen bombardiert, in der angeblich Unmengen von Sprengstoff und vor allem Waffen gehortet wurden. Was sich auch als wahr herausgestellt hat. Was nicht stimmte, war, dass das Lager nur von einer Handvoll Leute besetzt ist.« Kade fährt sich nervös durch sein dunkelbraunes Haar. »Genauere Details durfte mir der Captain nicht sagen, weil ich ausgestiegen bin, aber in dem Lager wurden offenbar über lange Zeit gefangen genommene Soldaten gefoltert. Sie haben neben Ty zwei andere Marines gerettet und viele persönliche Gegenstände gefunden, die auf weitere Gefangene schließen lassen, deren Leichen man weggeschafft haben muss, denn Überreste gab es keine. Tys Befragungen haben in der Hinsicht nichts ergeben, was nichts heißen muss.«

Ich runzle die Stirn. »Wie ist das gemeint?«

»Dass er kaum über seine Gefangenschaft geredet hat und der hinzugezogene Psychologe ihn für psychisch äußerst labil hält. Man hat Ty geraten, sich in Therapie zu begeben, was er wohl abgelehnt hat.« Kade sieht über meine Schulter zum Wohnzimmer und zögert.

»Was?«, hake ich nach.

»Militärische Standardprozedur.«

»Und das bedeutet?«

»Ehrenhafte Entlassung, inklusive Nachzahlung aller noch offenen Bezüge, plus einer großzügigen Abfindung. Dafür hält er in der Öffentlichkeit den Mund, was seine Gefangenschaft in Afghanistan betrifft.«

Mir bleibt im ersten Moment der Mund offenstehen. Dann werde ich sauer. »Moment mal? Sagst du mir hier gerade, dass die Army sich mit Geld sein Schweigen erkauft hat?«

»Er dürfte ohnehin keine Details über Einsätze ausplau...«

»Kade!«, unterbreche ich ihn barsch, weil ich das sehr wohl weiß und darum geht es mir auch gar nicht. »Ich rede nicht von Einsatzdetails, sondern von dem, was diese ...« Ich breche ab, als ich erkenne, dass ich laut werde. »Anders ausgedrückt, sie haben ihn mit genug Geld vor die Tür gesetzt, um sich nicht mehr um ihn kümmern zu müssen.«

Kade zieht eine Grimasse. »Ja.«

»Und das nennt ihr Standardverfahren?«, fahre ich ihn an, dabei kann Kade nichts dafür und sonderlich glücklich sieht er damit auch nicht aus. Er wirkt eher resigniert.

Andererseits, er kennt das Prozedere besser als ich, er war schließlich lange genug bei der US-Armee und hatte wie Tyler Einsätze im Ausland. Soldaten wissen, was auf sie zukommt. Besser gesagt, sie wissen, wie sie behandelt werden, wenn sie irgendwann nicht mehr so funktionieren, wie die Vorgesetzten das gerne hätten. Die Army kann ein perfektes Sprungbrett für eine Karriere sein, aber sie kann auch den großen Absturz ins Nichts bedeuten. Tausende von obdachlosen Veteranen auf den Straßen der USA beweisen das seit Jahrzehnten deutlich.

»Nicht wir, der Führungsstab. Die Regierung versucht seit Jahren alles, um das Problem mit psychisch kranken Soldaten nach Kriegseinsätzen unter den Teppich zu kehren. Und dafür nehmen sie jede Menge Geld in die Hand, das viele annehmen, weil sie sonst auf der Straße leben müssten. Auch wenn unter der Bevölkerung langsam ein Umdenken stattfindet und mehr und mehr Vereine sich um Veteranen kümmern, Männer wie Ty fallen meist durchs Raster, weil sie keinen haben, der sich für sie einsetzt. Du weißt, dass wir nie eine Familie hatten. Du bist der einzige von uns mit intaktem Elternhaus.«

Dem kann ich nicht widersprechen, denn Tyler und Kade sind im gleichen Waisenhaus aufgewachsen und dort zu besten Freunden geworden. Und sie wären auch heute noch allerbeste Freunde, wäre Tyler nicht gestorben. Angeblich, korrigiere ich mich und sehe zur Wohnzimmertür.

»Was machen wir jetzt?«

Kade seufzt. »Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung.«

Mir fällt das für Freitagabend geplante Treffen mit meinen Freunden ein. »Ich muss den Jungs absagen.«

»Das ist doch erst übermorgen.«

Ich schaue zurück zu Kade. »Na und? Glaubst du wirklich, dass er nach der langen Zeit ausgerechnet zu uns gekommen ist, um nach einem Hallo wieder zu gehen?«

»Nein«, gibt Kade leise zu und seufzt erneut. »Wir sollten herausfinden, ob er ein Dach über dem Kopf hat. Wenn nicht, besorge ich ihm ein Hotelzimmer.«

Ich runzle die Stirn. »Wir haben ein Gästezimmer.«

»Nein!«

Die Absage kommt so schnell und kalt, dass ich verdattert einen Schritt von Kade zurücktrete. »Was soll das heißen? Tyler ist dein bester Freund.«

»Und dein Ex-Verlobter.«

»Geht es darum? Dass wir ...«

»Nein, es geht nicht darum, Garrett.«

»Worum dann, bitteschön?«

Kade flucht, als ich ihn wütend ansehe. Er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich komplett auf stur schalte, wenn er mir nicht gleich gute Argumente liefert, weswegen wir Tyler nicht über Nacht bei uns schlafen lassen sollten, wenn er kein Zimmer irgendwo hat. Obwohl mir bei dem Gedanken nicht ganz geheuer ist, wir können ihn nicht einfach zurück auf die Straße jagen. Er hat so viel durchgemacht und überlebt, zudem habe ich ihn geliebt und tue es immer noch, obwohl ich heute mit Kade zusammen bin.

Tyler ist am Leben und ich werde den Teufel tun, ihn aus unserem Haus zu jagen, nur weil er Kade und mir völlig fremd geworden ist. Ich bin vielleicht naiv oder ein Fantast, immerhin habe ich keine Ahnung, worauf ich mich einlasse, aber Tyler ist zurück und er ist zu uns gekommen. Ich will ihn nicht wieder wegschicken.

»Garrett, traumatisierte Soldaten können gefährlich sein«, sagt Kade in einem belehrenden Tonfall, der mich prompt auf die Barrikaden treibt.

Hält er mich für bescheuert? Ich weiß das. Dafür muss ich kein Marine sein. Im Gegenteil, dafür muss ich nur Zeitungen lesen. Erst letzte Woche hat die Polizei in Denver einen Mann erschossen, der sich im Nachhinein als Afghanistan-Veteran entpuppte. Ein junger Obdachloser, der, zumindest stand es so im Internet, gefangen in einem Flashback, glaubte, die beiden Polizisten, die auf Streife waren und unter der Brücke, wo er hauste, nur mal nach dem Rechten sehen wollten, würden ihn umbringen. Also ging er auf sie los und verletzte einen der Beamten schwer, bevor der andere ihn tötete.

Solche Schlagzeilen gibt es in unserem Land mittlerweile genauso oft wie Amokläufe oder den nächsten Polizeiskandal, wenn wieder ein weißer Cop einen Schwarzen niederschießt.

Ich bin nur ein Webdesigner, der am liebsten zu Hause vor dem Computer sitzt, aber ich bin kein Vollidiot. Dass Tyler nach fünf Jahren Gefangenschaft traumatisiert ist, weiß ich, es ändert nur nichts für mich. Er hat außer uns niemanden mehr, das muss Kade doch klar sein. Wie kann er sich hinstellen und von mir verlangen, dass wir Tyler rauswerfen?

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Wenn Tyler kein Zimmer oder sonst was hat, bleibt er hier.«

Kade atmet tief durch, es ist offensichtlich, dass er anderer Meinung ist, aber er widerspricht mir nicht, sondern dreht sich einfach um und verschwindet mit einem »Ich mache etwas zu essen.« in der Küche. So kann man einem Streit auch aus dem Weg gehen und manchmal hasse ich diese Unart an ihm. Kade ist ein toller Kerl und ich liebe ihn wirklich, aber man kann mit diesem Mann nicht streiten. Er lässt es nicht zu. Er geht einfach und hält sich fern, bis ich mich beruhigt habe.

Was ich besser schnellstens tue, denn solange Kade sich in der Küche versteckt, muss ich mich um Tyler kümmern. Keine Ahnung, wie ich das anstellen oder was ich sagen soll, aber ich kann ihn schlecht den Rest des Abends am Fenster stehen und nach draußen sehen lassen. Mein Blick fällt auf den Rucksack, das einzige Gepäckstück, das er dabei hatte. Vielleicht zeige ich ihm erst mal das Gästezimmer? Irgendwo müssen wir ja anfangen und Tyler braucht einen Schlafplatz.

»Tyler?« Er zuckt so heftig zusammen, dass selbst ich mich erschrecke. Du lieber Himmel, was ist nur aus ihm geworden? Nicht jetzt, schiebe ich die Frage sofort energisch zur Seite und räuspere mich. »Wir haben ein Gästezimmer. Willst du heute Nacht bei uns schlafen?«

Es dauert eine Weile, bis er reagiert, was mich noch weiter irritiert, weil es überhaupt nicht seinem mir bekannten Verhalten entspricht. Ich schätze, ich werde diesen Mann völlig neu kennenlernen müssen. Sein Nicken ist kaum zu erkennen, aber schließlich nimmt er seine Hände vom Rücken und dreht sich zu mir um.

»Ja. Danke.«

Zwei Worte. So höflich und zugleich so kalt ausgesprochen, dass es mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper treibt. Ich unterdrücke ein Schaudern und deute Tyler an, mir zu folgen. Was er dann auch tut, ich höre seine festen Schritte hinter mir auf der Treppe.

»Weißt du noch, wie wir es damals eingerichtet haben?«

Seine Antwort kommt, als ich die Tür zum Gästezimmer bereits geöffnet und gar nicht mehr damit gerechnet habe.

»Nein.«

Ich frage mich, ob Tyler die Gänsehaut auf meinen Armen sehen kann. Dick genug dürfte sie mittlerweile sein. Mein erster Gang führt mich zum Schrank, um frisches Bettzeug für ihn zu holen und ihm Zeit zu geben, sich umzuschauen.

»Kade macht etwas zu essen. Willst du vielleicht duschen? Ich könnte derweil schon das Bett beziehen und deine Sachen einräumen. Hast du Schlafzeug dabei? Wir können dir was von uns leihen.« Er sagt kein Wort und ich drehe mich zu ihm um. Tyler steht mitten im Raum und sieht zu Boden. »Tyler?« Keine Reaktion. Ich weiß nicht mal, ob er mich gehört hat. »Ist alles in Ordnung?«

»Nein.«

Diesmal kommt seine Antwort sofort und ich verkneife mir jedes weitere Wort, denn Tylers Tonfall, das unausgesprochene »Lass mich in Ruhe.«, ist unverkennbar für mich.

Ich lasse die Schranktür offen, damit er das Bettzeug sehen kann und verlasse das Zimmer so schnell es geht, ohne dass es wie eine Flucht wirkt, denn genau das ist es und ich will nicht, dass er merkt, dass ich Angst vor ihm habe.

Vielleicht hatte Kade recht. Vielleicht hätten wir Tyler doch lieber im nächsten Hotel unterbringen sollen, überlege ich auf dem Weg in die Küche, aber noch auf der Treppe wird mir klar, dass ich das niemals fertiggebracht hätte. Tyler gehört zu mir. Nein, das stimmt nicht, er gehört zu uns beiden, zu Kade und mir. Auch wenn ich ihn nach all der Zeit nicht mehr kenne, will ich, dass er bei uns bleibt. Was auch immer das für Kade und mich bedeuten wird.

 

Kade weckt mich am nächsten Morgen lange vor meiner normalen Aufstehzeit. Das ist sonderbar, noch merkwürdiger finde ich nach einem Blick auf die Uhr allerdings, dass er selbst spät dran ist und trotzdem noch in Unterwäsche herumläuft. Dass ich keinen Kuss bekomme und kein 'Guten Morgen' samt einem Lächeln, setzt dem Ganzen dann die Krone auf.

»Was ist denn?«, frage ich maulig, während er meine Decke wegzieht und leise, aber äußerst eindringlich verlangt, dass ich aufstehe. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Hau ab und lass mich schlafen, du Sadist.«

»Kurz vor sechs Uhr … Ty ist weg.«

Sofort bin ich hellwach. »Was?«

»Ich wollte einen Blick ins Gästezimmer werfen, ob alles in Ordnung ist. Das Bett ist unberührt, nur die Tagesdecke fehlt. Seine Uniform hängt ordentlich gefaltet über dem Stuhl, seine Stiefel stehen daneben. Aber er ist weder im Bad noch unten, ich habe nachgesehen. Fenster und Türen sind alle geschlossen. Wenn er nicht in Unterwäsche durch Wände gehen kann, muss er irgendwo im Haus sein, ich weiß allerdings nicht wo.«

Na wunderbar. Und leider nicht sonderlich überraschend, nachdem Tyler gestern weder zum Abendessen runterkommen wollte noch ein weiteres Wort gesagt hat, als wir später erneut versuchten, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Wir sind beide mit einem mulmigen Gefühl ins Bett gegangen und haben uns erst beruhigt, als etwa gegen zwei Uhr morgens auf einmal die Dusche zu hören war. Ein kleines Zeichen von Normalität, zumindest hatte ich das geglaubt.

Ich folge Kade ins Gästezimmer. Auf den ersten Blick sieht alles aus wie immer. Das Bett links an der Wand, gegenüber ein kleiner Schreibtisch, hinter dem Bett die Kommode, auf der Tylers Rucksack liegt, und zwischen Tür und Fenster steht ein Kleiderschrank an der Wand. Als Tyler und ich das Haus damals kauften, sollte das hier irgendwann ein Kinderzimmer werden, während das kleine Zimmer direkt nebenan, das seit Jahren leersteht, als Gästezimmer für meine Familie und seine Freunde, allen voran Kade, gedacht war.

»Hast du nach ihm gerufen?«, frage ich und zucke verlegen mit den Schultern, als Kade mir einen Blick zuwirft, der mehr als eindeutig ist. Natürlich hat er Tyler gerufen, sonst hätte er mich nicht aus dem Bett geworfen, nachdem wir beide kaum geschlafen haben, weil wir bis spät in die Nacht vor meinem Laptop saßen und nach Informationen über heimgekehrte Soldaten aus Kriegseinsätzen gesucht haben.

Die Ausbeute war ziemlich mager, aber ich werde es heute nach getaner Arbeit noch einmal versuchen. Irgendwo muss es etwas geben, das mehr aussagt, als die typischen Dankesreden von Politikern und diesen ganzen Medaillen, mit denen man Veteranen gerne bewirft und ihnen medienwirksam vor einer Kamera die Hand schüttelt.

»So groß ist unser Haus nicht. Er muss irgendwo sein.«

»Ich war in jedem Raum. Selbst nebenan, wo außer einem Berg Staubflusen nichts zu finden ist.«

Mir kommt ein Gedanke, der so abstrus ist, dass ich ihn im ersten Moment einfach zur Seite schieben will, aber dann sehe ich doch zum Bett und überlege.

»Was?«, fragt Kade, der mir meine Grübelei ansieht.

»Hast du unter dem Bett nachgesehen?«, will ich wissen und schaue zu ihm. Kade runzelt die Stirn und ich kann mir zu gut vorstellen, was ihm gerade durch den Kopf geht, aber statt loszulachen, tritt er an mir vorbei und sieht nach. Das folgende Kopfschütteln, bevor er sich wieder aufrichtet, lässt mich leise seufzen. »Sollen wir die Polizei rufen?«

»Und was sagen wir denen? Dass ein ehemaliger Marine in Unterwäsche auf der Straße rumläuft, obwohl wir nicht einmal wissen, wie er aus dem Haus gekommen ist?« Kade tritt neben mich. »Muss man nicht ohnehin erst einen Tag warten, bis man eine Vermisstenanzeige aufgeben kann?«

Gute Frage, ich weiß es nicht. Mit so etwas musste ich mich noch nie befassen. Ich glaube, verschwundene Kinder sucht die Polizei sofort, aber Tyler ist ein Erwachsener. Vielleicht sollten wir noch mal durchs Haus gehen. Irgendwo muss er sein. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass Tyler in Unterwäsche nach draußen geht und dabei noch daran denkt, hinter sich die Tür zu schließen. Das Ganze ist einfach nur seltsam.

Ein gedämpftes Rascheln lässt mich plötzlich aufmerken. Kade hat es auch gehört und deutet mit verwundertem Blick in Richtung Kleiderschrank. Es ist ein ganz einfacher Schrank mit zwei Türen, hinter denen eine Kleiderstange hängt. Eine dritte Tür führt zu mehreren Fächern und unten gibt es Schubladen. Nichts besonderes und abgesehen von der Bettwäsche und ein paar Handtüchern, die ich vor einer Ewigkeit in das schmale Fach über der Kleiderstange geräumt habe, ist er leer.

War das eben ein Seufzen? Ich sehe verblüfft zu Kade, doch der starrt schockiert den Schrank an. Kann es sein, dass Tyler die Nacht im Kleiderschrank verbracht hat? Aber warum sollte er das tun? Warum sollte überhaupt jemand in einem Schrank die Nacht verbringen wollen? Bevor wir die Chance haben, auf die Frage eine Antwort zu finden, wird die linke Tür ein Stück aufgeschoben und ein Zipfel der Tagesdecke fällt raus.

Großer Gott, er hat tatsächlich im Schrank geschlafen. Mir fehlen die Worte.

»Ty?«, fragt Kade leise und geht langsam zum Schrank, um sich neben die Tür zu hocken. »Wie wär's mit Kaffee?«

Es dauert eine Weile, bis Tyler antwortet. »Ja … Danke.«

Kade erhebt sich wieder. »Er ist in ein paar Minuten fertig«, sagt er und schiebt mich kurzerhand aus dem Zimmer. Erst als er die Tür hinter sich zugezogen hat, treffen sich unsere Blicke. »Bevor du fragst … Ich weiß es nicht, aber ich habe so einiges über verschiedene Traumata nach Kriegseinsätzen gehört, als ich noch im Dienst war.«

»Kade, er ...«

»Ich weiß und wenn er im Schrank schlafen muss, weshalb auch immer, dann lassen wir ihn dort schlafen.«

»Aber ...«

Kades Kopfschütteln lässt mich verstummen. »Warten wir erst mal ab. Er ist wieder hier, bei uns. Er lebt und im Moment ist mir, ehrlich gesagt, alles andere egal.«

Das sind ja ganz neue Töne. »Gestern wolltest du ihn noch rauswerfen«, erinnere ich ihn und Kade sieht mich verlegen an.

»Ja, ich weiß, und das tut mir leid. Ich war nur ...«

Er bricht ab und zuckt in einer sichtlich ratlosen Geste mit den Schultern. Kade ist genauso aufgewühlt wie ich, wird mir klar, darum nehme ich einfach seine Hand und ziehe ihn nach unten in die Küche. Wir haben Tyler Kaffee versprochen, also soll er seinen Kaffee bekommen, und vielleicht mag er ja auch etwas essen. Ich beginne nach Toast zu suchen, während Kade sich um die Kaffeemaschine kümmert und dabei seinen Boss anruft, um ihn kurzerhand um einen freien Tag zu bitten. Das verblüfft mich anfangs, aber dann erzählt er offen, was bei uns gerade los ist und am Ende bekommt er von Richie eine Woche bezahlten Urlaub zugestanden. Ich kenne den Mann nicht, aber er scheint tatsächlich der anständige Kerl zu sein, für den Kade ihn hält.

Der Kaffee beginnt durchzulaufen und ich verschwinde ins kleine Bad, das wir hier unten haben. Falls Tyler oben vielleicht noch mal duscht oder gerade auf der Toilette sitzt, will ich ihn nicht stören. Als ich wieder in die Küche komme, ist er schon da und steht mit dem Rücken zu mir im offenen Durchgang, der die Küche mit dem Essbereich im Wohnzimmer verbindet. Lächelnd gehe ich zu ihm, eine Hand erhoben, um sie auf seine Schulter zu legen, so wie früher, und ihm einen Guten Morgen zu wünschen.

In der nächsten Sekunde drückt er mir mit einer Hand die Luft ab und drängt mich nach hinten, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand knalle.

»Tyler! … Verdammt, lass ihn los!« Ich höre Kades Schreie, doch Tyler reagiert überhaupt nicht. In seinen Augen steht die blanke Mordlust. Großer Gott, er wird mich erwürgen. »Sofort aufhören, Soldat!«, befiehlt Kade auf einmal lautstark und das funktioniert.

Plötzlich bin ich wieder frei und Tyler starrt mich entsetzt an. Er weicht hektisch zurück, als Kade an ihm vorbeistürmt und mich hinter sich zieht, während ich laut hustend nach Luft ringe. Doch statt eines neuen Angriffs, sackt Tyler vor unseren Augen zusammen, drängt sich dabei mit seinem Rücken an die Küchenzeile und zieht die Beine an den Oberkörper. Er beugt sich vor, bis sein Gesicht auf den Knien liegt und dann bedeckt er seinen Kopf mit beiden Händen, um sich zu schützen. Vor uns. Er schützt sich vor Kade und mir. Eindeutig. Er hat Angst, dass wir ihn schlagen.

»Oh mein Gott«, flüstert Kade vollkommen schockiert und nimmt mir damit die Worte aus dem Mund. Gerade eben hatte ich so große Angst, wie niemals zuvor in meinem Leben, und jetzt stehe ich hier und frage mich fassungslos, was aus dem Mann geworden ist, den ich vor langer Zeit als Tyler Mason kennen- und lieben gelernt habe.

Was ist in Afghanistan nur mit ihm passiert? Ich will Tyler danach fragen, aber gleichzeitig will ich nur noch weg von ihm und Kade zögert nicht, als ich nach seiner Hand greife und ihn mit mir in den Flur ziehe. Weg von Tyler. So weit weg, wie es nur irgendwie geht.

 

»Und?«, frage ich leise, als Kade eine Stunde später zu mir ins Schlafzimmer kommt, wo er mich hingebracht hat, als der Husten endlich nachließ und ich stattdessen anfing zu zittern.

Danach hat er sich um Tyler gekümmert und ihn nach oben ins Gästezimmer gebracht. Ich habe ihn leise reden hören, als würde er mit einem verängstigten Kind sprechen, und ich weiß immer noch nicht, was schlimmer war. Die Tatsache, dass Kade so mit einem Erwachsenen redet oder dass Tyler auf dieselbe Art und Weise geantwortet hat. Mit einer Stimme, so hoch und weinerlich, wie ich sie noch nie zuvor gehört habe.

»Er hat die Tablette genommen und schläft jetzt«, antwortet Kade und reicht mir das Handtuch für meinen Hals, in das er jetzt zum dritten Mal neue Eiswürfel gepackt hat.

»Gut«, murmle ich und lasse mich in Kades Arme ziehen, als er sich zu mir setzt. »Hat er irgendetwas gesagt? Ich meine, etwas Vernünftiges?«

»Kein Wort.«

»Scheiße«, ist alles, was mir dazu einfällt, dabei habe ich in der letzten Stunde ausgiebig über Tylers Angriff nachgedacht. Er hat vorhin in der Küche nicht mich gesehen, davon bin ich mittlerweile fest überzeugt. Keine Ahnung, wen Tyler wirklich angegriffen hat, aber ich war es eindeutig nicht. »Das war einer von diesen Flashback, oder?«

»Ich denke schon.«

»Wir müssen unbedingt mehr über traumatisierte Soldaten in Erfahrung bringen, und zwar schnellstens.«

Kade schweigt, was in dem Fall mehr sagt als tausend oder mehr Worte es könnten. Er hat seine Meinung wieder geändert und würde Tyler jetzt am liebsten mit einem Tritt vor die Tür setzen. Heute Morgen war er fast soweit, ihm eine Chance zu geben, obwohl er sich damit nicht wohlfühlt, das ist mir nicht entgangen, aber mir zuliebe hätte er es versucht. Doch das hat Tyler innerhalb weniger Sekunden zerstört und so wie sich mein Hals gerade anfühlt, bin ich wieder einmal unsicher, ob Kade nicht doch recht hat.

Allerdings ist mir ebenfalls klar, dass ich es nicht tun kann. Tyler ist verletzt und damit meine ich nicht nur körperlich. Ich will ihn nicht einfach aus unserem Leben verjagen. Was wären wir denn für Freunde, wenn wir das täten?

Wenn er wenigstens mit uns reden würde. Ich verlange gar nicht, dass er gleich jedes Detail seiner Gefangenschaft erzählt, aber dieses Schweigen macht mich vollkommen verrückt. Und es macht mir immer mehr Angst, weil ich einfach nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Ich wollte diesen Mann heiraten und jetzt fürchte ich mich vor ihm? Das ist doch nicht normal, genauso wie Tyler nicht mehr normal ist.

Großer Gott, was sollen wir jetzt nur tun?

 

 

Kapitel 2

 

 

 

 

Am nächsten Morgen, nach einer weiteren schlaflosen Nacht, sitze ich gähnend vor meinem Laptop. In einer Hand eine Tasse mit frisch aufgebrühtem Kaffee, in der anderen die E-Mail mit den Änderungswünschen meines Kunden für seine neue Webseite. Es sind nur ein paar Kleinigkeiten, er war im Großen und Ganzen begeistert von meiner Arbeit, aber selbst dieser Kleinkram, er will eine größere Schrift für den Fließtext auf der Seite und die Farbe aller Links soll einen Tick dunkler sein, überfordert mich heute.

Ich habe einfach zu wenig geschlafen und zu viel gegrübelt. Kein Wunder nach dem, was gestern passiert ist. Tyler hat sich seither keinen Millimeter aus dem Zimmer getraut und er hätte auch nichts gegessen und getrunken, wenn Kade nicht später auf die Idee gekommen wäre, ihm etwas vor die Tür zu stellen.

Mich wollte er anfangs nicht mal alleine durch den Flur ins Badezimmer gehen lassen, aber mittlerweile hat er sich ebenso beruhigt wie ich. Ich bin immer noch nervös, wer wäre das in unserer Situation nicht, aber Kade und mir ist bewusst, dass es weder uns noch Tyler hilft, wenn wir uns jetzt völlig verrückt machen. Darum haben wir beschlossen, Tyler einige Tage Zeit zu geben, damit er 'ankommen' kann, wie Kade es genannt hat, um dann in aller Ruhe mit ihm darüber zu reden, wie es jetzt weitergehen soll.

Noch nicht entschieden haben wir allerdings, ob wir meine Familie und meine Jungs einweihen sollen, mit denen ich heute Abend zu unserem monatlichen Treffen verabredet bin. Soll ich es nicht doch lieber absagen? Ich werde eh keinen Kopf dafür haben und das wäre ihnen gegenüber nicht fair. Andererseits ist es auch nicht fair, mir irgendeine Ausrede zu überlegen, nur um ihnen nicht sagen zu müssen, dass Tyler am Leben ist. Die drei haben schließlich hautnah miterlebt, wie schlimm es nach der Beerdigung mit mir bergab ging. Sie waren für mich da, bis Kade den Job übernahm, und sie sind es immer  noch. Genauso wie ich immer für sie da war, wenn es Probleme gab. Deshalb sind wir vier auch seit unserem Studium beste Freunde.

Aber kann ich sie noch mal mit dem Chaos und Drama um Tyler belasten, das Kade und mir mit seiner Rückkehr jetzt mit Sicherheit ein zweites Mal ins Haus steht? Einer von ihnen ist mittlerweile Vater und ich fühle mich nicht gerade gut bei dem Gedanken, alles wieder aufzuwühlen. Anlügen will ich sie aber auch nicht. Das würden sie mir verdammt übel nehmen, und zwar zu Recht. Freunde belügen einander nicht. Ich weiß nur nicht, ob ich es schaffe, ehrlich zu sein.

Herrgott, meine Gedanken drehen sich völlig im Kreis. Ich bin übermüdet und das wird sich bis heute Abend nicht legen, was keine gute Ausgangsposition für einen Männerabend ist. Am besten schiebe ich eine Grippe vor. Irgendetwas harmloses, um mein schlechtes Gewissen möglichst klein zu halten, bevor ich sie nächste oder übernächste Woche anrufe und beichte. Bis dahin hat sich vielleicht auch schon Tylers Zukunft geklärt, wie immer seine Pläne in der Hinsicht aussehen mögen. Sofern er überhaupt welche hat. Egal. Erst mal die Jungs. Ich gönne mir einen Schluck Kaffee, nehme die Brille ab, die ich für die Arbeit am Bildschirm brauche, und greife zum Telefon.

»Wen rufst du an?« Kade tritt hinter mich und drückt mir mit einem neckenden »Schlafmütze.« einen sanften Kuss auf den Scheitel, ehe er sich auf die Schreibtischkante setzt, was ich hasse wie die Pest, das weiß er genau. Auf meinen tadelnden Blick reagiert er mit einem frechen Grinsen. Mistkerl.

»Guten Morgen.« Ich versuche seinen Hintern auf meinem Schreibtisch ebenso zu ignorieren wie seine morgendliche gute Laune. Er war wie so oft längst aufgestanden, als ich, noch halb im Tiefschlaf, vorhin aus dem Bett gestiegen bin. »Ich rufe die Jungs an und sage unser Treffen für heute Abend ab.«

»Nein.« Kade nimmt mir das Telefon weg. »Geh ruhig hin. Ihr seht euch nur einmal im Monat.«

»Und Tyler?«

Kade zuckt mit den Schultern. »Es ist doch bloß ein Abend und er hockt sowieso die ganze Zeit oben in seinem Zimmer. Wir kommen schon klar.«

»Ich will dich nicht mit ihm alleine lassen«, wende ich ein, doch Kade schüttelt den Kopf.

»Und ich kann nicht ewig Urlaub nehmen.«

»Was hat das …?« Ich breche ab, als mir klar wird, worauf er hinauswill. »Kommt nicht infrage.«

Kades Blick verfinstert sich bedenklich. »Du wirst nicht mit ihm alleine im Haus bleiben, wenn ich nächste Woche wieder arbeiten gehe.«

»Ach, aber dass du heute Abend mit ihm allein bleibst ist in Ordnung, oder was?«

»Ich kann mich wenigstens gegen ihn verteidigen, wenn er mich angreift.« Das war unter der Gürtellinie und das erkennt Kade auch. »Tut mir leid, so war das nicht gemeint.«

Natürlich war es so gemeint und das Schlimme daran ist, er hat recht. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich es mir ohne Widerwort gefallen lasse, von Kade als hilflos hingestellt zu werden. Es ist beschissen genug, dass wir uns überhaupt über so etwas Gedanken machen müssen, immerhin reden wir hier von Tyler. Er ist schließlich kein Psychopath oder Mörder. Wobei ich darauf vielleicht lieber keine Wetten abschließe. Sein Blick, als er mich gewürgt hat, war … Ohne Worte. Ich kämpfe gegen eine Gänsehaut und sehe Kade verärgert an.

»Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich nicht mit eurer tollen Marines-Ausbildung mithalten kann, aber deshalb werden wir Tyler nicht vor die Tür setzen.«

»Wir?«

»Ja, wir!«, zische ich erbost. »Wir leben beide hier und es ist unser Haus, Kade. Er ist unser Freund.«

»Du meinst wohl mein Freund und dein Verlobter.«

»Ex! Ich bin heute mit dir zusammen, Kade«, fahre ich ihn an und rolle meinen Stuhl zurück, um aufzustehen. Langsam werde ich ernsthaft sauer. Außerdem mag ich es nicht, zu ihm aufzusehen, wenn wir diskutieren. Mit seinen 1,90m muss ich ohnehin immer zu Kade hochsehen, was mich normalerweise nicht kümmert. Es sei denn, wir sind auf dem direkten Weg in einen Streit. Den er wie immer abwürgen will, das sehe ich ihm deutlich an, als er sich vom Schreibtisch abstößt. Aber das kann er heute vergessen. Ich stelle mich Kade direkt in den Weg, als er zur Tür will.

»Garrett«, murrt er und drängelt sich einfach an mir vorbei. Es ist nicht zu fassen. Dieser Dickschädel.

»Du kannst nicht immer abhauen, wenn es mal schwieriger wird«, rufe ich ihm wütend nach und ignoriere sein gezischtes »Du machst es schwierig, nicht ich.«, als er an der Treppe zum Obergeschoss vorbei zur Haustür eilt. »Wo willst du jetzt hin? Du hast frei.«

»Einkaufen!«, knurrt er, dann fällt die Tür mit einem Knall hinter ihm ins Schloss und ich stöhne auf. Eines Tages trete ich ihm dafür in seinen sturen Hintern. Kopfschüttelnd will ich in mein Arbeitszimmer zurück, als ich plötzlich leise Schritte auf der Treppe höre. Ich kann Tyler nicht sehen, er kommt auch nicht bis nach unten, aber ich weiß, dass er da ist.

»Ich bin nicht sauer auf dich, Tyler.«

Schweigen.

»Ich weiß, dass du nicht mich angegriffen hast. Es ist okay, hörst du?« Ich stutze. Was rede ich da eigentlich für Blödsinn? Natürlich ist es nicht okay. »Also ich meine, es ist …« Weil ich nicht weiß, wie ich mich ausdrücken soll und Angst habe, ihn noch viel mehr zu verschrecken, wenn ich etwas Falsches sage, breche ich ab.

»Ich wollte das nicht«, höre ich Tyler auf einmal sagen und starre verdutzt zur Decke hoch. »Es tut mir leid.«

Sag' was. Sag' irgendwas. Schnell. »Ich weiß«, ist nur leider alles, was mir einfällt, und kurz darauf fällt dann auch die Tür des Gästezimmers ins Schloss.

Resigniert stöhnend lehne ich mich mit dem Rücken an den Türrahmen. Das war wieder eine grandiose Leistung. Ganz toll gemacht, Garrett, beglückwünsche ich mich selbst sarkastisch. Wahrscheinlich kommt Tyler jetzt gar nicht mehr aus seinem Zimmer raus, während Kade sich heute mit Sicherheit viel Zeit beim Einkaufen lassen wird, um mir möglichst lange aus dem Weg zu gehen.

Ich hasse Tage, an denen alles schiefgeht, ehe sie überhaupt richtig angefangen haben. Am besten gehe ich wieder ins Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und stehe vor morgen nicht mehr auf.

 

Und ich behalte leider recht, denn als mein laut knurrender Magen mich gegen Mittag schließlich aus dem Arbeitszimmer in die Küche treibt, ist weder Kade mit den Einkäufen wieder zu Hause aufgetaucht, noch hat sich Tyler ein Stockwerk über mir weiter als bis ins Bad gewagt. Und auch das weiß ich nur, weil ich einmal die Toilettenspülung gehört habe.

Ein Gutes hatte die Ruhe bisher allerdings, denn ich habe in den letzten Stunden mehrere Kunden glücklich gemacht und kann heute Abend beruhigt ins Wochenende starten. Oder zum Männertreffen gehen, von dem ich immer noch nicht weiß, ob ich das wirklich tun soll oder nicht. Doch statt erneut darüber zu grübeln, mache ich für Tyler und mich ein paar Sandwichs, stelle ihm seine mit einem Klopfen vor die Tür und verziehe mich mit meinen zurück an den Schreibtisch. Kade würde mir einen Vortrag darüber halten, wenn er mich sehen könnte, weil wir einen großen Esstisch haben, aber wozu soll ich mich allein an selbigen setzen? Da kann ich genauso gut vor dem Laptop essen und mir dabei Videos auf Youtube ansehen.

Eine einzelne Sonnenblume erscheint auf einmal in meinem Blickfeld und lässt mich erschrocken zusammenzucken. Kade legt sie neben meinen Teller auf den Schreibtisch, dann finden seine Hände meine Schultern und beginnen sie zu massieren.

»Du bist total verspannt.«

»Ich habe gearbeitet«, kontere ich und greife demonstrativ nach dem letzten Sandwich. So einfach wird er mir damit nicht davonkommen. Dass er mir eine Blume gekauft hat, ist für ihn zwar ein eindeutiges Schuldeingeständnis, aber ich bin immer noch sauer und das soll er ruhig spüren.

»Es tut mir leid.«

Ich schmelze wie die berühmte Butter in der Sonne, obwohl ich es nicht will. Nur leider haben seine Entschuldigungen, die seltener sind als eine Sonnenfinsternis, immer diese Wirkung auf mich, denn er sagt das nur, wenn er es auch wirklich meint. Kade gehört nicht zu den Menschen, die sich ständig für jeden Mist entschuldigen, nur um dann loszuziehen und gleich den nächsten Blödsinn anzustellen. Er meint, was er sagt und steht dann auch dazu. Mit allen Konsequenzen.

Seine Hände bearbeiten weiter meine Schultern, während ich zu Ende esse und danach die Sonnenblume ansehe. »Keine Rose?« Er schnaubt abfällig, was mich zum Grinsen bringt. Ich kann Rosen nicht ausstehen, das weiß er. »Es hätte mindestens eine langstielige rote sein müssen.«

»Geh' mal in die Küche.«

Ich drehe mich auf meinem Schreibtischstuhl verblüfft zu ihm um. »Du hast keine Rosen gekauft, oder?«

»Nein.«

»Sondern?«

»Geh' in die Küche«, wiederholt er und da hält mich nichts mehr an meinem Schreibtisch.

Kurz darauf bleibt mir vor Staunen der Mund offenstehen. Wie hat er es geschafft, die alle ins Haus zu bringen, ohne dass ich ihn gehört habe? Die vier prallvollen Einkaufstüten auf der Arbeitsplatte registriere ich eher nebenbei, während ich völlig überrumpelt auf die unzähligen, langstieligen Sonnenblumen starre, die er in drei Vasen auf dem Boden verteilt hat, weil sie zu hoch sind, um auf der Arbeitsplatte zu stehen.

Wie viele sind das, um Himmels willen? Dreißig? Vierzig? Schwer zu sagen, bei den fast tellergroßen Blüten. Ich bin mehr als nur sprachlos, um ehrlich zu sein. So was hat Kade noch nie gemacht. Es wäre auch gar nicht nötig gewesen. Mir hätte die eine Sonnenblume auf meinem Schreibtisch gereicht. Das ist … Mir fehlen die Worte.

»Sieh in den Essbereich.«

Ich drehe mich nicht zu Kade um, sondern tue einfach, was er sagt und finde dort zwei weitere Vasen mit Sonnenblumen auf dem Tisch. Er muss einen Blumenladen überfallen haben, anders kann ich mir das nicht erklären. Die Vasen sind nämlich nicht unsere, ich wüsste nicht mal, dass wir eine hätten. Er hat ein Vermögen für eine Entschuldigung ausgegeben und wenn ich diesen Kerl, stur hin oder her, nicht sowieso schon so lieben würde, spätestens jetzt wäre er mich nie wieder losgeworden.

»Falls das ein Heiratsantrag werden soll, ich sage Ja.«

Endlich lacht er. Leise zwar, aber er tut es, und das löst die unangenehm angespannte Stimmung zwischen uns. »Gut zu wissen, aber nein, ich habe dir keinen Ring gekauft. Nur diese fünfzig Sonnenblumen, weil ich eine Stunde vor diesem blöden Blumenladen stand und mich über dich, aber vor allem über mich geärgert habe. Dann kommt plötzlich diese Lieferung mit Sonnenblumen für eine abgesagte Hochzeit, was ich weiß, weil der arme Ladeninhaber fast einen Herzinfarkt bekommen hat, er ist nämlich leider der gehörnte Bräutigam, und ehe ich mich versehe, stehe ich vor ihm und erkläre ihm, dass ich ihm diese Sonnenblumen abkaufe, wenn ich sie mir leisten kann, weil ich mich bei meinem Freund entschuldigen muss. Tja, eine halbe Stunde später war meine Rückbank voller Vasen und Blumen und ich auf dem Heimweg. Den Rest kennst du.«

Das ist so verrückt und spontan, dass es eigentlich gar nicht zu Kade passt und gerade deshalb einfach perfekt ist. »Du bist vollkommen irre.«

»Ich weiß, aber du wirst mich trotzdem nicht los.«

»Gott sei Dank.«

Wir schweigen eine Weile und ich betrachte kopfschüttelnd und gleichzeitig völlig von den Socken die ganzen Blumen. Er hat fünfzig Sonnenblumen gekauft. Für mich. Das ist so … Mir fehlen immer noch oder eher schon wieder die Worte.

»Ich will nicht mit dir streiten, Garrett«, sagt Kade plötzlich und tritt hinter mich, um die Arme um mich zu legen. Er seufzt an meinem Rücken. »Im Waisenhaus gab es ständig irgendwo Streit. Immerzu haben sich Kids angebrüllt oder die Erzieher schrien herum, um ihren Willen durchzusetzen. Ich habe das gehasst. Ich hasse es heute noch.«

Das erklärt eine Menge. »Das hast du mir nie erzählt«, sage ich leise und streiche über seine Finger, was mir einen sanften Kuss in den Nacken beschert.

»Ich dachte, Ty hätte ...«

Er führt den Satz nicht zu Ende und ich schüttle den Kopf. »Nein. Er hat nicht gerne über das Waisenhaus gesprochen.«

»Kein Wunder«, nuschelt Kade in den Stoff meines T-Shirts und auch wenn ich gerne mehr darüber hören würde, frage ich nicht. Nicht jetzt. »Hat er sich blicken lassen?«

Damit ist Tyler gemeint. »Nein. Er war auf der Toilette und hat unseren Streit gehört. Na ja, den Fast-Streit. Er hat sich bei mir entschuldigt, dass er mich angegriffen hat.«

»Hat er gesagt, wen er wirklich attackiert hat?«

»Nein.«

Kade seufzt erneut, drückt mich dabei fester an sich, und in der Sekunde fasse ich einen Entschluss. Er will nicht streiten, damit kann ich leben, jetzt, wo ich verstehe, warum. Aber wir müssen reden, wir müssen Entscheidungen treffen, und beides können wir genauso gut gleich tun. Dieses Abwarten ist keine Lösung, jedenfalls keine gute.

»Kade? Ich will, dass er hierbleibt. Und ich will den Jungs heute Abend von ihm erzählen. Ich will meine Eltern und Cord anrufen. Sie haben damals alle geholfen, als er tot war, und ich finde, sie haben das Recht zu wissen, dass er überlebt hat.«

»Garrett ...«

»Du willst nicht streiten, ich weiß, aber wir müssen darüber reden. Wir können nicht nur dasitzen und abwarten, was er als nächstes tut. Falls Tyler überhaupt etwas tut. Wir müssen uns erst mal einig sein, was wir beide wollen.«

»Ich will nicht, dass du in Gefahr bist«, sagt Kade ernst und damit ist er nicht allein.

»Dito.«

»Er schläft im Schrank. Er braucht Hilfe.«

»Das ist mir bewusst«, kontere ich nickend. »Das Problem ist nur, er muss diese Hilfe auch wollen, sonst bringt es nichts. Und momentan bezweifle ich ernsthaft, dass er überhaupt mit einem Therapeuten oder einem Psychologen, wer auch immer für einen Fall wie Tylers zuständig ist, reden würde. Er spricht ja schon kaum mit uns. Vorhin hat er zwei Sätze zu mir gesagt. Das ist mehr, als er im Ganzen mit uns gesprochen hat, seit er wieder hier ist.«

»Willst du deshalb mit Cord reden?«

Ich stutze irritiert, weil ich das von der Warte aus noch gar nicht gesehen habe. »Eigentlich wollte ich meinem Bruder nur sagen, dass sein ehemaliger Fastschwager noch am Leben ist. Andererseits ist es keine üble Idee, ihn nach seiner fachlichen Meinung zu fragen. Wozu ist er schließlich Psychologe?«

»Und dann?«

Jetzt bin ich derjenige von uns, der seufzt. »Keine Ahnung.« Ich drehe mich in Kades Armen herum und suche seinen Blick. »Er braucht ein Zuhause, Kade.«

»Ich weiß.« Er schweigt kurz. »Na schön. Aber nicht ohne Schutz.«

»Wie meinst du das?«, frage ich verständnislos und wenig später bleibt mir zum zweiten Mal heute vor Überraschung der Mund offenstehen.

 

Tampa, Philli und Angel sitzen bereits an unserem Tisch in unserer Stammkneipe und winken mir mit ihren Bierflaschen zu, als sie mich an der Tür entdecken. Mir ist zwar nicht nach Grinsen zumute, aber ich tue es trotzdem, weil es gut ist, sie zu sehen. Ein Abend alle vier Wochen ist viel zu wenig, aber wir haben schlicht nicht die Zeit für häufigere Treffen. Das kommt davon, wenn man in der Uni zu den Besten gehörte und schon lange vor dem Abschluss von den großen Firmen angeworben wurde. Das trifft zumindest auf Angel und Philli zu, denn Tampa hat sich wie ich selbstständig gemacht. Doch während ich mich weiter allein durchschlage, führt er heute eine Firma mit über einhundert Mitarbeitern.

Eigentlich heißen die Jungs Bradley, Malcolm und Maxwell, aber auf der Uni fingen wir irgendwann an, uns nur noch nach den Orten zu rufen, wo wir ursprünglich herkommen. Bradley hat seine ganze Kindheit in Tampa unten in Florida verbracht, Malcolm stammt aus Philadelphia und Maxwell wurde in Los Angeles geboren. Ich komme aus Chicago und bin bisher auch nicht aus der Stadt herausgekommen. Meine Eltern und mein Bruder leben ebenfalls hier und wie ich sie kenne, wird sich daran auch niemals etwas ändern.

Auf meinem Platz warten ein Bier und eine Schüssel voller Knabberkram auf mich, also geselle ich mich zu meinen besten Freunden, lasse mich umarmen, klopfe auf breiter gewordene Schultern und erkläre Angel feixend, dass dieser fusselige Bart in seinem Gesicht eine dämliche Idee war. Wir lachen und das tut richtig gut. Genauso gut tut danach das Austauschen von Neuigkeiten und dem aktuellen Klatsch und Tratsch, der nach vier Wochen immer anfällt. Und obwohl ich ebenfalls erzähle, bin ich einfach nicht bei der Sache, weil ich mich ständig frage, ob Kade und Tyler zurechtkommen. Natürlich brauchen meine Jungs nicht lange, um zu merken, dass meine Gedanken sonst wo sind, nur nicht hier bei ihnen.

»Was ist los, Chicago?«, fragt Tampa schließlich belustigt und stößt mich unter dem Tisch mit dem Fuß an. »Gab's Streit mit deinem heißen Ex-Marine?«

Ich schnaube nur. Die Jungs wissen genau, dass Kade jeder Auseinandersetzung aus dem Weg geht, immerhin mussten sie sich deswegen schon oft genug mein Genörgel anhören. Nach unserem Gespräch heute, dürfte sich das zwar wahrscheinlich erledigt haben, aber das will ich meinen Freunden nicht gleich auf die Nase binden. Sie werden schon sauer genug sein, wenn sie erfahren, was Kade in Bezug auf Tyler beschlossen hat, und womit ich mich einverstanden erklärte, weil wir irgendeinen Kompromiss brauchten und ich mich insgeheim dadurch jetzt sogar ein bisschen sicherer fühle.

Philli grinst breit. »Ah, er hat sich also mal wieder aus dem Staub gemacht, nachdem er dich verärgert hat.«

Ich wünschte, es wäre so einfach. »Tyler ist wieder da.«

Schweigen.

Gefolgt von ungläubigen Blicken erst zu mir und hinterher untereinander. Irgendwann stellt Angel sein Bier zur Seite und räuspert sich bedeutsam. Sein Gesichtsausdruck spricht Bände und er entlockt mir ein zynisches Grinsen, weil wir uns gerade beide an die Anfangszeit nach Tylers Beerdigung erinnern. Ich habe oft davon geträumt, dass sein Tod ein Versehen war und er plötzlich wieder vor meiner Tür steht. Ich hätte nur niemals erwartet, dass aus dieser Wunschvorstellung nach fünf Jahren doch noch Realität wird.

»Nein, ich habe nicht von ihm geträumt. Ich bin auch nicht komplett durchgedreht, keine Sorge. Ich meine das genau so, wie ich es eben gesagt habe.«

»Moment mal ...« Tampa runzelt die Stirn. »Du erzählst uns hier gerade, dass dein toter Ex-Verlobter wieder da ist? Dass er, verstehe ich das richtig, nicht tot ist?«

»Du hast es erfasst.«

Auf einmal reden sie alle durcheinander und es dauert eine Weile, bis sie sich wieder soweit beruhigt haben, dass ich ihnen nach und nach erzählen kann, was vor zwei Tagen passiert ist. Dass Tyler im Moment mit Kade allein ist und dass ich mir um beide Sorgen machen, weil mein Partner seinem besten Freund misstraut und der dieses Misstrauen leider Gottes verdient, das ist mir in den vergangenen 48 Stunden klar geworden. Aber ich kann ihn trotzdem nicht aus unserem Haus jagen, obwohl Kade und ich deswegen mit Sicherheit nicht zum letzten Mal diskutiert haben.

»Sekunde … Was soll das heißen, er hat dich angegriffen?«, fragt Tampa und flucht unflätig, nachdem ich schweigend den Kragen meines Pullovers ein Stück nach unten gezogen habe, um ihnen die Abdrücke von Tylers Fingern zu zeigen, die nach seinem Griff entstanden sind. Und auch wenn ich weiß, dass es keine Absicht war, bekomme ich von der Erinnerung an Tylers Blick immer noch eine Gänsehaut.

Darum hat Kade vorhin auch äußerst eindringlich darauf bestanden, dass ich zu unserem allmonatlichen Männertreffen gehe. Damit ich für eine Weile aus dem Haus komme, um den Kopf freizukriegen, wie Kade es genannt hat. Aber so sehr ich es auch versuche, ich kann Tylers furchtbaren Anblick einfach nicht vergessen, als er begriff, was er mir angetan hat. Wie er auf dem Boden hockte, die Knie hochgezogen und die Hände über dem Kopf haltend, um sich vor den Schlägen zu schützen, die er von Kade und mir erwartet hat.

Auch darüber haben Kade und ich gesprochen. Wir haben fast den gesamten Nachmittag nichts anderes getan und dabei am Ende weit mehr Fragen als Antworten bekommen. Was hat man Tyler nur angetan? Das ist momentan die wichtigste aller Fragen, nur wollen wir sie ihm beide nicht stellen, weil wir uns vor der Antwort fürchten. Kade genauso wie ich. Aber ich habe das ungute Gefühl, dass wir gar keine andere Wahl haben, als früher oder später Antworten von Tyler zu verlangen, falls wir wirklich verstehen wollen, was in ihm vorgeht. Und vor allem, wenn wir verhindern wollen, dass sich so ein Vorfall wie in der Küche wiederholt.

Zwölf Stunden.

Länger hat Tyler nicht gebraucht, um vor unseren Augen auszuticken, und ich habe jetzt noch Kades fassungslosen Blick vor Augen, der meinem mit Sicherheit in nichts nachstand. Wir wussten beide nicht, was wir machen sollten, als Tyler anfing den Oberkörper langsam vor- und zurückzuwiegen und dabei wie ein kleines Kind weinte.

»Ihr habt ihn auf dem Boden sitzen lassen?«, fragt Philli in einer Mischung aus Vorwurf und Schock, nachdem ich ihnen den Vorfall geschildert habe, und ich kann ihn verstehen.

Mittlerweile schäme ich mich dafür, wie wir reagiert haben, aber gestern wollte ich nur noch aus der Küche raus. Ich wollte so weit wie möglich von Tyler weg, weil ich Angst hatte und immer noch habe. Auch das erzähle ich meinen Freunden und anschließend schweigen wir alle für eine ganze Weile.

»Chic... Garrett? Habt ihr euch mal überlegt, ob es für Tyler nicht besser wäre, ihn in eine Klinik zu bringen?«, fragt Tampa mich irgendwann ruhig und nickt auf meinen gequälten Blick hin. »Verstehe.«

Und das tut er tatsächlich. Er hat mich schon sehr oft ohne weitere Erklärung verstanden, denn ja, über diese Frage haben Kade und ich gesprochen, und dabei entschieden, dass wir das auf keinen Fall wollen. Jedenfalls nicht, solange es eine andere Möglichkeit gibt.

Wenn Tyler erst mal in den Mühlen unseres Rechtsstaates festsitzt, weil ich ihn wegen seines tätlichen Angriffs auf mich angezeigt habe, kommt er da vielleicht nie mehr raus, und das kommt für uns nicht infrage. Er braucht psychologische Hilfe und im Gefängnis, denn dort würde er vermutlich landen, bis ein Psychiater irgendwann feststellt, dass Tyler dringend eine Therapie nötig hat, die er vielleicht nicht machen will, besteht die Gefahr, dass er Mitgefangene angreift und möglicherweise, falls es ganz schlimm kommt, sogar jemanden tötet.

Und das werde ich Tyler nicht antun. Er ist seelisch schwer angeschlagen, das weiß ich, aber ich kann ihn nicht einfach im Stich lassen. Das haben schon zu viele Menschen getan, allen voran die US-Army, für die er fast sein Leben gegeben hat.

»Na wenigstens hat er jetzt genügend Geld, um sich einen guten Seelenklempner zu leisten«, murrt Angel, nachdem ich den dreien schließlich alles erzählt habe.

»Vielleicht kann dein Bruder ihm helfen«, schlägt Philli vor und nimmt einen Schluck von seinem Bier. »Ich meine, Cord ist doch Psychologe.«

»Für Kinder«, erinnere ich ihn, aber das lässt Philli nicht gelten und winkt ab.

»Na und? Seine Ausbildung dürfte dieselbe sein. Es würde ja schon reichen, wenn er Tyler davon überzeugen kann, eine Therapie zu machen. Oder wollt ihr, Kade und du, in Zukunft mit 'ner Knarre unterm Kopfkissen schlafen?«

Mein Blick sagt Philli alles, denn diese Waffe war besagter Kompromiss, um den Kade und ich fast eine Stunde gerungen haben. Am Ende konnte ich sein Argument, dass wir uns mit einer Waffe sicherer fühlen werden, einfach nicht mehr von der Hand weisen. Es geht uns nicht darum, wie John Wayne in der Gegend herumzuballern. Es geht darum, nachts wieder ruhig zu schlafen, ohne die Tür abzuschließen, denn das war für uns erst recht keine Lösung, falls Tyler nachts Albträume bekommt, freiwillig unsere Hilfe sucht und dann vor verschlossener Tür steht. Da akzeptiere ich lieber eine gesicherte Waffe in Kades Nachtschrank, denn er kann mit ihr umgehen.

»Nee, oder? Das ist doch nicht dein Ernst. Chicago!«

»Die Waffe gehört Kade.«

»Macht es das besser? Du weißt genau, was wir von Waffen halten. Was du selbst von ihnen hältst. Nämlich gar nichts. Ist schlimm genug, dass du dich nach Tyler noch mal mit einem aus diesem Verein eingelassen hast ...«

»Hey!«, fahre ich Philli wütend über den Mund, denn das geht zu weit. Er hält nichts von der Armee, okay, das bleibt ihm überlassen und hat mich auch nie gestört. Aber ich werde ihm nicht erlauben, Kade oder Tyler deswegen zu beleidigen. Was denkt er sich eigentlich?

»Tschuldige.« Philli fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »So war das nicht gemeint. Kade ist schon in Ordnung.«

»Ach, und Tyler nicht?«, frage ich giftig.

»Ganz offensichtlich nicht, sonst wäre er ja wohl kaum auf dich losgegangen«, blafft Philli mich daraufhin an, doch bevor ich ihn anschreien kann, ertönt ein lauter Pfiff von der Bar und wir sehen zu Spencer, dem die Kneipe gehört.

»Wenn ihr streiten wollt, macht das draußen.«

Wenn ein zwei Meter großer Kerl mit den Ausmaßen eines Schranks, der jahrelang beim Wrestling gearbeitet hat, einen so ansieht, wie Spencer uns gerade, besteht man nicht auf seiner Meinung. Ich jedenfalls nicht. Meine Freunde auch nicht, stelle ich nach einem kurzen Rundblick fest, denn auf einmal halten wir uns alle an unseren Bierflaschen fest und sind sehr schwer damit beschäftigt, uns ja nicht zufällig in die Augen zu sehen.

»Vielleicht hat er recht.«

»Tampa!«, flucht Philli verärgert.

»Überleg' doch mal«, spricht Tampa ungerührt weiter und sieht Philli an. »Du bist Kade und dazu gezwungen, jeden Tag zur Arbeit zu gehen und deinen Freund zu Hause mit dem Ex-Verlobten alleinzulassen, der zufällig ein schweres Trauma hat. Ganz ehrlich, ich an seiner Stelle, würde Chicago jede Stunde, ach was, alle zehn Minuten, daheim anrufen, um zu prüfen, ob er okay ist.« Tampa stutzt kurz. »Zumindest für ein paar Tage, bis ich mich beruhigt habe oder weiß, dass Tyler keine tickende Zeitbombe mehr ist.«

»Er ist keine ...« Weiter komme ich nicht.

»Kade denkt das aber und du auch, streite es nicht ab, sonst hättest du dich nie auf diese Waffe eingelassen. Du hast selbst zugegeben, dass du Angst vor Tyler hast.«

»Kein Wunder, er hätte ihn fast ermordet«, wirft Angel ein und hebt entschuldigend die Hände, als ich ihn sauer ansehe. »Was? Stimmt doch.«

»Ich will damit nicht sagen, dass ich es gut finde, doch falls Tyler labil ist, was nach einer fünfjährigen Gefangenschaft für mich außer Frage steht, dann ist es nur recht und billig, dass Kade und Garrett sich schützen.« Tampa lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Für den Notfall, der hoffentlich nie eintritt.«

»Und was soll Chicago diese Waffe tagsüber bitte nützen? Er weiß doch gar nicht, wie man so ein Ding ...« Philli bricht ab und sieht mich an. Ich werde rot und verrate mich damit. »Das machst du auf keinen Fall!«, geht er wie erwartet in die Luft und ruft damit erneut Spencer auf den Plan, der im nächsten Moment wie hergezaubert neben Phillis Stuhl steht und eine Hand auf seine Schulter legt, um zu verhindern, dass Philli von selbigem aufspringt und mich am Kragen packt, um mich zu schütteln oder mir eine runterzuhauen. Seinem Blick nach zu urteilen, scheint er sich nicht für eines von beidem entscheiden zu können.

»Was ist hier los?«, fragt Spencer und sein Griff wird fester, als Philli mit dem Finger auf mich deutet. »Lass den Blödsinn. Ich will eine klare Antwort, Malcolm.«

Die er auch bekommt, aber wenigstens ist Philli so höflich, sie nicht durch die ganze Kneipe zu schreien. Das hätte ich ihm wirklich übel genommen, denn wir sind momentan nicht die einzigen Gäste hier und ich bezweifle, dass Tyler es gut finden würde, wenn morgen zwanzig weitere Leute über ihn Bescheid wissen. Als Philli zu Ende gesprochen hat, wirft Spencer mir einen langen, eindringlichen Blick zu, bevor er schlussendlich den Kopf schüttelt.

»Eine Waffe ist eine schlechte Idee für dich, Garrett, du bist nicht der Typ dafür. Kade kann mit Waffen umgehen, du nicht, und das lernt man nicht von jetzt auf gleich. Lass dir von ihm lieber ein paar Kniffe beibringen, wie du Tyler schnell und gefahrlos in die Knie zwingst. Ein Tritt oder Schlag in die Eier wirkt Wunder. Eine Faust in den Magen ebenfalls. Notfalls zieh ihm eins mit der Pfanne über. Es kommt am Ende nur darauf an, dass Tyler überlebt, falls er noch mal einen Flashback hat, und das wäre mit einer Kugel im Bauch unwahrscheinlich. Du hast nämlich nicht die geringste Ahnung von erster Hilfe und bis ein Krankenwagen vor Ort ist, wäre Tyler verblutet.«

Ach du Scheiße.

Mir wird kotzübel, als Spencers Worte mir klarmachen, wie gefährlich der Plan mit einer Waffe ist. Nicht für mich, sondern für Tyler. Ich werde derjenige sein, der ab Montag mit ihm im Haus ist, und auch wenn ich Kade zutraue, mir das Schießen beizubringen, wer sagt denn, dass ich im Notfall überhaupt schießen werde? Und wenn ich tatsächlich abdrücke, was ist, wenn ich Tyler dabei umbringe? Wenn ich ein wichtiges Organ oder Blutgefäß treffe? Oh Gott, warum haben wir daran nicht gedacht?

»Bringt ihn nach Hause«, sagt Spencer zu meinen Freunden und nimmt uns die Bierflaschen aus der Hand. »Der Abend ist für euch beendet, klar?«

Niemand widerspricht ihm und wenig später stehen wir zu viert vor der Kneipe und warten auf das bestellte Taxi, das wir uns teilen werden, so wie immer bei unseren Männerabenden. Allerdings sind die noch nie zuvor so ruhig geendet wie dieser, denn keiner sagt etwas. Weder während des Wartens noch auf der Fahrt, die eine Weile dauert, weil wir über die ganze Stadt verteilt leben.

Heute bin ich der erste, der zu Hause abgeliefert wird, und nachdem das Taxi gehalten hat und ich ausgestiegen bin, ist es ausgerechnet Philli, der flucht und ebenfalls aussteigt.

»Komm' schon her, du Idiot«, schimpft er halbherzig und umarmt mich, was Kade, der bereits an der Tür wartet, grinsen lässt. »Du bist auch dran, wenn du nicht aufhörst zu grinsen«, bedroht Philli ihn und Kade lacht leise. »Pass gut auf dich auf, sonst setzt es was«, bin ich der nächste, der bedroht wird, und ich mache es Kade nach und lache, um, als ich mich von Philli löse, an Tampa und Angel weitergereicht zu werden.

Die beiden verzichten zwar auf Bedrohungen, aber auch sie verlangen, dass Kade und ich auf uns aufpassen und wir sollen jederzeit anrufen, wenn wir Hilfe brauchen. Darauf bestehen meine Freunde und sie steigen erst wieder ins Taxi, nachdem Kade zu uns aufgeschlossen und ihnen sein Wort gegeben hat. Das er besser hält, weil er ihn sonst umbringt. Phillis Worte, die Kade mit einem Nicken kommentiert, bevor er mich ins Haus und unter die Dusche drängt.

Eine Stunde später ist die Waffe in seinem Nachtschrank Geschichte und Philli erleichtert, als ich ihm eine Nachricht schreibe, um ihm davon zu erzählen. Wir texten danach noch eine Weile mit ihm, Tampa und Angel, und als Philli uns als Alternative schließlich Pfefferspray vorschlägt, lehnt Kade das sofort ab.

Es ist in seinen Augen keine Lösung eine Waffe gegen eine andere zu tauschen. Außerdem ist Tyler kein Gangster und er soll nicht das Gefühl bekommen, dass wir ihn für einen halten. Das würde es für Tyler am Ende wahrscheinlich nur schlimmer machen. Von der Gefahr, was es für uns bedeuten könnte, falls Tyler besagte Waffe in die Hände bekommt, ganz gleich, ob es sich um ein Pfefferspray oder eine geladene 9mm handelt, gar nicht zu reden.

Dann will er lieber mit dem Risiko für weitere blaue Flecken oder einen neuen Angriff leben, sagt Kade irgendwann leise zu mir, und dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

 

 

Kapitel 3

 

 

 

 

Das Wochenende verläuft ohne irgendwelche Vorfälle und am Sonntagabend wagt sich Tyler zum ersten Mal für längere Zeit aus dem Gästezimmer heraus, um mit uns zu essen. Nicht dass er viel sagen würde, aber er isst einen ganzen Teller leer, das ist für ihn fast schon ein Rekord, und als er dann sogar den Nachtisch annimmt, der aus Schokoladenpudding besteht, bin ich versucht, den Tag rot im Kalender zu markieren.

Nach einem Blick zu Kade, der mir meine Gedanken mal wieder ansieht und amüsiert den Kopf schüttelt, beherrsche ich mich jedoch und freue mich einfach darüber, dass Tyler heute Appetit hat. Er ist wirklich viel zu dünn und scheinbar gehen ihm langsam seine Ersatzklamotten aus, weil er dieses T-Shirt seit Freitag trägt. Meine Frage, ob wir seine Kleidung waschen sollen, kommt allerdings so unerwartet, dass er sich erschreckt und prompt ablehnt, bevor er aufsteht und flüchtet.

»Mist«, murmle ich und sehe entschuldigend zu Kade, der jedoch abwinkt.

»Ich besorge ihm morgen auf dem Heimweg ein paar neue Sachen. Das T-Shirt ist ihm zu groß, er müsste also momentan ungefähr deine Größe tragen.«

»Er hatte mal drei Größen mehr.«

»Er hatte auch mal Muskeln und wog über 20 Kilo mehr als du. Wird er eines Tages vielleicht auch wieder, aber fürs Erste sollten wir einfach darauf achten, dass er überhaupt isst.«

Dem kann ich kaum widersprechen, stattdessen erhebe ich mich und fange an, den Tisch abzuräumen. Kade hilft mir und als die Spülmaschine läuft, nimmt er mich an die Hand, zieht mich in den Flur und deutet auf meine Schuhe, während er in seine eigenen schlüpft.

»Was soll das werden?«

Kade greift nach unseren Jacken, denn für Mitte August ist es heute überraschend herbstlich und kühl. »Wir beide drehen jetzt eine lange Runde um den Block.«

»Weil?«, frage ich.

»Weil wir das schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gemacht haben.« Kade hilft mir in meine Jacke. Ich sehe ihn verdutzt an, denn so gentlemanlike ist er normalerweise nicht. Nein, das stimmt nicht, weil er sehr wohl ein Gentleman sein kann, es irritiert mich im Moment nur einfach zu sehr. »Jetzt guck' nicht so. Ich habe nicht vor, mich von dir scheiden zu lassen.«

»Pfft«, mache ich abfällig, was ihn grinsen lässt und danach zieht er mich auch schon nach draußen. »Äh, sollten wir nicht Tyler Bescheid sagen?«

»Habe ich schon.«

»Wann?«

»Vorhin, als du den Tisch gedeckt hast und ich oben war, um ihn zu fragen, ob er mit uns isst.«

»Hat er was dazu gesagt?«, will ich wissen, denn das wäre ein gewaltiger Schritt nach vorne.

Ich würde mittlerweile eine Menge dafür geben, mit Tyler ein richtiges Gespräch führen zu können, selbst wenn es dabei nur um das Wetter ginge. Dass mir Stille mal derartig zusetzen würde, hätte ich nie im Leben erwartet, immerhin arbeite ich den ganzen Tag allein zu Hause. Aber dabei habe ich meist das Radio laufen und ich war selbst nie eine Quasselstrippe. Ganz im Gegensatz zu Tyler und das macht es für mich auch so schwer, mit seinem Schweigen klarzukommen.

»Nein. Aber er hat genickt.«

»Das ist besser als nichts«, murmle ich resigniert und sehe auf meine Hand, die fest und sicher in Kades liegt. »Du machst dir Sorgen, oder?«

Kade seufzt. »Es gefällt mir nicht, morgen wieder arbeiten zu gehen und euch alleinzulassen und das habe ich Ty gesagt.« Mein erstaunter Blick sucht seinen und Kade grinst, wenn auch nur kurz. »Keine Sorge, ich habe ihm keine Schläge angedroht, aber er weiß, was ihm blüht, wenn er dir auf die Pelle rückt.«

Wie bitte? »Kade!«

»Er hat mit der zum Eid erhobenen Hand geschworen, dass er dir kein Haar krümmen wird. Jedenfalls nicht absichtlich.«

Spinnt er? Das geht doch nicht. Er kann doch Tyler nicht so die Pistole auf die Brust setzen. »Himmel, Kade!«

»Ich weiß, dass er das nicht kontrollieren kann, falls er einen Flashback hat, deswegen möchte ich dich auch um einen Gefallen bitten.«

»Der mir nicht gefallen wird, oder?«, dämmert mir langsam der wahre Grund dieses Spaziergangs. Kade weiß, dass ich ihn gleich anschreien werde und er wollte nicht, dass Tyler das im Haus mitbekommt. »Na dann los, ich höre.«

»Garrett, sei nicht sauer.«

Von wegen. Sein Gesichtsausdruck verrät mir bereits genug und das weiß er auch, sein entschuldigender Blick spricht jetzt ganze Bände. »Wenn du schon so anfängst, machst du es nicht besser. Von diesem Blick gar nicht zu reden. Raus damit. Was willst du von mir?«

»Er wird tagsüber in seinem Zimmer bleiben.«

Es dauert etwas, bis die wahre Bedeutung von Kades Satz bei mir ankommt, aber als sie es tut, geht mir umgehend der sprichwörtliche Hut hoch. Ich werde Tyler garantiert nicht den ganzen Tag oben im Gästezimmer einsperren, soweit kommt es noch. Unser Haus ist kein Gefängnis. Was ist das nächste? Soll ich ihm einen Eimer geben, falls er mal aufs Klo muss?

»Das kommt nicht infrage!«

»Garrett, bitte. Ich verlange ja nicht, dass du ihn tatsächlich einsperrst, aber könntest du bitte Abstand zu ihm halten, falls er rauskommt? Oder sei wenigstens vorsichtig, wenn du ...«

»Hör' sofort auf damit!« Ich löse mich erbost von Kade und trete vor ihn, um ihn stinksauer anzusehen. Doch meine Wut verfliegt bei seinem betretenen Blick sehr schnell, denn er hat schlichtweg Angst um mich und das kann ich verstehen, weil ich selbst Angst habe. Aber Tyler ist kein Tier und das sage ich Kade dann auch.

»Ich weiß, ich weiß … Ich mache mir einfach Sorgen. Bitte, versteh' mich doch. Als er dich am Donnerstag angegriffen hat, da … Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen. Ich hatte noch nie solche Angst um dich. Noch nie. Nicht mal damals, als ich dich mit diesem Messer am Handgelenk fand, Garrett. Und dann ist es ausgerechnet Ty, der versucht dich umzubringen.«

»Er hat nicht mich angegriffen«, werfe ich nicht zum ersten Mal ein, obwohl mir klar ist, dass es Kade nicht reichen wird. Er sieht im Augenblick nicht seinen Freund Tyler, sondern nur noch diesen Ex-Marine mit einer Spezialausbildung und einem gewaltigen Sprung in der Schüssel, den er ab morgen früh den ganzen Tag in meiner Nähe weiß. Das macht ihn total verrückt, vor allem weil er weiß, dass er nichts dagegen tun kann. Denn Tyler rauszuwerfen ist für mich nun mal keine Option.

»Ich weiß, doch das macht es nicht besser. Nicht für mich. Er ist gefährlich, Garrett. Ich weiß, er kann nichts dafür, aber es ändert nichts daran und du bist kein Soldat. Was, wenn er dir morgen oder nächste Woche wieder an den Kragen geht und ich bin nicht da?«

Ich habe mir genau diese Frage seit Donnerstag wieder und immer wieder gestellt, ohne eine zufriedenstellende Antwort zu finden, denn es gibt einfach keine. Ich könnte morgen früh unter der Dusche ausrutschen und mir den Hals brechen. Ich könnte beim Überqueren der Straße überfahren werden. Kade kann mich gar nicht beschützen, es sei denn, er packt mich in Watte und stellt mich für den Rest meines Lebens unter eine Glasglocke.

»Kade, ich kann jederzeit überfahren werden, wenn ich das Haus verlasse. Oder ich könnte beim Putzen aus dem Fenster fallen. Du kannst nicht immer da sein.«

»Du weißt genau, wie ich das meine.«

»Sicher weiß ich das, aber Tyler braucht ein Zuhause, kein neues Gefängnis. Und so wie er sich benimmt, seit er auf mich losging, kommt es mir mittlerweile vor, als hätte er mehr Angst vor uns, als wir vor ihm.« Kade seufzt und vielleicht ist jetzt der passende Zeitpunkt, ihm ein wenig entgegenzukommen. »Ich werde Tyler nicht provozieren, jedenfalls nicht absichtlich, aber ich werde ihn auch nicht abweisen, falls er Kontakt sucht. Und wenn es dir damit besser geht, verspreche ich dir, dass ich mein Handy rund um die Uhr in Reichweite habe, okay?«

»Nur in Reichweite?«

»Hosentasche?«, biete ich an und küsse Kade zärtlich, als er erleichtert nickt, weil weitere Worte überflüssig sind.

Die kommenden Tage werden nicht leicht werden und wir sind beide nervös. Wahrscheinlich ist Tyler noch nervöser, aber ich hoffe, dass er sich trotzdem ab und zu in meine Nähe traut, denn auf Dauer dürfte ihm dieser ständige Rückzug in unser Gästezimmer, das ich immer mehr als sein Zimmer betrachte, seelisch mit Sicherheit nicht guttun.

Es wird wirklich Zeit, Cord anzurufen und ihn um Rat zu fragen, und genau das werde ich gleich morgen früh tun.

 

»Cord Wilks, was kann ich für Sie tun?«, meldet sich mein Bruder am Montagmorgen förmlich und mir fällt nach einem knappen Blick auf die Uhr meines Laptopbildschirms ein, dass er wahrscheinlich schon auf seinen ersten Patienten wartet. Ich Idiot habe ihn in seiner Praxis angerufen.

»Sorry, störe ich?«

»Garrett? … Nein, mein erster Patient kommt frühestens in 30 Minuten. Ist alles in Ordnung?«

»Ja, sicher. Ich wollte nur mal hören, was du momentan so treibst.« Eine Lüge und das erkennt er natürlich sofort. Cord ist Kinderpsychologe, und zwar ein verdammt guter. Ich seufze, als er nichts sagt, weil er darauf wartet, dass ich es tue. »Nein, es ist nichts in Ordnung. Entschuldige, ich hätte dich zu Hause anrufen sollen. Hab' einfach nicht daran gedacht.«

»Garrett?«

»Ja?«

»Ich höre dir immer zu, das weißt du doch, oder?«

Ja, das weiß ich, deshalb habe ich ihn schließlich angerufen. Trotzdem weiß ich plötzlich nicht, wie ich anfangen soll. Tyler ist am Leben, was einerseits der Erfüllung eines Wunschtraums gleichkommt, aber andererseits jede Menge Gefühlschaos und Durcheinander mit sich gebracht hat, dabei ist er noch nicht mal seit einer Woche wieder bei uns. Was soll das erst werden, wenn er länger bleibt? Will er das überhaupt? Noch eine Frage, auf die wir keine Antwort haben. Vielleicht sollte ich mir eine Liste machen.

»Garrett?«

»Tyler ist am Leben«, platze ich ungestüm heraus und gebe Cord keine Gelegenheit, etwas dazu zu sagen. »Er stand letzten Mittwoch auf einmal vor unserer Tür. Kade hat sofort seinen ehemaligen Vorgesetzten angerufen und herausgefunden, dass sie Tyler und zwei andere US-Marines in Afghanistan aus einer Höhle gerettet haben. Er war dort fünf Jahre in Gefangenschaft, Cord, und er …« Ich stocke kurz. »Er sieht furchtbar aus. Er ist zu dünn, viel zu dünn. Er hat Narben, fehlende Zähne und … Ihm fehlen zwei Finger an der linken Hand. Er hat da nur noch Stümpfe. Sein linkes Ohrläppchen ist ebenfalls weg und dann ist da noch … Cord, Tyler verhält sich völlig anders als früher. Er sagt kaum ein Wort, er schläft im Kleiderschrank und … Er hat …« Ich muss tief durchatmen, bevor ich weiterreden kann. »Donnerstag früh ist er in der Küche auf mich losgegangen. Es geht mir gut und das war auch nur ein Versehen, aber er ist … Cord, irgendetwas stimmt nicht mit ihm.«

»PTBS.«

»Was?«, frage ich verständnislos nach, weil ich mit diesen Buchstaben nichts anfangen kann.

»Posttraumatische Belastungsstörung«, antwortet Cord und das sagt mir zumindest was. Soldaten sollen daran ziemlich oft leiden, habe ich gehört, aber was das nun im Detail und vor allem für Tyler bedeutet, weiß ich nicht.

»Kannst du mir das in Worten erklären, die ich verstehe?«

»Eine PTBS kann als verzögerte Reaktion auf ein außergewöhnlich traumatisches Erlebnis entstehen. Zum Beispiel eine Frau, die nach einer Vergewaltigung im Parkhaus panische Angst vor Parkhäusern entwickelt. Ein Kind, das bei einem Autounfall im Wagen sitzt und sich fünf Wochen später auf einmal weigert, in ein Auto zu steigen. Ein Soldat, der im Krieg auf Menschen schießt und hinterher keine Waffe mehr in die Hand nehmen kann. Jemand, der misshandelt wird und bei jeder unerwarteten Berührung in dieses Erlebnis zurückfällt und sich wehrt. Ich weiß von einen Fall, in dem eine 8-jährige ihren Vater, als sie sich nachts etwas zu trinken holen wollte, mit einem Küchenmesser angegriffen hat, weil sie ihn für ihren Vergewaltiger hielt. Solche Angriffe oder auch andere Reaktionen, wie zum Beispiel Tylers Schlafen im Schrank, sind unmöglich vorherzusagen und immer sehr individuell. Jeder Mensch reagiert völlig anders auf belastende Erlebnisse und das macht eine Behandlung äußerst schwierig, in einigen Fällen sogar unmöglich. Als Tyler auf dich losging … Weißt du, wen er in der Sekunde wirklich angegriffen hat? Hat er etwas dazu gesagt?«

»Nein«, antworte ich leise und erzähle meinem Bruder, was Tyler stattdessen getan hat. Und dann passiert das, was immer passiert, denn Cord wertet nicht, er macht mir keine Vorwürfe, dass ich mich nicht früher gemeldet habe, und er warnt mich auch nicht vor Tyler, so wie Kade und meine Freunde es getan haben. Cord hört einfach zu und hilft mir damit ungemein.

»Wie viel wisst ihr über die Zeit seiner Gefangenschaft?«, fragt er ruhig, als ich zu Ende erzählt habe und nach meinem resignierten »Nichts.« schweigt er einige Zeit. Und weil ich das von ihm kenne, warte ich ab, bis er weiterspricht. »Hat er noch weitere Symptome? Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen oder Albträume? Ist er überdurchschnittlich aggressiv? Leidet er spürbar an Scham- oder Schuldgefühlen? Du hast gesagt, er spricht kaum mit euch?«

»Seit er hier ist, hat er keine zwanzig Wörter zu uns gesagt und du weißt, wie er früher war.«

»Er konnte nie die Klappe halten«, meint Cord trocken, was mich bei der Erinnerung daran ungewollt zum Lächeln bringt. Doch der heitere Moment vergeht so schnell, wie er gekommen ist, denn dieser Tyler von damals ist Geschichte und ich glaube auch nicht mehr daran, dass er je zurückkommt.

»Sein Verhalten macht mir Angst, Cord.«

»Ich weiß, und das ist völlig normal.«

»Rede nicht mit mir, als wärst du ein ...«

»Psychologe?«, kontert mein Bruder und lacht leise, als ich schnaube. »Ich bin es aber und genau aus diesem Grund rufst du mich doch an, Garrett. Allerdings kann ich dir leider keinen guten Rat geben, denn für einen so komplexen Fall wie Tylers bin ich nicht ausgebildet.«

»Bist du jetzt Seelenklempner oder nicht?«

»Wir bevorzugen allgemein die Bezeichnung Irrenarzt.«

»Cord!«

Er lacht erneut und steckt mich an, was Cord mit Sicherheit beabsichtigt hat. Manchmal ist mir mein eigener Bruder mit dieser manipulierenden Art echt unheimlich. Ich weiß, dass er das nicht in böser Absicht macht, denn er ist einfach ein guter Beobachter und er liebt seinen Job, aber mit ihm zu diskutieren ist dadurch fast ein Ding der Unmöglichkeit, weil er am Ende immer die besseren Argumente hat. Er kann Menschen viel zu gut einschätzen und sich dadurch perfekt auf sie einstellen.

»Was ich damit sagen will, ist, dass Tyler keinen Psychiater oder Psychologen braucht, sondern einen Traumaspezialisten.«

»Ist das nicht alles dasselbe?«

»Nein, ganz und gar nicht. Und bevor du fragst, dir das im Detail zu erklären, würde jetzt zu weit führen. Kurz gesagt, ein Traumaspezialist ist ein Psychotherapeut mit einer speziellen Ausbildung im Bereich Traumatologie, was im Grunde noch ziemlich vereinfacht ausgedrückt ist, aber so verstehst du mich wenigstens. Und diese Ausbildung habe ich nicht, daher kann ich es auf keinen Fall vor mir und schon gar nicht vor Tyler verantworten, ihm meine Hilfe anzubieten. Ich kann und ich werde dir und Kade zur Seite stehen, wenn ihr jemandem zum Reden braucht, aber Tyler wird auf lange Sicht gesehen mehr Unterstützung brauchen als jemanden, der ihm einfach zuhört. Doch bevor wir hier weiterreden … Garrett? Will er überhaupt Hilfe?«

Ich seufze ins Telefon, was Cord Antwort genug ist.

»Frag' ihn, Garrett.«

»In seinem Zustand?«

»Es ist für euch beide, nein, euch drei, wichtig, dass er seine Optionen kennt. Vielleicht ist ihm selbst überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen, dass es heutzutage gute Hilfsangebote für traumatisierte Menschen wie ihn gibt. Erzählt Tyler davon und lasst ihn selbst entscheiden.«

»Und wenn er Nein sagt?«

»Dann könnt ihr nicht viel tun. Solange er nicht sich selbst oder andere Menschen irgendwie gefährdet, sind Kade und dir die Hände gebunden. Es sei denn ...«

Ich weiß, was er sagen will, aber das mache ich nicht. »Ich werde ihn nicht anzeigen.«

»Bist du dir sicher, Garrett?«

Wenn ich das wirklich wüsste, wäre ich einen guten Schritt weiter, aber ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich Tyler nicht noch mal verlieren will. Das würde ich nicht verkraften. »Nein. Ja. Keine Ahnung. Ich will nicht, dass er in einer Zelle landet. Er braucht Hilfe, aber nicht solche. Tyler war fünf Jahre in der Hölle, was glaubst du, was es in ihm anrichtet, wenn ich ihn anzeige und man ihn wegsperrt?«

»Es könnte ihn seelisch völlig zerstören.«

Als hätte ich mit dieser Antwort nicht schon gerechnet. Ich schaudere trotzdem, und zwar nicht zu knapp. »Oh Gott ...«

»Es könnte, Garrett, aber es muss nicht so sein.«

Gänsehaut überzieht meine Arme und ich versuche sie mit energischem Reiben meiner Hand zu vertreiben. »Du hast ihn die letzten Tage nicht erlebt, Cord. Er ist ein Wrack. Ich meine, welcher erwachsene Mann schläft freiwillig auf dem Boden in einem Kleiderschrank? Ich … Ich habe Angst, dass ich es noch schlimmer mache, falls ich ihn anzeige. Oder überhaupt etwas tue. Es reicht schon, dass Kade ihm faktisch eine Tracht Prügel angedroht hat, falls Tyler mich noch mal anfasst.«

»Kade hat was?«, fragt Cord erstaunt und ich habe sofort das Bedürfnis, meinen Freund verteidigen zu müssen.

»Nicht wörtlich, aber ich kenne ihn und ich weiß, wie Tyler es verstanden hat. Er ist ausgetickt und das hat Kade genauso panische Angst gemacht wie mir. Weißt du, was er gestern von mir verlangt hat, als wir …?« Mist, das wollte ich ihm gar nicht erzählen, aber jetzt ist es zu spät, darum erzähle ich Cord auch noch den Rest und dass er nicht einmal flucht, beweist mir mal wieder, dass er für seinen Job wirklich perfekt geeignet ist. »Er gab sich am Ende damit zufrieden, dass ich das Handy immer in der Hosentasche behalte. Nur für alle Fälle.«

»Ein guter Vorschlag.«

Ich warte, doch mehr kommt nicht. »Das ist alles?«

»Im Moment ja.«

»Hm ...«, mache ich unzufrieden und ärgere mich darüber. Was habe ich denn erwartet? Die perfekte Lösung auf einem silbernen Tablett? So etwas gibt es nicht, auch wenn ich sie mir gerade in Bezug auf Tyler wünschen würde. Ich sehe erneut auf die Uhr. »Dein Patient kommt gleich.«

»Ich erwarte, dass ihr beide mich heute Abend anruft.«

Oh nein, bitte kein überschwängliches Bruderverhalten. Er weiß, dass ich das nicht leiden kann. Es reicht mir schon, dass Kade mich vor allem beschützen will. Tyler hat das früher auch gemacht und mich damit oft genug in den Wahnsinn getrieben. Ganz schlimm war es allerdings, wenn wir zu dritt unterwegs waren und Kade dann auch noch mitmischte.

»Cord ...«

»Spätestens sieben Uhr, ansonsten stehe ich um Punkt acht mit Mum und Dad vor eurer Tür.«

Ich zucke zusammen. »Oh Gott, sag' ihnen bloß nichts.«

»Das bleibt allein deine Entscheidung, kleiner Bruder. Und jetzt muss ich Schluss machen. Sieben Uhr, verstanden?«

»Ja«, murre ich und verdrehe die Augen, als er lacht, bevor er auflegt. Brüder im Allgemeinen und besonders meiner sind furchtbar. Ich schätze, es liegt daran, dass er fünf Jahre älter ist und meine Eltern gar nicht mehr mit mir gerechnet hatten. Das hat meinen Status als Nachzügler und Küken nicht viel leichter gemacht, vor allem nicht, weil ich als Kind sehr klein und auch verdammt zierlich war.

Ich war immer der Kleinste, also war ich auch immer der erste, den sich die Schulidioten zum Rumschubsen ausgesucht haben. Und ich mag nicht darüber nachdenken, wie schlimm es hätte werden können, wenn Cord mich nicht mit dem ersten Auto, das Mum und Dad ihm gekauft hatten, von der Schule abgeholt hätte. Er hatte an dem Tag seine Clique dabei, denn er war beliebt und das halbe Footballteam der Schule gehörte mit zu seinen besten Freunden. An dem Tag lag ich gerade in einer Pfütze, hatte eine blutige Nase und mein Rucksack wurde als Spielball zwischen den Schulidioten herumgeworfen, die mich dabei auslachten.

Das Lachen ist ihnen schnell vergangen, als plötzlich Cord mit seinen Freunden auftauchte und während einer mich aus der Pfütze pflückte und zum Wagen brachte, hat mein großer Bruder sich sehr leise mit den Schulidioten unterhalten. Was er zu ihnen gesagt hat, habe ich nie erfahren, aber nach diesem Tag wurde ich in der Schule nie wieder dumm angemacht oder in eine Pfütze gestoßen.

Cord hat seit jeher auf mich aufgepasst und das wird er für immer tun, schätze ich, und auch wenn es mich ab und zu sehr nervt, ist er immer der erste, zu dem ich mit meinen Sorgen und Problemen gehe. Das habe ich schon gemacht, als ich das erste Mal unglücklich verliebt war. Cord hat mir meine ersten Kondome gekauft und er hat einem Kerl, für den ich nur eine Kerbe im Bettpfosten sein sollte, ein blaues Auge verpasst.

Dann schrieb ich mich an der Uni ein, traf auf Tampa, Philli und Angel und stolperte am Ende über Tyler. Der Kleinste bin ich längst nicht mehr, aber für Cord wird das trotzdem niemals einen Unterschied machen.

 

Kade hat drei volle Einkaufstüten dabei, als er kurz vor sechs Uhr abends nach Hause kommt. Er grinst, als ihm mein überraschter Blick auffällt, und stellt die Tüten neben mich auf die Arbeitsfläche. »Ich wollte eigentlich nur ein, zwei T-Shirts und Hosen kaufen, aber die hatten eine Menge im Angebot, da habe ich zugeschlagen und gleich noch Unterwäsche, Socken und ein Paar Schuhe gekauft. Ist er oben?«

Ich nicke. »Wie immer.«

»Ich versuche mal mein Glück.« Kade schnuppert und wirft dann einen Blick in den Backofen. »Ist das Pizza?«

»Hat Tyler sich gewünscht.«

Kades Augen weiten sich. »Er hat mit dir geredet?«

Ich grinse. »In ganzen Sätzen.« Was ich immer noch kaum glauben kann, aber nach meinem Telefonat mit Cord stand er auf einmal an der Tür meines Arbeitszimmers und hat gefragt, ob er etwas essen darf, weil er Hunger hätte. Auf meine Frage hin, ob er mit mir frühstücken würde, hat er Ja gesagt und fast eine ganze Stunde mit mir in der Küche verbracht. »Wir haben zusammen gefrühstückt und er wollte wissen, wo du bist. Als ich es ihm sagte, scheinbar hatte er es vergessen, nickte er und hat mich gefragt, was du in dieser Werkstatt machst. Also habe ich es ihm erzählt. Am Ende hat er gefragt, ob er abwaschen soll, was ich verneinte, wegen dem Geschirrspüler. Als er nach oben zurückgehen wollte, fragte ich ihn nach einem möglichen Wunsch zum Abendessen und er hat mich gebeten Pizza zu machen. Danach ist er wieder in sein Zimmer verschwunden.«

»Eine ganze Stunde? Ernsthaft?«, fragt Kade und klingt so verblüfft, wie ich mich die ganze Zeit gefühlt habe, als ich mit Tyler in der Küche saß.

»Ich schwöre«, antworte ich nickend und dann grinsen wir beide wie zwei Idioten. Keine Ahnung, was das bedeutet, aber es muss einfach etwas Gutes sein. Dann fällt mir Cords Ansage wieder ein. »Wir müssen meinen Bruder anrufen.« Ich sehe zur Uhr. »Und zwar in einer Stunde, sonst schlägt er mit meinen Eltern noch heute Abend hier auf.« Ich schaue zurück zu Kade und sein überraschter Blick entlockt mir ein schiefes Grinsen. »Ich habe ihn heute Morgen angerufen und ihm alles erzählt. Wir sollen Tyler fragen, ob er dazu bereit wäre, eine Therapie zu machen.« Ich wedle mit den Händen in der Luft herum, als Kade eine Grimasse zieht. »Ja, ja, ich weiß, nicht unbedingt mit diesen Worten, aber er soll erfahren, dass es Möglichkeiten für traumatisierte Menschen wie ihn gibt und danach entscheiden, ob er sich Hilfe suchen möchte.«

»Würde Cord …?«

Mein Kopfschütteln lässt Kade verstummen. »Er wäre nicht objektiv, weil er Tyler kennt. Außerdem fehlt ihm die nötige Ausbildung dafür. Aber er würde uns helfen, und so wie ich meinen großen Bruder kenne, würde er alles tun, um jemand passenden zu finden, der Tyler wirklich helfen kann. Falls der das denn will.«

»Und wenn er nicht will?«

»Können wir nichts machen, es sei denn ...«

»Du zeigst ihn an«, führt Kade den Satz zu Ende und wirft mir einen prüfenden Blick zu.

Ich schüttle den Kopf und Kade seufzt, verkneift sich aber jedes Wort dazu, was auch besser ist. Ich will deswegen nicht wieder mit ihm streiten. Ich will, dass er mich versteht, dass er mir zustimmt, dass er auf meiner Seite ist. Aber ich schätze, darauf brauche ich nicht zu warten oder zu hoffen. Nicht nach Tylers Angriff auf mich, wobei mich selbst noch am meisten wundert, dass ich nicht das Bedürfnis habe, Tyler an seinem verbliebenen, gesunden Ohr zu packen und aus dem Haus zu werfen. Doch Angst hin oder her, ich kann es nicht. Und ich will es auch nicht. Tyler hat nur noch uns und um mich dazu zu bringen ihn aufzugeben, muss er schon mehr tun, als mich im Affekt halb zu erwürgen.

Und das weiß Kade, daher lassen wir das Thema fürs Erste stillschweigend fallen und kümmern uns stattdessen um Tylers neue Sachen und die Pizza. Mit beidem hat er allerdings nicht im Geringsten gerechnet, sein überraschter Blick verrät ihn, als Kade ihn überreden kann, runter in die Küche zu kommen. Wo dieses Misstrauen in alles und jeden herkommt, will ich lieber gar nicht wissen, obwohl ich mir meinen Teil dazu denke. Wer weiß, was die ihm in Afghanistan alles versprochen und nicht gehalten haben, bis Tyler irgendwann aufgehört hat, überhaupt noch an etwas zu glauben.

Egal. Das ist vorbei. Er ist hier und bei uns wird er immer in Sicherheit sein. Niemand wird ihn quälen oder schlagen oder ihm noch schlimmere Dinge antun. Tyler ist wieder zu Hause und ich werde alles dafür tun, dass er bleibt. Und da er für ein gutes Essen seit jeher zu haben war, dürfte die Pizza genau das Richtige sein, um mich langsam an das Thema Therapie für ihn heranzutasten.

Ich warte, bis wir alle am Tisch sitzen und der erste Hunger gestillt ist, ehe ich mir ein zweites Stück Pizza nehme und Tyler auch noch eines anbiete. Er nickt. Und danach versucht er sich an einem Lächeln. Es ist zögerlich und hält nicht lange an, aber dafür klingt seine Stimme fester als heute morgen, während er sich bedankt und Kade fragt, ob er noch ein Glas von der Cola haben darf.

»Ja, klar.« Kade schenkt ihm nach und nimmt sich hinterher ebenfalls ein weiteres Stück Pizza.

»Tyler?« Ich warte, bis er zu Ende gekaut hat und mir einen fragenden Blick zuwirft. »Weißt du noch, wer Cord ist?«

»Dein Bruder. Kinderpsychologe. Single. Unheimlich.«

Ich muss grinsen und Kade lacht sogar leise. Den Ruf wird Cord nie mehr loswerden. »Ja, stimmt. Und wenn ich ihm sage, dass du ihn immer noch für unheimlich hältst, wird er darüber lachen, genauso wie früher.«

Tyler widmet sich wieder seiner Pizza.

»Cord hat mich gebeten, dich etwas zu fragen.« Dieses Mal sieht er mich nicht an, aber er zieht die Schultern etwas hoch, so als würde er ahnen, dass ihm nicht gefällt, was ich von ihm wollen könnte. Tyler hatte schon immer ein recht gutes Gespür für solche Dinge, aber ich muss jetzt dranbleiben und ihm die Frage wenigstens stellen. »Er möchte wissen, ob du weißt, dass es psychologische Hilfsangebote für dich gibt.«

»Weiß ich.«

Ich sehe verdutzt zu Kade, der genauso überrumpelt wirkt. So schnell habe ich gar nicht mit einer Antwort gerechnet, um ehrlich zu sein. Ich räuspere mich leise. »Möchtest du, dass wir dir helfen, einen guten Therapeuten zu finden?«

Er legt das angebissene Pizzastück zurück auf seinen Teller. »Ich will nicht in eine Zelle.«

Ich schüttle sofort den Kopf. »Niemand wird dich in eine Zelle oder überhaupt irgendwo einsperren. Du kannst so lange bei uns bleiben, wie du willst. Wir möchten nur wissen, ob du dir vorstellen kannst, dich irgendwann, muss nicht heute oder morgen sein, mit einem Traumatherapeuten zu unterhalten.«

»Ich bin verrückt, oder?«, fragt er und scheint immer mehr in sich zusammenzusinken, während er anfängt, den Käse von der Pizza zu pulen. Herrje, hätte ich bloß nicht gefragt.

»Nein, Tyler, das bist du nicht«, antworte ich und will ganz automatisch seine Hand greifen, um ihm eine Stütze zu geben, aber er zuckt sofort zusammen und ich ziehe die Finger hastig wieder zurück. »Du hast eine Menge erlebt und das hat Spuren hinterlassen. Das weißt du, oder?«

»Weil ich im Schrank schlafe?«

»Unter anderem.«

Tyler sieht mich kurz an, dann pult er weiter den Käse vom Rand der Pizza. »Weil ich dich ...« Er bricht ab und zuckt ein zweites Mal zusammen, diesmal noch heftiger als zuvor, als Kade nach der Cola greift, was den sichtlich erschrocken innehalten lässt. Ich runzle die Stirn. »Tyler?«

»Warum hast du nicht zugeschlagen?«, fragt er auf einmal und hebt den Kopf, um Kade anzusehen, den er mit der Frage völlig aus dem Konzept bringt

»Was? Wie …? Ty ...« Kade räuspert sich und lässt von der Cola ab. »Warum hätte ich dich schlagen sollen?«

»Ich habe Garrett verletzt.«

»Das war doch keine Absicht«, kontert Kade und sieht mich ratlos an. Aber ich weiß auch nicht, worauf Tyler mit der Frage hinauswill, darum zucke ich hilflos mit den Schultern.

»Ich … Hm ...«

»Ty? Weshalb sollte ich dich schlagen wollen?«, fragt Kade erneut und jetzt will er eine Antwort, das sehe ich ihm an.

»Haben die auch immer gemacht.«

»Die?«

Tyler sagt nichts mehr, stattdessen senkt er hastig den Blick, stopft sich den Rest seines Pizzastücks komplett in den Mund und schlingt es förmlich hinunter, so als hätte er Angst, dass es die letzte Mahlzeit ist, die er von uns bekommt, ehe er sich ein drittes Stück nimmt und aus der Essecke flüchtet. Ich schätze, damit ist unser Gespräch beendet, nur haben wir jetzt immer noch keine Antwort auf die Frage, ob er dazu bereit wäre, mit einem Therapeuten zu reden. Im Gegenteil, wieder einmal sind neue Fragen dazugekommen, die weder Kade noch ich stellen wollen, aber ich kann einfach nicht anders.

»Glaubst du, sie haben ihn hungern lassen?«

Kades Antwort besteht darin, dass er die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresst und seinen Teller mit einem angewiderten Blick von sich schiebt. Auch mir ist die Lust auf Pizza gründlich vergangen, deswegen landet der Rest unseres Abendessens im Mülleimer und wir hinterher auf der Couch, wo wir fassungslos schweigend nebeneinandersitzen, bis um kurz nach sieben Uhr das Telefon klingelt.

Ich lasse es klingeln, aber Cord wäre nicht Cord, wenn ihn das aufhalten würde. Er ruft wieder an und beim vierten Mal fällt mir dann seine Drohung wegen unserer Eltern wieder ein. Also hebe ich ab, ohne etwas zu sagen.

»Dein Schweigen lässt vermuten, dass es nicht gut gelaufen ist«, sagt mein Bruder nach einer Weile und ich reibe mir leise seufzend über die Augen. »Erzähl' mir, was passiert ist«, bittet er daraufhin und ich tue es, nachdem ich das Telefon auf laut gestellt habe, damit Kade mithören kann, der jetzt meine Hand umfasst und sie festhält.

»Vielleicht solltet ihr eine Weile warten«, sagt Cord, als ich zu Ende gesprochen habe, und ich blinzle überrascht, weil ich damit nun gar nicht gerechnet habe.

»Hast du mir nicht erklärt, es wäre wichtig, dass er ...«

»Das habe ich«, unterbricht mich Cord ruhig. »Aber wie du heute Morgen schon richtig erkannt hast, ich habe Tyler weder gesehen noch kann ich ihn dahingehend einschätzen. Ihr seid es, mit denen er Zeit verbringt und bei denen er lebt. Kade und du müsst für ihn und natürlich auch für euch entscheiden, ob ihr Antworten wollt oder ob ihr, weil ihr seht oder instinktiv fühlt, dass der Zeitpunkt noch nicht der richtige ist, abwartet. Der Spruch, dass die Zeit alle Wunden heilen kann, der kommt nicht von ungefähr. Daher frage ich euch jetzt direkt, wollt ihr sofort Antworten von Tyler oder seid ihr der Meinung, es wäre zu früh dafür?«

»Zu früh«, antworten Kade und ich gemeinsam und sehen uns dann überrascht an.

»Das habe ich mir schon gedacht«, murmelt Cord und ich höre im Hintergrund eine Tür quietschen. Vermutlich ist es die Tür in den Garten raus, die er bereits seit Jahren ölen will, es aber immer wieder vergisst. »Was ihr mir erzählt habt, lässt im Grunde nur den Schluss zu, dass er sehr schwer misshandelt worden ist. Womit ich im Übrigen nicht nur seine sichtbaren Narben meine, die auf Schläge oder Folter hindeuten. Tyler hat Angst vor euch, wobei es ihm dabei nicht unbedingt um euch geht, das wisst ihr, oder?«

»Ja«, antworte ich, während Kade nickt.

»Ich glaube, Tyler sieht in euch eine Art sichere Konstante. Er ist nicht mehr der Mensch, der er einmal war, aber das heißt nicht, dass er vergessen hat, was ihr für ihn wart. Es kann sein, dass er sich an seine Erinnerungen an euch klammert. Dass er, ob bewusst oder nicht, sei jetzt mal dahingestellt, in euch eine Heimat sieht. Ein Zuhause. Nach fünf Jahren Gefangenschaft, wo es nirgendwo ein Versteck für Tyler gab, ist er nach seiner Rückkehr dorthin gegangen, wo er früher das hatte, was er im Moment ganz dringend braucht. Einen sicheren Ort.«

 

Tyler einen sicheren Ort zu bieten ist leicht.

Als bedeutend schwerer entpuppt sich in den kommenden Tagen allerdings, ihm das klarzumachen. Wenn Cord recht hat und das hatte er bisher immer, weiß Tyler im Grunde, dass ihm hier bei uns keinerlei Gefahr droht. Er weiß, dass wir ihn nicht schlagen oder hungern lassen würden. Er weiß, dass er immer zu uns kommen kann, dass wir ihm helfen, egal wobei, wenn er unsere Hilfe braucht. Er weiß das alles, da bin ich mir sicher. Tylers Problem ist nur, er glaubt nicht daran.

Anfangs habe ich es nicht bemerkt, aber mittlerweile lebt er seit über zwei Wochen bei uns und ich habe angefangen zu lernen, Tylers Blicke zu verstehen. Dieses unterschwellige Abwarten, sobald wir ihn einladen, uns in irgendeiner Form Gesellschaft zu leisten. Er nickt zwar fast immer, aber sobald Kade oder ich uns abwenden, folgt einer dieser Blicke, bei denen er sich fragt, ob wir es wirklich so meinen. Dadurch wirkt er auf uns immer wie auf dem Sprung, weil er automatisch erwartet, dass wir die Einladung zurücknehmen. Ihn zurückweisen.

Wir haben keine Ahnung, wie wir ihm begreiflich machen können, dass die Gefahr nicht besteht. Kade sagte letzte Nacht, dass er hofft, es gibt sich mit der Zeit von selbst, nur wie lange sollen wir darauf warten? Ich bin wohl zu ungeduldig, aber es macht mich völlig hilflos, zu wissen, dass Tyler keinen Funken Vertrauen mehr in uns hat. Dabei kann er kaum etwas dafür. Das kommt von seiner Zeit in Afghanistan. Er wäre schließlich nicht zurückgekommen, hätte er nicht ein gewisses Vertrauen in uns. Es fühlt sich nur einfach Scheiße an, helfen zu wollen, es aber nicht zu können.

»Ihr müsst weiter für ihn da sein, das ist im Moment alles, was für Tyler zählt. Er verlässt sich darauf, sonst wäre er nicht mehr bei euch.«

Cords Worte, und ich will ihm so gerne glauben. Ich will es wirklich, doch jedes Mal, wenn ich sehe, wie misstrauisch Tyler uns ansieht, sobald er glaubt, wir merken es nicht, zweifle ich aufs Neue daran. Er ist wie ein wildes, verletztes Tier und ich fürchte, dass er heftig nach uns schnappen wird, wenn wir im Umgang mit ihm einen Fehler machen. Das macht es für Kade und mich nicht gerade leichter, trotzdem hören wir nicht damit auf, ihn so gut wir können in alles einzubeziehen. Es ist zwar nicht so, dass er irgendwelche Pflichten hätte, aber wir fragen ihn vor jeder Mahlzeit, ob er mit uns essen will, und wir fragen auch jeden zweiten Abend, ob er nach dem Abendessen weiter Zeit mit uns verbringen möchte, um einen Film zu sehen oder ein Buch zu lesen.

Einmal konnten wir ihn dadurch schon dazu bringen, einen seiner alten Lieblingsfilme Armageddon mit uns zu schauen und vor ein paar Minuten hat er mir dabei geholfen, den Tisch fürs Frühstück zu decken. Kleine Schritte sind besser als gar keine und weil Samstag ist, ist Kade losgezogen, um frische Brötchen vom Bäcker zu besorgen. Sobald er zurück ist, frühstücken wir und danach wollen wir im Garten klar Schiff für den langsam eintrudelnden Herbst machen. Mal sehen, ob Tyler sich uns für eine Weile anschließt.

Aber zuerst wird gegessen und dazu gehört Kaffee, den ich pünktlich bei der Rückkehr von Kade fertig habe. Wir machen es uns am Esstisch gemütlich und Kade lässt die Brötchentüte rumgehen. Ich habe vorhin das Radio angestellt, um zu hören, was es in der Welt Neues gibt, es scheint allerdings der gleiche Irrsinn zu sein wie immer. Zumindest erzählt der Moderator nichts, was wir nicht schon wüssten, mal abgesehen von einem Sturm, der derzeit in Florida tobt.

Plötzlich fällt mir Tylers Blick auf. Seine Pupillen sind stark geweitet, er atmet merkwürdig abgehackt und starrt mit halb offenem Mund auf meine Hand. Ich sehe auf das Messer, mit dem ich die Marmelade aus dem Glas geholt habe, um sie auf meinem Brötchen zu verteilen. Erdbeere. Tyler mag Erdbeeren. Zumindest hat er das mal getan. Im Moment sieht er eher aus, als wäre die Marmelade gleichzusetzen mit dem Monster unter dem Bett, vor dem sich kleine Kinder fürchten.

Als Tyler anfängt blass zu werden, macht mich das nervös. Was hat er nur? Ich schaue zu Kade, der just in dem Moment innehält, weil er gemerkt hat, dass irgendetwas nicht stimmt.

»Ty?«, spricht er ihn leise an.

Keine Reaktion.

Ich lasse meine Hand langsam sinken und Tyler folgt der Bewegung mit seinen Augen. Er ist mittlerweile weiß wie eine Wand und atmet immer schneller. Panikattacke, sagt mir meine innere Stimme, nur was ich dagegen tun soll, weiß ich nicht. Es muss etwas mit dem Messer und der Marmelade zu tun haben, nur was? Moment mal. Erdbeeren sind rot. Wie Blut. Vielleicht assoziiert Tyler die Marmelade mit Blut?

Und vielleicht spinne ich mir hier gerade etwas zusammen, aber wir müssen etwas tun, und zwar umgehend. Bevor Tyler anfängt zu hyperventilieren und besinnungslos vom Stuhl fällt. Ihn weiter im Blick behaltend, streiche ich die Marmelade ganz langsam zurück ins Glas, lege danach das Messer zur Seite und schraube den Deckel ebenso langsam auf, bevor ich vorsichtig aufstehe und es aus seinem Blickfeld schaffe.

Es dauert mehrere Minuten, bis Tyler sich wieder regt und den Kopf in meine Richtung dreht. Sein kaum verständliches »Danke.« kommentiere ich nur mit einem Nicken, denn sonst fällt mir nichts ein, und schließlich erhebt sich Tyler mit einer Langsamkeit, als wäre er ein uralter Mann, dem alle Knochen wehtun, und verlässt den Essbereich ohne ein weiteres Wort.

»Was war das?«, fragt Kade kaum hörbar und sieht von der Tür zu mir und wieder zurück.

»Die Marmelade. Er muss irgendwas in ihr gesehen haben. Ich … Keine Ahnung … Blut vielleicht?«

Kade stutzt und sucht meinen Blick. »Weil sie rot ist?«

Ich nicke nur, aus Angst, Tyler könnte uns hören, aber Kade reicht es, denn er verzieht den Mund und sieht angewidert auf sein halb aufgegessenes Brötchen. Mir ist ebenfalls der Appetit vergangen, aber da mein Magen knurrt, zwinge ich mich dazu, wenigstens ein Brötchen zu essen und ich zwinge mit einem auffordernden Blick schließlich auch Kade dazu. Es reicht, dass Tyler zu dünn ist, wir müssen ihm das nicht nachmachen.

 

Als wir am frühen Nachmittag eine längere Pause machen, um nach Tyler zu schauen, liegt er zusammengerollt auf der Tagesdecke im Schrank und schläft. Und obwohl sein Anblick für mich nichts Neues ist, kann ich ihn auf einmal nicht länger ertragen. Das hört auf. Ich werde ihn nicht zwingen im Bett zu schlafen, das würde ich ihm nie antun, aber diese verdammte Decke kommt weg.

Wir haben irgendwo Ersatzkissen für unsere Gartenstühle. Eine Matratze in der Größe gibt es nicht, aber er wird in dieser Nacht nicht wieder auf dem harten Holz schlafen, damit ist ab sofort Schluss.

Am Abend steht Tyler auf, als Kade ihn fragt, ob er mit uns isst, und die Gelegenheit nutze ich. Ich muss eine Weile in der Kammer kramen, bis ich sie finde. Es wird Zeit, da drin mal so richtig aufzuräumen, aber das kann warten, entscheide ich und gehe zurück nach oben. Die Dusche läuft, Tyler ist also im Bad. Sehr gut.

Ein paar Minuten später habe ich den Boden des Schranks mit Kissen ausgelegt, darauf ein sauberes Laken ausgebreitet und die Tagesdecke gegen eine der vielen Kuscheldecken vom Sofa im Wohnzimmer getauscht. Für Kopfkissen und Bettdecke ist der Schrank schlicht zu klein, aber so muss Tyler wenigstens nicht mehr diese gottverdammte Decke benutzen, die ich keine Minute später stinksauer in die Mülltonne stopfe.

Ich weiß nicht mal, wieso ich plötzlich wütend bin, aber ich bin es und meine Männer spüren es beide, weil sie mir so gut sie können aus dem Weg gehen und das löst meinen Ärger am Ende in Luft auf, weil Tyler ohnehin schon genug Angst vor allem hat. Da muss ich nicht noch für weitere sorgen. Trotzdem vergeht das Abendessen schweigsam und das gilt auch für den Rest des Abends, den Tyler wieder einmal in seinem Zimmer verbringt, während Kade versucht einen Film zu sehen, es aber schnell aufgibt und mich stattdessen ins Bett zieht.

An Schlaf ist allerdings nicht zu denken und noch vor drei Wochen hätte Kade mich und sich einfach ausgezogen und auf seine Weise dafür gesorgt, dass wir gut schlafen können. Doch dafür sind wir nicht in Stimmung. Seit Tyler zurück ist, waren wir das nicht mehr, abgesehen von ein paar flüchtigen Küssen und harmlosen Umarmungen oder Streicheleinheiten. Heute ist es das erste Mal, dass mir das bewusst auffällt, nur, und das wundert mich dann doch, stört es mich nicht einmal.

Sex war für Kade und mich immer wichtig, aber momentan könnte man uns nackt aufeinander festbinden und trotzdem würde nichts passieren. Was bedeutet das für uns? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines, Tylers Heimkehr verändert Kade und mich. Er verändert unser Leben, unsere Beziehung, die Art und Weise, wie wir zueinander stehen.

Tyler stellt alles, was wir uns miteinander aufgebaut haben, langsam aber sicher vollkommen auf den Kopf und das gefällt mir nicht.

 

»Neeeeinnn!«

Tylers Schrei ist durchdringend und laut.

Ich bin aus dem Bett, bevor ich überhaupt richtig weiß, was ich tue. Kade erreicht die Tür einen Schritt vor mir und reißt sie auf. Bei Tylers nächstem Schrei stößt er bereits die Tür zum Gästezimmer auf, wo Tyler vor dem Schrank auf dem Boden liegt, halb eingewickelt in die neue Decke, die er offensichtlich für einen Angreifer hält, wird mir nach ein paar Sekunden klar, in denen Kade Licht gemacht und auf ihn zugestürmt ist.

»Tyl... Uff.«

Tylers geballte Faust trifft Kade hart am Kinn und lässt ihn mit einem schmerzhaften Laut zurücktaumeln. Ich greife nach ihm, bevor er hinfallen kann und ziehe ihn von Tyler weg, der die ganze Zeit total unverständliches Zeug murmelt und dabei heftig über Hände und Arme reibt. Es sieht fast danach aus, als würde er sich auf ziemlich rabiate Weise seine Hände waschen. Was zum …?

»Ich krieg' das Blut nicht weg. Da ist so viel Blut. Ich krieg's nicht ab. Es geht nicht weg.«

»Er hat einen Flashback«, flüstert Kade mir zu und bewegt seinen Kiefer. »Wahrscheinlich ein Albtraum … Nicht.« Er hält mich fest, als ich zu Tyler will. »Zu gefährlich.«

»Wir müssen doch irgendwas machen«, erwidere ich leise, obwohl Tyler uns wahrscheinlich nicht mal hören würde, wenn wir ihn anschreien, und sehe Kade fragend an. »Wir dürfen ihn da nicht so sitzen lassen, Kade.«

»Bleib außer Reichweite. Denk' an seine Ausbildung.«

Der Soldat spricht aus ihm, aber er hat recht. Darum nicke ich und gehe nur so weit an den Schrank heran, dass Tyler sich wie ein Schlangenmensch verbiegen müsste, um mich packen zu können. Und ich bezweifle ernsthaft, dass er das mit dieser Narbe schafft. Wir haben zwar immer noch keinen Schimmer, welche Art Verletzungen er hatte, aber seine große Narbe geht vom Hals runter bis über das Schulterblatt, und so wie Tyler manchmal abrupt innehält, wenn er den Arm bewegt, hat er dauerhaft Schmerzen.

Nicht dass er etwas sagen oder uns nach Schmerztabletten fragen würde. Nur wenn ich daran denke, werde ich wütend, und das ist im Moment nicht hilfreich. Darum schiebe ich den Gedanken an seine Verletzungen zur Seite und konzentriere mich auf Tyler und seine Worte von irgendwelchem Blut, das nicht da ist. Aber er sieht es gerade und wenn ich nach seinen Bewegungen gehe, muss es bis zum Ellbogen über seine Arme geflossen sein.

»Tyler?« Keine Reaktion. Ich glaube, er registriert gar nicht, dass wir hier sind. »Tyler?«, versuche ich es erneut, diesmal lauter, was er mit einem Zusammenzucken kommentiert und anschließend noch heftiger über seine Arme reibt. »Tyler, da ist kein Blut.«

»... geht nicht weg. Krieg's nicht ab … Klebt überall … Geht nicht ab. Sein Blut geht nicht ab.«

Wessen Blut? Ich wage es nicht, Tyler zu fragen, denn dann flippt er mit Sicherheit endgültig aus. Aber irgendeinen Weg zu ihm muss es geben. In welcher Erinnerung er im Moment auch gefangen ist, ich kann ihn hier nicht so sitzen lassen wie nach seinem Angriff auf mich in der Küche. Ob es funktioniert, wenn ich den US-Marine in ihm anspreche?

»Sergeant Tyler Mason, Dienstnummer ...« Ich rattere seine Zahlen herunter und frage mich dabei, warum ich die nach der langen Zeit überhaupt noch auswendig kann. Darum fällt mir auch erst verspätet auf, dass Tyler innegehalten hat. Ist das ein gutes oder schlechtes Zeichen? »Sergeant?«

»Sir?«

Es funktioniert tatsächlich. Gott sei Dank. »Da ist kein Blut, Sergeant«, sage ich bestimmt und mit der Hoffnung, ihn jetzt endlich zu erreichen, doch meine Hoffnung hält leider keine zehn Sekunden, dann schüttelt er hektisch den Kopf und das Reiben auf seinen Händen und Armen beginnt von vorn. Noch schneller dieses Mal.

Jetzt reicht es mir. Kades Warnruf ignoriere ich, als ich den Abstand zu Tyler überbrücke, mich furchtlos – was ich nicht bin, im Gegenteil – neben ihn hocke und einfach meine Hände auf seine lege. Plötzlich hält Tyler still und sieht mit gehetztem Blick zu mir auf.

»Tyler, schau hin und sieh dir unsere Finger an. Da ist kein Blut. Schau hin. Es sind nur wir. Nur unsere Haut, siehst du? Deine ist dunkler als meine, ich gehe immer noch viel zu selten raus in die Sonne. Früher hast du deshalb mit mir geschimpft. Guck hin.« Er tut es. Endlich. Und sein Atem wird ruhiger, als ich meine Hände ganz langsam drehe, damit ich seine leicht festhalten kann, weil ich nicht will, dass er sich durch meinen Griff wieder gefangen fühlt. »Siehst du, nur du und ich«, sage ich und drücke kurz seine Finger.

Es fühlt sich seltsam an, seine linke Hand zu halten, wegen der beiden Finger, die ihm fehlen, aber es sind trotzdem noch seine Hände. Er ist immer noch mein Tyler. Zumindest auf den ersten Blick.

»Bin müde«, nuschelt Tyler auf einmal und gähnt. »Darf ich wieder schlafen gehen, Sir?«

Großer Gott, er ist überhaupt nicht hier. Ich weiß nicht, was mich mehr schockiert, dass Tyler so stark in dieser Erinnerung gefangen ist oder die Tatsache, dass nicht mal meine Stimme ihn von dort wegholen konnte. Er hält mich für einen seiner ehemaligen Vorgesetzten, schätze ich, aber wenigstens hat er mit dem Wegwischen des nicht vorhandenen Blutes aufgehört. Er fängt auch nicht mehr damit an, als ich ihn loslasse, sondern kriecht auf allen Vieren zurück in den Kleiderschrank, wickelt die flauschige Decke um sich und zieht die Tür zu.

Und ich? Ich hocke da und starre entgeistert die Tür an, bis Kade mich schließlich auf die Beine holt und aus dem Raum führt. Zurück ins Schlafzimmer.

Wo wir die restliche Nacht nebeneinander im Bett liegen und schweigend an die Decke starren.

 

 

Kapitel 4

 

 

 

 

Es ist September geworden und der Herbst zeigt sich schon seit zwei Wochen von seiner schönsten Seite.

Bei uns zu Hause wird die Stimmung hingegen von Tag zu Tag schlechter. Ich habe mich mit Kade gestritten. Und zwar so heftig und laut, dass es bei Tyler einen Flashback ausgelöst hat, der darin gipfelte, dass er stundenlang zusammengerollt und zitternd im Wohnzimmer hinter der Couch vor der Wand lag, jedes Mal vor uns zurückwich und am Ende anfing zu weinen, als ich ihn leise ansprach.

Danach wollte Kade ihn nur noch bestimmter in eine Klinik einweisen lassen, was auch der Grund für unseren vorherigen Streit war, weil wir Tyler nicht helfen können. Jedenfalls nicht in der Weise, wie er Hilfe braucht. Professionelle Hilfe. Doch mein schlechtes Gewissen lässt das nicht zu. Vielleicht sehe ich die Lage wirklich nicht klar, so wie Kade es mir vorgeworfen hat, aber Tylers letzter Ausbruch war eindeutig unsere Schuld und da kann Kade mir noch so oft ins Gewissen reden, dass Tyler eine Gefahr für sich selbst und für uns ist. Hätten wir uns nicht angeschrien, wäre es nicht so weit gekommen, dass Tyler aus panischer Angst vor uns auf dem Fußboden lag und wimmerte wie ein Baby.

Das ist mittlerweile vier Tage her und seitdem sitzt Tyler, abgesehen von kurzen Abstechern ins Bad, nur noch in seinem Zimmer im Schrank. Er isst, wenn ich ihm etwas hinstelle und so lange vor dem Schrank sitzenbleibe, bis er aufgegessen hat, ansonsten rührt er nichts an. Dasselbe ist es mit dem Trinken. Ich mache mir langsam ernsthaft Sorgen um ihn, weil das kein Dauerzustand sein darf und vor allem, weil er von Kade leider überhaupt nichts mehr annimmt. Stattdessen zuckt Tyler jedes Mal zurück, wenn wir zusammen ins Zimmer treten und das verkraftet Kade gar nicht gut. Im Gegenteil.

Aber da ich einen verfluchten Dickschädel als Freund habe, tut er natürlich so, als wäre alles in Ordnung. Als würde ich es nicht sehen, wie sehr Kade sich für unseren Streit mittlerweile schämt und wie weh es ihm tut, dass Tyler seitdem panische Angst vor ihm hat.

Ich habe Cord davon erzählt und er stimmt Kade zu. Tyler braucht Hilfe, die wir ihm nicht geben können. Er sagt aber auch, dass diese Hilfe nichts bringen würde, solange sie nicht gewünscht ist. Und Tyler weicht jeder neuen Frage nach einer Therapie mit Schweigen aus. Auch davon habe ich meinem Bruder erzählt, woraufhin er mir in seiner schnörkellosen und direkten Art gesagt hat, dass wir leider nur zwei Möglichkeiten haben. Entweder sind wir mit Tyler weiter geduldig oder wir werfen ihn raus.

Mein Problem daran ist nur, ich weiß langsam nicht mehr, wo ich diese Geduld hernehmen soll. Kade hat das Glück, dass er jeden Tag zur Arbeit gehen kann, doch ich sitze in unseren vier Wänden fest und ertappe mich immer öfter dabei, dass ich wie auf Eierschalen durchs Haus schleiche, um Tyler bloß nicht ungewollt zu erschrecken. Und das zerrt mehr und mehr an meinen Nerven.

Vorgestern habe ich Tyler deswegen sogar angefaucht, weil ich es plötzlich leid war, ständig auf ihn Rücksicht zu nehmen. Er hat mich angesehen wie ein zu Tode erschrecktes Kaninchen und seither kein einziges Wort mehr gesagt.

Ich gehe nervlich auf dem Zahnfleisch und ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann.

Morgen hat Kade Geburtstag, doch ich bezweifle ernsthaft, dass er Lust auf eine Feier hat. Gesagt hat er jedenfalls nichts, ich habe ihn auch nicht gefragt. Wir haben uns noch nie etwas geschenkt und wäre meine Familie nicht so versessen auf diese ganzen Feier- und Geburtstage, würden wir gar nichts machen. Aber zumindest über Weihnachten haben wir bei ihnen auf der Matte zu stehen, obwohl das in diesem Jahr schwierig werden wird, wenn sich bei Tyler bis dahin nichts ändert.

Dabei hat sich sogar etwas geändert. Nur leider ist es nichts Gutes, im Gegenteil, es macht mir jedes Mal höllische Angst, wenn es passiert. Eine Woche nach seinem Albtraum ist Tyler das erste Mal verschwunden. Wie lange weiß ich nicht, da mir erst mittags auffiel, dass sein Zimmer leer ist. Ich weiß nicht, warum er das Haus verlassen hat, denn es gab keinen Streit an dem Morgen. Auf einmal war er weg und kam erst am Abend zurück. Da gab es dann allerdings Streit, weil ich mir natürlich Sorgen gemacht habe. Tyler hat ihn beendet, indem er die Tür des Gästezimmers hinter sich abschloss.

Seither war er insgesamt fünf Mal stundenlang weg und ich bekomme jedes Mal die Krise, wenn es mir auffällt. Er kommt immer abends zurück und scheint sich auch nichts zu tun, weil mir eine blutige Nase oder ähnliches auffallen würde, aber die Angst um Tyler bleibt.

Da ist es mir fast noch lieber, er hockt den ganzen Tag über im Schrank, so weiß ich wenigstens, wo er ist. Nur hilft mir das heute auch nicht. Ich kann mich einfach nicht auf meine Arbeit konzentrieren, dabei müsste ich einiges schaffen, denn morgen findet in der Nähe ein Herbstmarkt statt und Kade will mit mir unbedingt hinfahren. Um aus dem Haus zu kommen, sagt er. Und er will Tyler heute Abend fragen, ob er mitkommt.

Was ich zwar nicht glaube, aber zumindest den Versuch ist es wert. Mit der leeren Kaffeetasse in der Hand mache ich mich auf den Weg in die Küche, um neuen aufzubrühen.

Ich weiß nicht, wer von uns sich mehr erschreckt, als Tyler, der vor dem offenen Kühlschrank steht, sich zu mir umdreht. Allerdings bin ich der erste, der sich von der Überraschung erholt und grinsen muss, da Tyler ein Würstchen im Mund hat, auf dem er gedankenlos kaut, während er zwei weitere in der Hand hält. Er isst endlich wieder. Und zwar aus freien Stücken. Gott sei Dank.

»Schmeckt's?«, frage ich und mein amüsierter Tonfall löst die Anspannung aus Tylers Körper. Er nickt, grinst kurz und kaut weiter. »Soll ich uns was kochen?« Seine Reaktion ist ein Schulterzucken und das nehme ich jetzt mal als Zustimmung. »Wie wäre es mit einer schnellen Suppe zu den Würstchen? Sind überhaupt noch welche da?«

»Drei.«

Ich muss lachen. »In der Packung waren zehn Stück, du Vielfraß.«

»Hatte Hunger«, murmelt Tyler beschämt und ein dunkler Schatten legt sich über sein Gesicht. Aber als ich darauf nicht weiter reagiere, sondern stattdessen lächelnd einen Topf aus dem Schrank nehme, scheint er zu verstehen, dass ich nicht auf ihn böse bin, sondern mich amüsiere. Er schaut auf die beiden Würstchen in seiner Hand, überlegt eine Weile und räuspert sich schlussendlich. »Machst du Nudeln?«

»Zu Würstchen?«

Tyler nickt. »Mit Tomatensoße.«

Von mir aus. Das spart mir das Anbraten vom Hackfleisch und geht außerdem schneller. »Okay. Hilfst du mir?«

Er zögert, nickt dann aber. »Weiß nicht mehr wie.«

»Ich erklär's dir. Ist ganz einfach«, sage ich und reiche ihm den Topf. »Zur Hälfte mit Wasser füllen, bitte.«

 

Die nächste Stunde vergeht in einer so vertraut wirkenden Zweisamkeit, dass ich beinahe vergessen könnte, wie schlimm es um Tyler steht, würde er mich nicht ständig daran erinnern. Er zuckt immer noch regelmäßig bei zu schnellen Bewegungen zusammen und schaut sich immer wieder nach alle Seiten um, als würde er auf einen Hinterhalt warten, den er hier nicht zu befürchten hat. Es sei denn, das Gras im Garten probt bald den Aufstand, weil wir beim Aufräumen letzten Monat vergessen haben es zu mähen.

»Ich schlafe im Schrank.«

Der Satz kommt so unerwartet, dass ich Tyler überrumpelt ansehe. Erst beim zweiten Versuch gelingt mir ein Nicken, weil er eindeutig eine Reaktion von mir erwartet. »Ja, ich weiß.«

»Willst du wissen warum?«

»Ja«, antworte ich sofort, denn das fragen Kade und ich uns schon seit Wochen und ich für meinen Teil finde nicht mal eine halbwegs logische Erklärung dafür. Wäre er ein Junge, würde ich glauben, dass er Angst hat, genauso wie ich früher vor dem Monster unter meinem Bett, aber Tyler ist 34 Jahre alt. Aus welchem Grund schläft ein erwachsener Mann in einem Kleiderschrank?

Tyler erhebt sich und trägt unsere Teller zur Spüle, um sie ordentlich in den Geschirrspüler einzuräumen. Es folgen der Topf und das Besteck und dann mein Glas, weil ich beim Essen etwas getrunken habe. Danach schließt er die Maschine, wartet schweigend ab, bis ich ihm gesagt habe, wie man sie anstellt, und setzt sich anschließend wieder zu mir an den Esstisch. Er faltet die Hände ordentlich vor sich auf den Tisch und meidet meinen Blick.

»Es ist der einzige Ort, an dem ich mich noch sicher fühle. Im Schrank ist es stockdunkel und ich mache immer die Tür zu. Dann kann mich keiner sehen. Niemand kann mich finden, lachend eine Granate nach mir werfen oder auf mich schießen. Niemand kann mich anschreien, auf mich pinkeln und mich anspucken ... Oder mir drohen, mich zu Tode zu foltern, wenn ich mich noch einmal weigere, meinen Freund und Kameraden zu vergewaltigen.«

Grundgütiger. Mir fehlen die Worte, so entsetzt bin ich von seiner Erzählung. Natürlich habe ich mir ausgemalt, was alles mit ihm passiert sein könnte, aber es zu denken, ist etwas ganz anderes als es zu hören. Glaube und Wissen sind nicht ein und dasselbe. Im Gegenteil. Und ich fange an zu ahnen, dass das, was ich bislang glaubte, nur die Spitze dessen ist, was man Tyler in diesen fünf elendig langen Jahren angetan hat.

Und darum will ich eigentlich auch nicht fragen, aber wenn ich es nicht tue, werde ich jede freie Minute damit verbringen, mir das Schlimmste auszumalen. Hat er es getan? Hat er seinen Kameraden vergewaltigt, um am Leben zu bleiben? Man sagt zwar immer, dass es manchmal die bessere Entscheidung ist, keine Antwort zu verlangen, aber in diesem Fall gilt das nicht. Jedenfalls nicht für mich, denn ich habe eine zu ausgeprägte Fantasie. Ich muss wissen, ob Tyler getan hat, wozu sie ihn mit ihrer Folter zwingen wollten.

»Dein Kamerad … Hast du ...? Ich meine … Wurde er …?« Ich schaffe es einfach nicht, die Worte auszusprechen und ich bin heilfroh, dass sein Blick auf den Esstisch gerichtet bleibt.

Tyler antwortet nicht und als ich schon glaube, dass er mich überhaupt nicht gehört hat, was mich nicht wundern würde, so weit weg wie er immer ist, wenn er einen seiner Flashbacks hat, hebt er plötzlich den Kopf und sieht mich an. Dieser Blick. Oh Gott, hätte ich bloß nicht gefragt. Was auch immer er getan hat, muss schlimmer gewesen sein, als die von ihm geforderte Vergewaltigung.

Mir wird kotzübel, während diese einst so wunderschönen und meist fröhlich dreinschauenden, blauen Augen mich bar jeden Gefühls ansehen. Er ist gerade wieder da drüben. In der Hölle, die fünf Jahre sein Leben war. Und während ich seinen Blick erwidere, fange ich an, mich zu fragen, ob er sie je wieder verlassen wird.

Tyler blinzelt und sieht weg. »Nein, ich habe Johnny nicht vergewaltigt.«

Gott sei Dank.

»Ich habe ihn erschlagen.«

Ich erstarre auf meinem Stuhl. »Was?«

»Sie haben gesagt, dass sie es tun. Dass sie ihn mit allem ficken würden, was sie finden könnten. Sie würden es machen, bis er tot ist und ich müsste dabei zusehen, bevor sie mit mir das gleiche tun und mich, falls ich überlebe, totschlagen wie einen räudigen Köter.«

Mein Magen hebt sich. Mir ist so schlecht.

»Er war wie ein Spielzeug für sie, also habe ich ihnen das Spielzeug weggenommen.«

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich weiß nur, dass ich mich gerade weit weg wünsche. Wahlweise wäre auch eine Menge hochprozentiger Alkohol in Ordnung, um mich solange zu betrinken, bis ich jedes seiner Worte wieder vergessen habe. Als Tyler abrupt aufsteht, zucke ich zusammen, doch er achtet gar nicht auf mich, sondern verlässt die Essecke ohne ein Wort. Wenig später fällt die Haustür hinter ihm ins Schloss und ich sitze einfach stumm da und lasse ihn gehen.

Was soll ich auch sonst tun?

 

Es ist Kade, der am Abend als erster die Haustür öffnet. Er kommt in letzter Zeit häufiger später nach Hause und anfangs habe ich das auf seinen Job geschoben. In einer Autowerkstatt ist schließlich ständig was los, nicht wahr? Aber nach meinem Anruf vorhin, weil Tyler noch nicht zurück ist und ich die Stille im Haus nicht mehr länger aushielt, bei dem Kades Chef mir erzählte, dass mein Freund seit Wochen jeden Nachmittag früh Feierabend macht, wurde mir endgültig klar, dass ich mir etwas vormache.

Und innerlich habe ich das längst gewusst. Mir fehlte nur der Mut, um der Wahrheit endlich ins Auge zu sehen. Aber die vergangenen Stunden, seit Tyler gegangen ist, waren lang und ich hatte verdammt viel Zeit zum Nachdenken. Kade kommt mit dem neuen Tyler absolut nicht zurecht und zieht sich mehr und mehr von mir, von uns, zurück. Dabei ist offensichtlich, dass Tyler uns gemeinsam braucht. Egal wie groß unsere Angst in diversen Situationen vor ihm ist oder wie sehr Tyler sich manchmal vor uns fürchtet, wir zwei sind das Einzige, was ihn am Leben hält.

Wenn Kade geht und uns verlässt, weil er dem Druck nicht standhält, wird Tyler irgendwann durchdrehen. Ich kann ihm nicht helfen, ich bin kein Arzt, und solange er sich weigert eine Therapie zu machen, ist er eine tickende Zeitbombe. Das weiß ich und ich weiß ebenfalls, dass ich mich schleunigst von ihm distanzieren sollte, ehe er vollends ausflippt, aber ich kann es nicht. Ich kann Tyler nicht in dieser Welt alleinlassen, zu der er nicht mehr gehört.

Doch bis vor wenigen Stunden hatte ich noch geglaubt, mit Tyler nicht allein zu sein. Ich hatte geglaubt, einen Partner und Freund zu haben, der zwar mit Tyler einige Probleme hat, aber wenigstens für mich da ist. Ich hatte geglaubt, Kade wäre mein Fels in der Brandung und meine Schulter zum Anlehnen, wenn ich sie brauche. Und was ist jetzt? Er belügt mich. Weil er es in unserem Haus nicht mehr aushält. Mein Gott, was soll ich nur machen, wenn er uns wirklich verlässt?

»Garrett?«

»Im Wohnzimmer.«

Er tritt durch die Tür und stutzt, denn ich sitze im Dunkeln auf der Couch. »Warum hast du kein Licht an?«

»Ich habe nachgedacht.«

»Worüber?«

»Über die Frage, wieso mein Partner nicht in der Arbeit ist, wenn ich dort anrufe, weil ich seine Hilfe gebraucht hätte.«

Kade schweigt. Allerdings nur kurz, dann schnappt er nach Luft und im nächsten Augenblick geht das Deckenlicht an. Ich muss wegen der überraschenden Helligkeit blinzeln und als ich mich daran gewöhnt habe, hockt er schon vor mir und sieht mich panisch an.

»Geht es dir gut? Was ist passiert?« Sein Blick schweift über mich, dann sieht er zur Tür. »Wo ist Tyler?«

»Wo warst du?«, will ich von ihm wissen, anstatt auf seine Fragen einzugehen und stoße seine Hände ruppig weg, als er nach meinen Fingern greift. »Wo bist du in den letzten Wochen gewesen, als ich dachte, du wärst arbeiten?«

Seine Augen weiten sich, dann lächelt er traurig und zieht sein Handy aus der Tasche. Er sucht eine Nummer heraus und wartet, bis sich eine Verbindung aufbaut. »Ich bin's … Nein, es geht uns nicht gut … Ja, er sitzt direkt vor mir und ich gebe ihn dir jetzt, damit du ihm bitte erklärst, wo ich im letzten Monat war, weil ich befürchte, dass er glaubt, ich würde ihn und Tyler verlassen wollen … Ja, danke.«

Kade reicht mir das Handy und ich bin viel zu irritiert, um weiter nachzufragen. Stattdessen nehme ich das kleine Gerät ans Ohr und lausche.

»Garrett?«

Ich blinzle verblüfft. »Cord?«

»Hey, kleiner Bruder.«

»Was …? Wie …? Ich ...«

»Warte. Hör' mir jetzt einfach nur zu, okay?«

»Okay.«

Und während mein Bruder erzählt, dass er sich seit Ende August um Kade kümmert, nachdem der ihn heimlich darum gebeten hat, weil mein Freund panische Angst hat, bei Tyler aus Versehen etwas verkehrt zu machen und einen noch viel schlimmeren Flashback auszulösen als letztes Mal, komme ich mir mehr und mehr wie ein Vollidiot vor. Und ich glaubte, er will Tyler, mich, uns, verlassen.

»Es tut mir leid, Kade«, murmle ich schließlich, als Cord zu Ende gesprochen und aufgelegt hat, damit er sich auf den Weg zu uns machen kann. Er wird das kommende Wochenende auf unserer Klappcouch im Arbeitszimmer verbringen, um sich ein Bild von unserer Lage zu machen. Aber vor allem von Tylers Zustand. Ich gebe Kade das Handy zurück, der es wegsteckt und mich vom Sofa runter auf seinen Schoß zieht.

»Ich liebe dich, Garrett, und ich habe eine Scheißangst, weil ich einfach nicht mit Tyler umgehen kann. Bei dir sieht das so leicht aus, wenn du mit ihm redest, und ich bin … bin …«

»Was?«

»Ein eifersüchtiges Arschloch.«

Auf einmal wird mir alles klar und ich löse mich ein Stück von ihm, um ihn ungläubig anzusehen. »Du denkst tatsächlich, dass Tyler und ich … Kade!« Er weicht meinem Blick beschämt aus, was mich wütend schnauben lässt. »Du hast recht. Du bist ein Arschloch.«

»Es tut mir leid.«

»Weiß Cord davon?«

»Ja«, gibt Kade leise zu. »Er hat mir deswegen verbal einen ziemlich heftigen Arschtritt verpasst.«

»Gut«, brumme ich tadelnd und lehne mich wieder an ihn. Wie kommt er bloß auf so eine Idee? Nicht zu fassen. Als hätte ich daran irgendein Interesse. Herrje, mir fehlen wieder einmal die Worte. Jedenfalls die vernünftigen. »Blödmann.«

»Sorry«, nuschelt er in mein Haar und umarmt mich. »Ist er wieder abgehauen?«, fragt Kade nach einiger Zeit, die wir nur dasitzen und uns aneinander festhalten. Auf mein Nicken hin seufzt er. »Sollen wir ihn suchen gehen?«

»Und wo?«, kontere ich, denn auch wenn ich den gleichen Gedanken hatte, es ist sinnlos.

Chicago ist riesengroß und Tyler seit Stunden weg. Er mag zwar zu Fuß unterwegs sein, aber ich glaube, er will jetzt nicht gefunden werden, sonst würde er ja nicht gehen. Nein, es ist besser, wenn wir auf ihn warten, damit er nicht in ein leeres Haus zurückkommt. Außerdem ist Cord bald hier und ich will mir gar nicht ausmalen, wen er alles anruft und aufschreckt, falls wir ihm nicht gemeinsam die Tür öffnen. Mein Bruder ist da gnadenlos und ich kann mich jetzt nicht mit meinen Eltern oder den Jungs auseinandersetzen. Noch nicht.

Sie haben zwar nichts gesagt, als ich unseren Männerabend auf den Oktober verschoben habe, aber ich weiß, dass sie sich Sorgen machen. Und ich weiß ebenfalls, dass sie bei uns auf der Matte stehen, sollte ich das nächste Treffen mit ihnen auch sausen lassen. Aber bis dahin habe ich noch ein paar Wochen Zeit und in denen kann eine Menge passieren.

 

Kades Geburtstag beginnt mit wunderbarem Herbstwetter und der Erkenntnis, dass selbst mein Bruder nicht für alles eine Lösung parat hat. Vor allem nicht für einen Ex-Marine namens Tyler Mason, der Cord bei seiner Rückkehr gestern Abend mit einem knappen Blick bedacht und danach stoisch ignoriert hat, während wir gemeinsam gegessen haben.

Cord schien sein Verhalten allerdings ziemlich amüsant zu finden, wollte mir auf meine Nachfrage hin aber nicht erklären wieso. Ich würde es bald selbst herausfinden, war sein einziger Kommentar, nachdem ich Kade und ihm erzählt hatte, was Tyler mir über Afghanistan gesagt hat. Was auch immer das bei Cord heißen mag. Zur Strafe habe ich ihn dazu verdonnert für uns Brötchen zu holen, mit denen er vor wenigen Minuten wieder in der Küche stand und mittlerweile sitzen wir alle am Tisch und genießen das ruhige Frühstück, ehe wir nachher zu diesem Markt fahren. Zu dritt übrigens, denn Tyler will nicht mitkommen.

Apropos Tyler …

Irgendwas ist heute seltsam an ihm. Also noch seltsamer als sonst. Es kommt mir vor, als wäre er sauer, aber vielleicht irre ich mich auch, denn er lässt sich nichts anmerken, während er sein Brötchen aufschneidet.

»Hat Kade dir eigentlich erzählt, dass ich ihn auf unseren Einsätzen gerne gefickt habe?«

Kades Messer macht ein widerliches Geräusch, als es über den Teller kratzt, während ich Tyler sprachlos anstarre. Er hat den Blick auf seinen Teller gerichtet und schmiert sich in aller Seelenruhe sein Brötchen weiter, das ich ihm in der nächsten Sekunde am liebsten in die nachwachsenden Haare schmieren würde. Nachdem ich ihm die Kanne mit dem Kaffee über den Kopf geschüttet habe.

Cords Hand auf meinem Unterarm hält mich davon ab und als ich zu ihm sehe, schüttelt mein Bruder bestimmt den Kopf. Mir fällt wieder ein, was er uns gestern vor dem Zubettgehen gesagt hat. Dass er als Gast die Dynamik zwischen uns dreien verändert, vor allem weil Tyler weiß, welchen Beruf er ausübt, und dass er darauf mit großer Wahrscheinlichkeit reagieren wird. Und sobald das geschieht, dürfen wir uns auf gar keinen Fall von ihm provozieren lassen. Weil Tyler nicht wirklich böse ist, sondern im Grunde unsere Hilfe will. Doch er kann nicht darum bitten, dann müsste er seinen Stolz aufgeben, und der ist alles, was ihm geblieben ist. Also greift er uns lieber an. Das ist ein komplett verqueres Denken, aber bei Männern wie Tyler nicht selten.

Cord ist vielleicht kein Traumatherapeut, er hat aber genug Berufserfahrung, um zumindest Kade und mir zu helfen, mit Tylers Ausbrüchen in Zukunft besser zurechtzukommen. Und im Moment sagt mir sein Blick, dass ich Tyler jeden Wind aus den Segeln nehmen muss, also werde ich das tun.

»Ja, das hat er.«

Tylers Bewegungen stocken kurz, aber unübersehbar, dann schmiert er sein Brötchen weiter. »Und?«

Ich habe keine Ahnung, was er vorhat, aber seine Reaktion macht mich wütend und deshalb werde ich ihn jetzt auflaufen lassen, und zwar eiskalt. »Er sagt, ich kann es besser als du.«

Kade hat nichts dergleichen gesagt. Er hat mir nicht einmal erzählt, dass zwischen den beiden etwas war, aber das werden wir nachher klären. Auch wenn Kade mittlerweile so blass ist, dass er aussieht, als würde er gleich vom Stuhl fallen, er hält durch, als ich ihm kurz zunicke. Ich bin nicht sauer, glaube ich jedenfalls. Egal. Das muss jetzt warten. Ich will nur, dass Kade versteht, dass ich trotzdem zu ihm halte und das habe ich mit meinem Nicken erreicht.

Es kommt zudem in letzter Sekunde, denn auf einmal lässt Tyler das Messer sinken und hebt den Kopf, um mich über den Tisch hinweg anzusehen. Ich erwidere seinen Blick schweigend und offensichtlich mache ich damit genau das Richtige, denn Tyler wird plötzlich unsicher. Sein Adamsapfel bewegt sich, als er einmal schluckt, so als würde er gleich etwas sagen wollen, doch stattdessen legt er das Messer auf den Teller, erhebt sich und verlässt schweigend den Essbereich. Wenig später fällt ein Stockwerk über uns die Tür vom Gästezimmer ins Schloss und wir atmen geschlossen aus.

»Gut gemacht«, sagt Cord und nimmt seinen Teller mit den fertig belegten Brötchenhälften, bevor er aufsteht. »Ich bin im Arbeitszimmer. Ihr solltet darüber reden.«

»Das war Absicht von Ty, oder?«, fragt Kade leise und Cord nickt. »Er hat das gesagt, um uns zu verletzen.« Mein Bruder nickt erneut. »Aber wieso? Warum ausgerechnet heute?«

»Sag' du es mir.«

»Woher soll ich das denn wissen?«

»Du weißt es, Kade. Ihr beide wisst es. Aber ihr seid noch lange nicht dazu bereit, euch damit auseinanderzusetzen, was im Übrigen auch für Tyler gilt. Und jetzt sprecht darüber, was er eben preisgegeben hat, damit er das kein zweites Mal gegen euch einsetzen kann.«

Mit den Worten lässt er uns in der Essecke allein und damit kehrt Schweigen ein. Happy Birthday, mein Schatz, denke ich nach einem Blick auf den Kalender zynisch. Der Tag ist fürs Erste gelaufen und es dürfte außerdem ein recht denkwürdiger 24. September für uns bleiben.

Mein Ex-Verlobter und mein derzeitiger Lebenspartner, die damals zufällig die besten Freunde waren, haben also während ihrer Einsätze miteinander gefickt, wie Tyler es so wunderbar ausgedrückt hat. Tyler hat mich betrogen und Kade … Nun ja, irgendwie hat er es wohl auch getan, immerhin waren wir alle befreundet und das macht mich dann zum Depp vom Dienst, der nichts bemerkt hat.

»Ich hoffe, ihr habt euch gut über mich amüsiert.«

Kade sieht mich schockiert an und schüttelt den Kopf. »Das ist nicht ...«

»Was? Es ist nicht wahr? Willst du jetzt etwa leugnen, dass ihr im Ausland euren Spaß hattet, während ich, der treue Idiot, zu Hause saß und hoffte, dass ihr heil zurückkommt?«

»Du bist kein Idiot und wir haben auch niemals über dich gelacht, Garrett. Wir haben nur ...«

»Gefickt, schon klar.«

Ich schiebe den Teller von mir und stehe auf, weil ich hier weg will. Andererseits will ich Kades Arme um mich fühlen, was er nicht verdient hat, im Gegenteil. Aber vor allem will ich nach oben gehen und Tyler für diesen Betrug anschreien. Nur was würde das nach all der Zeit noch bringen? Gar nichts. Und wieso, zum Teufel noch mal, schreie ich Kade nicht an? Wieso haue ich ihm keine rein oder schmeiße ihn samt seiner Sachen wütend aus dem Haus? Wieso stehe ich einfach da und starre ihn an, während Kade seinen Blick auf den Boden gerichtet hat und wie ein geprügelter Hund wirkt.

»Warum?«, frage ich schließlich und Kade zuckt heftig vor mir zusammen. »Antworte!«, herrsche ich ihn an, weil er nichts sagt und danach reagiert er und hebt langsam den Kopf. Sein Blick ist eindeutig. Er zögert und das macht mich erst so richtig wütend. »Ich will es wissen.«

Kade nickt und räuspert sich, ehe er meinem Blick wieder ausweicht. »Manchmal, nachdem wir in Gefechte verwickelt wurden, waren wir hinterher total aufgeputscht. Wir kamen stundenlang nicht mehr runter und feierten, dass wir überlebt hatten. Dass wir Aufständische getötet hatten, weil sie versuchten, uns in die Luft zu jagen. Die anderen Jungs haben dann viel getrunken oder sind in die nächste Stadt, um sich Nutten zu suchen. Aber wir wollten das nicht. Wir blieben lieber auf dem Stützpunkt, spielten die ganze Nacht Ballerspiele oder wir haben … Es war keine Liebe. Es war Sex … Ich konnte endlich schlafen, nachdem er mit mir … Ty wollte es dir sagen. Sobald ich ausgemustert werde oder meinen Hut nehme, erzähle ich ihm alles, hat er immer gesagt.«

Und vielleicht hätte Tyler das sogar getan, doch dazu hatte er nie die Gelegenheit. Aber Kade hatte sie. Er hatte fünf Jahre, warum hat er sie nicht genutzt? »Du hättest es mir erzählen müssen«, werfe ich ihm deshalb vor und das ist auch alles, was mir zu seinen Worten einfällt.

Ich will weiter auf Kade wütend sein, aber es gelingt mir nicht. Vielleicht ist es einfach zu lange her. Kann so ein Betrug verjähren, wie es Verbrechen vor dem Gesetz tun? Und ändert dieses Geständnis etwas an meinen Gefühlen für Kade? Nein. Vielleicht. Keine Ahnung. Ich nehme mir die Zeit, um ein paar Mal tief durchzuatmen, bevor ich mir die Frage erneut stelle, und dieses Mal ist die Antwort eindeutig: Nein.

Ich liebe Kade trotz allem. Ich bin enttäuscht, wobei ich es vielleicht eher verdattert oder überrumpelt nennen sollte, weil Tyler ihr Geheimnis auf diese hinterhältige Weise preisgegeben hat, aber Kade deswegen verlassen? Nein, das kommt für mich nicht infrage.

»Ich wollte ja«, sagt er auf einmal leise und sieht zu mir auf. »Aber dann … Du hast so gelitten, nachdem Ty gestorben war, ich habe mich nicht getraut. Ich hatte Angst, dass du mich zum Teufel jagst. Erzähl' es ihm später, habe ich mir immer wieder gesagt, doch irgendwann war ein Jahr vergangen, dann zwei und plötzlich war da etwas zwischen uns und ich hatte Angst, dass es aufhört, wenn ich dir von Ty und mir erzähle.«

»Also hast du beschlossen zu schweigen?«

»Ich habe gar nichts beschlossen. Ich … Ich schob das alles einfach weg. Die Armee, unsere Einsätze, die viele Gewalt und Tys Tod. Ich konnte es nicht vergessen, also zwang ich mich, nicht mehr daran zu denken. Es wegzuschließen, genauso wie man etwas in einen Safe einschließt. Ich hatte ein neues Leben, einen neuen Job und ich hatte dich. Das war alles, was zählte.«

Und plötzlich fühlt es sich an, als hätte mir jemand dicke Scheuklappen vor den Augen weggenommen. »Deshalb gehst du zu Cord, oder? Du hast das, was euch bei diesen Einsätzen passiert ist, nie verarbeitet und seit Tyler wieder da ist, kommt alles zurück.«

Kade nickt. »Er sagt, er ist nicht der Richtige dafür, aber ich will keinen anderen. Ich weiß, dass es falsch ist, aber …« Kade zuckt mit den Schultern. »Er ist dein Bruder und ...«

»Du vertraust ihm«, führe ich seinen Satz zu Ende, weil ich ihn verstehe. Weil es mir genauso geht, was Cord betrifft. Und zwar nicht nur, weil er mein Bruder ist. Auf Cord ist immer Verlass, und wenn man das weiß, vertraut man ihm einfach. Selbst Tampa, Philli und Angel vertrauen ihm, obwohl sie Cord selten sehen und sich gern über seine Unheimlichkeit lustig machen, weil er Menschen so gut einschätzen kann. Aber sie wissen, sollten sie je psychologische Hilfe brauchen, würde mein Bruder sie nicht abweisen.

»Ja«, sagt Kade leise.

»Hilft er dir?«

»Es hilft, mit ihm darüber zu reden. Er hört zu, ohne mich zu verurteilen. Das reicht, verstehst du?«

»Tut es nicht«, widerspreche ich ihm und erkenne an Kades Blick, dass ich recht habe. »Warum willst du nicht zu einem Therapeuten gehen, der darauf spezialisiert ist?«

»Weil die Wartelisten für diese Leute ellenlang sind und ich jetzt mit jemandem reden will. Also hat er zugestimmt, solange ich damit einverstanden bin, dass er seine Kontakte nutzt, um sich fachlich auszutauschen. Cord will nichts verkehrt machen, aber er will mich auch nicht im Regen stehenlassen, obwohl er mir sehr deutlich gesagt hat, dass er mich eigentlich gar nicht behandeln dürfte, weil ich zur Familie gehöre.«

Das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt. Cord ist in diesen Dingen sehr eigen und ich kann mir ziemlich gut vorstellen, dass er Kades Vertrauen nicht verlieren will, indem er ihn abweist. Also hilft er, so gut er kann. Das ist typisch für meinen Bruder.

»Wieso hast du nie etwas gesagt? Zu mir, meine ich.«

»Damit du auch noch Albträume kriegst? Nein, Garrett, ich wollte nicht, dass du das erfährst. Ich wollte, dass du so bleibst wie du bist. Normal. Unbelastet. Einfach du. Du hast mich nie anders angesehen, weil ich Soldat war. Weil ich auf Menschen geschossen habe. Für dich war ich einfach nur Kade und genau das habe ich damals gebraucht. Ich brauchte dich.«

Was soll ich darauf sagen? Dass es mir genauso geht? Ich liebe ihn, das weiß Kade. Und er ist auch nicht das Problem bei uns. Tyler ist es. Ich lasse mich zurück auf den Stuhl sinken und schüttle hilflos den Kopf. »Warum hat Tyler das getan? Ich meine, wieso auf diese Weise? Wieso heute?« Ich sehe Kade an. »Und was soll das bedeuten, wir wüssten es? Wie kommt Cord eigentlich darauf? Ich bin kein Hellseher. Du etwa?«

»Nicht dass ich wüsste.« Kade legt zögerlich eine Hand auf den Tisch und seufzt erleichtert, als ich seine Finger umgehend ergreife und mit meinen fest umschließe. »Ob es an Cord selbst liegt? Ich meine, weil er Psychologe ist«, mutmaßt Kade und es würde zu dem passen, was mein Bruder gesagt hat. Dass Tyler auf ihn reagieren wird.

Aber ich glaube nicht, dass es Tyler nur darum ging. Solche Dinge erzählt man nicht nebenbei am Frühstückstisch. Solche Geheimnisse plaudert man nur aus, wenn man jemanden mit voller Absicht verletzen will. Vielleicht hat er es ausgerechnet heute getan, weil Kade Geburtstag hat. Wann kann man einen Menschen denn besser verletzen, als an einem besonderen Tag? Andererseits weiß Tyler, dass wir Geburtstage allgemein nicht feiern, weil sie uns nicht wichtig sind. Das kann also auch nicht der Grund sein. Bleibt nur noch Cord. Aber weshalb? Was hat mein Bruder damit zu tun, dass Tyler ausgerechnet heute so eine Bombe platzen lässt, wo er seit Wochen jede Gelegenheit dazu gehabt hätte?

»Wir könnten Tyler fragen, aber ich bezweifle, dass er uns eine glaubwürdige Antwort gibt«, sage ich und reibe mir die Augen. Ich verstehe es nicht. Was ist nur mit Tyler los? »Fragen wir Cord.«

»Er wird es uns nicht sagen.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739379623
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (April)
Schlagworte
psychische Drama schwul Erkrankung Veteranen Romanze Liebesroman Liebe

Autor

  • Mathilda Grace (Autor:in)

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf im tiefsten Osten von Deutschland, lebe ich heute in einer Großstadt in NRW und arbeite als Autorin. Seit 2002 schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, bevorzugt in den Bereichen Schwule Geschichten, Drama, Romanzen und Fantasy. Weitere Informationen zu meinen Büchern, aktuelle News zu Veröffentlichungen und jede Menge kleine Häppchen/Leseproben, findet ihr auf meinem Blog.
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Titel: In Erfüllung seiner Pflicht